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Fünf Tage, die die Waage in Syrien zum Kippen brachten

Sadiq Abdul Rahman

Erste Fakten und Schlussfolgerungen aus der Schlacht um die „Abschreckung der Aggression“

Innerhalb weniger Tage hat das syrische Regime die Kontrolle über weite Gebiete im Norden des Landes verloren, darunter Dutzende von Dörfern, Städten und Ortschaften, einschließlich der Stadt Aleppo mit ihrem großen urbanen, wirtschaftlichen, menschlichen und symbolischen Gewicht. Auch wenn es bei diesen Ereignissen viele Unbekannte gibt, die es schwierig machen, sie zu analysieren und ihren Ausgang vorherzusagen, gibt es doch einige grundlegende Fakten, die man im Hinterkopf behalten sollte, wenn man versucht, nachzudenken, zu analysieren und sich Meinungen und Positionen zu bilden.

Die vielleicht wichtigsten Fakten sind, dass das Regime einige dieser Gebiete während der gesamten Kriegsjahre gehalten und erbittert verteidigt hat, dass es lange und erbitterte Kämpfe geführt hat, bis es große Teile davon zurückerobern konnte, und dass es bei diesen Verteidigungs- und Rückeroberungskämpfen Zehntausende seiner syrischen Kämpfer und die seiner iranischen Verbündeten geopfert und Tausende von russischen und syrischen Luftangriffen und Hunderttausende von Granaten, Raketen und Geschossen eingesetzt hat, wobei es zusätzlich zu Zehntausenden von Todesopfern unter den Gruppen, die sich seiner Herrschaft widersetzten, Zehntausende von Opfern unter der Zivilbevölkerung und umfangreiche Zerstörungen gab, die auf Milliarden von Dollar geschätzt werden. Seine Erfolge vor Ort, insbesondere sein wichtigster Meilenstein im Jahr 2016, als er die östlichen Stadtteile von Aleppo zurückeroberte, waren sein bedeutendster „Sieg“ über seine Gegner, und all das könnte sich innerhalb weniger Tage in Luft aufgelöst haben.

Dieses Ereignis, das in der vergangenen Woche noch unvorstellbar gewesen wäre, wird in den kommenden Monaten und Jahren zweifellos von grundlegender Bedeutung sein. Das erste, was sich daraus ableiten lässt, ist die Schwäche und extreme Zerbrechlichkeit des syrischen Regimes, die all die Rhetorik der letzten Jahre über seinen „Sieg“ untergräbt. Unabhängig davon, ob es dem Regime nicht gelungen ist, diese Gebiete zu verteidigen, oder ob es sie aus Gründen, über die viel analysiert und spekuliert wird, nicht ernsthaft verteidigen wollte, bleibt das Ergebnis dasselbe: Es wirft schwierige Fragen für die russischen und iranischen Verbündeten des Regimes auf, ob ihre aktive Beteiligung am Schutz des Regimes weiterhin sinnvoll ist, und auch für diejenigen, die das Regime normalisieren und seine Wiederherstellung der Legitimität und der territorialen Kontrolle über das gesamte Land unterstützen wollen.

Tatsache ist auch, dass diese Schlacht nicht „plötzlich in einem stabilen Gebiet“ begann, wie diejenigen, die die lokalen syrischen Nachrichten nicht verfolgen, gemeinhin glauben, nachdem arabische und ausländische Medien die Berichterstattung über den „Krieg, der in Syrien zu Ende ging“, jahrelang eingestellt hatten. Von Anfang dieses Jahres bis Mitte Oktober haben das syrische Regime und seine Verbündeten in Nordsyrien 66 Zivilisten, darunter 18 Kinder, getötet, Hunderte von Menschen verletzt und Zehntausende vertrieben. Hinzu kommen Hunderttausende von Vertriebenen aus den vom Regime in den letzten Tagen verlorenen Gebieten, die gewaltsam aus ihren Häusern in den von den Regierungstruppen kontrollierten Gebiete vertrieben wurden und nun auf eine Rückkehr hoffen, Abertausende von ihnen leben seit Jahren in Lagern an der syrisch-türkischen Grenze. All dies ist nicht ohne politischen Kontext, vielmehr ist es das Scheitern aller politischen Initiativen, die darauf abzielen, die Legitimität des Regimes durch kleine oder große politische Verschiebungen und Absprachen wiederherzustellen, von der arabischen Initiative im vergangenen Jahr bis zur türkischen Initiative in diesem Jahr.

Unterm Strich hat sich die Aussage, dass es ohne eine „politische Lösung“, bei der das Regime ernsthafte Zugeständnisse macht, keine Stabilität in Syrien geben kann, die viele für einen bloßen „politischen Slogan“ hielten, als absolut richtig erwiesen. Die arabischen und türkischen Initiativen versprachen dem Regime eine Normalisierung, Unterstützung bei der Bewältigung der westlichen Sanktionen und Hilfe bei der Entsorgung seiner Taten. Im Gegenzug musste das Regime politische Bedingungen schaffen, unter denen Syrien aufhört, eine Quelle der Instabilität zu sein, die Syrer aufhören, ihr Land auf jede erdenkliche Weise als Flüchtlinge zu verlassen, und ein Teil der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens sicher zurückkehren kann. Neben diesen beiden Initiativen gemeinsamen Forderungen stellten die arabischen Staaten auch Forderungen in Bezug auf die Eindämmung des Zustroms syrischer Kämpfer und die Begrenzung des iranischen Einflusses in Syrien, und der türkische Staat hatte Forderungen in Bezug auf die Zusammenarbeit des Regimes in seinem Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Mit Ausnahme des türkischen Ersuchens um Zusammenarbeit gegen die PKK, das das Regime offensichtlich nicht abgelehnt hätte, wenn die anderen Bedingungen für eine Verständigung mit der Türkei erfüllt worden wären, hat das Regime nicht einmal versucht, bei einem der anderen Punkte außer Versprechungen und Worten etwas Ernsthaftes anzubieten. Ob es das nicht kann oder will, darüber gehen die Analysen auseinander, das Ergebnis ist dasselbe: Was in den letzten Tagen geschehen ist, beweist, dass es sinnlos ist, Stabilität in Syrien zu erwarten, ohne dass sich das syrische Regime auf einen ernsthaften politischen Prozess einlässt, den es seit 2011 hartnäckig und unerschütterlich ablehnt.

Es ist nützlich, sich die Identität der Gruppierungen ins Gedächtnis zu rufen, die heute ihre Kontrolle in Syrien ausweiten. Es handelt sich dabei nicht nur um „Dschihadisten“, wie viele gerne sagen, um sich von der Komplexität zu befreien oder ihre vorgefassten Meinungen zu festigen, und auch nicht um „Freiheitsrebellen“, wie andere aus demselben Grund gerne sagen, nämlich um sich von der Komplexität zu befreien oder ihre vorgefassten Meinungen zu festigen. Hayat Tahrir al-Sham (HTS) führt die Fraktionen des “Militärischen Operationskommando” an, die am vergangenen Mittwoch in Idlib und im Westen von Aleppo die Schlacht „Abschreckung der Aggression“ begonnen haben. HTS, wie sie genannt wird, ist die ehemalige al-Qaida-Tochter Jabhat al-Nusra, d. h. sie war bereits eine dschihadistische Organisation, versucht aber seit Jahren, unter ihrem Anführer al-Joulani ihr Gesicht zu wahren, indem sie den größten Teil ihrer dschihadistischen Rhetorik, nicht aber ihre religiöse Hardliner-Rhetorik, aufgibt und eine organisierte Herrschaft in Idlib aufbaut. Sie hat in Idlib eine organisierte Herrschaft aufgebaut, die das Leben der Menschen verwaltet, gegen ihre Gegner – hauptsächlich Dschihadisten – vorgeht, wenn sie sich gegen ihre Umgestaltungen aussprechen oder ihre Autorität in Frage stellen, in Gefängnissen Folter praktiziert, Demonstrationen gegen sie mit einer Kombination aus blutiger Gewalt und Manövern unterdrückt, wie es Diktaturen tun, und sich merklich bemüht, sich selbst zu vermarkten, indem sie sich von „dschihadistischer Rhetorik und dschihadistischem Verhalten“ abwendet, wie in den letzten Tagen deutlich zu sehen war. Aber sie kämpfen nicht allein. Es gibt Tausende von Kämpfern anderer Gruppierungen, von denen einige immer noch salafistisch-dschihadistisch sind, die meisten aber nie dschihadistisch waren. Es handelt sich um verschiedene lokale regimefeindliche und zumeist islamistische Gruppierungen, von denen viele für die Rückkehr in ihre Heimat kämpfen, aus der sie vom Regime gewaltsam vertrieben wurden, oder um den Traum zu verteidigen, dass das syrische Regime abtritt und ein neues, weniger tyrannisches politisches System im Lande errichtet wird.

Die „Syrische Nationale Armee“, die später vom nördlichen Stadtgebiet von Aleppo aus eine Schlacht unter dem Namen „Morgenröte der Freiheit“ ankündigte, wird von der Türkei nahestehenden Gruppierungen angeführt. Es stimmt, dass die Fraktionen des “Militärischen Operationskommando” auf verschiedenen Ebenen ebenfalls von der Türkei unterstützt werden, aber der Unterschied zwischen ihnen und den Fraktionen der “Syrischen Nationalen Armee” besteht darin, dass letztere der Türkei vollständig untergeordnet sind und ihre Kämpfe und wichtigsten militärischen Anstrengungen darauf ausgerichtet sind, die SDF zu bekämpfen, um der nationalen Sicherheit der Türkei und ihren Kämpfen gegen die Kurden zu dienen. Natürlich gibt es keinen Zweifel daran, dass es unter diesen Gruppierungen solche gibt, die früher in der “Freien Syrischen Armee” gegen das syrische Regime gekämpft haben, und dass viele von ihnen für die Verteidigung ihrer Gebiete kämpfen oder dorthin zurückkehren, nachdem sie von dort vertrieben wurden, aber das vorherrschende Merkmal ist die totale Abhängigkeit von der Türkei sowie das extreme Chaos, die internen Streitigkeiten, die Übergriffe und die verschiedenen Verbrechen, und das vielleicht auffälligste Merkmal in der Geschichte der “Syrischen Nationalen Armee” ist ihre gemeinsame Verantwortung mit dem türkischen Staat für das andauernde Verbrechen in Afrin gegen die Kurden, das Zwangsvertreibungen, Morde und den Diebstahl von Lebensgrundlagen und Eigentum umfasst.

Wir müssen uns all diese Details ins Gedächtnis rufen, um zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen zu gelangen: Es ist nicht richtig, all diese Gruppierungen auf „Dschihadisten“ oder „Anhänger der Türkei“ zu reduzieren, da dies nur dazu beiträgt, Missverständnisse zu verstärken. Es ist auch nicht möglich, auf „Stabilität“, „Sicherheit“ und „Wandel“ zu setzen, die dieses explosive Gemisch mit sich bringt, dessen innere Konflikte seit 2013 nicht einen einzigen Tag aufgehört haben, und auch die Verbrechen und Übergriffe der meisten seiner Hauptakteure haben seither keinen einzigen Tag aufgehört.

Eine weitere entscheidende Tatsache, die vielleicht die wichtigste ist, wenn man über den Ausgang der kommenden Tage nachdenkt, ist, dass das, was passiert ist, zumindest anfänglich das Ergebnis der Erlaubnis der Türkei war, Druck auf das syrische Regime auszuüben, das alle Initiativen zur Verständigung mit ihm ablehnt, und das Vakuum auszunutzen, das der Rückzug der Hisbollah und der Rückgang der Macht der iranischen Milizen in der Region hinterlassen hat, und dass es türkische, russische und iranische Absprachen gibt, die die Situation vor dieser Schlacht durch den Astana-Prozess herbeigeführt haben, und dass andere Absprachen die Situation nach dieser Schlacht herbeiführen werden, es sei denn, diese Dreigleisigkeit wird vollständig begraben, was bedeutet, dass sich in Syrien eine neue Wende vollzieht, über die man heute nur schwer spekulieren kann. In den kommenden Tagen werden wir wissen, ob sich die regimefeindlichen Gruppierungen im Rahmen der vorher festgelegten internationalen Absprachen bewegt und an diese gehalten haben oder ob sie auf eigene Faust über die Grenzen der Absprachen hinausgegangen sind, als sie die Gelegenheit dazu sahen. In jedem Fall wird das, was sie getan haben, niemandem nützen, nicht einmal ihnen selbst, und zu einem neuen schrecklichen Massaker durch das Regime und seine Verbündeten und zu einer Dummheit führen, aus der das Regime trotz seiner extremen Schäbigkeit und seines Versagens vor Ort politisch gestärkt hervorgehen wird, wenn die Fraktionen ohne internationale Absprachen und Vereinbarungen, die sicherstellen, dass Wohngebiete nicht auf Kosten ihrer Bewohner zerstört werden, in diesem Umfang expandieren.

Solange das Bild nicht vollständig ist, gibt es nur eines, das Syrien in eine weniger schlimme Lage bringen kann: eine innere oder äußere Veränderung, die das Regime zwingt, sich auf echte politische Verhandlungen über die Zukunft des Landes einzulassen. Die nächsten Tage werden viele der fehlenden Teile des Puzzles offenbaren.

Erschienen am 2. Dezember 2024 auf der arabischen Website von Al-Jumhuriya, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Erklärung zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien

SDF Generalkommando

In dieser Woche gab es einen Großangriff und erhebliche Kräfteverschiebungen. In Aleppo und anderen Regionen haben die Regierungstruppen von Damaskus Niederlagen erlitten. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Angriff vom türkischen Besatzungsstaat orchestriert wird, mit dem Ziel, das gesamte syrische Territorium zu besetzen. Das Hauptziel dieses Angriffs sind jedoch nach wie vor die Gebiete unter der Autonomieverwaltung, um das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker der Region, darunter Kurden, Araber, Syrer und andere Gemeinschaften, zu verhindern. Die Regionen der Autonomieverwaltung sind einem groß angelegten Angriff ausgesetzt, der sich insbesondere auf die Gebiete von Al-Shahba’a und Aleppo konzentriert. Dies stellt eine ernste Bedrohung für das Überleben unseres Volkes dar.

Dieser kritische Moment stellt einen historischen Wendepunkt für alle Syrer dar, insbesondere für diejenigen, die in der Demokratischen Autonomieverwaltung leben. Das einzige Ziel dieses Angriffs ist es, unsere sicheren Gebiete einzunehmen und schließlich syrisches Territorium zu besetzen. Der Angreifer will allen Völkern in der Region Leid zufügen.

Seit mehreren Tagen leisten unsere tapferen Kämpfer erbitterten Widerstand gegen die anhaltenden Angriffe an der Manbij-Front und westlich des Euphrat.

Unsere Demokratischen Kräfte Syriens haben ihre Pflicht zur Befreiung und zum Schutz der Region stets erfüllt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu dieser historischen Verantwortung, koste es, was es wolle. Wir werden diesen Angriffen entschlossen entgegentreten und unsere historische Pflicht erfüllen, die Region und ihre Menschen zu schützen. Es sollte keinen Zweifel an unserer Entschlossenheit geben. Wir appellieren an alle, dem Aufruf zur Mobilisierung der Bevölkerung zu folgen und sich eng mit den SDF und den Kräften der inneren Sicherheit abzustimmen. Es ist unerlässlich, dass wir in diesen schwierigen Zeiten zusammenstehen.

In diesen historischen Tagen rufen wir unsere Bevölkerung auf, sich gemeinsam für die Verteidigung ihrer Dörfer, Städte und der gesamten Region einzusetzen. Wir müssen uns am revolutionären Krieg des Volkes beteiligen und unsere Pflicht erfüllen, unser Heimatland zu schützen. Wir rufen die Jugend der Region, darunter Kurden, Araber, Syrer, Assyrer, Armenier und Tscherkessen, dazu auf, ihre historische Rolle zu erfüllen, indem sie sich den Widerstandsfronten anschließen und in die Reihen der SDF, YPG und YPJ eintreten.

Der gegenwärtige Krieg ist ein edler Kampf für Menschlichkeit und Menschenwürde. Es ist ein Krieg zum Schutz der Werte der Freiheit und der Zivilisation gegen die obskurantistischen Ideologien von ISIS und Erdogan. Es ist ein Krieg für das Licht und die Befreiung, ein Krieg, der eine Zukunft der Koexistenz und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern garantiert.

Wir rufen die jungen Männer und Frauen der Region auf, sich den SDF anzuschließen und zum Aufbau einer freien Zukunft beizutragen. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit der aktiven Beteiligung unserer Jugend diesen Angriff abwehren und die Pläne der türkischen Besatzung und ihrer Söldner vereiteln können.

SDF Generalkommando

1. Dezember 2024

Übersetzt aus dem englischen von Bonustracks

Überall steigen die Spannungen

n+1

In der Dienstagabendrunde des Telemeetings wurde zunächst auf die Kriegssituation im Nahen Osten eingegangen.

Kürzlich haben die israelischen Streitkräfte UNIFIL-Stützpunkte im Südlibanon entlang der „blauen Linie“ angegriffen, mit der klaren Absicht, sie zum Rückzug zu zwingen. Bei dem Angriff wurden Kameras und Beobachtungstürme zerstört, und es gab einige Verletzte unter den Blauhelmen. Die Außenminister Frankreichs, Deutschlands, Italiens und des Vereinigten Königreichs brachten ihre Enttäuschung zum Ausdruck, während Israel erklärte, es habe das UNIFIL-Kommando zuvor zum Rückzug aufgefordert. Die UN-Truppen sind seit Anfang der 1980er Jahre als „militärische Eingreiftruppe“ im Libanon präsent, aber offensichtlich ist das Momentum der Vermittlung dem Momentum des offenen Krieges gewichen.

Der Hisbollah gelang es, tief in israelisches Hoheitsgebiet einzudringen, indem sie mit Drohnen ein Ausbildungslager der Golani-Brigade in der Nähe von Haifa angriff. Die feindlichen Abwehrsysteme konnten die Drohnen nicht abfangen, und eine von ihnen traf offenbar eine Kantine, wobei vier israelische Soldaten getötet und mehrere weitere verletzt wurden. Trotz der Enthauptung der Hamas- und Hisbollah-Führungsspitze sind die Netzwerke der Milizen noch lange nicht zerschlagen. Einige Analysten weisen darauf hin, dass die islamistische Organisation abgesehen von den führenden Persönlichkeiten über eine Netzwerkstruktur verfügt. Da in regelmäßigen Abständen Führungspersönlichkeiten getötet werden, steht die Hamas vor dem Problem, ihre Kader ständig zu erneuern. Die Struktur ist auch deshalb schwer zu beseitigen, weil sie wie ein Wohlfahrtsstaat funktioniert und in der Bevölkerung verwurzelt ist. Die Hisbollah im Libanon ist eine politische Partei, die im Parlament sitzt, Bürgermeister und Minister stellt und mit ihrem Unterstützungsnetzwerk einem großen Teil der schiitischen Bevölkerung Rückhalt gibt. In beiden Fällen handelt es sich um Strukturen, denen es gelingt, sich selbst nach schweren Schlägen zu regenerieren.

Nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme am 11. September war von asymmetrischer Kriegsführung die Rede, als zwei zivile Verkehrsflugzeuge benutzt wurden, um das Herz der Vereinigten Staaten anzugreifen. Am 7. Oktober gelang es der Hamas, mit ganz alltäglichen Mitteln wie Pick-up-Trucks und Motorrädern auf israelisches Gebiet vorzudringen und in Tel Aviv eine starke Wirkung zu erzielen. Bei näherer Betrachtung ist es nicht korrekt, von Asymmetrie zu sprechen, denn wenn es zu einem Krieg kommt, bedeutet dies, dass eine gewisse Form von Symmetrie hergestellt wurde. Im Falle eines Konflikts neigt jeder Akteur dazu, sich an die Züge des Gegners anzupassen: Wenn die digitale Kommunikation abgehört wird, geht man zur analogen Kommunikation über. Die Regeln des Wargames sind kybernetisch (wenn/dann).

Die Nachrichten von der libanesischen Front sind bruchstückhaft, da die Kriegszensur in Kraft ist. In einem auf La7 ausgestrahlten Interview weist Lucio Caracciolo darauf hin, dass der israelische Vormarsch im Libanon nicht gut verläuft, dass die internationale Unterstützung für Tel Aviv abnimmt und dass vor allem die Gefahr eines Bürgerkriegs innerhalb Israels wächst. Das Chaos wird endemisch, und zwar nicht nur im Nahen Osten. In Afrika befindet sich der Sudan mitten im Bürgerkrieg, ein Konflikt, der auf die Nachbarländer überzugreifen droht. Die Ukraine steht kurz vor dem Zusammenbruch und die Zahl der Deserteure nimmt zu. Die Spannungen zwischen den beiden koreanischen Staaten nehmen zu. China hat eine massive Militärübung rund um Taiwan gestartet.

Wir befinden uns in einer Übergangsphase: Die Generalprobe für einen Weltkrieg ist im Gange. Trotz Konflikten, sozialem Chaos und sich auflösenden Staaten haben wir noch nicht die Art von Polarisierung erreicht, die zu einem offenen Zusammenstoß zwischen imperialistischen Giganten führt. Selbst unter dem Gesichtspunkt der Rüstung zeigt die Analyse des russisch-ukrainischen Konflikts einerseits den Einsatz von Satelliten, Elektronik und Drohnen und andererseits den Einsatz von Panzern, Stacheldraht und Schützengräben, Werkzeugen der vergangenen Kriegsführung.

Auf dem BRICS-Gipfel in Kasan, Russland, wird die Teilnahme von fünf neuen Mitgliedern auf der Tagesordnung stehen: Saudi-Arabien, ein Verbündeter der USA und Israels (siehe das Abraham-Abkommen in anti-iranischer Funktion), Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Äthiopien und Iran. Innerhalb der Gruppierung hat Indien keine friedlichen Beziehungen zu China. Der brasilianische Präsident Lula wird eine verstärkte Verwendung der nationalen Währungen vorschlagen, um den US-Dollar unter den Mitgliedsländern zu ersetzen. Die Amerikaner müssen die Hegemonie des Dollars verteidigen, aber sie sind 300 Millionen gegen die 3 Milliarden in China und Indien. Der Begriff „Globaler Süden“ bezieht sich auf die meisten, aber nicht alle „nicht-westlichen Länder“; seine Verwendung dient dazu, zu betonen, dass die aufstrebenden Volkswirtschaften mehr Macht über die globalen Angelegenheiten haben wollen. Es gibt jedoch kein Land , das an der Spitze dieser Phantomfront steht.

Aus dem Chaos der Welt werden sich deterministisch neue Strukturen bilden. Wir stürzen in eine scheinbare Sackgasse, aber in Wirklichkeit ist es das kapitalistische System, das an sein Ende gekommen ist, während sich eine neue Gesellschaftsform durchsetzen wird. Das Buch Caos. La nascita di una nuova scienza (Chaos. Die Geburt einer neuen Wissenschaft) von James Gleick erklärt, dass es in der Natur keine Schöpfung gibt: Wenn eine neue Ordnung entsteht, bedeutet dies, dass es im Chaos Attraktoren gibt. Wir sind uns sicher, dass der Kapitalismus tot ist und dass die künftige Gesellschaft bereits auf die gegenwärtige einwirkt, aber gleichzeitig wissen wir, dass der Übergang zu n+1 zu katastrophalen Situationen mit Hunderten von Millionen von Toten führen würde. Deshalb ist eine „Umkehrung der Praxis“ dringend erforderlich. Das kapitalistische System ist ein integriertes, aber auch sehr anfälliges System: Wenn einige wenige Glieder der globalen Vertriebskette (Versorgungskette) ausfallen, können Metropolen mit 15 oder 20 Millionen Einwohnern ohne Grundversorgung dastehen. Der weltweite Internetverkehr läuft über Unterwasserkabel, die mit Unterwasserdrohnen sabotiert werden können. Die Pandemie von Covid-19 hat gezeigt, dass die Welt miteinander verbunden ist, dass aber ein koordiniertes Handeln zwischen den Staaten nicht möglich ist: Wir haben gesehen, dass, um eine solche Situation ernsthaft anzugehen, eine Eine-Welt-Regierung erforderlich ist, ein Organismus, „der die Verteidigung der menschlichen Gattung gegen die Gefahren der physischen Umwelt und ihrer evolutionären und wahrscheinlich katastrophalen Prozesse übernimmt”.(Tesi di Napoli /1965).

Wir haben keine schrittweise Konzeption der Revolution: Der Übergang vom Kapitalismus zur künftigen Gesellschaft wird katastrophal sein, wie in Teoria e azione nella dottrina marxista (Theorie und Aktion in der marxistischen Lehre) (1951) beschrieben, wo wir Hinweise auf die „Katastrophentheorie“, „Scheitelpunkte ‚ und ‘singuläre Punkte“ finden.

Oxfam, ein internationaler Zusammenschluss von Non-Profit-Organisationen, veröffentlicht jährlich einen Bericht über Ungleichheit: Der Bericht 2024 (über die ideologischen Kapitulationen der Bourgeoisie vor dem Marxismus) konzentriert sich auf die Tatsache, dass die politische Macht den wenigen dient:

“Große und wachsende Ungleichheiten sind ein trauriges Merkmal des Zeitalters, in dem wir leben. Die schweren Krisen der letzten Zeit haben die sozialen Ungleichheiten und Brüche vergrößert und damit das eingeläutet, was wir ohne zu zögern als das ‘Jahrzehnt der großen Klüfte’ bezeichnen, in dem Milliarden von Menschen gezwungen sind, ihre Zerbrechlichkeiten wachsen zu sehen und die Hauptlast von Epidemien, Lebenshaltungskosten, Konflikten, immer häufigeren extremen Wetterereignissen und einer Handvoll Superreicher zu tragen, die ihr Vermögen in einem paroxysmalen Tempo vermehren.”

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurden die Aussagen von Eric Schmidt, dem ehemaligen CEO von Google, erwähnt, der auf dem KI und Energie Summit in Washington, DC, sprach. Während des Treffens rief Schmidt zu einer stärkeren Entwicklung der künstlichen Intelligenz auf, obwohl Rechenzentren (die die notwendige Rechenleistung bereitstellen) immer mehr Energie benötigen und damit die Kohlenstoffreduktionsziele gefährden. Es gebe keinen Grund zur Besorgnis, so der ehemalige Google-Mann, denn in Ermangelung einer globalen Koordinierung werde die KI selbst das Problem der für ihre Entwicklung benötigten Energie lösen und gleichzeitig dazu beitragen, die Welt vor dem Klimawandel zu retten. Wir haben da unsere Zweifel, denn bei dieser Produktionsweise lassen die Maschinen die Welt verhungern (Mai la merce sfamerà l’uomo / Niemals soll die Ware den Menschen ernähren; 1953)

Veröffentlicht am 20. Oktober 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Anmwé – 51 Tage Mobilisierung auf Martinique

Seit fast zwei Monaten gibt es auf Martinique hartnäckige “Blockade Aktionen” und Demonstrationen „gegen die hohen Lebenshaltungskosten“. Wenn auch nur sehr wenige Informationen die Medien im Mutterland zu erreichen scheinen, hat uns ein Freund diese kurze Zusammenfassung der Situation übermittelt. (Lundi Matin)

Teure Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit… Am 5. Februar 2009 erhoben sich die Menschen in Martinique angesichts ihrer unerträglichen Lebensbedingungen und der offensichtlichen Gleichgültigkeit des Staates gegenüber ihren Forderungen. 38 Tage lang skandierte eine große Masse rot gekleideter Demonstranten: „Matinik sé ta nou, Matinik sé pa ta yo” (Martinique ist für uns, nicht für sie) . Diese Volksmobilisierung spiegelte einen allgemeinen Überdruss gegen ein Wirtschaftssystem wider, das die täglichen Leiden der Inselbewohner ignoriert. Als Reaktion darauf schlug der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine Lohnerhöhung um 200 Euro vor. Die Vereinbarung wird am 14. März 2009 unterzeichnet und „beendet“ den Konflikt.

Fünfzehn Jahre später können die Preisunterschiede zwischen den französischen Antillen und dem hexagonalen Frankreich halluzinierende Ausmaße annehmen, manchmal bis zu 200 %. Wie lässt sich eine solche Diskrepanz erklären? Unter den vielen Gründen, die genannt werden, ist einer der häufig genannten Faktoren die Steuer „octroi de mer“, eine Steuer, die auf die Einfuhr von Waren und die Lieferung von Produkten erhoben wird, die von denjenigen, die sie hergestellt haben, gegen Entgelt durchgeführt werden. Diese Steuer trägt dazu bei, die Kosten für Konsumgüter zu erhöhen, und verschärft so die prekäre Lage der Menschen in der Region [1].

Das Problem der hohen Lebenshaltungskosten wirft ein Schlaglicht auf die Mängel eines Wirtschaftssystems, dessen Mechanismen weiterhin eine aus dem Kolonialismus übernommene Struktur reproduzieren. Diese Dynamik erhält eklatante Ungleichheiten aufrecht und verstärkt die schlechten Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung Martiniques. Die „Békés“, die Nachfahren der Sklavenhalter, machen weniger als 1 % der Inselbevölkerung aus, aber sie besitzen einen großen Teil der Unternehmen, insbesondere in der Lebensmittel-, Automobil- und Werbebranche, und festigen so ihr wirtschaftliches Monopol auf dem Territorium. Aus diesem Grund warnt die von Rodrigue Petitot, Gwladys Roger und Aude Goussard geleitete Organisation Rassemblement pour la Protection des Peuples et des Ressources Afro-Caribéens (RPPRAC) im August erneut vor der Situation. Sie rufen zu einer friedlichen Versammlung auf, um die Bevölkerung für die Problematik zu sensibilisieren. Es folgte eine Reihe von Demonstrationen, die alle friedlich blieben und unter anderem am RPPRAC-Hauptquartier, auf den Straßen durch „Molokoy“-Aktionen (im Schneckentempo fahren), und in Supermärkten organisiert wurden.

Zu ihren Forderungen gehörte, dass die drei Militanten ihre Gespräche mit dem Präfekten Jean-Christophe Bouvier und dem Präsidenten des Exekutivrats von Martinique, Serge Letchimy, live streamen dürfen. Dieser Antrag wurde lange Zeit abgelehnt und blockierte den Austausch bis zu einem Kompromiss: Die Gesprächsrunden in der Territorialverwaltung von Martinique werden nun aufgezeichnet und am nächsten Tag in voller Länge auf YouTube zur Verfügung gestellt. An diesem Runden Tisch nahmen verschiedene politische Figuren aus Martinique, die RPPRAC sowie die Direktoren der großen Supermärkte auf der Insel teil. Die Meinungen, Vorschläge und Gegensätze werden energisch zum Ausdruck gebracht. Im Namen des Volkes von Martinique fordert die RPPRAC Rechenschaft über die Preisexplosion und ruft zu konkreten Lösungen auf.

Während die Situation in dem Gebiet seit Beginn der Bewegung relativ ruhig geblieben war, trotz der Präsenz staatlicher Polizeieinheiten bei den Blockaden der großen Supermärkte, änderte sich am 7. Oktober alles. Angesichts der fehlenden Antworten der Verantwortlichen findet eine neue Demonstration am Kreisverkehr von Mahault, einer der meistbefahrenen Straßen Martiniques, statt. Die Fahrbahnen werden von Schwerlastwagen blockiert, während Sympathisanten und Aktivisten auf beiden Seiten des Kreisverkehrs sitzen, alles in einer friedlichen Atmosphäre. Es kommt zu Zusammenstößen und mehrere Vorfälle von Polizeigewalt werden aufgezeichnet und anschließend über Live-Übertragungen auf der App Tik Tok an Tausende von Menschen gesendet. Zwei Tage lang wurden daraufhin auf ganz Martinique Straßensperren errichtet, und der Flughafen Aimé Césaire wurde von Militanten besetzt, nachdem eine angebliche Landung einer neuen CRS-Einheit angekündigt worden war.

Unter Berücksichtigung des sozio-historischen Kontexts der Insel wird die Ankunft dessen, was als koloniale Unterdrückungstruppe wahrgenommen wird, als Provokation des französischen Staates empfunden. Angesichts der fast wöchentlich verlängerten Ausgangssperren, die jegliche Bewegung auf öffentlichen Straßen verbieten, sowie der Verstärkung durch die CRS 8 … (A) Warum schenken Sie dem Leiden eines Volkes, das mit den steigenden Preisen in den Supermärkten konfrontiert ist, nicht einfach Ihre Aufmerksamkeit? Die koloniale Vergangenheit ist nicht so weit weg, und es ist schwer zu ignorieren, dass die Nachkommen von Sklavenhaltern weiterhin von den sozioökonomischen Privilegien profitieren, die mit dem Besitz zahlreicher Unternehmen verbunden sind.

Am 16. Oktober verkündete die Territorialbehörde von Martinique nach einem weiteren Runden Tisch einen Sieg. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, die von allen Parteien mit Ausnahme der RPPRAC-Mitglieder unterzeichnet wurde. Gwladys Roger weist auf Probleme in Bezug auf die Fristen, das Fehlen von Garantien für die Angleichung der Preise sowie das Fehlen der vorgesehenen Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung der von den Direktoren der Supermärkte eingegangenen Verpflichtungen hin und erinnert an das gleiche Vorgehen nach der Mobilisierung 2009.

Am 19. Oktober versammelte sich die Bevölkerung im Hauptquartier des RPPRAC. Aude Goussard, Rodrigue Petitot und Gwladys Roger bekräftigten, dass der Kampf so lange fortgesetzt werde, bis das gesamte Volk von Martinique sich ausreichend und zu angemessenen Preisen ernähren könne. Seitdem gehen die massiven Blockaden der Straßenachsen und der großen Supermärkte weiter.

Es sind nun 51 Tage vergangen.

Anmerkung Lundi Matin 

  1. Zu den wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Sondersteuer „octroi de mer“ siehe die von Mireille Pierre-Louis veröffentlichten Artikel auf unseren Seiten. Insbesondere: :Un Etat au bord du précipice disposant de ses Outre-mer und diese Woche : Anatomie d’une crise

Anmerkung der Übersetzung

  1. Im Dezember 1959 erschießen Einheiten der CRS bei Protesten auf Martinique 3 junge Demonstranten. Seit diesem blutigen Vorfall, der Proteste auch in Frankreich selbst auslöste, wurden keine Einheiten der CRS mehr auf Martinique eingesetzt. Das CRS 8 ist eine 200 Mann umfassende Sondereinheit, die eigentlich u.a. zur Bekämpfung von bewaffneten Drogenbanden etc. zum Einsatz kommen soll, aber auch schon gegen Autonome bei Straßenprotesten sowie gegen Jugendliche aus den Banlieues bei den Riots nach den tödlichen Polizeischüssen auf Nahel zum Einsatz kam. 

Veröffentlicht am 29. Oktober auf Lundi Matin, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Die Videos wurden von Bonustracks beigefügt. 

Ein Blick zurück auf das Ende der Zeiten: Kakerlaken, Feuer, Monster

Iman Ganji

Eins:

Sie haben uns vergast – auf ihren Straßen, an ihren Grenzen – und wir haben überlebt. Sie haben uns an den Rand des psychologischen Ruins gebracht, durch die Fleischwölfe ihrer Integrationsprozesse und in die Zwangsjacken, die als Uniformen in ihren Hochschulen dienten, doch wir haben überlebt.

Oh, Schwestern, Brüder und alle anderen darüber hinaus und dazwischen. Wir sind die Kakerlaken von Europa. Wir überleben sogar Atombomben.

Etwas Schreckliches zeichnet sich am Horizont ab, und wir werden es überleben. Sie fürchten uns, schreien und klettern auf ihre Stühle, ziehen sich in höhere Positionen der Unterdrückung zurück.

Jetzt blicken sie auf das Ende der Zeiten zurück, so wie wir es tun. Sie wissen, was sie uns angetan haben und was wir überlebt haben. Sie erkennen, dass das Ende der Zeiten bereits da ist: Die Winter werden härter, die Sommer versengen ihnen das Blut in den Adern. Ihre Angst vor „the great replacement“ ist ein verdrehtes Spiegelbild ihrer eigenen Verdrängungen, da ihre Privilegien von ihren eigenen Regierungen abgeschafft werden. Sie fürchten sich davor, so zu werden wie wir – Kakerlaken -, die vergast, schikaniert, verfolgt und ausgegrenzt werden, die vom Staat als überflüssig angesehen werden, dem kältesten aller Monster, das „in sämtlichen Sprachen von Gut und Böse lügt‚[1] Die weiße Angst ist die psychologische Verteidigung verlassener Kinder mit Abhängigkeitsproblemen, die den Klassenkampf der zunehmend enteigneten Menschen in Fremdenfeindlichkeit verzerrt.

Zu Kakerlaken zu werden, sichert unser Überleben gegen ihren Überwachungsfaschismus. Die Erde wird von den Enteigneten, den Wegwerfbaren geerbt werden. Wir sind das monströse Feuer.

Die Kakerlaken Europas, so die Prophezeiung, werden die fatale Logik der weißen europäischen Gouvernementalität überleben. Sie haben sich bereits unter die Erde gegraben und sind in die Wolken aufgestiegen, sie haben sich in die Sonne gebohrt und fahren fort, das Blut des Lichts unter die Erdkruste zu leiten.

Ich gebe euch dieses Zeichen, ein kommendes Volk: Vor zehn Jahren schrie das iranische Volk auf den Straßen, als es mit scharfen Kugeln konfrontiert wurde: „Habt keine Angst, habt keine Angst, wir sind alle zusammen“ und wandte sich damit an sich selbst. Jetzt rufen sie der Tyrannei zu: „Habt Angst, habt Angst, wir sind alle zusammen.“

Zwei:

Diese Zeichen sind über den ganzen Planeten verstreut, wie dieses hier: In der „Night of the Four“ zündeten sich vier PKK-Kader selbst an und skandierten: „Löscht nicht das Feuer – facht die Flammen an!“

Ein guter Freund von mir, ein Schriftsteller und Journalist, der zu dieser Zeit in London lebte, erzählte mir, dass während der Hitzewelle im Juli 2022 im Vereinigten Königreich die Hausverwalter einer bestimmten Immobilienagentur eine häufig gestellte Frage verschickten, in der sie erklärten, warum die hydraulischen Systeme in ihren Gebäuden ausfallen könnten. Ein Absatz lautete in etwa wie folgt:

„Wir werden oft gefragt: Warum passiert so etwas nicht im Nahen Osten? Im Nahen Osten ist man an solche Wetterbedingungen gewöhnt und darauf vorbereitet; die Hydrauliksysteme sind mit Kühlmechanismen ausgestattet. Hier haben wir keine Notwendigkeit für solche Systeme.”

Als 2011 die mehrheitlich nicht-weiße Surplus-Bevölkerung in den Straßen Londons randalierte, plünderte und den Markt seiner Wertdiktatur beraubte, bezeichneten die mehrheitlich weißen linken Akademiker und Parteipolitiker sie als „Lumpenproletariat“ oder „Mob“ [2], als diejenigen, die die „glänzenden“ Errungenschaften der Linken rückgängig machen würden, die nur in den Worten und Bildern der mentalen Phantasmen der Intelligenz vorkommen. Was inmitten der randalierenden Körper, inmitten all dieser „wannabe-us“ Lumpen geschieht, sollte das symbolische, das imaginäre und das intellektuelle Spektakel revolutionieren.

Dieses Zeichen wurde für ein vermisstes Volk gesetzt: Als die Besetzung der Wall Street durch die Kälte der Nächte bedroht war, waren es die Obdachlosen, die Wegwerfbaren, die ihnen beibrachten, wie man die mörderische Realität des so genannten „öffentlichen Raums“ im winterlichen New York überlebt, nur um später wieder als arm und ausgeschlossen stigmatisiert zu werden.

Drei:

Das Klischee des türkischen Trinkspruchs „Lass dies unser schlimmster Tag sein“ sollte zu unserem unmittelbaren und dringenden Slogan werden. Es ist längst an der Zeit, den Prozessen unserer Kriminalisierung, Enteignung und Marginalisierung Einhalt zu gebieten.

Es ist nur eine Identitätspolitik am Werk: Weiße Identitätspolitik. Alle anderen sogenannten Identitätspolitiken richten sich gegen die Vorherrschaft der neokolonialistischen, neoimperialistischen weißen Vorherrschaft. Das „Möchtegern-Wir“ ist zersplittert und in verschiedene Sorten Fleisch zerlegt, die zu unterschiedlichen Preisen gehandelt werden, aber unsere Adern und Nervenstränge verlaufen unter der Erde, meine Schwestern, Brüder und diejenigen, die jenseits und dazwischen liegen. Wir müssen unser Myzel bilden, damit unsere Knoten miteinander kommunizieren, sich gegenseitig ernähren, sich schnell bewegen und von unten her kraftvoll erobern.

Das Myzel in alten Urwäldern verbindet hohe, alte Bäume miteinander. Durch rhizomatische Pilze kommunizieren die Bäume mit ihren Verwandten, ernähren sich gegenseitig und geben Mineralien an die Bedürftigen weiter. Unser Kampf muss auf dem Boden stehende Bäume hervorbringen, die durch das affektive Myzel verbunden sind, das der koloniale Kapitalismus seit langem zu beseitigen versucht. Diejenigen, die in Begriffen wie Samen und Wurzeln denken, werden niemals unsere miteinander verbundenen Adern und Nervenstränge finden. Das heißt aber nicht, dass sie uns nicht zerstören können. Belanglosigkeit und Trivialität sind die stärksten Kräfte in der zeitgenössischen Welt, die sich in Kriegen, Völkermorden, imperialen Präsidentschaftswahlen der Supermächte und alten Kolonialherren, in den Medien, in der Literatur und vor allem in dem, was man „zeitgenössische“ Kunst nennt – die Maschine zur Produktion von „gleichzeitigen Sinnesblöcken“ – voll entfalten: Belanglose Affekte, schwache Wahrnehmungen [III], die alle von den modernen Kommunikationstechnologien und den sogenannten „sozialen Netzwerken“, der unsozialsten Erfindung der Menschheit, bedient und verstärkt werden. 

Vier: 

Wir wissen, dass die großen geopolitischen Spiele unser Leben durcheinander bringen. Doch unser Weg bleibt unabhängig davon, wer wen angreift, wer wen einkesselt, in diesem Theater des Neoimperialismus. Wir müssen Widerstand leisten, wenn sie den globalen Süden angreifen, Völkermorde ermöglichen, Putsche inszenieren, Privatarmeen einsetzen oder Rechtsextremisten finanzieren – egal ob Islamisten, Christen oder Juden. Lasst die Neo-Imperialisten in ihrem Streben nach Kontrolle brennen und sich selbst in ihrem Streben nach Vorherrschaft töten: Wir bleiben das monströse Feuer, das einst die unzugänglichen Worte Gottes an Moses überlieferte, die Gerechtigkeit des Kosmos an Siavasch und Abraham, die Macht des Himmels an Prometheus und die Macht, die Stände des Marktes umzustürzen, an Jesus überbrachte; dasselbe Feuer, das 1917 den Romanow-Palast verzerrte und das noch immer in den verstopften Straßen der Welt unter den Arbeitslosen und Surplus-Bevölkerungen lodert; das Feuer, das Iblis und die Dschinn beseelt, die Erzengel, die dem Hof Gottes nahe stehen, aber wegen ihrer Unregierbarkeit verstoßen wurden.

Wir entfachen ein Feuer, das sich in einen Garten verwandelt, wenn wir es umarmen – so lautet die Prophezeiung.

Fünf:

Diskriminierung, Unterdrückung und Rassismus haben jahrhundertelang sowohl die alten als auch die neuen Nationalstaaten durchdrungen; sie sagen, es sei unmöglich, dieses Erbe der Vorfahren abzulegen. Das Unmögliche ist das Werk der Dichter, und das Feuer brennt poetisch.

Maurice Blanchot schreibt in „Das Werk des Feuers“, dass sich die poetische Sprache von der bestehenden Welt weg und auf das Unmögliche zubewegt und die Gesellschaft und Identität destabilisiert. Genau diese Unmöglichkeit ist das Werk des Feuers, das die bestehende Welt vernichtet.

Betrachten wir das Wirken des Feuers auf der Straße: Die Gemeinschaft wird erschüttert, die herrschende Identität wird durch das Unerhörte und Unsichtbare erschüttert, die bestehende Welt, die von Homogenität, Geschlossenheit und Integration spricht, geht in Flammen auf. Feuer brennt poetisch.

Martin Luther King sagte: „Aufruhr ist die Sprache der Unerhörten“. In diesem Sinne ist das Feuer das Kunstwerk des Unsichtbaren. Aufruhr und Feuer kommen immer zusammen. Die Unsichtbaren, die im Licht ihres eigenen Feuers stehen, prägen der kollektiven Vorstellung der „Nationen“ ihre monströse Ehrfurcht ein.

Und natürlich fürchten sie – die protestierende, aber zivilisierte weiße Mittelschicht, deren besondere Privilegien das Feuer beleuchtet hat – die alte Feuerprobe. Auch sie protestieren gegen die aktuellen Zustände, aber sie stimmen ihre Proteste im Voraus mit der Polizei ab und holen sich eine Genehmigung. Es ist ein seltsames Paradoxon: die Regulierung des Dissenses gegen das Gesetz dem Gesetz selbst anzuvertrauen – eine Übertretung, die durch die Verweigerung des Exzesses gebunden ist, eine nicht-erotische Rebellion.

Das Feuer ist ein Symbol der Erotik, wie man an bekannten Begriffen wie „Feuer der Begierde“, „Feuer der Lust“ und „feuriger Sex“ erkennen kann. Einerseits entfacht es die Leidenschaft, andererseits wird es zum Todesengel, der mit Flammen fliegt, die sowohl die materielle als auch die immaterielle Wirklichkeit verzehren und die erotische Natur des Feuers verkörpern. Das Feuer brennt mit einer poetischen Intensität; es ist ein erotisches Gedicht über Zeit und Monster.

Das Feuer ist eine Dauer; es beginnt nicht und endet nicht, sondern brennt endlos, unerbittlich, in alle Richtungen. Auch ein Monster entsteht und vergeht nicht, es existiert ewig, jenseits der Geschichte, jenseits des menschlichen Zugriffs.

Doch das Feuer ist auch eine vergängliche Dauer, denn was es verzehrt, ist endlich.

Und das Monster kann nie für immer in der menschlichen Welt bleiben. Manchmal wird es durch etwas, das dieser Welt innewohnt – wie die Sonne für einen Vampir – vernichtet; manchmal ermöglicht etwas, das ebenso innewohnt – wie die Nacht für einen Werwolf – seine Existenz. Manchmal taucht es nur kurz in dieser Welt auf, um seine Existenz zu beweisen, bevor es sich in sein eigenes Reich zurückzieht; ein anderes Mal verweilt es an der Schwelle zwischen den Welten und bewahrt hier seine jenseitige Macht.

Diese beiden Kräfte, das Monster und das Feuer, können sich gegenseitig verstärken, bis sie die Zerstörung von „allem, was ist“ herbeiführen. In diesem Moment brennt das Feuer am poetischsten.

Aber es gibt einen Moment, in dem das Ungeheuer das Feuer wie eine Fackel entzündet und die bestehende Welt erschüttert. In diesem Moment konvergieren die Dauer des Monsters und die des Feuers und verstärken sich gegenseitig bis zum Punkt der Schöpfung. Das poetische Feuer wird zum Monster, und das einzige, was unversehrt bleibt, ist das Monster selbst und die Welt, die es ankündigt.

Der Aufruhr des Monsters ist ohne Feuer unmöglich. Die menschliche Welt hat dies erkannt und eine Waffe aus demselben Schema übernommen: Sie erschafft ihr eigenes unterwürfiges Monster und legt das Feuer der Zerstörung in seine Hände – anti-riot.

Da das Monster aus der Sicht dieser Welt negativ ist, wird die Schaffung einer monströsen Anti-Aufstands-Truppe durch Brutalität, Unterdrückung und unerbittliche Disziplin erreicht, indem alle destruktiven und antisozialen Impulse in die Soldaten kanalisiert werden. Dann kommt das Feuer von Kugeln, Splitterbomben…

Wie weit wird der Bürgerkrieg zwischen diesen beiden Monstern gehen? Einige argumentieren, dass das Feuer des Staatsmonsters tödlicher ist und dass „wir“ daher den Einsatz von Feuer ganz vermeiden sollten. Andere glauben, dass unser Feuer die Flamme des Staatsmonsters nur anheizen wird, und da das Staatsmonster bereits stärker ist, sind wir zum Verlieren verurteilt. Doch es gibt auch diejenigen, die darauf bestehen, dass unser Feuer immer stärker werden muss, um das Feuer des Staates zu übertreffen und den Sieg zu erringen.

Wird die intensivierte Dauer von Feuer und Monster zu einer neuen Existenz führen? Wird das aufständische Monster dieses Mal die historische Kontingenz in eine Notwendigkeit verwandeln? Selbst Gott bleibt unwissend über die Monster.

Sechs:

„Was sie versuchen, ist, den Raum zu erobern, in dem sich die Subjektivität der Macht widersetzt und sich dadurch in etwas anderes verwandelt, das nicht einmal denselben Feind zu bekämpfen braucht, weil dieser Feind ihm weder schaden noch Zugang zu ihm haben kann“ – Claire Fontaine

“Antipoder Contra Poder (Anti-Macht gegen Macht); Prinzip: Eine alternative Macht aufzeigen, die die traditionellen Formen der Macht in Frage stellt.” – Zapatista: Sharing Leadership Series Handout.

Anti-Macht ist nicht nur die Negation von Macht, noch ist sie einfach negative Macht. Sie ist eine alternative Macht, die sich der Macht entgegenstellt und sie negiert, und indem sie dies tut, transzendiert sie die Negativität und wird zu etwas Transformativem und Affirmativem.

Nietzsches Konzept der affirmativen oder positiven Kraft ist eines, bei dem die Handlung untrennbar mit dem Wert verbunden ist, den sie schafft. Wenn der Wert an die Handlung selbst gebunden bleibt, wird sie widerstandsfähiger gegen die Wiederaufnahme in die Strukturen der Macht. In diesem Kontext wird die Handlung zu einer diskutablen Form – ein Bruch, der, in Blanchots Worten, jede nachfolgende Form der Macht negiert. Blanchot zufolge bleibt diese Negation nicht rein negativ, sondern verwandelt sich in etwas, das über die bloße Opposition hinausgeht, sich der Assimilation widersetzt und einen neuen Raum für die Existenz schafft.

Eine Kakerlake kann bis zu einem Jahr leben und verbringt ihre Zeit damit, die Abfälle und Exzesse der menschlichen und unmenschlichen Welt zu durchwühlen. Dennoch kann ein einziges Weibchen 400 Nachkommen zur Welt bringen. Darunter sind auch solche, die graben, fliegen und schwimmen und die Erde, den Himmel und die Gewässer beherrschen.

Die Pilze, die alles zersetzen, was ihren Weg kreuzt, integrieren das Reich der Pflanzen in ein Netzwerk der Kommunikation und der nährenden Verwandtschaft. Das Feuer macht den Weg frei, damit die Kraft des Myzels zum Vorschein kommen kann. Und aus dieser Konvergenz werden die Monster geboren.

Von der Kakerlake zum Monster – das ist das Problem der Organisation und Repräsentation.

Sieben:

Als Iblis sich in der Koranüberlieferung weigert, Gott zu gehorchen, indem er den höheren Status der Menschen anerkennt, argumentiert er, dass er selbst aus Feuer besteht, während der Mensch aus Erde gemacht ist, und dass er daher als überlegen angesehen werden sollte. Muslimische Gelehrte, die den Koran auslegen, sind jedoch anderer Meinung als Iblis. Sie argumentieren, dass die Erde mit ihren vielen Möglichkeiten eine Erhabenheit besitzt, die das brennende Feuer übertrifft. Der Boden kann Leben nähren, verwandeln und überdauern, während das Feuer zwar mächtig, aber vergänglich und zerstörerisch ist. Dieses dem Boden innewohnende Potenzial für Wachstum und Schöpfung ist es, was ihn erhabener macht.

Eine der Möglichkeiten des Bodens ist seine Fähigkeit, Feuer zu erzeugen, indem er Pflanzen und Menschen Leben schenkt. Wir müssen unsere fruchtbaren Böden bewahren und sie als Brutstätte für die feuerspeienden Monster, die noch kommen werden, nähren.

  1. Nietzsche, Friedrich. Also sprach Zarathustra, Teil I, Kapitel 11, „Der neue Götze“.
  2.  Žižek, Slavoj. „Shoplifters of the World Unite“. London Review of Books, Bd. 33, Nr. 16. Link.
  3. Deleuze, Gilles, und Félix Guattari. Was ist Philosophie?, S. 164: „Ein Block von Empfindungen, d.h. eine Verbindung von Wahrnehmungen und Affekten“.

Erschienen am 4. November 2024 auf Autonomies, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Das Exil und der Bürger

Giorgio Agamben

Es ist gut, über ein Phänomen nachzudenken, das uns sowohl vertraut als auch fremd ist, das uns aber, wie so oft in solchen Fällen, nützliche Hinweise für unser Leben unter Menschen geben kann: das Exil. Die Rechtshistoriker streiten immer noch darüber, ob das Exil – in seiner ursprünglichen Form in Griechenland und Rom – als Ausübung eines Rechts oder als strafrechtliche Situation betrachtet werden sollte. Da das Exil in der Antike als die einem Bürger gewährte Möglichkeit dargestellt wird, sich durch Flucht einer Strafe (in der Regel der Todesstrafe) zu entziehen, scheint es in Wirklichkeit nicht auf die beiden Hauptkategorien reduzierbar zu sein, in die sich die Sphäre des Rechts unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Situationen einteilen lässt: Rechte und Strafen. So kann Cicero, der das Exil kannte, schreiben: „Exilium non supplicium est, sed perfugium portumque supplicii“, „Das Exil ist keine Strafe, sondern eine Zuflucht und ein Fluchtweg vor der Strafe“. Selbst wenn der Staat es sich im Laufe der Zeit aneignet und als Strafe ausgestaltet (in Rom geschieht dies mit dem lex Tullia von 63 v. Chr.), bleibt das Exil de facto ein Fluchtweg für den Bürger.

So erscheint Dante, als die Florentiner einen Verbannungsprozess gegen ihn anstrengen, nicht im Gerichtssaal und beginnt, den Richtern zuvorkommend, sein langes Leben als Exilant, der sich weigert, in seine Stadt zurückzukehren, selbst wenn ihm die Möglichkeit dazu geboten wird. Bezeichnenderweise bedeutet das Exil in dieser Perspektive nicht den Verlust der Staatsbürgerschaft: Der Verbannte schließt sich selbst faktisch aus der Gemeinschaft aus, der er dennoch formal weiterhin angehört. Das Exil ist weder Recht noch Strafe, sondern Flucht und Zuflucht. Würde man es als Recht bezeichnen, was es in Wirklichkeit nicht ist, würde man das Exil als ein paradoxes Recht definieren, sich außerhalb des Gesetzes zu stellen. In dieser Perspektive begibt sich der Exilant in eine Zone der Ununterscheidbarkeit vom Souverän, der, indem er den Ausnahmezustand beschließt, das Gesetz außer Kraft setzen kann, wie der Exilant sowohl innerhalb als auch außerhalb der Rechtsordnung steht.Gerade weil es sich als die Möglichkeit eines Bürgers darstellt, sich außerhalb der Gemeinschaft der Bürger zu stellen, und sich somit in Bezug auf die Rechtsordnung auf einer Art Schwelle befindet, kann das Exil nicht umhin, uns heute in besonderer Weise zu interessieren. Für jeden, der Augen hat, ist es in der Tat offensichtlich, dass die Staaten, in denen wir leben, in eine Situation der Krise und des fortschreitenden, unaufhaltsamen Zerfalls aller Institutionen gerutscht sind. In einem solchen Zustand, in dem die Politik verschwindet und der Wirtschaft und der Technologie Platz macht, ist es fatal, dass die Bürger de facto zu Exilanten in ihrem eigenen Land werden. Es ist dieses innere Exil, das heute zurückgewonnen werden muss, indem es von einem passiv ertragenen Zustand in eine gewählte und aktiv betriebene Lebensform verwandelt wird. Wo die Bürger sogar die Erinnerung an die Politik verloren haben, können nur diejenigen Politik machen, die in ihrer eigenen Stadt im Exil leben. Und nur in dieser Gemeinschaft der Exilanten, verstreut in der gestaltlosen Masse der Bürger, kann so etwas wie eine neue politische Erfahrung hier und jetzt möglich werden.

7. November 2024

Übersetzt aus dem italienischen Original von Bonustracks.  

Chile: Ein Tod während einer Aktion ist ein ewiger Aufruf zum Kampf

Brief an die Genossen von Kyriakos und Marianna.

Kyriakos hat uns verlassen, er ist letzten Donnerstag in einer Wohnung gestorben. Marianna liegt schwer verletzt im Krankenhaus von Evangelismos. Beide anarchistischen GenossInnen waren in verschiedenen Szenarien des Kampfes präsent. Wir nehmen die Nachricht mit Traurigkeit und Verbundenheit auf, denn der letzte Atemzug ihres Lebens könnte auch der letzte von mehreren von uns gewesen sein. Unsere Gefühle können nicht mehr sein als große Zuneigung und Bewunderung, weil wir wissen, dass diejenigen, die den Weg der anarchistischen Offensive gehen, wertvoll und einzigartig sind in ihren Eigenschaften, Widersprüchen und Beiträgen zum Kampf.

Unsere Zeit ist geprägt von der Normalisierung des Krieges und des Todes im Dienste von Konflikten zwischen Mächten, wobei der Verlust zu einer Ziffer wird und die Namen und Identitäten vergessen werden. Andererseits vergessen wir in diesem, unserem Krieg gegen die Macht, kein Gesicht und keinen Namen. Von nun an wird jeder 31. Oktober ein Tag sein, an dem wir, die Anarchisten der Welt, aufgerufen sind, einen Schritt nach vorne zu machen und die Waffen gegen die Staaten, das Kapital und die Autorität zu ergreifen, um den Horizont der Anarchie und der Freiheit durch den Angriff international zu verflechten. Keiner unserer Toten wird ein Hinweis auf eine alte Geschichte sein, sie sind die Gegenwart der Aktion und des Kampfes.

Wir können uns schon jetzt vorstellen, womit die Genossinnen und Genossen konfrontiert sind: plumpe Pressemitteilungen, reißerische Bilder, unzutreffende Theorien, Repression und Überwachung. Angesichts dessen ist es dringend notwendig, den groben Lügen entgegenzutreten: Es ist genau der richtige Moment, unsere Geschichte zu erzählen und sie stolz und kämpferisch zu verteidigen.

Kürzlich erlitten etwa dreißig junge Kämpfer einen Brandunfall, als sie an einem Tag des Straßenkampfes einer Oberschule in Santiago de Chile (INBA) teilnahmen. Mehrere von ihnen schweben noch immer in Lebensgefahr. Das Echo aus der Umgebung war überwältigend: Viele Menschen haben sich gemeldet, um Blut zu spenden, es gab Solidaritätsaktionen, um Geld zu sammeln, und es gab mehrere Propagandaaktionen auf der Straße, während wir uns gleichzeitig gegen die Schikanen der Polizei in den Krankenhäusern wehrten, wo unsere jungen Genossen Minute für Minute um ihr Leben und ihre Genesung kämpfen.

Wir sagen euch das, weil wir den Schmerz fühlen und verstehen, der unerwartet auftaucht und alles überflutet, Wunden, die sich in der Hitze der Stunden zu verwandeln scheinen, sich in ein Labyrinth ohne Ausweg zu transformieren scheinen. Aber genau hier und in diesen Momenten müssen wir hinausgehen, um dem unkontrollierbaren und rasenden Flug nach Freiheit entgegenzukommen, ohne Hemmungen oder Verwirrung. Indem wir das Echte, Prekäre und schwer Errungene durchqueren, haben wir die Unsitte erlernt, auch dann zu verharren, wenn die Hindernisse kolossal zu sein scheinen, indem wir uns durch die Tatsache bestätigen, dass unsere einzige Niederlage darin besteht, es nicht zu versuchen.

Aufrührer, Nonkonformisten, Unruhestifter, Unbeugsame, Unermüdliche, Jähzornige: Lasst uns vorwärts drängen und unserem Wunsch nach Umsturz der bestehenden Ordnung mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln des Kampfes Nachdruck verleihen. Wir grüßen mit Zuneigung und Zärtlichkeit eure Familien, Genossen, Freunde und Nahestehenden und wissen, dass wir von Chile bis Griechenland unsere Solidarität in diesen schwierigen Momenten zeigen.

Anarchistischer Genosse Kyriakos: Anwesend!

Kraft und Mut für die Genossin Marianna Manoura.

Solidarität mit den Verhafteten und Verfolgten.

Vorwärts die anarchistische Stadtguerilla.

Nueva Subversión

Células Revolucionarias Nicolás Neira

Fracción Autonómica Cristián Valdebenito

Células Revolucionarias Mauricio Morales

Grupo de Acción 6 de Julio

Grupo Antiespecista Emilia Bau

Célula Insurreccional por el Maipo

Célula Sediciosa Santiago Maldonado

Grupo de Afinidad 25 de Julio

Übersetzt von Bonustracks aus der englischsprachigen Version, die auf anarchist news am 7. November 2024 erschienen ist. 

Liebe rauchende Waffe

Franco „Bifo“ Berardi

Wie die mutierten und monströsen Algen, die in die Lagune von Venedig eindringen, sind unsere Fernsehbildschirme bevölkert, gesättigt mit „degenerierten“ Bildern und Meinungen. Eine weitere nennenswerte Algenart, die diesmal mit der sozialen Ökologie zusammenhängt, besteht in der Freiheit der Ausbreitung, die Männern wie Donald Trump gewährt wird, die ganze Viertel in New York, Atlantic City usw. übernehmen, um sie zu „renovieren“ und dabei die Mieten zu erhöhen und Tausende von armen Familien zu vertreiben, von denen die meisten dazu verurteilt sind, ihr Zuhause zu verlieren, was für unsere Zwecke das Äquivalent zu den toten Fischen der Umweltökologie darstellt. (Félix Guattari: Les trois écologies, Paris, Éditions Galilée, 1989, S. 34).

In diesen Zeilen, die zu einer Zeit geschrieben wurden, als Trump begann, die öffentliche Bühne zu besetzen, sagt Guattari voraus, was sich heute überdeutlich abzeichnet: Die neoliberale Deregulierung erlaubt es monströsen Algen, die Gewässer zu verschmutzen. Alles hat sich pünktlich aufgelöst, und nun entfesselt das überhitzte Meer schreckliche Stürme, die an der spanischen Küste Hunderte von Menschen töten. Darüber hinaus ermöglicht die Deregulierung die Verbreitung von Aussagen, die die Mediensphäre und folglich auch die Psychosphäre verschmutzen. Es ist pünktlich geschehen: Der psychosüchtige Mob wählt einen Schurken, der die größte Abschiebung von Migranten in der Geschichte verspricht. Diese wenigen Zeilen von Guattari beschreiben die Entstehung eines vergifteten Umfelds, das Gewalt und Unterdrückung hervorbringt, den Krieg aller gegen alle entfesselt und die Bedingungen für eine zynische, barocke und zerstörerische Tyrannei schafft.

Betrachten wir noch einmal die fernen Voraussetzungen dessen, was wir Deregulierung nennen. Am Anfang steht die technologische Schaffung des rhizomatischen Paradigmas. Dank der Kommerzialisierung der elektronischen Technologien in den 1960er und 1970er Jahren wurde die demokratische Verbreitung von autonomen Informationsquellen möglich. In Italien und Frankreich haben wir Hunderte von freien Radios gegründet, nachdem wir einen kulturellen Kampf gegen das staatliche Informationsmonopol geführt hatten. Dann ermöglichte die Schaffung des World Wide Web die Ausbreitung unzähliger Kerne der Netzkultur in der ganzen Welt. Doch durch den Riss, den die diffuse Kreativität aufriss, drangen die großen Wirtschafts- und Mafiagruppen (Berlusconi in Italien, Trump in den USA und ähnliche Subjekte in jedem Land der Welt), deren Ziel sicherlich nicht die Schöpfung, die Kultur oder die Information war, sondern die Anhäufung von Kapital und die Erlangung unbegrenzter politischer Macht über die Köpfe einer psychisch unterworfenen Gesellschaft.

Ich habe den Film The Apprentice (2024) von Ali Abbasi gesehen, in dem es um die Lehrzeit des republikanischen Kandidaten bei den aktuellen US-Wahlen geht. Der Titel ist geschickt der Fernsehsendung entnommen, in der Donald Trump vor einigen Jahrzehnten Kandidaten verschiedenen Demütigungen unterzog, die vor ihm erschienen, um beleidigt, lächerlich gemacht, befragt und schließlich gefeuert zu werden („Sie sind gefeuert“). Es gab Warteschlangen, um von diesem blonden Mann öffentlich verspottet zu werden. Warum? Das Trump-Rätsel zeigt, dass die Instrumente der politischen Analyse kaum noch nützlich sind. Um eine solche ethische, psychische und politische Ungeheuerlichkeit zu verstehen, muss man in der Tat von Erniedrigung, von epidemischer Traurigkeit, von Selbstverachtung, von unbegrenzter Freiheit für Sklavenhändler, psychotische Tyrannen und Waffenhersteller sprechen. Abbasis Film ist in gewissem Maße erfolgreich: Er mag kein großartiger Film sein, aber er ist nützlich, um etwas von dem psychischen, existenziellen und mafiösen Hintergrund zu verstehen, in dem Trump aufgewachsen ist. Er ist nützlich, um die Instrumente seiner Herrschaft über die Psyche eines elenden und ungemein unwissenden Volkes zu verstehen.

Der Film erzählt nicht von „The Apprentice“, von dem er passenderweise seinen Titel hat, sondern von Trumps eigener Lehrzeit. Wie ist er zu dem geworden, was er ist? Um diese Frage zu beantworten, ist die Psychoanalyse vielleicht hilfreicher als die politische Theorie. Die Nichte des Orangenmannes, Mary L. Trump, eine ausgebildete Psychologin, hat ein Buch mit dem Titel Too Much and Never Enough: How My Family Created the World’s Most Dangerous Man (2020) geschrieben, in dem sie versucht, ihren Onkel aus psychoanalytischer Sicht zu verstehen. Der erste Eindruck, den ich bei der Lektüre des Buches gewonnen habe, ist, dass das Leben dieses Menschen ungeheuer traurig war (und ist). Trumps Vater war nach Marys Meinung ein soziopathischer, aber effizienter Mensch. Abbasi gelingt es in seinem Film auch zu zeigen, wie entscheidend die Beziehung zu seinem Vater war. Donald lebte seine Kindheit und Jugend in Angst vor den Demütigungen, denen sein Vater ihn systematisch aussetzte, was ihm tiefe psychische Wunden zufügte. „Freds (des soziopathischen Vaters) Grundüberzeugung ist folgende: Im Leben gibt es immer nur einen Gewinner und alle anderen sind Verlierer; Freundlichkeit hingegen bedeutet nur Schwäche. „Entweder bist du ein Verlierer oder ein Draufgänger“, sagt der Vater dem kleinen Donald. Unter solchen Voraussetzungen ist es unmöglich, Beziehungen zu anderen zu unterhalten, denn diese Beziehungen können nur in Form von Konkurrenz, Aggression oder Unterwerfung bestehen. Aber ist dies nicht leider ein entscheidendes Merkmal der kollektiven Persönlichkeit der Bewohner dieses Landes, die es ohne den Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern und ohne Deportation und Sklaverei nicht gegeben hätte?

Die drei Regeln, die Donald von einem rassistischen Mafia Anwalt (Roy Cohn) lernt, lauten wie folgt:

1. angreifen, angreifen, angreifen.

2. immer lügen.

3. Immer den Sieg verkünden und niemals eine Niederlage zugeben.

Wie eine Figur im Film, die zufällig ein Journalist der New York Times ist, bemerkt, beschreiben diese drei Prinzipien die amerikanische Außenpolitik der letzten dreißig Jahre sehr gut. Ich würde behaupten, dass sie den öffentlichen Geist der Vereinigten Staaten von Amerika durch und durch definieren. Das kollektive Unbewusste der weißen Amerikaner ist ein fauliger Keller, aus dem Monster wie das von Tarantino in Pulp Fiction (1994) auftauchen. Erinnern Sie sich an die Szene, in der Bruce Willis Marcellus aus diesem Keller befreit, den Zed, der Folterer, dort unten in Ketten hält, um ihn zu misshandeln? Besser kann man uns die Trump-Jahre nicht erklären, obwohl es mir leider so vorkommt, als sei Zed quicklebendig und mache sich bereit, einen Haufen armer Leute niederzutrampeln.

Nomen est omen

Anfang 2021, kurz nach dem absurden Angriff von General Trumps Truppen auf das Kapitol, veröffentlichte ich in e-flux einen Aufsatz mit dem Titel „The American Abyss“. Vier Jahre später vertieft sich dieser Abgrund, und eine Gefahr wird immer deutlicher: Der Zerfall des amerikanischen Geistes könnte eine Kettenreaktion auslösen, die letztlich das menschliche Leben auf der Erde auslöscht. Manchmal denke ich an den Namen dieser Person: to trump bedeutet überwinden, überwältigen, bezwingen, aber das Substantiv trump bedeutet auch Furz, stinkender Furz. Wenn die Redewendung „nomen est omen“ jemals bestätigt wurde, dann hier. Der Orangenmann ist ein stinkender Furz, der die psychische Atmosphäre verpesten will (und es auch schafft), der erniedrigt und bedroht. Wenn ich das Pech hätte, US-Bürger zu sein, würde ich keinen der beiden Kandidaten wählen: Frau Harris, die versprochen hat, dass das US-Militär immer mit maximaler Tödlichkeit ausgerüstet sein wird, ist aus europäischer Sicht gefährlicher als Herr Trump, denn mit Frau Harris als Präsidentin würde der Ukraine-Krieg bis an die atomare Schwelle ausgedehnt werden. Herr Trump, der bewusst und ausdrücklich die Interessen der weißen Ethnie vertritt, wäre eine Katastrophe für die Palästinenser und ganz allgemein für die Migranten, denen Trump und Vance „die größte Abschiebung der Geschichte“ versprochen haben. Aber es ist schwer vorstellbar, dass Trump rücksichtsloser sein könnte als Biden und Obama, die während ihrer Präsidentschaft mehr Migranten abgeschoben haben als der Furzmann. Und es ist schwer vorstellbar, wie er gegenüber den Palästinensern rücksichtsloser sein könnte als Biden, der nie aufgehört hat, die israelischen Zerstörer finanziell zu unterstützen oder ihnen Waffen zu schicken. Vielleicht wäre er einfach weniger heuchlerisch.

Memetische Psychose

Am 6. Januar 2021, als sich der neue demokratische Präsident darauf vorbereitete, seinen Platz im Weißen Haus einzunehmen, und der Kongress zu seinen institutionellen Ritualen zusammenkam, folgte eine bunt zusammengewürfelte Menge dem Aufruf Trumps, Amerika zu retten, und ein paar Tausend Geistesgestörte marschierten auf den Capitol Hill. Ohne ernsthaften Widerstand seitens der Polizei drangen diese Verrückten in die Säle des Kapitols ein, schlugen die Fensterscheiben ein und schwenkten Konföderiertenflaggen und Hakenkreuzbanner, während sie grölten. Donald Trump stachelte die Randalierer an, die Macht mit Gewalt zurückzuerobern. „Ihr werdet euer Land niemals durch Schwäche zurückerobern. Ihr müsst Stärke zeigen und stark sein. […]. Kämpft, kämpft wie Verurteilte. Und wenn ihr nicht wie die Verdammten kämpft, wird es kein Land für euch geben“. Am Ende des Tages ging die Menge nach Hause, wie man es nach einem schönen Sonntagsausflug tut. Einige Menschen wurden verletzt, einer wurde von einem Polizisten erschossen. Demokratische Kommentatoren waren aufrichtig empört, wie kann man sie nicht verstehen, aber die Empörung der Demokraten über die Unwahrheiten, die Trump erzählt und die seine Anhänger glauben, ist kindisch. Nach 2008 haben sich die weißen Amerikaner, die in zwei irrsinnige Kriege verwickelt, durch die Verarmung infolge der Finanzkrise gedemütigt und durch den demografischen Zusammenbruch verängstigt sind, verzweifelt an ihre Waffen, ihre SUVs, ihr Recht, Rindfleisch zu essen und ihr Recht zu töten, geklammert.

Was sich am 6. Januar 2021 in Washington ereignete, war weder ein Aufstand noch ein Staatsstreich, sondern eine absurde und kriminelle Episode des amerikanischen Bürgerkriegs, in dem mehrere Konflikte miteinander verwoben sind, nämlich ein Konflikt zwischen dem weißen Nationalismus und dem liberalen Globalismus, ein Konflikt zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung, Latino- und asiatische Bevölkerung, ein Konflikt zwischen den Metropolen und den verarmten ländlichen Gebieten und ein kultureller Konflikt zwischen Säkularisten und Fanatikern eines synthetischen Jehova, aber dieser Krieg ist in erster Linie ein psychotischer Bürgerkrieg bewaffneter Verrückter, die beschließen, den ersten zu töten, der sich ihnen in den Weg stellt. Das ist der amerikanische Abgrund, nicht die Verbreitung von Fake News. Im Jahr 2016 geschah das Undenkbare: Ein blondgefärbter Nazi gewann die Wahl. Von diesem Moment an wurde klar, dass die größte Macht der Welt Amok läuft , dass sie den Verstand verloren hat, obwohl sie hundertzwanzig Schusswaffen auf hundert Einwohner besitzt. Die Demokraten beklagen, dass die sozialen Medien eine Lawine von Unwahrheiten produzieren, aber nur ein naiver Mensch könnte nicht erkennen, dass Unwahrheiten nicht auszurotten sind, denn Amerika ist das Reich der Unwahrheit.

Zwischen dem 1. Januar und dem 31. August 2023 gab es in den Vereinigten Staaten 28.293 Todesfälle durch Schusswaffen. Die Zahl der bei mass shooting Getöteten (wie soll man ein Wort, das so eng mit der Sprache der Amokläufer verbunden ist, ins Italienische oder Spanische übersetzen?) betrug 474, die Zahl der unbeabsichtigten Tötungen mit Schusswaffen, d. h. derjenigen, die durch einen Unfall beim Umgang mit einer Waffe getötet wurden, 1070.

Ein amerikanischer Vater

Trotz der Tatsache, dass sie viermal mehr Strom und weit mehr Fleisch verbrauchen als alle anderen Menschen auf der Welt (oder vielleicht gerade deshalb), leben die Bürger der Vereinigten Staaten ein miserables Leben. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Spanien beträgt 83,3 Jahre, in Schweden 83,1, in Italien 82,7 und in China 77,1 Jahre. In den Vereinigten Staaten liegt die Lebenserwartung in den letzten Jahren bei 76,1 Jahren. 65 Prozent der Einwohner haben keine Ersparnisse und wenn sie krank werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auf der Straße landen. Im Jahr 2022 gab es 100.000 Todesfälle durch Opiatüberdosierungen. Die größte Militärmacht der Welt befindet sich im Auflösungsprozess. Das Wort „undenkbar“ taucht in den letzten Jahren immer wieder im öffentlichen Diskurs der USA auf. „We Need to Think the Unthinkable About Our Country(Wir müssen das Undenkbare über unser Land denken) ist der Titel eines Leitartikels in der New York Times vom 13. Januar 2022, verfasst von Jonathan Stevenson und Steven Simon:

Die nächsten nationalen Wahlen werden unweigerlich heftig und vielleicht gewaltsam umkämpft sein. Es ist richtig, dass die Bedrohung, die der rechte Flügel für die Vereinigten Staaten darstellt – und sein offensichtliches Ziel, den Grundstein für eine illegitime Machtübernahme, wenn nötig, im Jahr 2024 zu legen – politisch existenziell ist. [..] Das Worst-Case-Szenario sieht folgendermaßen aus: Amerika, wie wir es kennen, könnte sich auflösen.

The Unthinkable: Trauma, Truth, and the Trials of American Democracy (Das Undenkbare: Trauma, Wahrheit und die Prüfungen der amerikanischen Demokratie) ist hingegen der Titel eines Buches von Jamie Raskin, das am 6. Januar 2022, dem ersten Jahrestag des psychotischen Aufstands, veröffentlicht wurde. Der Autor ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein führendes Mitglied des Kongresses, das aus Maryland in die Reihen der Demokratischen Partei gewählt wurde. Außerdem ist Jamie Raskin Professor für Verfassungsrecht, ein selbsternannter Liberaler und Vater von drei Kindern in ihren Zwanzigern und Dreißigern. Einer von ihnen, Tommy, 25, ein politischer Aktivist, Unterstützer, progressiver Anliegen und Tierschützer, starb am Abend des letzten Tages des Jahres 2020. Tommy entschied sich für den Tod, er beging Selbstmord, wie man sagt. Er tat dies nach einer langen Depression, aber auch als Folge der langen moralischen Demütigung, die der Trumpismus seinen humanitären Gefühlen zugefügt hat. Für Jaimie Raskin ist Tommys endgültige Entscheidung nicht nur eine emotionale Katastrophe, sondern der Beginn einer radikalen Neubesinnung auf seine Überzeugungen. Bei der Lektüre dieses Buches habe ich den Schmerz eines Vaters und die Qualen eines Intellektuellen geteilt, aber gleichzeitig wurde mir die Tiefe der Krise offenbart, die den Westen zerreißt und vor allem den kulturellen Horizont der liberalen Demokratie verdunkelt. Der Vater hat keine Wertewelt mehr, die er an seinen Sohn weitergeben kann. In dem Buch werden drei verschiedene Geschichten gleichzeitig erzählt, die sich gegenseitig bedingen: Die erste ist die Geschichte des aufkommenden amerikanischen Faschismus. Die zweite ist Tommys Leben, seine Erziehung, seine Ideale und die ständige Demütigung seines ethischen Empfindens. Die dritte ist die Wirkung von Covid-19 auf die junge Generation, die am meisten unter den Regeln der ‘sozialen Distanzierung’ zu leiden hatte. Tommy litt unter Depressionen, und in seiner letzten Botschaft spricht er davon: „Verzeih mir, meine Krankheit hat gesiegt“.

Jamie Raskin schreibt:

Wie viele junge Menschen seiner Generation wurde Tommy von Covid-19 in eine böse Spirale gezogen. Die Schulen wurden geschlossen, sein soziales Leben auf ein zerbrechliches, maskenhaftes Minimum reduziert, das Reisen wurde zum Albtraum. Beziehungen wurden schwierig, er wurde zu einer verfrühten und unbeholfenen Intimität gezwungen oder de facto zum virtuellen Vergessen verurteilt. Viele junge Menschen haben unter Arbeitslosigkeit, mangelnden wirtschaftlichen Möglichkeiten und tiefgreifender Unsicherheit gelitten. Viele, wie Tommy, waren gezwungen, nach Hause in ihr Elternhaus zurückzukehren und in einem Zimmer voller Schulbücher zu leben […]. Tommy hatte sich selbst zum Antinatalisten erklärt, weil er die Aussicht nicht akzeptieren konnte, ein anderes menschliches Wesen auf ein Leben festzulegen, das durch den Schmerz der Traurigkeit und des Leidens bestimmt ist.

So sehr Sarah und ich auch versuchten, ihm die Freude am Kinderkriegen zu vermitteln, Tommy wollte seine Entschlossenheit nicht aufgeben, denn niemand hat das Recht, einem anderen die unvermeidliche Erfahrung von Schmerz aufzuerlegen. Es ist ein schwacher Trost für mich zu wissen, dass ein großer und wachsender Teil seiner Generation genauso denkt, wenn es um die Entscheidung geht, keine Kinder zu bekommen.

Der Antinatalismus ist wahrscheinlich eine Folge der Depression, aber er zeigt, dass die Depression ein Zustand der Weisheit und nicht nur eine Krankheit sein kann. Sie wird zu einer Krankheit, wenn wir ihre Botschaft nicht verstehen und verzweifelt versuchen, den herrschenden Normen von Produktivität, Effizienz und Dynamik zu entsprechen. Die Ablehnung der Botschaft der Depression, die Durchsetzung der Willenskraft gegen die Botschaft, die sie uns sendet, ist ein Weg, in einen selbstmörderische Drift zu geraten. Wenn wir in der Lage sind, die Bedeutung und die Weisheit der Depression zu verstehen, ist eine bewusste und gemeinsame Entwicklung der Depression möglich. In Tommys Fall ist dies offensichtlich: Sein Antinatalismus ist vielleicht klüger als die unverantwortliche Entscheidung, Unschuldige zur Welt zu bringen, die für ein mit Sicherheit unglückliches Leben bestimmt sind.

Nach dem Tod seines Sohnes ändert sich Raskins Wahrnehmung: Sein Optimismus als Verfassungsrechtler schwankt angesichts der Explosion der rohen Gewalt, die dazu neigt, die Kraft der Vernunft außer Kraft zu setzen, während seine demokratischen Gewissheiten angesichts der Ausbreitung der Depression ins Wanken geraten.

Plötzlich ist mir mein Verfassungsoptimismus peinlich, als wäre er eine Peinlichkeit. Ich fürchte, dass mein glühender politischer Optimismus, den viele meiner Freunde an mir geschätzt haben, zu einer Falle der Massenselbsttäuschung geworden ist, zu einer Schwäche, die von unseren Feinden ausgenutzt werden kann.

Der politische Optimismus dieses großzügigen Professors für Verfassungsrecht wird durch die plötzliche Erkenntnis erschüttert, dass die liberale Demokratie auf brüchigen Fundamenten ruht. In der Tat, schreibt er:

Sieben unserer ersten zehn Präsidenten waren Sklavenhalter. Diese Tatsachen sind nicht zufällig, sondern ergeben sich aus der Architektur unserer politischen Institutionen selbst.

Die Sklaverei ist Teil des psychischen Gepäcks der amerikanischen Nation. Wie kann diese Nation behaupten, ein Beispiel für andere zu sein? Wie können wir diese Nation nicht als eine Gefahr für das Überleben der Menschheit betrachten?

Das Gesetz des Vaters hat keine Macht mehr über das Chaos.

Heute, am 5. November 2024, könnte Trump erneut Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden, während die Welt auf amerikanisches Geheiß in einen Zyklus eines psychotischen Bürgerkriegs eingetreten ist, dessen Ergebnisse unvorhersehbar und in der Tat wirklich unvorstellbar sind. Der Vater hat dem Sohn keine sinnvolle Welt mehr zu vererben. Das Gesetz des Vaters hat keine Macht mehr über das Chaos. Wer auch immer diese mit Milliarden von Dollar gedopte Wahl gewinnt, das Chaos ist garantiert.

Veröffentlicht am 6. November 2024 auf spanisch auf LOBO SUELTO, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Karl-Heinz Dellwo zum 50. Todestag von Holger Meins auf zwei Veranstaltungen in Bern und Basel im November 2024

Intro:

Wir reden heute über den Tod von Holger Meins. Zuvor möchte ich aber daran erinnern, dass es einen zweiten Hungerstreiktoten gab, Sigurd Debus, der beim Hungerstreik 1981 an den Folgen der Zwangsernährung gestorben ist.

Text:

Heute vor 50 Jahren starb Holger Meins. Ich weiß noch, als uns die Nachricht erreichte, warf sie uns in einen Zustand der Ohnmacht. Wir hatten vieles unternommen, um die Gefangenen in ihrem Kampf gegen die Isolationshaft zu unterstützen. Wir, das waren die undogmatischen Linken, die zwar mit dem Staat und den kapitalistischen Verhältnissen gebrochen hatten, die aber alle noch legal arbeiteten. Wir, das waren die, die das Leben, welches uns die auf Produktion und Konsum ausgerichtete Gesellschaft anbot, nicht nur verachteten, sondern es als ungeheure, nicht lebbare Zumutung erfuhren und hinzunehmen nicht bereit waren, aber längst auch noch nicht politisch fähig fühlten, ein revolutionäres Konzept, eine Strategie dagegen zu entwickeln. Gleichwohl waren die Mitglieder der Stadtguerilla unsere Genossen; wir erkannten bei ihnen etwas von uns wieder. Es war unsere Generation, die auch den Bruch mit der Nazi-Generation hinter uns wollte. Die Antwort des Staates zielte auch auf uns. 

Wir hatten uns in den Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD organisiert, die bedeutendsten davon in Hamburg, Heidelberg und Stuttgart, aber auch in anderen Städten. Seit Monaten hatten wir Kampagnen durchgeführt, Öffentlichkeitsarbeit gemacht, Denkmäler besprüht, liberale und politisch-moralisch anerkannte Personen aus der Intellektuellen Etage der Gesellschaft angesprochen, damit sie ihre Stimme erhoben, die Hungerstreikerklärung plakatiert, im europäischen Ausland noch virulente Positionen gegen den alten deutschen Faschismus angesprochen und verbreitet und plötzlich war das Ende da. Schlagartig, obwohl man es hat kommen sehen. Aber es ist etwas anderes, etwas zu erwarten als etwas zu erfahren. 

Es gab noch einen Lebensalltag, das Zusammenleben mit Genoss:innen, die täglichen Treffen zur Planung und Fortsetzung der Kampagnen. Dieser Alltag war weg, wenngleich er noch da war, jedoch nun ohne seine illusionsbedingte Geltung oder anders gesagt: seine illusionsbedingte Normalität von Leben innerhalb der bestehenden Ordnung und dem Anspruch des Widerstand dagegen. Die brutale Rohheit, die mit dem Sterbenlassen von Holger Meins gesellschaftlich auftrat, wischte alles vom Tisch und stellte uns nackt, geradezu hilflos auf die linke Bühne. Ein paar Scheiben wurden eingeworfen, aber sie konnten die Lähmung nicht verdecken, die in uns Besitz ergriff, so wie der Mensch, der einen Schlaganfall erlitt und plötzlich feststellt, das seine Bewegungen noch funktionieren, jedoch nur noch verlangsamt. 

Mit einer Genossin suchte ich den Vater von Holger Meins auf. Er hatte ebenso wie wir vom Sterben seines Sohnes aus den Nachrichten erfahren. Niemand von staatlicher Seite hatte irgendeine Notwendigkeit gesehen, den Vater oder die Schwester von Holger Meins zu informieren. Wilhelm Meins war zusammengesunken. Er erzählte von dem mit blauen Flecken übersäten Körper seines Sohnes nach dessen Verhaftung und der Wirkungslosigkeit jeder juristischen Intervention. Später wird er, was ihn empörte, als »Zeuge« vorgeladen, um zu belegen, dass Holger Meins sterben wollte. Der Staat wollte die Verantwortung für den Tod von Holger Meins auf diesen abladen. Eine andere Variante des Ansprechens von Angehörigen mit dem Satz: »Auf der Flucht erschossen«. Das Familiengrab, auf dem sein Sohn, unser Genosse, bestattet wurde, hat er später mit einer Betonplatte versiegeln lassen. Im fortlebenden Nazi-Staat musste man mit allem rechnen. Juristisch hatten wir nichts mehr versucht. Gegen einen Krieg führenden Staat, so hatte uns die Hamburger Anwaltsgenossen um Kurt Groenewold herum immer erklärt, helfen keine Rechtsmittel oder Rechtsansprüche. Das war ihre Erfahrung, die sie dazu trieb, vor dem BGH zu demonstrieren unter der Parole: »BGH – Brauner Gangsterhaufen«. Die Verachtung der politischen Justiz war allumfassend und sie war begründet. Auch unser Protest half nichts. Das war die unmissverständliche Wahrheit im Tod von Holger Meins.

Es gibt einen Film von Pasolini, Teorema, der mich später beschäftigte, weil er Fragen enthält, die auch auf uns zutrafen. Was passiert, wenn eine Befreiung, die real für Menschen einmal zu spüren war, entschwindet? Sie hinterlässt eine klaffende Wunde, die geheilt werden will. Wer einmal Befreiung verspürt hat, wie soll er ohne sie weiterleben können? Wir hatten etwas davon erfahren, wir konnten diese Erfahrung nicht loslassen.

Man darf in der Geschichtsbetrachtung von dem, was aus einem Ereignis später wird, nicht in den Fehler verfallen, das Ende bereits in den Anfang zu verlegen. Das sog. ‘68’ und was später daraus folgte, folgt keiner Kontinuität in seiner Entwicklung. Vielmehr hat diese große Bewegung das Moment von Stagnation, Niederlage, Anpassung und – schließlich – Dementi durchlebt. Zwischen Revolte und Anpassung steckt immer die Erfahrung mit der Gewalt und mit ihr verbunden die einer Niederlage. Hier ist der Grund zu suchen, warum es die bewaffneten Gruppen gab. Die bewaffneten Gruppen in den Metropolen wollten von dem großen und wirkungsmächtigen, international validem Befreiungsversprechen nicht loslassen. Die Tür war aufgestoßen zu einem Sturz der alten Nachkriegsordnung, in der der westliche Kapitalismus ökonomisch lange dominierte und dort, wo ihm eine Schranke gesetzt war sein militärisches Potential einsetzte, um Widerspruch und Widerstand zu eliminieren. Aber es wandelte sich damals von der Offensivposition in eine Defensivposition. Man sah es an den antikolonialen Kämpfen und dann an Vietnam. 

Der Schlag, der uns mit dem Tod von Holger Meins getroffen hat, war gezielt und wuchtig. Holger Meins ist nicht gestorben, weil irgendetwas daneben gegangen ist, weil eine Person oder eine Institution versagte, aus Oberflächlichkeit, Gedankenlosigkeit in einer Institution oder aus irgendeinem anderen Grund, aus dem man zu der Frage hätte kommen können: »Wie konnte das passieren, was ist falsch gelaufen?«

Nein, der Tod von Holger Meins nach 57 Hungerstreik Tagen war angekündigt, er war von staatlicher Seite aus nicht nur erwartet, er war gewollt worden. Buback, so hatten wir es schmerzlich begriffen, hatte uns eine Leiche vor die Füße geworden, eine Machtdemonstration, eine Arroganz und Selbstherrlichkeit, auch eine Verachtung, mit der Drohung: »Wenn Ihr Euch nicht anpasst, löschen wir Euch aus«. Das war die Sprache des Faschismus. Die, die sie im alten Faschismus bereits gesprochen hatten und straflos geblieben waren, kehrten offen zu ihr zurück. Sie war wieder real geworden und kam aus ihrer demokratischen Tünche heraus. Die Alten waren die Alten geblieben. Dass dieser Akt eines anderen Tötens an einem Gefangenen, also einem unbewaffneten Wesen exekutiert wurde, machte die Sache um so deutlicher. 

Wir hatten uns eines Tages, von Anwälten vermittelt, Bubacks Handschrift angeschaut auf den Anordnungen und Eingaben, die er unterschrieben hat: Eine halbe Seite groß und Fett. Es war weniger eine Handschrift als mehr ein ins Papier eingestanztes persönliches Machtsiegel. Man könnte auch sagen: herrisch. Aber es war nicht Buback alleine, der General der Justiz, der in der RAF einen Kriegsgegner vor sich sah, der eliminiert werden musste, komme auch was wolle, der die Haft und die Prozessführung nicht juristisch, sondern eher militärisch sah und konzipierte. Viele aus seiner Generation an der Macht oder in mittleren oder höheren Machtposition waren so. Günther Scheicher, Abteilungspräsident vom BKA, eröffnete triumphierend im Nazi-Jargon den in Bulgarien festgenommenen Mitgliedern aus der Bewegung 2. Juni – wir sind im Jahr 1978 – : »Jetzt geht es heim ins Reich!« Helmut Schmidt, Offizier der Nazi-Wehrmacht, der bis zum Schluss bewusst und nicht blindwütig an seinem Fahneneid für Hitler festgehalten hatte, um nun von  der»blindwütiger Ideologie« der RAF zu sprechen, legitimierte den Tod des nicht-verurteilten Gefangenen mit markigen Worten und erhöhter Tonlage [1]: 

»…und darüber hinaus soll ja niemand vergessen, dass der Herr Meins Angehöriger einer gewalttätigen, andere Menschen vom Leben zum Tode befördernd habenden Gruppe, nämlich der Baader-Meinhof-Gruppe war. Und nach alledem, was Angehörige dieser Gruppe Bürgern unseres Landes angetan haben, ist es allerdings nicht angängig, sie, solange sie ihren Prozess erwarten, in einem Erholungsheim unterzubringen. Sie müssen schon die Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses auf sich nehmen.«

Isolationsfolter als »Unbequemlichkeit«, aber ich will mich nicht empören. So sprach der Nazi-Offizier, der dabei war, als in das abgeriegelte Leningrad ab dem 8. September 1941 hineingeschossen wurde ohne Unterbrechung, gegen das die Wehrmachtführung dann auf die Idee kam, es sei munitionstechnisch günstiger, die Bevölkerung durch Nahrungsentzug verhungern zu lassen, was dann die Todesursache bei etwa 90 % der 1,1 Millionen Toten in Leningrad war. [2] Helmut Schmidt hatte beim Gegner Erfahrung mit dem Tod durch Verhungern. Der gleiche Helmut Schmidt, der später erklärte, nie ein Nazi gewesen zu sein (Wehrmachtsakte Helmut Schmidt: »Steht auf dem Boden der nat. soz. Weltanschauung und versteht es, dieses Gedankengut weiterzugeben« bzw. Bewertungen wie: »Nationalsozialistische Haltung tadelfrei«) [3], war in den fünfziger und sechziger Jahren gern gesehener Sprecher der SS-Organisation HIAG, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e.V. und erklärte seinen Freunden dort, dass er »ihnen, meinen Kameraden von der Waffen SS« ja nun nicht erklären muss, »wenn wir damals in Russland wussten, rechts oder links von uns, oder vor uns, liegt eine Division der Waffen-SS, dann konnten wir ruhig schlafen.« Noch 1965 betonte Schmidt dazu: »Nach wie vor meiner Meinung«. [4] Genauso wie er bis Mitte der siebziger Jahre mit persönlichen Interventionen beim italienischen Staatspräsidenten um die Freilassung des SS-Mannes und Leiters des Sicherheitsdienstes in Rom, dem Kriegsverbrechers Herbert Kappler, intervenierte, der, verurteilt für die Deportation von Juden nach Auschwitz und für die Hinrichtung von 335 italienischen Zivilisten im Alter von 17 bis 74 Jahren, den »Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses« nicht ausgesetzt sein sollte, weshalb ihm mit Unterstützung durch deutsche Staatsgeldern im August 1977, kurz vor dem »Deutschen Herbst«, zur Flucht nach Deutschland verholfen wurde, wo er bis zu seinem Tod dann unangetastet und von Nazifreunden geförderte lebte [5].

In einer dokumentarischen Betrachtung des Herbst 1977 [6] definierte der Filmemacher Heinrich Breloer Helmut Schmidt, Franz-Josef Strauß und seinesgleichen als Leutnant-Generation, die endlich auch mal einen Krieg gewinnen wollten. Das kann man so sehen, aber es fasst die Dimension des Zusammenstoßes nicht.

Denn was ist der Krieg? Der Krieg ist Ausdruck eines Antagonismus, der unbewaffnet nicht gelöst werden kann. Der Krieg ist aber auch Ausdruck eines Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisses, in dem es ums Ganze geht. Einer siegt, der andere unterwirft sich oder stirbt. Das ist Hegels Herr und Knecht [7]. Aber was ist der Krieg im Gefängnis, wo der Gefangene nicht bewaffnet ist und nur noch über seinen Körper und seinen Willen verfügt und gegen eine Macht steht, die über alle Mittel verfügt und zu jeder Übertretung bereit ist? Wir sehen im Tod von Holger Meins: Der Antagonismus ist nicht davon abhängig, dass er bewaffnet auftritt. Es reicht der Wille, die Unterwerfung zu verweigern.

Im Tod von Holger Meins artikuliert sich dieser Antagonismus in seinem politischen Kern: Unterwerfung oder Tod. Friss oder stirb. Die RAF wusste es, wir wussten es auch. Nach dem Tod von Holger Meins war es nicht mehr auch nur vorübergehend wegschiebbar. Der Antagonismus kommt überall beim Aufwerfen der Souveränitätsfrage zur Geltung. 

Aus ‘68’, ich erinnere daran, gab es eine reale Befreiungserfahrung. Sie trug den Bruch mit dem Leben im Kapitalismus in sich. Zur Staatsräson gehörte, dass die Revoltierenden auf die Verhältnisse hin neu zugerichtet werden mussten. Diese Zurichtung fand statt in einer Modernisierung der Gesellschaft, in der auf der einen Seite immer mehr erlaubt wurde in den Lebensformen und auf der anderen Seite ein immer höherer Druck zur Anpassung strukturell etabliert wurde. Den 5000 mit juristischen Verfahren bedrohten Studierenden wurde eine Amnestie gewährt [8]. Gleichzeitig wurde mit der Hochschulreform der Studiendruck erhöht und, verbunden mit dem Verbot der allgemeinen politischen Betätigung durch die Asten, den Studierenden die gesellschaftskritische Praxis versperrt. [9] Anpassung statt Veränderung. Denen, die nach 68 noch an der Gestik des Marxismus festhielten, wurde das Berufsverbot übergezogen, die Zerstörung einer selbstgewählten Existenz in der Gesellschaft [10]. Denen, die wie wir in Hamburg ein Haus besetzten und uns nicht jugendsozialreformerisch einfangen lassen wollte, wurden die Mobilen Einsatzkommandos auf den Hals gehetzt und für sie wurde das Knastsystem zur Normalität [11]. Die, die wie die RAF oder andere bewaffnete Gruppen gekämpft haben, wurden erschossen oder in Isolationseinheiten verbracht.

Die sich entwickelnde Gegenmacht hatte die Ansätze einer Gegensouveränität. Diese Gegensouveränität ist es, die das Kriegsverhältnis evoziert. Der hungernde Holger Meins, der auf den Bruch mit den bestehenden Verhältnissen bestand und artikulierte, dass er sich seinen kollektiven Zusammenhang – Bedingung jeder Befreiung – nicht nehmen lässt, stand, wenngleich im ausgehungerten Körper und nackt und ohne äußere Waffen vor der Macht wie ein befreiter Sklave und warf sein Leben als Widerstand in die Waage. Im Abschütteln der alten Herrschaftsbeziehung sah die Macht in Gestalt ihrer Funktionäre in ihm die Aufständischen, der ihre Hegemonie herausforderte – und entschied sich an ihm zu zeigen, dass jede Systemopposition bei ihr nur auf Vernichtungsabsicht stoßen wird. Und sie enthielt eine Erinnerung, die, wenn vielleicht auch ungewollt, die Bereitschaft zur Entgrenzung zeigte: Das Foto des toten, nackten Holger Meins unterschied sich durch nichts von den Fotos der Verhungerten, die wir aus den KZs kannte.

Im Tod von Holger Meins ist nicht nur das RAF-Mitglied angegriffen, das früher zur bewaffneten Opposition gehörte, sondern der befreite Mensch als solcher, der Mensch, der seine eigene Sprache gefunden hat und nicht mehr die Sprache des Systems spricht, ja nicht einmal mehr sie verstehen will. Das ist die Ungeheuerlichkeit der Revolution.

Auf diesen Akt des Selbst reagiert die Macht mit Vernichtung. Was ist ‚die Macht‘? Es ist nicht die Macht von Personen, es ist die Macht einer neuer Herrschaft, die nach dem Ende des Nazi-Regimes sich nach und nach auf der Welt etablierte und in der Neoliberalen Globalisierung dann ihre – vorläufige – Vollendung fand. Ihr sind alle unterworfen und so sind wir heute mit Politikern, aber auch mit einer Mehrheit der Gesellschaft konfrontiert, die sich als linke, als grüne, als reformorientierte, klimagerechte Strömungen oder Positionen bezeichnen und doch nichts anderes sind als Agenten zur Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse.

Der Tod von Holger Meins hat nicht nur jene Seite, die auf die Brutalität bestehender Machtverhältnisse verweist, sie hat auch jene Seite, die die RAF und andere bewaffneten Gruppen in den Metropolen kennzeichnete: jede Integration führt zu unserer Zerstörung. Die Verhältnisse sind so zugespitzt, dass es tatsächlich um Sein oder Nichtsein geht, politisch eher gefasst in der plakativen Erkenntnis: Sozialismus oder Barbarei.

Die Entwicklung zum freien Mensch oder eben jener der fortdauernden, immer umfassender werdenden Zurichtung des Menschen für die toten Zwecke des Kapitals. Das ist es, was heute sich als »Wahl« unseres Lebens entblößt, inzwischen fast schon eskaliert durch die Entwicklung der technologischen Macht des Kapitalismus, die nun in eine KI mündet, die auch die Wissensmacht der Menschheit usurpiert und sukzessive als nicht mehr zu erkennendes Herrschaftsverhältnis ihnen gegenüber entgegentritt. Insoweit ist die Systemfrage heute politischer und unterscheidet sich von der über die Verwertungsökonomie zwar ableitbaren Negation gegenüber dem alten fossilen Kapitalismus aus der Nachkriegszeit, denn sie blieb auf Grund seiner Prosperität und den noch offenen Verheißungen mehr auf der existentiellen und moralischen Ebene (Vietnam) reduziert. Heute tritt hervor: Es geht inzwischen generell um die Existenz des Menschen, so wie wir ihn kennen.

Auch die RAF war davon nicht unbeeindruckt. Ihre Entscheidung, das ganze Leben gegen Kapitalismus und Imperialismus (und damit verbunden: dem falschen Leben darin) einzusetzen, basierte im konkreten neben ihrem luziden Erkennen der kommenden Entwicklung notgedrungen auf einer existentialistischen Position. Sie ist in klarer Form im letzten Brief von Holger Meins ausgedrückt, der in der Sprache dieser Zeit: »Mensch oder Schwein« oder »Dem Volke dienen« über die existentialistische Grundlage jedes Kampfes zwischen Herrn und Sklave, zwischen Herrschaft und Befreiung die Kraft mobilisierte, für eine Sache einzustehen, die wichtiger war als die eigene Person.

Der revolutionäre Kampf ist eine materialistische Arbeit auf existenzialistischer Grundlage. Das gilt generell. In der BRD um so mehr, als der Klassenkampf in eine rein ökonomische Interessenssphäre eingeschlossen und damit entpolitisiert und eingefangen wurde. Erst der bewaffnete Kampf hat das wieder aufgebrochen. Auch das ist sein historischer Verdienst: Mit dem Auftreten der Machtfrage trat das grundsätzlich Andere gegenüber dem Kapitalismus wieder in die Realität der Menschen, auch in den Metropolen. Es war nicht nur die Sicht der RAF, der Bewegung 2. Juni oder der Revolutionären Zellen, dass dieses »Andere«, das seine allgemeine Benennung in der Bestimmung »Kommunismus« findet, wirkungsmächtig aus seiner Unterdrückung herausgeholt, ja, befreit werden musste. Es war in der Tendenz der Zeit, in den antikolonialen Kämpfen, in den Kämpfen der Roten Brigaden, der antifranquistischen, bewaffneten Gruppen in Spanien und weiterer Kämpfe und es war im Erkenntnisrahmen einer damals in vielem noch unkorrupten Intelligenz, als besonderes Beispiel sei hier nur genannt: Pier Paolo Pasolini, insbesondere, weil er nicht zu den Protagonisten des bewaffneten Kampfes gehörte. Für ihn war der Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdrang, der alle kulturellen Eigenständigkeiten überrannte und assimilierte, der alle Werte außerhalb seiner, also jener von kaufen und verkaufen, von produzieren und konsumieren, vom Tisch der Menschheit am Wegwischen war und damit: vernichtete. Diese allumfassende Vernichtung eigenständiger Werte und Kulturen war für ihn: Faschismus. Ein Faschismus, der bedrohlicher ist als der alte Faschismus, insoweit er von diesem nicht mehr erkannt wird, weil er zur inneren Normalität des Menschen wird, jenes Menschen, der sich freiwillig in der Konsumgesellschaft einfindet und: aufgibt.  Pasolini nannte das eine anthropologische Mutation. [12]

Es war dieses damals noch als politische Erkenntnis in Teilen der Gesellschaft vorhandene, aus der Rudi Dutschke am Grab von Holger Meins dann spontan ausrief: »Holger, der Kampf geht weiter«. Es kam aus der Erkenntnis, dass wir den Antagonismus verteidigen müssen, jenen Antagonismus, der in der kapitalistischen Gesellschaft trotz seiner Existenz vergraben, unkenntlich gemacht oder eben vernichtet werden soll, jedenfalls in seiner subjektiven Seite. Denn objektiv ist er nicht liquidierbar.

Vor was stehen wir heute? Das kapitalistische System hat sich seit dem Tod von Holger Meins bis heute 50 Jahre fortgesetzt. Heute ist in den »Demokratien«, die damals so hochgehalten wurden, auch der offene, der alte Faschismus wieder zur Realität geworden. Auch der Krieg ist wieder zur Realität geworden und längst in die Normalität des »demokratischen Systems« integriert. Systematisch wird die Menschheit verroht. 40 Tausend Tote im Mittelmeer sind »normal« geworden. 40 Tausend Tote in Gaza, am Ende werde doppelt so viele sein, wenn die Trümmer weggeräumt werden, sind »normal« (als Reaktion auf ein Massaker, das sich im Rechtfertigungskreislauf selbst wieder auf jahrzehntelange zerstörerische Lebensgrundlagen beruft). Das Kämpfen des Westens bis zum letzten Ukrainer ist »normal«. Es ist die Normalität der Barbarei. Sie lässt sich an Beispielen um ein Vielfaches ergänzen und über die Rückwirkungen einer zerstörerischen Produktion auf Klima und Lebensbedingungen komplettieren. Das Existentielle, für das Holger Meins und die RAF stand, ist längst ein allgemeiner Bestandteil der Lebensbedingungen der Menschheit geworden und doch zeigt sie sich paralysiert. 

Der Kapitalismus ist global und totalitär geworden. Anstelle von Subjekten herrscht überall seine totalitäre Struktur, der alle unterworfen sind. Insoweit halte ich es für zwingend, heute von der Herrschaft einer Nichtsubjektivität zu sprechen [13], der längst inzwischen auch jene unterworfen sind, die diese Globalisierung des Kapitalismus mit vorangetrieben haben. Trumps »Make America Great Again« ist die Parole jenes Teils der Elite, die besonders unter den Folgen der Globalisierung gelitten haben. Die Rückeroberung ihrer Stellung in der Welt ist nicht immanent innerhalb der kapitalistischen Ökonomie zu bewältigen. Sie müssen das verselbständigte System neu ordnen. Aber neu ordnen bedeutet nichts anderes als: Krieg führen. Das ist die Zukunft, vor der wir stehen.

Das war die erkennbare Zukunft, vor der sich die RAF und die anderen bewaffneten Gruppen gestellt hatten mit allem, was sie konnten. 

Anmerkungen

[1] Siehe dazu u.a. den Film, Starbuck, von Gerd Conradt, hier ab Minute 1:17:30

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Leningrader_Blockade, a.a. a. Stelle

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Schmidt#Ausbildung_und_Wehrdienst

[4] Jüdische Allgemeine, 23.12.2018, Benjamin Ortmeyer       

[5] Ebenda. 19 Flugreisen wurden der Ehefrau von Kapler durch die Bundesregierung bezahlt, die ihn schließlich per PKW aus dem Krankenhaus in die BRD brachte. Neben Schmidt hatten sich zuvor Willy Brandt und der Bundespräsident für Kapler eingesetzt.

[6] Heinrich Breloer, Todesspiel, 2-teiliges Dokudrama, 1997

[7] Siehe dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Herrschaft, Knechtschaft, Bewusstsein der Freiheit, Eingeleitet von Thomas Rudhof-Seibert, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2023

[8] Straffreiheitsgesetz 20. Mai 1970, Bundesgesetzblatt Nr. 45/1970

[9] Hochschulrahmengesetz 30. Januar 1976

[10] Radikalenerlass vom 28. Januar 1972, Am Ende wurden insgesamt 1,4 Millionen Personen überprüft. Man könnte auch sagen: Die alten Nazis im Verfassungsschutz und im MAD konnten ihre besondere Profession, das Verfolgen von Linken, nun auch offiziell legitimiert forsetzen.

[11] Willi Baer/Karl-Heinz Dellwo, Bibliothek des Widerstands Band 22: Wir wollen alles – Der Häuserkampf in Hamburg, LAIKA-Verlag Mai 2023

[12] Siehe dazu als umfangreiche Quelle: Vol. 1: PASOLINI BACHMANN | Gespräche 1963-1975 || Vol. 2: BACHMANN PASOLINI | KOMMENTAR | FABIEN VITALI, Werkausgabe zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini, Galerie der abseitigen Künste Hamburg, Hamburg 2022, Herausgegeben von Fabien Vitali und Gabriella Angheleddu, aber auch, in Kurzform die Graphic Novel: Davide Toffolo, Interview mit Pasolini, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2024

[13] Siehe dazu: CRISIS AND CRITIQUE Vol 9, Issue 2, 25-11-2022: Karl-Heinz Dellwo: Is Politics Still Possible Today? https://www.crisiscritique.org/
auf deutsch: https://www.bellastoria.de/texte/nonpolitics/ist-politik-heute-noch-moeglich

Das Manuskript der Rede wurde Bonustracks freundlicherweise von Karl-Heinz Dellwo überlassen, sie findet sich auch auf Bella Storia Film

Die Rede von Gabriele Rollnik zum 50. Todestag von Holger Meins auf zwei Veranstaltungen in Bern und Basel im November 2024

Als uns von der Bewegung 2. Juni im November 1974 die Nachricht vom Tod von Holger Meins im Hungerstreik im Gefängnis Wittlich erreichte, hatten wir bereits ein sog. »Volksgefängnis« unter einer Ladenwohnung im Bezirk Kreuzberg in Berlin errichtet. Wir wollten damit eine Gefangenenbefreiungsaktion durchführen.

Der Tod von Holger erschütterte uns und es war gleich für unsere gesamte Gruppe klar, dass wir ihn nicht so hinnehmen würden. Innerhalb eines Tages beschlossen wir, unsere Räume zu nutzen, um auf der Seite der Gefangenen in den Hungerstreik einzugreifen. Noch am Abend des 10. November 1974 versuchte die Bewegung 2. Juni, den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann aus seiner Wohnung zu entführen. Mit ihm sollte die Bonner Regierung gezwungen werden, die Sonderhaftbedingungen für die politischen Gefangenen zu verändern und den Forderungen der weiter Hungerstreikenden nachzukommen. 

Die Aktion schlug fehl, von Drenkmann wurde dabei erschossen und das »Volksgefängnis« erst im Februar 1975 mit Peter Lorenz, dem CDU-Kandidaten fürs Berliner Bürgermeisteramt, belegt. Nach öffentlichen Verhandlungen mit der Bundesregierung, die im Fernsehen übertragen wurden, konnten wir Lorenz sechs Tage später wieder freilassen, da der Staat fünf unserer Genoss:innen aus den Gefängnissen freilassen und in den Südjemen ausfliegen lassen musste. 

In welcher politischen Situation konnten sich Anfang der 1970er Jahren in den USA, Japan und ganz Westeuropa Guerillagruppen entwickeln? Sicher war das Beispiel der Länder der 3. Welt, ihrer Befreiungskämpfe gegen Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung schon gegeben. Che Guevara hatte die Parole ausgegeben, den Kampf »ins Herz der Bestie« zu tragen und zwei, drei, viele Vietnams zu schaffen. Ein Argument dagegen, den Kampf in den Metropolen, den saturierten westlichen Hauptstädten zu führen, war, dass hier die Massen noch nicht so weit seien, gegen den Kapitalismus aufzustehen. Sie müssten erst überzeugt werden.

Wir, die bewaffnet kämpfenden Gruppen, wollten durch Taten überzeugen, zeigen, dass man handeln konnte und sich gegen die Übermacht der Herrschenden durchsetzen konnte. Wir bezogen uns auf das damalige globale Kräfteverhältnis, in dessen Rahmen wir auch als kleine Gruppe wirkmächtig sein konnten. Der Kapitalismus befand sich in der Defensive, sein Terrain und Handlungsvermögen war durch das realsozialistische Lager und die Befreiungskämpfe der 3. Welt eingeschränkt. Die Befreiungskriege hatten auf die Bedingungen im Westen schon damals die Wirkung, dass das Kapital versuchen musste, seine Verwertungsmöglichkeiten auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu verbessern. Massenstreiks und wilde Streiks waren die Reaktion. In Frankreich wurde im Mai 68 die Regierung fast aus den Angeln gehoben. De Gaulle musste kurzzeitig das Land verlassen. 

Bei der Jugend gab es einen Aufbruch für ein anderes Leben. Wir wollten die Enge und Beschränkung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr, die Kleinfamilie, die dazu gehörte, in der die Kinder zu angepassten Staatsbürgern dressiert wurden. Und in dieser Zeit bildeten sich auch die Menschen heraus, die ein Beispiel sein konnten: Rudi Dutschke, ein Marxist in der BRD, Cohn-Bendit, eher anarchisch, in Frankreich, die Black Panther und Angela Davis in den USA, Ulrike Meinhof – die alle über die Medien präsent waren und auf den Straßen bei Demos, in den Unis bei Teach-ins und Besetzungen auf die Jugend im ganzen Land und darüber hinaus Eindruck machten. Es zog viele dahin, ungeheure Umwälzungen schienen möglich. Um an diesem Leben und Kampf teilzunehmen, waren wir bereit, alles einzusetzen und die alten Entwicklungsbahnen zu verlassen, Wohngemeinschaften und Kommunen zu bilden, statt Ehen einzugehen, Kinder frei zu erziehen und für die Revolution zu kämpfen, die das Diktat der Konzerne und des Kapitals, welches die Regierungen umzusetzen haben, und die Ausbeutung der Menschen beenden sollte. Das schien für den damaligen geschichtlichen Moment umsetzbar.

Dieser Drive war aus dem Widerstand entstanden, dem Widerstand gegen das Unrecht des Vietnamkrieges, der Kolonisation, der Potentatenhofierung der westlichen Regierungen z.B. gegenüber dem Schah-Regime, der Unterstützung der Militärputsche in Griechenland und später in Chile – der Widerstand war auch eine Schule, wir setzten uns mit den theoretischen Grundlagen auseinander: Marx, Engels, Lenin, Lukács, Gramsci, Mao wurden gelesen und studiert.

Für uns als Guerilla war klar, dass wir im internationalen Zusammenhang kämpfen und nur darin Wirkung bekommen konnten. Die Front war für uns in den Befreiungskriegen der 3. Welt, auf deren äußeren Linien in den westlichen Metropolen wir die Guerilla verorteten. Es gab zwei Demarkationslinien, eine davon zwischen Arbeit und Kapital in den Metropolen. Diese Linie wollten wir langfristig zur Front entwickeln. Der kleine Motor Guerilla sollte den großen Motor: Arbeiterkämpfe und Massenstreiks, antreiben. 

Die andere Demarkationslinie waren die Länder, in denen das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits aufgehoben war: Das realsozialistische Lager und Länder wie China, Kuba und Albanien. 

Mao nannte seine Strategie: Die Städte durch die Dörfer einkreisen. Die Dörfer, das ist der Süden, die Länder der 3. Welt. Die Städte, das westliche Hegemonialsystem: USA, Westeuropa, Japan, Australien. 

Die ersten Angriffe der RAF waren auf das US-Hauptquartier in Frankfurt am Main gerichtet, von wo aus der Krieg der USA gegen Vietnam, die Bombenteppiche gesteuert wurden, genauso wie heute von Ramstein und anderen US-Basen in der BRD Angriffe in Nahost und der Stellvertreterkrieg der Ukraine gegen Russland geführt werden, zu dem der Angriffskrieg Russlands von der Nato gewendet wurde.

Diese Angriffe der Guerilla in der BRD riefen sofort die von Anfang an auf Vernichtung zielende Reaktion des Staates der BRD auf den Plan, der sich an den Counterinsurgency-Maßnahmen und dem Erfahrungsschatz der westlichen Staaten in Bezug auf Aufstandsstrategien und Guerillakämpfen in den Ländern des Südens bediente. Dazu gehörte die Einschüchterung und Bedrohung der Kreise der Bevölkerung, die Verständnis, Sympathie und Unterstützung für bewaffnete Politik bekundeten, wie auch die justizielle Verschärfung, Gesetzesänderungen und Maßnahmen zur Einschränkung des Verteidigungsrechts. Das Terrain der Bekämpfung der bewaffneten Gruppen und ihrer Unterstützer:innen war die Justiz, wozu die Kriminalisierung der bewaffneten Politik gehörte, um sich nicht über ihre Gründe auseinandersetzen zu müssen. Ebenso waren die Medien zur propagandistischen Bekämpfung auch damals schon, wenn auch in geringerem Maße als heute, das Instrument, ein bestimmtes Narrativ zur Delegitimierung bewaffneter Gruppen in die Öffentlichkeit zu drücken. 

Als Gefangene bekamen wir von Anfang an besondere Bedingungen, Sonderhaftbedingungen, bei denen Isolationsfolter das zentrale Merkmal war. In der Einzelisolation und der Kleingruppenisolation sollten alle von dem, was sie einmal begriffen hatten, wieder getrennt werden, gehirngewaschen und als wieder integrierbar in den Gesellschaftsbetrieb oder als Propagandisten gegen ihre Gruppen und ihre Politik ausgespuckt werden.

Dagegen richteten sich die Hungerstreiks und Holger war der erste, der in einem solchen Streik starb. Für alle politischen Gefangenen waren sie aber das einzige  Mittel, um in langen Haftjahren als politisch kämpfende Menschen mit Gedächtnis zu überleben. 

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, brachte dem kapitalistischen Hegemonialsystem des Westens 30 Jahre Expansionsmöglichkeiten zu verbesserten Verwertungsbedingungen durch die Ausbeutung der östlichen Länder, deren Industrien, Rohstoffe und Werte angeeignet werden konnten. Getreu dem Mantra vom Ende der Geschichte, hoffte das »regelbasierte« Herrschaftssystem des Westens, Russland mit seinen riesigen Bodenschätzen und seinen gut ausgebildeten Arbeitskräften und danach auch China in sein hierarchisches System an geeigneter, aber untergeordneter Stelle aufnehmen zu können. Sie zerstörten zuerst Jugoslawien, um kleinere machtlose Staaten integrieren zu können. Entlang ethnischer Linien und nationaler Befindlichkeiten hofften sie, auch Russland und China auseinandernehmen zu können. Im Nahen Osten haben sie Irak und Libyen als eigenständige Staaten zerstört, um sich Öl und Gas besser aneignen zu können.

Das Paradigma eines eingekreisten Kapitalismus verschwand durch den Zusammenbruch des ersten Versuchs einer sozialistischen Gegenmacht, der durch die Oktoberrevolution in die Welt gesetzt worden war. In der neuen Gemengelage war uns klar, dass die Bedingungen für die Guerilla in den Metropolen nicht mehr gegeben waren. Wir haben schon als Gefangene aus der Guerilla Anfang der 90er Jahre gesagt, dass wir nicht mehr zum bewaffneten Kampf zurückkehren. 1998 hat die RAF ihre Auflösung erklärt.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist die Krise der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr zu übersehen. Die weitere Ausbeutung der Natur ist nicht mehr zu verantworten, die Endlichkeit der Ressourcen in jeder Hinsicht sichtbar. Der Green New Deal, der die Verlängerung der kapitalistischen Produktionsweise und -verhältnisse auf neuer Stufenleiter garantieren sollte, ist schon gescheitert. Die Klimaziele sind unter Beibehaltung des Kapitalismus, der auf Wachstum angelegt ist und darauf, dass aus Geld mehr Geld werden muss, nicht zu erreichen. Die strukturelle Krise des Kapitalismus verschärft sich. Wir haben ein Kriegsregime in Deutschland und in Europa, dem alles andere untergeordnet wird. Es wird aufgerüstet und ein Ende des Krieges ist weder in Bezug auf Europa noch auf Nahost zu sehen. Alles ist brandgefährlich. 

Zum anderen ist aber deutlich, dass der Westen eine Abstiegsgesellschaft geworden ist. Die Kolonialität der globalen Arbeitsteilung, das Nord-Süd-Gefälle ist so nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es gibt eine Multipolarität von Machtfeldern, siehe BRICS, die den Ländern des Südens größere Möglichkeiten zur Entwicklung gibt. 

Die Linke müsste dieses Interregnum als Chance sehen, einen emanzipatorischen Ausweg in eine neue Phase der Menschheit zu erkämpfen. Eine solche Vision muss global sein, eine globale Perspektive eröffnen, die die ökonomische und soziale Befreiung der Länder des Südens, der Mehrheit der Menschheit, mit einschließt.

Leseempfehlungen:

Torkil Lauesen: Die globale Perspektive, Imperialismus und Widerstand, Unrast-Verlag 

Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine: Argumente für einen konstituierenden Frieden,‎ transversal texts

Das Transkript dieser Rede wurde Bonustracks freundlicherweise überlassen. Der Text findet sich auch auf Bella Storia Film.