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Ein weiterer Tag im Knast

Cesare Battisti

Lange her sind jene Zeiten, als es alleine in Westberlin mehr als ein Dutzend Knastgruppen gab. Aus der Unmittelbarkeit des Zusammenstoßes ‘der Bewegung’ mit dem Staat und seiner gewaltförmigen Verfasstheit ergab sich das angesichts von aberhunderten Verfahren gegen Menschen aus der Bewegung und Dutzenden von gefangenen Gefährt*innen als unmittelbare Notwendigkeit. Lange her auch jene rebellischen Zeiten in den Knästen, in denen es ständig Revolten in den Haftanstalten gab, sich dem Hungerstreik der Gefangenen aus der Guerilla 1981 zugleich hunderte sogenannte soziale Gefangene aus dem “Normalvollzug” mit eigenen Forderungen anschlossen. 

Leider auch völlig in Vergessenheit geraten der jahrelange Kampf der inhaftierten Frauen gegen den neuen Frauenknast in Plötzensee der u.a. die Erfahrungen aus der Isolationshaft für die politischen Gefangenen auf die Konzeption eines neuen generalisierten Knastregimes für hunderte “soziale” Gefangene übertrug. Sichtblenden an den Zellenfenstern, Kleingruppenisolation, ständige Überwachung und Auswertung jeglicher sozialen Regung. Noch Jahre nach der Verlegung von der Lehrter Straße in die “Plötze” haben Gruppen von inhaftierten Frauen mit Hungerstreiks, Revolten und anderen Aktionen gegen das neue Knastregime gekämpft. Und wie viele Male fanden sich wie selbstverständlich hunderte von solidarischen Menschen aus der autonomen und antiimperialistischen Szene des Tages mit Parolen und Musik aus dem Lautsprecherwagen und des Nachts mit
Feuerwerk an den Knastmauern dort in diesem Niemandsland an der Stadtautobahn ein.  

Nun sitzen wieder rund ein Dutzend Menschen aus der antifaschistischen Szene sowie Daniela Klette, eine Gefährtin aus den ehemaligen “illegalen Zusammenhängen” im Gefängnis, nach etlichen weiteren wird gefahndet. Ohne Frage werden alle, die es ernst meinen mit dem Widerstand gegen das System, nicht umhin kommen, sich wieder grundsätzlich mit dem sozialen Terrain des Knastes zu befassen. 

“Wohin lassen wir uns treiben von Angst und Verzweiflung? Ich habe selbst in den letzten Wochen erlebt wie diese es vollbringen Geist und Körper zu lähmen, wie sie mich dazu bewegten die Hoffnung an den Nagel zu hängen und mich abzuwenden vom Leben. Doch dann habe ich an dem Ort, wo seit Monaten kein Sonnenstrahl hinfällt eine zarte Pflanze keimen sehen, wissend der Winter wird weichen. An ihrer Seite musste ich mir eingestehen, dass – sei dieser Ort noch so Hölle auf Erden – dort Blumen gedeihen können, ob in Mauerritzen oder in meinem Sein.”

Maja – Erklärung in der Vorverhandlung am 21. Februar 2025 in Budapest 

Ein Gefangener, der wie Daniela Klette “aus der Zeit gefallen ist”, weil die Gründe seiner Inhaftierung etliche Jahrzehnte zurückliegen, ist Cesare Battisti, ehemaliger Militanter der “Proletari Armati per il Comunismo”, den sie in ein Loch geworfen haben, aus dem er zu Lebzeiten nicht mehr herauskommen soll. Eine weitere Übersetzung einer seiner Briefe aus dem Gefängnis.

S.L.

Die auf ein Laken reduzierte Matratze erträgt Tschechows Humor schlecht, ich schließe das Buch und denke wieder an die Leere. An die Gefängnisse, die ständig überfüllt sind, weil man nicht weiß, wohin mit all den eingelagerten Körpern. Es ist eine zusätzliche Überfülle, und doch herrscht gerade hier die Leere. Wir sind Schatten, wir besetzen den Raum nicht, wir verdunkeln ihn kaum. Jeder versucht auf seine Weise, das, was von ihm übrig geblieben ist, unter dreihundert Tropfen Valium, in dem Schluck Methadon, der von zehn anderen Mündern erbrochen wird, auszulöschen. Oder, wie Hasnawi gestern, als er mit einer Rasierklinge das Fentanylpflaster mit einem Stück Haut seines schlafenden Zellengenossen aufgeschnitten hat. Das ist das Gefängnis, die Parenthese, an die wir immer wieder glauben wollen, während es angemessener wäre zu sagen, dass die wirklichen Parenthesen die immer kürzeren sind, die die meisten von uns auf freiem Fuß verbringen.

Hasnawi ist ein guter Kerl, er hatte einen Darmverschluss, weil er etwa zwanzig Batterien verschluckt haben soll und diese seinen Darm durchlöchert haben. Tausendmal am Tag läuft er durch den Korridor und sucht nach Tabletten und allem, was er sonst noch schlucken kann. Er kommt zu mir auf der Suche nach Zucker für die nächste Ladung Schnaps. Ich muss ihm schon hundertmal gesagt haben, dass ich keinen Zucker verwende, aber er vergisst es immer und kommt wieder und fragt.

„Wie ist die Sache mit dem Pflaster gelaufen?“, frage ich ihn, um ihn nicht im Regen stehen zu lassen.

Hasnawi Miene hellt sich auf, die Operation wurde vielfach kommentiert und sogar mit Bewunderung aufgenommen.

„Er schlief tief und fest, das Pflaster befand sich auf seiner Schulter und war gut sichtbar. Ich habe versucht, es langsam abzuziehen, aber es ließ sich nicht lösen, also habe ich die Rasierklinge benutzt.“

„Aber sie mussten ihm Medikamente geben, er hat geblutet.“

„Nun ja, meine Hand hat ein bisschen geblutet, aber er hat es nicht einmal bemerkt, wie man sieht, brauchte er das Pflaster nicht mehr. Aber du, wie kommst du eigentlich ohne Zucker aus?“

Er geht ein wenig entnervt. Aus dem Buch, das auf der Matratze liegt, höre ich Tschechow murmeln: „Ich habe schon so lange keinen Champagner mehr getrunken“. Und ich sehe, wie er das Glas an die Lippen führt und trinkt. Wenige Augenblicke später nimmt seine Olga ihm das leere Glas ab und stellt es auf den Nachttisch. Er rollt sich auf die Seite, schließt die Augen und seufzt. Im nächsten Augenblick hat er aufgehört zu atmen. Knackig bis zum Schluss; aber wer weiß, ob Tchechow wirklich gehen wollte?

Ich verweile noch eine Weile und betrachte diesen Tag wie hundert andere auch. So lange, bis einer nach dem anderen vergeht, aber wenn ich sie alle zusammen betrachte, ergeben sie nicht einen einzigen Tag. Die Scherze der Zeit, nach so vielen Hauskalendern sollte ich an sie gewöhnt sein. Stattdessen bin ich bei jedem Blattwechsel überrascht, eine weitere Woche ist vergangen, oh mein Gott, es war gestern!

Selbst bei den Zeitungen komme ich durcheinander, es kommt vor, dass ich die letzten Ausgaben auf einmal bekomme. Ich breite sie alle auf dem Bett aus und sortiere sie dann nach abnehmendem Datum; ich möchte mit meinen Händen durch die Zeit blättern. Die Daten oben auf der Seite lügen nicht, aber die Nachrichten sind alle gleich. Es ist deprimierend. Ich drehe die Reihenfolge um, mische sie, schlage eine zufällige Seite auf und lese die Schlagzeile eines Krieges. Es ist ein anderer Krieg, aber die Opfer sind dieselben wie gestern und morgen. Nur die Namen ändern sich, und um zu spüren, wie die Zeit vergeht, muss ich die Todesanzeigen lesen. Oder die Seiten, die ich gestern geschrieben habe und die mir heute bedeutungslos erscheinen.

„Gesegnet seid ihr, die ihr gerne schreibt“, höre ich von Zeit zu Zeit von einer Seele, die etwas Frieden sucht. Ich habe keine Lust, ihn zu enttäuschen, indem ich über die Qualen spreche, zwei Gedanken aneinanderzureihen. Von der Erniedrigung oder der unerträglichen Hilflosigkeit, wenn ich bei einer Suche vor meinem zertrümmerten PC stehe. Von den neu zu erstellenden Seiten und der rückläufigen Zeit. Das kann ich denen nicht sagen, die mich mit den hoffnungsvollen Augen eines Bettelkindes ansehen und deren Hände zittern. Obwohl es hier nicht darauf ankommt, was man sagt, sondern darauf, irgendetwas zu sagen, um die Leere zu füllen.

In der Zwischenzeit dreht sich die Welt und spuckt Schändlichkeiten aus. In dem Moment, in dem sie geschehen, sind die heutigen Ereignisse bereits Nachrichten. Selbst in einer Zelle glauben wir, ständig verbunden zu sein, obwohl dieser Glaube nicht ganz dasselbe ist wie das Leben in der Welt. Unser Leben hinter Gittern fließt auseinander, während das Fernsehen uns mit verheerenden Nachrichten bombardiert, die wir als freie und normale Menschen aufnehmen und manchmal sogar mit aufrichtiger Leidenschaft kommentieren. Verbrannt von den Flammen, die sie verschlingen, schlucken wir die Welt, die aus den Fugen gerät, und suhlen uns in der bürgerlichen Verantwortung, bis die trübe Vergessenheit der Gefangenschaft uns sagt, dass nichts von dem, was geschieht, uns wirklich betrifft.

Für den Geist in Ketten gibt es kein so großes Unglück, das ihn von den Qualen der verwehrten Freiheit ablenken könnte. Doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte unser Zustand sogar von Vorteil sein, um klar zu sehen: Außerhalb der Welt, d.h. mit dem Abstand, den das Gefängnis vorschreibt, sollten wir einen privilegierten Blick auf die globale Komplexität haben. Aus dem ungehinderten Fluss des Lebens heraus sollten wir in der Lage sein, die von den Veränderungen gezogenen Linien zu verfolgen. Und da wir die Zeit auf unserer Seite haben, die nur das Gefängnis zu stoppen vermag, sollten wir jeden Moment, in dem die Dinge geschehen, besitzen, um zu wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Aber wir sind Gefangene einer Idee von Freiheit, die, obwohl sie vage und veraltet ist, uns weder sehen noch hören lässt, weil sie uns selbst vervollständigt. Sie gibt uns den Grund, uns in der Nacht, bevor wir zusammenbrechen, immer wieder zu sagen, dass es in unserer Welt nur Gefängnisse gibt.

Veröffentlicht im italienischen Original am 20. Februar 2025 auf
Carmilla Online, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

New Heroes

Franco „Bifo“ Berardi

Vor zehn Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel „Heroes“ geschrieben, das 2015 bei Verso erschienen ist [dt. Übers.: „Helden. Über Massenmord und Suizid“, Matthes & Seitz, Berlin 2016].

Meine Helden in diesem Buch waren jene Menschen (vor allem junge Menschen), die derzeit als Amokläufer [Mass Murderers] bezeichnet werden, weil sie willkürlich auf Menschen schießen, für gewöhnlich an Orten wie Supermärkten, Konzertsälen, Kirchen und Schulen.

Ich schrieb mein Buch unter dem Eindruck der Tat, die James Holmes in einem Kino in Aurora, Colorado, begangen hatte: Während einer Vorführung des Batman-Films „The Dark Knight Rises“ holte der als Batman verkleidete junge Mann zwei automatische Gewehre hervor und tötete zwölf Menschen, die sich den Film ansahen. Viele glaubten einen Moment lang, dass der Tumult Teil der Vorführung sei.

In dem Buch habe ich die persönlichen Geschichten (und Gedankenwelten) von Menschen wie Seung-Hui Cho, Pekka-Eric Auvinen und anderen Jungen, die dafür bekannt wurden, unschuldige Passanten erschossen zu haben, resümiert.

Die Dinge haben sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt. Damals waren Amokläufe eine Ausnahme. Jetzt hat sich diese Form der Aktivität ausgebreitet, und Amokläufe sind zu einem alltäglichen Teil der Wirklichkeit geworden.

Einige Ereignisse sind so schockierend, dass Politiker und Experten zwei oder drei Tage lang Asche über ihr Haupt streuen und versprechen, neue Vorschriften und restriktivere Gesetze zu erlassen. Aber das sind nur Krokodilstränen. Der Vertrieb und die Verbreitung von Waffen geht unvermindert weiter.

Das Interessante an dem Thema der Amokläufer war für mich ihre prophetische Aura: Sie waren eine Warnung und die Vorboten einer kommenden Mutation. Wie Engel waren sie Zeichen an der Grenze der westlichen Psychosphäre, in dem doppeldeutigen Bereich zwischen Realität und Infosphäre.

In seinem letzten Buch, Bloodbath Nation, beschreibt Paul Auster den tief verwurzelten Hang zu brutaler Gewalt, der den American Way of Life prägt, und nennt den Waffenkult als direkte Ursache dieses Phänomens. Natürlich stimme ich mit seiner Analyse und seiner Kritik am weitreichenden Vertrieb tödlicher Waffen in der amerikanischen Gesellschaft überein. Der Hauptgrund für mein Interesse an Amokläufen ist jedoch ein anderer: Ich konzentriere mich nicht auf die Waffen, sondern auf den Geist.

Ich denke, dass der Amokläufer das extremste Beispiel für die andauernde Mutation der menschlichen Psyche ist, nach Jahrzehnten der neoliberalen Propagierung aggressiver Werte und nach Jahrzehnten der digitalen Neuformatierung des psycho-neurologischen Systems.

Die Generation, die durch Sprechautomatik formatiert wurde, erfährt eine Mutation, die das Verhältnis von Wahrnehmung, Vorstellung und Ausführung verändert. Diese Generation, die mehr Wörter von Maschinen gelernt hat als durch der Stimme ihrer Mutter, entwickelt eine mentale Verfassung, die mit den alten Begriffswerkzeugen nicht zu erklären ist: Das Verhältnis zwischen geistiger Ausformung und Ausführung einer Handlung ist gestört und verändert worden, als Folge der (unendlichen) Beschleunigung der Infosphäre und der daraus folgenden Übersättigung der Aufmerksamkeit.

Aufgrund der Instantaneität und Virtualität hat sich das Verhältnis zwischen geistiger Ausformung und Ausführung so tiefgreifend verändert, dass das Verhalten derjenigen, die in den letzten drei Jahrzehnten aufgewachsen sind, für die psychologische Wissenschaft und die psychoanalytische Therapie immer unerklärlicher wird.

Vor kurzem hat das Oxford English Dictionary „brain rot“ zum beliebtesten Wort des Jahres 2024 gekürt. An zweiter Stelle stand „Romantasy“, eine literarische Gattung, in der Zärtlichkeit und Zuneigung (die aus dem wirklichen Leben verschwunden sind) nur noch Fantasien sind. An dritter Stelle stand „demure“, ein Synonym für „reserved“, „shy“ und vielleicht „solitary“. Diese drei Wörter sind die beste psychopathologische Diagnose für eine Generation, die das Leben nur als Fiktion kennengelernt hat, oder als Terror.

Ich denke, dieses neue Verhalten sollte nicht als Psychopathologie, sondern vielmehr als Mutation betrachtet werden. Immer mehr Psychiater stellen bei Kindern die Diagnose ADHS. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, so sagen sie, beeinträchtigen die Psyche der Kinder und den normalen Bildungsprozess. Ich halte diese Diagnose für Schwachsinn: Es ist völlig nutzlos und irreführend, den Zustand, in dem sich das vernetzte Gehirn befindet, zu pathologisieren.

Das Verhalten, das Psychiater und Pädagogen als pathologisch bezeichnen, ist schlicht und ergreifend ein verzweifelter Versuch, den eigenen geistigen Rhythmus an den Rhythmus der Infosphäre anzupassen.

Stell dir vor, du stehst vor einer Leinwand, auf die ein Film projiziert wird. Der Filmvorführer beschleunigt das Tempo der Bilder – zehntausendmal, dann hunderttausendmal so schnell. Du kannst den Sinn des Farbenflusses, der vor deinen Augen erscheint, nicht mehr verstehen. Bist du derjenige, der dumm geworden ist, oder hat der Filmvorführer dir einen üblen Streich gespielt?

Die Demenz ist systemisch, nicht pathologisch. Demenz breitet sich aus, seitdem die Beschleunigung neuronaler Reize begann, Effekte wie Panik und Depression nach sich zu ziehen. Und sie hat das fortlaufende, kritische, rationale oder auch nur vernünftige Denken nach und nach unmöglich gemacht.

Aus diesem Grund muss die Demenz der Hauptgegenstand unserer theoretischen, analytischen und politischen Aufmerksamkeit sein, auch wenn ich nicht glaube, dass es eine Möglichkeit gibt, sie zu kurieren. Der Rhythmus der Infosphäre kann keinesfalls verlangsamt werden, denn das menschliche Gehirn ist heute davon abhängig und kann eine Verringerung der Intensität der Neurostimuli nicht ertragen. In jedem Fall ist es bereits zu spät: Die Demenz hat ihre Welt schon geschaffen.

Auf der einen Seite haben wir die senile Demenz der alten Generation, die von Erschöpfung und Verfall geplagt wird. Auf der anderen Seite haben wir die Demenz einer Generation, die mit gewaltigen Shitstorms bombardiert wird, Shitstorms, die sich seit einigen Jahrzehnten auf der Weltbühne ereignen.

Was wie eine Rückkehr des Hitler-Nazismus aussehen mag, ist die Offenbarung einer dementen, dabei vollkommen logischen und supereffizienten Aggressivität.

Das Oxford English Dictionary hat „brain rot“ zum Wort des Jahres gekürt, weil sein Gebrauch ab 2023 um 230 Prozent gestiegen ist. Diese Redewendung entspricht also der Selbstwahrnehmung der heutigen Bevölkerung, insbesondere der jungen.

Die Liquidation von Zeit zur Entwicklung, sowohl kognitiv als auch emotional, ist die Liquidation des ethischen Begriffs, des Mitgefühls und auch der kritischen Rationalität.

Samantha @ ABUNDANT LIFE 

Mit Blick auf mein langjähriges Interesse an den dementiellen Auswirkungen kognitiver Mutation ist es leicht zu verstehen, dass zwei Ereignisse aus jüngster Vergangenheit meine Aufmerksamkeit erregt haben.

Das erste war das Attentat auf Brian Thompson, CEO von UnitedHealthcare, durch den jungen Luigi Mangione, mitten in New York.

Das zweite war die Schießerei an der Abundant Life Christian School in Madison, Wisconsin. Natalie Rupnow, ein 15-jähriges Mädchen, das sich „Samantha“ nannte, nahm sich das Leben, nachdem sie einen Lehrer und einen Schüler erschossen und sechs weitere verletzt hatte.

Die Taten von Samantha (ein Amoklauf, der im Selbstmord endete) ähneln eher den Phänomenen, die ich in meinem Buch untersucht habe. Daher möchte ich zunächst etwas zu diesem Ereignis und seinen Auswirkungen sagen.

Die Zahl der Schießereien an Schulen hat stetig zugenommen, von 18 Schießereien im Jahr 2008 auf 22 im Jahr 2023. Im Jahr 2024 gab es mindestens 83 Schießereien an Schulen in den Vereinigten Staaten.

Als ich 2014 mein Buch schrieb, war ich davon überzeugt, dass diese Form mörderischer Taten von sehr unterschiedlichen Typen junger Menschen begangen werden kann: weiß oder schwarz, reich oder arm – allerdings immer von Männern. Ich verband dieses aggressive nach Außen kehren der Angst mit Männlichkeit.

Samantha hat mein Interpretationsschema gebrochen. Sie ist die erste Frau, nachdem es 25 Jahre lang nur männliche Amokläufer gab.

Ermittler, die das Online Life von Samantha untersuchten, entkräfteten das Gerücht, sie sei eine Transgender-Person gewesen.

Wir wissen sehr wenig über sie. Ich habe auf Facebook ein Foto gesehen, auf dem sie ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer deutschen Band trägt. Die Lieblingsband einer der Schützen der Columbine High School, die dort 13 Menschen erschossen.

Sie war ein Fan von Pekka-Eric Auvinen, einem 18-jährigen Finnen, der am 7. November 2007 sieben Schüler der Jokela-Schule in der finnischen Stadt Tuusula tötete, 60 Kilometer nördlich von Helsinki. Das, nachdem er ein Foto von sich mit einem T-Shirt mitsamt der Aufschrift „Humanity is overrated“ gepostet hatte.

Präsident Joe Biden veröffentlichte eine Erklärung zu den Morden von Abundant Life:

Von Newtown über Uvalde, Parkland und Madison, bis hin zu so vielen anderen Amokläufen, die kaum Beachtung finden – es ist inakzeptabel, dass wir nicht in der Lage sind, unsere Kinder vor der Geißel der Schusswaffengewalt zu schützen. Wir können das nicht länger hinnehmen, als sei es normal. Jedes Kind hat ein Recht darauf, sich in seinem Klassenzimmer sicher zu fühlen. Schüler in unserem Land sollten lesen und schreiben lernen – und nicht, wie man sich duckt und versteckt.

Solche Worte klingen hohl, wenn sie von Biden kommen. Biden, der einen Völkermord überwacht, bei dem täglich palästinensische Kinder getötet werden. Was die (amerikanischen) Kinder angeht, die Biden angeblich schützen will, so habe ich das Interview eines lokalen Fernsehsenders mit einem zehnjährigen Mädchen gesehen, das in der Geschichte des Massakers von Abundant Life eine entscheidende Rolle spielte. Das junge Mädchen rief mit ihrem Handy die Polizei an, als sie merkte, dass im Klassenzimmer nebenan etwas Schlimmes geschah. Traumatisiert? Nicht so sehr: Das zehnjährige Mädchen beschreibt die Szene ohne übermäßige Emotionen. Sie lächelt und erinnert sich, dass sie die Stimme einer Lehrerin hörte, die rief: „Hilfe, Hilfe …“

Das junge Mädchen scheint mit der neuen Realität vertraut zu sein. Sie ist Teil der neuen Normalität im Zeitalter der Vernichtung.

Der Rächer

Das Zeitalter der Vernichtung hat viele Gesichter.

Eine Seite ist die kleine Minderheit, die dazu neigt, sich in eine bewusste Bewegung von selbstmörderischen Attentätern zu verwandeln. Eine andere Seite ist die der Rächer, die darauf abzielen, ihr eigenes Leiden durch die Auslöschung bestimmter anderer Individuen oder sozialer oder ethnischer Gruppen zu lindern. Luigi Mangione gehört zu dieser Legion von Rächern, die gewöhnlich nur so weit gehen, Mördern ihre Stimme zu geben, aber in einigen seltenen und extremen Fällen selbst zu den Waffen greifen.

Ja, auch mein Herz schlägt für ihn, wie die Herzen vieler Millionen, die die neoliberale Grausamkeit verabscheuen. Auch ich hatte gehofft, dass es Luigi Mangione gelingen würde, der Verhaftung zu entgehen, bevor ein McDonald’s-Angestellter, der viel ärmer war als er, die Polizei rief und ihn so verhaften ließ. Mangiones Tat wurde in den sozialen Medien bejubelt, und viele haben sich mit seinem Hass auf die Ausbeuter identifiziert.

Sollen wir sagen, dass seine Aktion (die Beseitigung eines Verbrechers, der vom Kranksein und dem Unglück der unglücklichen Bewohner des elendsten Landes der Welt profitiert) eine Episode des Klassenkampfes war? Das ist Unsinn.

Klassenkampf war in der gotischen Zeiten der Moderne eine ernste Sache: Es war die bewusste Anstrengung der Ausgebeuteten, sich von ihren Ausbeutern zu befreien – Worte, die in der barocken Ära spektakulärer Hyper Gewalt unverständlich klingen.

Ohne Freundschaft und Komplizenschaft, ohne ein gemeinsames Emanzipationsprojekt ist Hass kein Klassenkampf: Er ist eine Form chaotischer Rache für das Schicksal, im unerbittlichen Zeitalter des liberalen Nazismus geboren worden zu sein.

Ausbeutung, Bewusstsein, Solidarität, gemeinsame Projekte – all das ist aus der Sprache der heutigen Rächer verschwunden. Schmerz, Demütigung und Wut sind individuelle Gefühle, und sie bleiben individuell, auch wenn sie von Millionen Menschen geteilt werden, die als Vereinzelte einen Rächer an die Spitze wählen.

Dieses Verlangen nach Rache ist aufgrund unserer einsamen Beziehung zum Bildschirm und elektronischen Fluss auf dem Vormarsch.

Mangione vermischt die Bibel, Pokémon, Ayn Rand, Peter Thiel und Elon Musk. Dennoch versteht er etwas Wesentliches, wie seine Bemerkung zeigt, dass diejenigen, die wie er unter Rückenproblemen leiden, ihrem Arzt eher sagen sollten, dass die Schmerzen sie am Arbeiten hindern, anstatt von ihrem unerträglichen Leiden zu sprechen: „We live in a capitalist society and I have found that the medical industry responds with much more urgency to these words than when you describe unbearable pain.“

Mangione weicht von der Figur des Amokläufers ab; er wählte sein Ziel sorgfältig aus und hatte sehr klare „soziale“ Beweggründe. Seine Handlung muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass ein Land eben einen Mann zum Präsidenten wählte, der den Wunsch nach Rache verkörpert. Dieses Verlangen nach Rache hat nicht ein einziges Motiv, sondern unzählige. Und die Racheaktion geht nicht nur in eine Richtung, sondern hat viele Ziele. Man könnte sagen, dass der Trumpismus eine Form der Rache aller gegen alle ist.

Das politische Projekt, das umzusetzen Trump versprochen hat, trägt Züge von Rache, und diese Rache hat viele Ziele: Vergeltung an den Demokraten, die versucht haben, seinen Triumph zu verhindern, aber auch – und vor allem – Rache an denen, die die Reinheit des rassistischen American Dream gefährden. Trump und seine Anhänger haben versprochen, sich an denjenigen zu rächen, die das amerikanische Heimatland illegal bevölkern: elf Millionen Migranten ohne Papiere. Viele von ihnen sind Arbeiter, viele werden schlecht bezahlt, während sie schwierige und gefährliche Arbeit machen. Sie mischen sich täglich unter die guten und braven weißen Bürger. Wie wird das enden?

Die versprochene „größte Abschiebung aller Zeiten“ wird kein Verwaltungsakt und keine geordnete Polizeiaktion sein. Es scheint schon technisch nicht durchführbar, die illegale Bevölkerung durch legale Maßnahmen zu beseitigen oder ernsthaft zu reduzieren.

Was passieren wird, ist die Durchsetzung einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung, die Millionen von Arbeitern dazu zwingen wird, sich zu verstecken, und es werden sich Denunziation und Angst verbreiten. Infolgedessen werden es viele Migranten vorziehen, das Land zu verlassen. Viele werden beschließen, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, auf der einen oder der anderen Seite.

Der Ku-Klux-Klan ist zurück, aber jetzt ist er die mächtigste Organisation der Menschheitsgeschichte.

Zwei amerikanische Soldaten

Während ich diesen Artikel beende, wurde in den ersten Tagen des Jahres 2025 ein Veteran der US-Armee von der Polizei erschossen, nachdem er in der Touristenhochburg New Orleans 14 Menschen mit seinem Auto getötet hatte.

Der Mörder trug eine IS-Flagge bei sich, und obwohl sein Name (Shamsud-Din Bahar Jabbar) arabisch klingt, wurde er in Amerika geboren.

Ein weiterer Angehöriger des US-Militärs, Matthew Livelsberger, ein 37-jähriger, hochdekorierter Green Beret, sprengte einen gemieteten Tesla Cybertruck vor dem Trump International Hotel in Las Vegas in die Luft. Er befand sich in dem Fahrzeug, als es explodierte.

Sowohl Shamsud-Din Bahar Jabbar als auch Matthew Livelsberger hatten einen militärischen Hintergrund und beide dienten in Afghanistan.

Livelsberger war Quellen zufolge ein Unterstützer von Trump.

Können wir aus solchen Ereignissen einen schlüssigen Sinn ableiten?

Ich weiß nicht viel über diese New Heroes, aber ihre Taten sind eine ideale Einführung in ein Zeitalter des Terrors und der Demenz und vor allem des Chaos: das Zeitalter von Trump.

Diese zwei neuen Helden haben nichts mit der psychotischen Samantha zu tun oder mit Thomas Crooks, dem jungen Mann, der versuchte, Donald Trump zu erschießen. Sie haben auch wenig mit dem Rächer Mangione zu tun. Es handelt sich um unterschiedliche Gemenge aus Leid, Wahnsinn und ohnmächtiger Wut, um unterschiedliche ideologische Delirien. Aber solche Taten werden sich in den kommenden Monaten und Jahren häufen. Die amerikanische Gesellschaft jedoch wird durch diese Zunahme nicht zerstört werden, denn die amerikanische Gesellschaft basierte schon immer auf Gewalt, Angst und Wahnvorstellungen. Doch unter der Oberfläche brodelt etwas, etwas Neues entsteht.

Ich nenne es den chaotischen Krieg aller gegen alle.

Der chaotische, demente Krieg ist die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite ist die Automatisierung des sprachlichen Verhaltens, die Automatisierung der Wege des Daseins und der Erwartungen.

Chaos und Automation wachsen und gedeihen in einer gewalttätigen symbiotischen Beziehung.

Erschienen in der englischsprachigen Version am 15. Januar 2025 auf e-flux Notes, die deutschsprachige Übersetzung wurde Bonustracks zugespielt. 

Wir sind keine Bauern, wir sind das Volk, das sich gegen das Regime erhoben hat

Jwana Aziz

In diesem Artikel reflektiert die syrische Schriftstellerin Jwana Aziz über den Sturz des Regimes von Bashar al-Assad. Jwana untersucht die Bedingungen, die den Aufstand von 2011 auslösten, die Jahre des Bürgerkriegs und die Schwierigkeiten, die nun vor dem syrischen Volk liegen, während sie gleichzeitig die Möglichkeit für eine wirklich befreite Zukunft offen hält. Jwana ist die Tochter von Omar Aziz (Abu Kamel), einem syrischen Intellektuellen und Anarchisten, der während des Aufstands lokale demokratische Räte in Damaskus organisierte und theoretisierte. Im Jahr 2012 wurde Omar Aziz von syrischen Sicherheitskräften verhaftet und kam 2013 unter den katastrophalen Bedingungen in einem Gefängnis des Regimes ums Leben. 

Vorwort zu diesem Artikel, der aus dem englischsprachigen Reader “Die Syrische Revolution” (Dez 2024) stammt, der hier als PDF gelesen werden kann. 

Einleitung 

Während ich mich zum Schreiben hinsetze, denke ich an das letzte Mal, als ich meinen Vater sah. Er stand vor mir, hinter eisernen Gittern, gebrechlich und abgemagert, doch er lächelte mich an. Ich bewahre dieses Lächeln in meiner Erinnerung. Meine Mutter und ich standen auf der gegenüberliegenden Seite, zusammen mit dem Rest der Familien, die ihre Angehörigen besuchten. Die Kluft sollte deutlich gemacht werden. Sie, die Gefangenen, haben dem Staat Unrecht getan und sollten die Konsequenzen dafür tragen. Wir hingegen haben nichts getan, wir dürfen gehen und frei herumlaufen.

Heute befinde ich mich, wie Syrer auf der ganzen Welt, inmitten einer Lawine von Emotionen, die von Freude, Trauer, Hoffnung und Angst getragen werden und mich jeweils in eine andere Richtung drängen. Der Sturz des syrischen Regimes war unser kollektiver Traum, eine Sehnsucht, nach der wir uns gesehnt hatten, und am 8. Dezember 2024 wurde er wahr.

Um den Niedergang des Regimes zu verstehen, muss man zunächst wissen, wie es an die Macht gekommen ist. Als Hafez Al-Assad 1970 die Macht in Syrien übernahm, war die Dynastie darauf ausgelegt, mit eiserner Faust zu regieren. In den ersten drei Jahrzehnten führte Hafez ein System ein, das auf kapitalistischer Vetternwirtschaft und Korruption beruhte, unterstützt durch massive Überwachung und einen militarisierten Polizeistaat. Diese Kombination erwies sich als tödlich für jeden, der sich gegen ihn und seine Familie wandte.

Die Konsolidierung des Besitzes

Assad nutzte seine Machtposition, um die Kontrolle über alle wichtigen Sektoren zu monopolisieren und sicherzustellen, dass der Staat unter seiner Herrschaft nahezu jeden Aspekt des öffentlichen und privaten Lebens beherrschte. Dazu gehörten Telekommunikation, Immobilien, Bildung, Gesundheitswesen und sogar Heiratsinstitute. In den 1970er Jahren kam es zu einer dramatischen Vergrößerung des öffentlichen Sektors, wodurch der Staat zum wichtigsten Arbeitgeber der Syrer wurde. Im Jahr 2010 standen schätzungsweise 1,4 Millionen Syrer auf der Gehaltsliste der Regierung. [1] Durch diese Strategie verwischten die Grenzen zwischen der Familie Assad und dem syrischen Staat, so dass sie praktisch nicht mehr zu unterscheiden waren.

Vetternwirtschaft

Das Assad-Regime sicherte sich Loyalität, indem es ein Netz von Eliten aufbaute, die durch wirtschaftliche und soziale Anreize an die Familie gebunden waren. Machtpositionen wurden auf der Grundlage von Loyalität vergeben, wobei häufig Mitglieder von Assads eigener Glaubensgemeinschaft, den Alawiten, sowie enge Verbündete bevorzugt wurden. Dieses fest verankerte System der Günstlingswirtschaft sicherte die Loyalität von Schlüsselfiguren im militärischen, politischen und wirtschaftlichen Bereich und festigte Assads Macht weiter. Wie allgegenwärtig ihre Präsenz ist, zeigen die zahllosen Statuen, die zu Ehren von Assad und seinen Kumpanen errichtet wurden und ihre allgegenwärtige Herrschaft über Syrien symbolisieren.

Massenhafte Gewalt, massenhafte Inhaftierung

Die vielleicht stärkste Waffe in Assads Arsenal war die Bereitschaft des Regimes, unerbittliche Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anzuwenden. Diese Strategie erreichte ihren berüchtigten Höhepunkt mit dem Massaker von Hama 1982. Als Reaktion auf einen Aufstand der Muslimbruderschaft entfachte das Regime eine brutale Militäraktion. Als „einer der dunkelsten Momente in der modernen Geschichte der arabischen Welt“ [2] bekannt, tötete das Regime schätzungsweise 10 000 bis 40 000 Menschen und zerstörte große Teile der Stadt. Dieses Ereignis sandte eine klare Botschaft an den Rest von uns: Jede Herausforderung an Assads Herrschaft würde mit überwältigender und wahlloser Gewalt beantwortet werden.

Der syrische Bürgerkrieg, der 2011 unter Hafez’ Sohn Bashar al-Assad begann, führte zu einer weiteren Eskalation dieser Gewalt in industriellem Ausmaß. Das Regime setzte Flächenbombardements, Fassbomben und chemische Angriffe ein, um von der Opposition gehaltene Gebiete zu zerstören, was zum Tod von über einer halben Million Menschen und zur Vertreibung von Millionen führte. Zehntausende wurden verhaftet, gefoltert oder verschwanden.

Nirgendwo wurde die Gewaltbereitschaft des Assad-Regimes deutlicher als in seinen Gefängnissen. Zu den berüchtigtsten gehörten Tadmor (in Palmyra) und Sednaya, das als „Menschenschlachthaus“ [3] bekannt ist. Sednaya war in zwei Bereiche unterteilt: das „Rote Gebäude“, in dem systematisch gefoltert und hingerichtet wurde, und das „Weiße Gebäude“, in dem Häftlinge auf ihr Schicksal warteten.

Aus einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2017, der sich auf Aussagen ehemaliger Wärter stützt, geht hervor, dass das Weiße Gebäude nach dem syrischen Bürgerkrieg von den vorhandenen Gefangenen geräumt wurde, um Platz für diejenigen zu schaffen, die wegen ihrer Teilnahme an Protesten gegen das Regime von Bashar al-Assad inhaftiert waren. Schätzungen zufolge wurden zwischen März 2011 und August 2024 etwa 157.634 Syrer verhaftet. Darunter befanden sich 5.274 Kinder und 10.221 Frauen. Unter dem Weißen Gebäude befand sich ein „Hinrichtungsraum“, in den Gefangene aus dem Roten Gebäude transportiert wurden, um dort gehängt zu werden. Allein zwischen 2011 und 2015 wurden dort schätzungsweise 13.000 Menschen gehängt. [4]

Die Gräuel dieser Gefängnisse sind seit langem bekannt. Im August 2013 schmuggelte ein militärischer Überläufer mit dem Codenamen Caesar, der sich kürzlich als Osama Othman zu erkennen gab, 53.275 Fotos heraus, [5] auf denen der Tod von mindestens 6.786 Gefangenen dokumentiert ist. Diese Bilder gaben einen schonungslosen Einblick in die Brutalität des Assad-Regimes. Heute ist der Schleier noch weiter gelüftet worden, was noch schrecklichere Tatsachen ans Licht bringt.

In den Berichten werden unvorstellbare Grausamkeiten wie Vergewaltigung, Verstümmelung, Schändung der Leichen, Hungertod und der Entzug von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser, Schlaf und Medizin beschrieben. Zu den Foltermethoden, die zum Teil von französischen Kolonial- und deutschen Praktiken inspiriert waren, gehörte der Deutsche Stuhl, [6] bei dem die Opfer nach hinten gebogen wurden, bis ihre Wirbelsäule brach. Der Fliegende Teppich, ein Holzbrett, das Knie und Brustkorb zusammenbringen sollte, verursachte unerträgliche Rückenschmerzen. Die Leiter, an der die Häftlinge gefesselt und immer wieder heruntergestoßen wurden, brach ihnen bei jedem Sturz das Rückgrat. Und schließlich wurde die Eisenpresse benutzt, um die Leichen massenhaft zu entsorgen.

Das Wissen, dass diese Gräueltaten jahrelang andauerten, ist herzzerreißend. Syrerinnen und Syrer sind heute entweder immer noch auf der Suche nach Antworten auf die Frage, ob ihre Angehörigen vermisst werden, [7] wie Wafa Moustafa, die immer noch nach ihrem Vater sucht, [8] oder sie trauern über den bestätigten Tod ihrer Angehörigen und Freunde. In dieser Woche gingen die Syrer auf die Straße, um den Verlust des Aktivisten Mazen al-Hamada zu betrauern, [9] dessen Tod in einem Militärkrankenhaus bestätigt wurde. Mazen, ein Symbol des Widerstands und der Güte, hat einen ewigen Platz in unseren Herzen, zusammen mit zahllosen anderen, die ihr Leben für unsere heutige Freiheit geopfert haben: Razan Zaytouneh, Samira Khalil , Ghayath Matar und all die tapferen Männer, Frauen und Kinder, die sich für die Zukunft Syriens geopfert haben.

In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung hat Fadel Abdulghany, der Leiter des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte, Belege dafür gefunden, dass das Regime an der Verbrennung von Leichen in industriellem Maßstab beteiligt ist. „Wo sind die Leichen?“, fragt er. Gestern wurden rund 50 Säcke mit menschlichen Überresten in der Nähe von Damaskus auf einem kargen Gelände entdeckt, eines von vielen vermuteten Massengräbern. Ich schließe mich Abdulghanys Forderung an und betone, dass wir dringend wissen müssen, wo die Leichen begraben wurden, damit die Syrer ihre Lieben zur ewigen Ruhe betten und mit der Gestaltung ihrer Zukunft beginnen können.

Doch inmitten dieser Finsternis gibt es auch Freude und Entschlossenheit. Jüngste Videos zeigen die Freilassung von Gefangenen, darunter Kleinkinder [10], erwachsene Männer, die aufgrund der schrecklichen Bedingungen ihr Gedächtnis verloren haben [11], und Frauen, die in der Gefangenschaft Kinder geboren haben, die von Männern gezeugt wurden, die sie nicht kennen. Trotz der erschütternden Realität ist der heutige Tag ein Tag der Hoffnung – Familien finden wieder zusammen, und lange getrennte Familienangehörige nehmen sich wieder in die Arme. Die Schleifung des Sednaya-Gefängnisses ist ein denkwürdiger Tag.

Wir stehen im Kielwasser ihres Untergangs, die Statuen sind gestürzt, ihre Porträts zertrümmert, die Kumpane haben sich zerstreut, die Mukhabarat („Geheimdienst“) hat sich aufgelöst. Eine Familie, die ihren Reichtum hortete und 90 % ihres Volkes in die Armut stürzte, findet ihr Haus nun als offenes Haus vor [12], in das normale Menschen eintreten und sich nehmen können, was sie wollen – eine süße Ironie oder vielleicht eine angemessene Vergeltung. Aber unsere Feier wird nur kurz sein.

Was kommt als Nächstes?

Das vom Regime hinterlassene Vakuum wird von nationalistischen Gruppierungen wie Hay at Tahrir al-Sham (HTS), einer autoritären Organisation mit einer islamisch-fundamentalistischen Ideologie, und der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einem Stellvertreter der Türkei, ausgenutzt. Sowohl HTS als auch SNA müssen als Bedrohung für ein demokratisches Syrien angesehen werden. Und obwohl die USA und Israel die Offensive, die dem Regime ein Ende setzte, nicht initiiert haben, lehnt Israel die Befreiung Syriens ab, weil sie die israelische Kontrolle über Palästina und die regionale Stabilität gefährden könnte.

In dieser Situation ist es unerlässlich, dass wir alle Formen des arabischen Nationalismus und alle kolonialen Entititäten ablehnen, die auf ethnischen Säuberungen und der Expansionen von Siedlern beruhen – ganz gleich, ob sie von Israel, den USA, der Türkei oder anderen betrieben werden. Wir müssen die systematische Vertreibung von ethnischen Gruppen wie Assyrern, Kurden, Nubiern und Armeniern verhindern und sicherstellen, dass sie nicht fortgesetzt wird.

Es liegt nun an den Syrern, hierarchische Strukturen abzubauen und die Demokratie durch „Macht von unten“ [13] wieder aufzubauen. Die Arbeit meines Vaters[ 14] und seiner Genossen zeigt, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, sich durch lokale Räte selbst zu verwalten [15]. Sie sind ohne den Staat ausgekommen und haben Bildung, Krankenhäuser und Dienstleistungen organisiert, die alle vom Volk verwaltet wurden und in ihren Gemeinden verwurzelt waren. Die Syrer tun sich bereits zusammen, um die vom Regime vernachlässigte Infrastruktur wiederherzustellen. Initiativen zur Säuberung und Wiederherstellung öffentlicher Räume [16] sind ein Beweis für unsere Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit. Leider ist die Welt wieder einmal untätig und zögert, uns die Unterstützung zukommen zu lassen, die wir verdienen. Wie in der Vergangenheit wird auch heute versucht, die Realitäten in Syrien und die Möglichkeiten für einen Wandel zu begrenzen. Wir werden als passive Subjekte dargestellt, mit Verschwörungstheorien verleumdet und als Spielfiguren in einem größeren geopolitischen Spiel abgestempelt.

Aber wir sind keine Spielfiguren. Wir sind die Menschen, die sich gegen ein Regime erhoben haben, von dem wir wussten, dass es uns töten würde.

Als ich an dem Tag, an dem ich meinen Vater sah, das Gefängnis verließ, stand ich auf syrischem Boden und sollte eigentlich frei sein – doch ich fühlte mich alles andere als frei. Das Gefühl, beobachtet und überwacht zu werden, und die erstickende Präsenz der Angst waren mir nur allzu vertraut. Der Einfluss des Regimes war überall zu spüren, in den Straßen, in den Geschäften, auf den Straßen und in den Augen der Menschen. Syrien als Land fühlte sich wie ein einziges großes Gefängnis an.

Wenn es eine Botschaft gibt, die ich mit der Welt teilen könnte, dann ist es diese: Wenn du und deine Community nicht in der Lage sind, ihre Lebensweise zu bestimmen, lebst du in einer Art Gefängnis. Ein Gefängnissystem, das darauf abzielt, unser Potenzial und unsere Vorstellungskraft zu kontrollieren und einzuschränken. Wenn eine der brutalsten Diktaturen des 21. Jahrhunderts innerhalb weniger Tage zusammenbrechen kann, dann kann das auch das kapitalistische System, das unser Leben beherrscht und ausbeutet. Wir müssen in der Lage sein, von dieser Welt zu träumen, so wie mein Vater es von Syrien erträumt hat.

Fußnoten 

[1] https://carnegieendowment.org/research/2015/07/the-assad-regimes-hold-on-the-syrian-state?lang=en&center=middle-east

[2] https://richardpollock.substack.com/p/the-assad-familys-darkest-moment

[3] https://forensic-architecture.org/investigation/saydnaya?utm_source=chatgpt.com

[4] https://www.ndtv.com/world-news/syria-regime-change-bashar-al-assad-what-happened-at-syrias-saydnaya-bashar-al-assads-human-

slaughterhouse-7199792

[5] https://www.hrw.org/news/2015/12/16/syria-stories-behind-photos-killed-detainees

[6] https://www.aljazeera.com/news/2024/12/9/assads-human-slaughterhouses-what-to-know-about-syrias-prisons

[7] https://apnews.com/article/syria-rebels-assad-morgues-death-c64f6f4f3e03e7d063dc90f03ccd4c4b

[8] https://gcclub.org/2021/07/14/wafa-mustafa-the-woman-fighting-to-find-her-father-and-all-of-syrias-disappeared/

[9] https://www.middleeasteye.net/trending/social-media-users-mourn-syrian-activist-mazen-hamada-tortured-sednaya

[10] https://www.lbc.co.uk/news/boy-released-syrian-prison-assad/

[11] https://www.youtube.com/watch?v=sLLAGfLw894

[12] https://www.bbc.co.uk/news/videos/cwypw11qnppo

[13] https://www.democracynow.org/2024/12/12/syria_joseph_daher

[14] https://libcom.org/article/formation-local-councils-live-revolutionary-time as well as article 13 in this reader.

[15] https://isj.org.uk/the-ngoisation-of-the-syrian-revolution/

[16] https://syriadirect.org/damascus-volunteers-care-for-a-country-that-feels-like-theirs/

Die gesamte Broschüre “The Syrian Revolution” wurde am 18. Dezember 2024 erstmalig veröffentlicht, dieser Text erschien als Auszug am 16. Februar 2025 auf “The Anarchist Library”. Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte durch Bonustracks. 

Das Geschäft mit der Katastrophe

n+1 

Die Telerunde am Dienstag, 11. Februar, begann mit einem Kommentar zu einem Artikel über Wahlstress („Wahlstress, das neue Übel des modernen Lebens“).

FOBO (‘Fear Of Better Option’) ist nach Ansicht von Psychologen eine neue Form der Angst, die auf eine Fülle von Reizen, eine zu große Auswahl an Waren in einem Einkaufszentrum oder auf Online-Einkaufsplattformen zurückzuführen ist. Wir sehen diese Phänomene als Teil dessen, was wir allgemein als „sinnloses Leben“ bezeichnet haben. Die Menschheit wird von der unüberschaubaren Menge an produzierten Waren, von Werbung und Marketing erdrückt, was zu Ängsten, Ohnmachtsgefühlen usw. führt.

In dem Artikel „Kontrolle des Konsums, Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse“ haben wir den Punkt „d“ des revolutionären Sofortprogramms (Forli, 1952) entwickelt: Kampf gegen die Werbemodelle, die künstlich verschwenderische Bedürfnisse erzeugen, und gleichzeitig Abschaffung jeglicher Aktivitäten, die die reaktionäre Psychologie des Konsumismus nähren. Dieses Phänomen hängt mit der gigantischen und rasenden Produktion von Waren zusammen. In einer Zeit der Überproduktion von Waren ist es nur natürlich, dass der Kapitalismus den Konsum auf ein Maximum treibt und dafür sorgt, dass auch diejenigen, die über keine wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, Zugang zum Markt haben, indem sie sich verschulden.

The Economist (‘China’s youth are rebelling against long hours’) beschreibt die besondere Situation in China und prangert die zermürbenden Schichten und die tief in der Gesellschaft verankerte Arbeitskultur an. Baidou, Alibaba, Tencent, die sich auf Millionen von Hochschulabsolventen stützen, die ihren ersten Job suchen, zwingen den „Glücklichen“ zermürbende Arbeitszeiten und -rhythmen auf, manchmal mit fatalen Folgen für die Arbeitnehmer. Es gibt jedoch auch Reaktionen auf diese Realität, die Ost und West vereint, z. B. die „Tang Ping“ (das Manifest deutsch auf Sunzi Bingfa, d.Ü.)  in China, die sich weigern, wie Zitronen ausgepresst zu werden, und es vorziehen, sich „hinzulegen“, oder das #AntiWork-Phänomen in den USA, eine Seite auf Reddit mit fast drei Millionen Nutzern, denen die Verweigerung der Arbeit gemeinsam ist. Die US-Bewegung der freiwilligen Einfachheit basiert auf einem minimalistischen Lebensstil, einer ihrer Slogans lautet: Alles, was du besitzt, gehört am Ende dir.

In den USA gibt es sogar Millionäre, die philanthropisch auf Geld verzichten. Sie trafen sich kürzlich in Nashville zu einer Konferenz. Im Jahr 2024 gab es im ganzen Land große Streiks, von den Teamsters bis zu den Amazon-Arbeitern, von den Lehrern bis zu den Hafenarbeitern. Diese Reihe von Phänomenen spiegelt die Schwierigkeiten wider, mit denen die Menschen in einer entfremdeten kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert sind. Auch in den USA wird ein Generalstreik über soziale Netzwerke organisiert (die Initiative #generalstrike hat etwa 11.000 Mitglieder in der Discord-Community). Angesichts der zunehmenden Prekarität der Arbeit ist es absurd, in Fabrikzellen zu denken, ein Thema, das den Ordinovisten vor und den Arbeitern von 1968 nachher am Herzen lag, während die von der Linken angedachte territoriale Organisation, die sich heute auf Netzwerke und alles, was die Gesellschaft an Technologie zur Verfügung stellt, stützt, mit Bedeutung angereichert wird.

Laut einer Umfrage von Il Sole 24 Ore („Junge Menschen auf der Flucht: das Unbehagen und die Isolation, die sie von der Gesellschaft und der Politik fernhalten“) fühlt sich jeder fünfte junge Mensch von der Gesellschaft abgeschnitten, während 58 % zwischen Einbindung und Ausgrenzung schwanken. Das Verschwinden der Massenparteien und die Zunahme des Abstentionismus sind Teil eines umfassenderen Auflösungsprozesses der alten Produktionsweise. Der kapitalistische Akkumulationsprozess neigt dazu, die Pole unumkehrbar zuzuspitzen: auf der einen Seite die Klasse der Unqualifizierten, auf der anderen das System der 1%.

Der Kapitalismus dehnt den Produktionsplan auf die globale Ebene aus und der einzelne partielle Arbeiter nimmt an der Produktion einer kontinuierlichen Ware teil. Marx geht auf diese Fragen in dem unveröffentlichten Kapitel VI des Kapitals ein, in dem er die Produktivität der Arbeit und die Notwendigkeit analysiert, die differenzierte Arbeit der einzelnen Fabrikarbeiter in ein einziges Produkt des globalen Arbeiters zu integrieren. Im Bereich der Informationstechnologie beispielsweise muss man, sobald man ein Gerät, sei es ein PC oder ein Smartphone, erworben hat, weiterhin eine laufende Gebühr für den Internetzugang zahlen, ebenso wie bei Strom, Gas, Wasser und sogar bei Lebensmitteln.

The Economist widmet auch mehrere Artikel der laufenden Transformation des Konflikts in der Ukraine, wo die elektromagnetische Kriegsführung Einzug gehalten hat. In „Fighting the war in Ukraine on the electromagnetic spectrum“ wird die entscheidende Bedeutung von Frequenzstörsendern erörtert, die speziell nach Drohnen „suchen“. Ebenso wie die Störsender entwickeln sich auch die Drohnen, die mit Technologien ausgestattet sind, die sie unangreifbar machen. Die Ukraine hat Pionierarbeit bei der Verwendung von Drohnen mit First-Person-View (FPV) geleistet, mit denen feindliche Ziele punktgenau gesucht, verfolgt und zerstört werden können. Die Bediener der Drohnen können übrigens geortet werden: Jeder, der ein Signal aussendet, ist ein mögliches Ziel. Der derzeitige Krieg ist in Wirklichkeit ein Krieg der Sensoren im Feld, der Satelliten, die Signale in Echtzeit empfangen. Um der Ortung zu entgehen, setzen die ukrainischen Soldaten Drohnen ein, die mit Hilfe von Glasfaserkabeln gesteuert werden, d. h. es werden winzige Kabel abgerollt, die diese Fluggeräte gegenüber der Ortung immun machen.

In „The added dangers of fighting in Ukraine when everything is visible“ beschreibt die britische Wochenzeitung das Szenario des Konflikts, bei dem die Frontlinien mit Überwachungsdrohnen übersät sind, die Echtzeit-Videos übertragen. Jeder kämpft auf einem gläsernen Schlachtfeld, auf dem sich die Soldaten sogar mit spezieller Kleidung bedecken müssen, die die Wärmeabstrahlung blockiert, um nicht von Wärmekameras entdeckt zu werden. Künstliche Intelligenz wird eingesetzt, um die Überwachungsdaten zu analysieren und sie mit frei zugänglichen Signalen und Informationen abzugleichen, z. B. mit den Social-Media-Posts der russischen Soldaten, die deren Positionen verraten können.

Bei den beschriebenen Techniken handelt es sich um Kampftechniken, die wir in „Das Yamamoto-Syndrom“ analysiert haben, einer Semi-Referenz, die sich der modernen, elektronischen und sensorgestützten Kriegsführung widmet.

Apropos Krieg: Donald Trumps Äußerung über die Idee, die Palästinenser des Gazastreifens nach Ägypten und Jordanien umzusiedeln, hat für Aufsehen gesorgt. Die Idee, die Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Jordanien umzusiedeln, wurde bereits vor einigen Jahren von einigen Persönlichkeiten und politischen Kräften unter dem Slogan „Jordanien ist Palästina“ vorgebracht. Aus diesem Grund zögert das Haschemitische Königreich, neue Wellen von palästinensischen Flüchtlingen aufzunehmen.

Das Wachstum der Weltbevölkerung ist eines der Themen, die den Staaten Sorgen bereiten. In dem Artikel „Wird der Geburtenrückgang die Welt retten?“ von Milena Gabanelli und Francesco Tortora Ecco im Corriere della Sera werden die Thesen von Malthus, die zu seiner Zeit von Marx kritisiert wurden, in schlechter Absicht wieder aufgegriffen. In dem Artikel werden die Daten von Ländern genannt, die einen demografischen Zusammenbruch erleben (darunter auch Italien), und es wird ein regelmäßiger Bericht der Vereinten Nationen, die „World Population Prospects“, zitiert, in dem hervorgehoben wird, dass das demografische Wachstum in den letzten Jahren geringer als erwartet ausgefallen ist. Dem Bericht zufolge wird der Weltbevölkerungsrekord Mitte der 2080er Jahre erreicht sein, wenn 10,3 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Angesichts der Zunahme des Verbrauchs würde der Planet eigentlich nicht ausreichen. Aber das hat nichts mit den Chinesen, Indern oder Afrikanern zu tun, sondern mit der derzeitigen Produktionsweise („wiederkehrender und hartnäckiger Malthusianismus“) [link d.Ü.). Nicht der Einbruch der Geburtenraten wird die Welt retten, sondern die Beerdigung des Kapitalismus.

Elon Musk schlägt Alarm wegen des Erreichens einer gefährlichen Schwelle und argumentiert, dass die menschliche Spezies, um sich vor der drohenden Katastrophe zu retten, multiplanetarisch werden muss, vor allem durch die Besiedlung des Mars. Für Jeff Bezos (Amazon) bestünde die Lösung darin, lebende Strukturen in der Erdumlaufbahn zu errichten (siehe Stanford’s Taurus und O’Neill’s Cylinder).

Es ist nicht so wichtig, was die Musks und Bezos von heute sagen, sondern die Tatsache, dass der Kapitalismus die Ideologie vorgibt, die nötig ist, um neue Wege zu gehen. Die gegenwärtige Produktionsweise versucht, dem Gesetz der sinkenden Profitrate zu entkommen, indem sie in Robotik und automatisierte Systeme auf der Grundlage künstlicher Intelligenz investiert und den Weltraum als neues Ausbeutungsfeld ins Auge fasst.

Die Journalistin Naomi Klein beschreibt in ihrem Essay Shock Economy. The Rise of Disaster Capitalism, dass der heutige Kapitalismus die Katastrophen, die er produziert, ausnutzt, um Geschäfte zu machen: Er reagiert auf den Klimawandel und die Umweltverschmutzung mit Elektroautos und Fotovoltaikanlagen (grünes Marketing).

Veröffentlicht am 16. Februar 2025 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Die extreme Rechte, die Linke und die Falle der Wahlpolitik

Blade Runner 

Die an den Kapitalismus und den Wahlkampf gebundene staatstragende Linke hat in einer Zeit der Krise und Umstrukturierung nichts zu bieten und überlässt das Feld den Faschisten.

In den letzten zehn Jahren haben wir das Wiederaufleben eines bekannten historischen Musters beobachtet: Teile der Arbeiterklasse und der ärmeren Bevölkerungsschichten wenden sich zunehmend rechtsextremen Figuren wie Trump und Le Pen zu. Zu den jüngsten Beispielen für rechtsextreme Wahlerfolge gehört Österreich, wo die einwanderungsfeindliche, russlandfreundliche Freiheitliche Partei (FPÖ) bei der Wahl am 29. September 2024 mit einer beeindruckenden Wahlbeteiligung von 80 % den Sieg davontrug. Dies bestätigt einen wachsenden Trend, der bereits in Ländern wie Italien, Ungarn, Polen, Brasilien und Frankreich zu beobachten war. Mehrere andere Länder folgten diesem Beispiel, darunter Argentinien, das im November 2024 den rechtsextremen Libertären Javier Milei zum Präsidenten wählte.

Linke Mainstream-Kreise interpretieren diesen Wandel oft als Ergebnis ihres eigenen Versagens„ bei der Behandlung von Anliegen der Arbeiterklasse .[1] Ein gängiges Argument ist, dass eine “Klassenumkehr“ stattgefunden hat, bei der linke Parteien von gebildeten neoliberalen Eliten vereinnahmt wurden. [2] Andere behaupten, dass die Linke die wirtschaftliche Analyse zugunsten von Identitätspolitik aufgegeben hat. [3]

Das eigentliche Problem liegt jedoch in den Defiziten des demokratischen Wahlsystems selbst. Das Gefühl des Verrats und der Desillusionierung rührt von dem historischen Versagen der staatstragenden Linken her, das Spektakel der Wahlpolitik in Frage zu stellen, das dazu dient, das Klassensystem um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Stattdessen haben linke Parteien Zeiten des Aufruhrs und der Unruhen während des Zusammenbruchs der sozialdemokratischen Ideale in den Wirtschaftskrisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für sich genutzt. [4] Auf diese Weise hat sich die Linke (die sich heute auf den Green New Deal, Identität und Menschenrechte konzentriert) als eine der beiden Säulen der hegemonialen Politik positioniert, die andere ist die Rechte (die sich auf die Leugnung des Klimawandels, Nationalismus und Religion konzentriert).

Die moderne etatistische Linke steht vor einer grundlegenden Tragödie. Durch ihre Bindung an den Wahlkampf verstrickt sie sich in das Netz der neoliberalen Regierungsführung und bietet weder echte alternative Lösungen noch stellt sie das kapitalistische System in einer Zeit der Krise und Umstrukturierung wirksam in Frage – einer Zeit, die eine hervorragende Gelegenheit sein sollte, einen neuen Weg einzuschlagen. In der Zwischenzeit behält die Elite die Kontrolle, indem sie die Arbeiter von direkten Aktionen ablenkt und sie in Richtung rechtsextremer Wahloptionen oder orchestrierter fremdenfeindlicher Unruhen lenkt. [5] Diese Ablenkungen verschaffen der herrschenden Klasse Zeit, die Produktion und die politischen Systeme umzustrukturieren, um sich an die düsteren Realitäten des Klimakollapses und des Ökozids anzupassen. [6]

Ironischerweise sind es die Rechtsextremen, nicht die Linken, die von ungedeckten Versprechen leben. Rechtsextreme Führer hüllen sich in eine Anti-Establishment-Rhetorik und positionieren sich als Verfechter der „vergessenen“ Arbeiterklasse. Indem sie Mythen wie „Great Replacement“ und die Degeneration der westlichen Zivilisation ausnutzen, kanalisieren sie die Wut der Arbeiterklasse in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Ihre Agenda spaltet die Arbeiterklasse einmal mehr, indem sie sie entlang rassischer, ethnischer und nationaler Grenzen spaltet. Sobald sie an der Macht sind, machen sich die Rechtsextremen die wirtschaftliche Verzweiflung zunutze, die ursprünglich zu ihrem Aufstieg geführt hat, und setzen eine arbeiterfeindliche Sparpolitik durch, die die Ungleichheiten weiter vertieft [7].

Auf diese Weise verstärken sie sowohl die materiellen als auch die ideologischen Barrieren, die die Privilegierten innerhalb der Zitadelle vor den ausgeschlossenen „Anderen“ schützen, und verbreiten Angst und Hass auf beiden Seiten. Den Ausgeschlossenen wird der Zutritt zu den Wohlstandszonen innerhalb der Festung Europa verwehrt, während der Staat die Kontrolle über die „wohlhabende“ Bevölkerung ausübt und gegenüber jedem, der die Grenzen des depressiven kapitalistischen Realismus überschreitet, null Toleranz zeigt. [8]

Die Lösung liegt nicht darin, linke Wahlparteien zu reformieren, um sie in Einklang mit dem fortschreitenden Zusammenbruch des kapitalistischen Systems zu bringen. Sie liegt im Aufbau einer Bewegung, die den gesamten Rahmen der Wahlpolitik ablehnt. Die Antwort liegt in direkter Aktion, gegenseitiger Hilfe und gemeinschaftlicher Organisierung, die sowohl die Fremdenfeindlichkeit der extremen Rechten als auch die hohlen Versprechungen der Linken ablehnt. Nur mit radikalem Klassenbewusstsein und antiautoritärer Organisation können die kapitalistischen und staatlichen Strukturen, die uns ständig betrügen, zerschlagen werden.

Fussnoten

[1] https://jacobin.com/2024/08/uk-far-right-riots-immigration-deindustrialization

[2] https://jacobin.com/2018/08/left-political-party-economists-neoliberalims-keynesianism

[3] https://www.newstatesman.com/the-weekend-interview/2023/08/freddie-deboer-interview-elite-identity-politics-destroying-left

[4] https://theanarchistlibrary.org/library/crimethinc-syriza-can-t-save-greece

[5] https://freedomnews.org.uk/2024/09/03/neo-fascisms-false-mantle-of-insurrection/

[6] https://theanarchistlibrary.org/library/alfredo-m-bonanno-the-insurrectional-project#toc6

[7] https://unicornriot.ninja/2024/chainsaw-democracy-argentina-in-crisis-faces-an-authoritarian-president/

[8] https://voidnetwork.gr/2021/07/11/a-future-with-no-future-depression-the-left-and-the-politics-of-mental-health/

Erschienen am 7. Oktober 2024 auf Freedom News, wiederveröffentlicht am 12. Februar 2025 auf The Anarchist Library, die deutsche Übersetzung von Bonustracks übernimmt die Fussnoten der Veröffentlichung auf ‘The Anarchist Library’. 

Die Form der Commune: Ein Gespräch

Kristin Ross und Andreas Petrossiants

Die Form der Kommune „ist zugleich eine politische Bewegung und ein gemeinsames Territorium, eine Taktik und eine Gemeinschaft im Entstehen“. Sie ist weder die Erfüllung eines vorherbestimmten revolutionären Programms, noch eines, das auf idealistischen oder romantischen Modellen der Totalität basiert, sondern ein dynamischer Prozess, der auf die gegenwärtigen und lokalen Bedingungen reagiert. Er zeigt sich in territorialen Kämpfen wie der dezentralen Bewegung „Stop Cop City“ in Atlanta (und auf der ganzen Welt, wie Joy James uns daran erinnert, dass viele Städte an und für sich schon Cop Cities sind) und bei der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, Frankreich, wo Bauern, Anarchisten und andere Akteure trotz brutaler staatlicher Unterdrückung einen sechzig Jahre alten Plan zum Bau eines neuen Flughafens stoppen konnten. Die Bewegungen im selben Land, die sich gegen das Horten von Wasser durch das Agrarkapital in Mega-Becken mobilisieren, stellen ein neues Terrain dieses Kampfes dar, der heute von Kollektiven wie Soulèvements de la Terre geführt wird. Der folgende Text ist ein Gespräch zwischen Kristin Ross und Andreas Petrossiants, das im Oktober 2024 bei e-flux geführt wurde. Er wurde aus Gründen der Verständlichkeit überarbeitet.

Vorwort e flux journal

***

Andreas Petrossiants: Du beginnst „Die Form der Commune“ mit der Vorstellung von Marx und Kropotkin, dass die Pariser Kommune eher eine „Form“ des Handelns als ein singuläres, statisches Ereignis darstellt – die „Kunst und Verwaltung des täglichen Lebens“. Im Gegensatz zu den Argumenten von Leuten wie Karl Korsch ist diese Form nicht zufällig oder irrelevant im Vergleich zum Inhalt der Commune. Warum hast du diese Form gewählt, um die territorialen Kämpfe in Stadt und Land seit 1968 zu diskutieren?

Kristin Ross: Ich schreibe seit vielen Jahren über die Pariser Commune, aber ich fing an, über die „Form der Commune“ nachzudenken, als ich 2015 zu einer laufenden Besetzung in Notre-Dame-des-Landes eingeladen wurde, bei der versucht wurde, den Bau eines internationalen Flughafens auf Ackerland zu verhindern. Es war die am längsten andauernde soziale Bewegung im Nachkriegsfrankreich und durchlief viele verschiedene Phasen. Als ich dorthin eingeladen wurde, sollte ich darüber sprechen, welche möglichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen dem, was sie taten, und dem, was die städtischen Kommunarden im neunzehnten Jahrhundert in Paris taten, bestehen. Ich war also in gewisser Weise gezwungen, über eine gemeinsame politische Form und die Grenzen des Vergleichs nachzudenken. Dort, in der ZAD („zone à defendre“), sah ich etwas, das der tatsächlichen Erschaffung einer anderen Welt, einer kollektiven Errichtung einer anderen Welt, nahekam. Es erinnerte mich daran, wie Michail Bachtin über die Zeitlichkeiten der Fiktion spricht, die er „Chronotopen“ nannte: unterschiedliche Raumzeiten. Die ZAD war ihre eigene Zeitlichkeit, ihr eigener Raum – aber sie war nicht fiktiv.

Wenn Marx über die Pariser Commune spricht, sagt er: „Die Form war einfach, wie alle großen Dinge“. Und ich habe viel Zeit damit verbracht, über diese und andere prägnante und doch erstaunliche Aussagen nachzudenken, die entweder er oder Kropotkin und einige andere Mitstreiter des Aufstands über die Commune machten. Kropotkin sagt: „Sie ist der Rahmen für die Revolution und das Mittel, sie herbeizuführen.“ Es ist also sowohl der Kontext als auch die Substanz. Und die Überlegungen von Marx sind nicht viel anders. Marx ist am anarchistischsten, wenn er über die Commune spricht. Ich fing an, darüber nachzudenken, wann die Commune floriert. Nun, sie blühen immer dann auf, wenn sich der Staat zurückzieht. Wenn der Staat handlungsunfähig ist oder wenn er ein Nickerchen macht. Im Fall von Notre-Dame-des-Landes hat der Staat etwa zwanzig Jahre lang vergessen, dass er in dieser Gegend einen Flughafen bauen wollte. Es war also ein langes Nickerchen. Und während dieser Zeit konnten die Menschen in der Besetzung große Fortschritte bei der Entwicklung der Fähigkeit zur Zusammenarbeit machen, was die Menschen jetzt erst wieder lernen müssen. Besetzungen wie die ZAD sind also eine politische Bewegung, aber sie sind auch die kollektive Ausarbeitung einer gewünschten Lebensweise. Als solche ist die Form der Commune immer mit einem bestimmten Territorium verbunden. Sie ist keine Abstraktion. Sie ist kein Konzept. Sie ist etwas, das in einem bestimmten Gebiet, einer Nachbarschaft, einer Region aufgebaut und verankert ist.

AP: In Bezug auf das Territorium erinnert mich das daran, dass du schreibst, dass für viele Bauern in Frankreich der Mai ’68 weniger als ein „eigenständiges Ereignis“ als vielmehr als ein Moment in einem größeren Kampf gegen die Einfriedung erlebt wurde. Sie zitieren Bernard Lamberts Les Paysans dans la lutte des classes, das, wie Sie sagen, „das erste Werk war, das Bauern und Arbeiter in dieselbe strukturelle Situation gegenüber der kapitalistischen Moderne stellte“. Ich fühle mich auch an Eric Hobsbawms Bemerkung erinnert, dass das Mittelalter für einen Großteil der Welt in den 1950er Jahren plötzlich endete. Dein Text über die ZAD und andere nicht-hierarchische Bewegungen zur Verteidigung von Territorien gegen die staatliche und kapitalistische Einschließung bezieht sich auf diese landbasierten Kämpfe und nicht-städtischen oder nicht-proletarischen Subjekte, die oft übersehen werden.

KR: Lefebvre wies schon in den siebziger Jahren darauf hin, dass jeder Kampf um Land notwendigerweise Allianzen zwischen den unterschiedlichsten Menschen erfordert. Er bringt notwendigerweise Menschen zusammen, die völlig unterschiedliche politische Codes haben, die nicht in denselben ideologischen Booten sitzen. Es ist eine dramatische Mischung von Menschen. Das hat sich bei der ZAD gezeigt. Die dortigen Besetzer haben schließlich einen Begriff gefunden, um zu beschreiben, was sie taten, als sie versuchten, diese verschiedenen Segmente und Gruppen lange genug zusammenzuhalten, um den Flughafen zu blockieren: „Komposition“ oder Solidarität in extremer Vielfalt. Sie hatten Generalversammlungen, die ewig dauerten, weil dies die notwendige Arbeit war, um Gruppen zusammenzubringen, die so unterschiedliche Teilnehmer wie alte, sehr konservative Milchbauern (die sich anfangs weigerten, ihr Land zu verkaufen, als der Flughafen angekündigt wurde), Anarchisten, Nonnen, schwarze Blöcke, lesbische Separatisten, Landwirte, die nicht an tierisches Eiweiß glaubten, Naturschützer, die nicht einmal an die Landwirtschaft glaubten, und so weiter umfassen konnten. Und was mich jetzt am meisten an der Zusammensetzung fasziniert, ist, wie effektiv sie ist. Denn wenn man diese Gruppen zusammenbringt, kommen auch unterschiedliche Kenntnisse und Erfahrungen ins Spiel: das wissenschaftliche Wissen der Naturwissenschaftler; das praktische Wissen der Anarchisten, wie der Bau und die Instandhaltung von besetzten Häusern; die kreative, spontane, improvisatorische Energie der Punks; die Fähigkeiten derjenigen mit juristischem Hintergrund, die in der Lage waren, die Gerichte zu bemühen, um den Bau zu verzögern und aufzuhalten. Der Staat kann nicht alle diese verschiedenen Gruppen auf einmal angreifen. Man kann sie als eine geschlossene Front betrachten. Aber wenn man es weniger militaristisch sehen will, könnte man es mit einer musikalischen Analogie beschreiben, wie bei einer Symphonie, bei der an bestimmten Stellen die Hörner laut und die Geigen zurückhaltend sind, und dann ändert sich das und ein anderer Teil des Orchesters tritt in den Vordergrund. Die Komposition zeigt, dass es eigentlich sehr wünschenswert ist, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die nicht dieselben politischen Codes teilen, weil sie unterschiedliche Dinge in den Kampf einbringen. Es ist eine Art massive Investition in die Zusammenarbeit, um unsere Zukunft auf eine Art und Weise zu beeinflussen, die nicht mit den alten Sektierertum der Linken oder den auf Identität oder Ideologie basierenden Ausschlüssen verbunden ist, in denen sich die Linke historisch verfangen hat.

AP: Dieser Begriff der Zusammensetzung hat mir geholfen, über einige Fragen nachzudenken, die ich mir beim Studium des operaistischen Begriffs der „Klassenzusammensetzung“ gestellt habe. Theoretisch gesehen verwenden sie den Begriff, um die dialektische Beziehung zwischen der technischen Zusammensetzung (dem Arbeitsprozess) und der politischen Zusammensetzung (dem Klassenkampf) zu beschreiben. Aber eine viel einfachere Art und Weise, ihre Perspektive auf die kapitalistische Entwicklung zu verstehen, ist, dass die Arbeiter erst im Moment des Kampfes um die Abschaffung der Klassenverhältnisse existieren. In diesem Zusammenhang unterscheidest du zwischen ‘Widerstand’ – wie zum Beispiel dem liberalen Widerstand gegen den Konservatismus, der die Implikation enthält, dass der Kampf bereits vorbei ist – und ‘Verteidigung’, die stattdessen auf einer Zeitlichkeit und einer Reihe von Prioritäten beruht, die von der lokalen Gemeinschaft im Entstehen erzeugt werden. Letzteres scheint eher ein Prozess der Abschaffung der Reproduktionsbeziehungen zu sein, die für die kapitalistische Arbeitsteilung entscheidend sind, wie im Begriff der Klassenzusammensetzung.

KR: Im Gegensatz zum ‘Widerstand’ beginnt die ‘Verteidigung’ mit etwas, das man bereits hat, etwas, das man liebt, das man schätzt. Es beginnt also mit Liebe und der Vorstellung, dass es etwas gibt, das man schätzt und das es wert ist, verteidigt zu werden. Das schafft eine andere Art von Zeitlichkeit, weil man sich nicht an die Agenda oder die Bedingungen des Staates hält. Was wirklich auffällt, vor allem bei diesen Bewegungen, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken, ist, dass sie sich selbst neu erfinden und neue, kreative Wege finden müssen, den Kampf zu leben, manchmal über Jahre hinweg. Und so ändert sich das, was man verteidigt, zwangsläufig mit der Zeit. Am Anfang verteidigt man vielleicht landwirtschaftliche Flächen oder ein unverschmutztes Gebiet oder ein schwarzes Viertel, aber mit der Zeit verteidigt man vor allem die nicht akkumulierten sozialen Beziehungen, die sich im Laufe der Verteidigung entwickelt haben.

AP: Richtig! Das führt zu einer anderen Formulierung, die du vorgebracht hast und die ich sehr generativ finde: die „Umwertung der Werte“, die ich für einen sehr hilfreichen Rahmen halte, um über das Problem der „Abschaffung des Wertes“ nachzudenken, das natürlich in vielen marxistischen Strömungen der Nachkriegszeit in den Vordergrund tritt, vor allem in der Wertformtheorie und der Kommunisierung. Wie du sagst, geht es im Verlauf eines Kampfes nicht nur darum, den bestehenden akkumulierten Reichtum zu entwerten oder abzuschaffen, sondern auch darum, neue soziale Werte zu verteidigen, die aus nicht akkumulierten sozialen Beziehungen hervorgegangen sind.

KR: Nun, ich spreche darüber nicht wie ein Werttheoretiker, das ist sicher. Mein Denken darüber stammt aus meiner früheren Arbeit über die Pariser Kommunarden und einem kleinen Satz, den ich in dem Manifest fand, das die Künstler der Commune zusammenstellten, Künstler, die übrigens meist Kunsthandwerker waren, geschickte Handwerker. Das Wichtigste, was sie beschlossen, war, dass es wirklich nur eine einzige künstlerische Geste gab, und zwar eine, die sowohl die bildenden Künstler als auch die Kunsthandwerker teilten. Künstler und Kunsthandwerker schlossen sich also praktisch zusammen. Das mag jetzt nicht nach viel klingen, aber während des Zweiten Kaiserreichs war es für einen dekorativen Künstler oder einen Kunsthandwerker schlichtweg illegal, seine Arbeit zu signieren. Sie konnten weder den Status noch die finanziellen Belohnungen anstreben, die Bildhauer oder Maler besaßen. Dieser Zusammenschluss war also die Überwindung der strengsten sozialen Trennung in der Kunst des Zweiten Kaiserreichs. Künstler und Kunsthandwerker schrieben gemeinsam ein Manifest, in dem sie beschrieben, dass alle künstlerische Intelligenz eins ist. Und im letzten Satz ihres Manifests schrieben sie: „Wir arbeiten … für den gemeinschaftlichen Luxus.“ Ein erstaunlicher Satz, denn ist Luxus nicht nur etwas für wenige? Für sie scheint es, dass jeder das Recht hat, in einer angenehmen Umgebung zu leben und zu arbeiten. Luxus ist nicht die private Anhäufung von Dingen, sondern das Erblühen der Schönheit in allen gemeinsamen Räumen; letztlich setzt „gemeinschaftlicher Luxus“ natürlich das Ende des auf Klassenteilung basierenden Luxus voraus. Wenn man diese Idee vorantreibt, wie es zum Beispiel William Morris getan hat, bedeutet das, dass jeder einzelne Aspekt unserer Beziehung zur Kunst, zur Arbeit, zur Umwelt, zur natürlichen Welt verändert werden muss, und zwar entsprechend der Veränderung dessen, was eine Gesellschaft schätzt. Was ist für uns wichtig? Worauf legen wir Wert? Das ist es, was ich mit einer Umwertung des Wertes meine.

AP: Ich erinnere mich an ein Foto, das du in deinem früheren Buch über die Commune, (The Emergence of Social Space: Rimbaud and the Paris Commune), von Napoleon Gaillard, dem Barrikadenkünstler der Commune, reproduziert hast, auf dem er neben den Barrikaden gezeigt wird, die er mit aufgebaut hat, stolz, wie er neben seinem eigenen Kunstwerk steht.

KR: Genau so ist es. Er war ein Schuhmacher und ein Trinker. Aber er bestand darauf, immer „Kunstschuhmacher“ genannt zu werden. Er schrieb auch eine ganze Abhandlung über den Fuß und erfand zahlreiche Schuhe, darunter die ersten Gummigaloschen. Er war also ein sehr begabter Mann. Er war auch mit dem Bau von Barrikaden betraut und begann, immer kunstvollere Barrikaden zu bauen. Die Antikommunisten machten sich über ihn lustig, weil sie seine Barrikaden für Kunstwerke und Luxus hielten, was tatsächlich der Fall war. Das erinnert mich an einen meiner Besuche bei der ZAD, als ich erfuhr, dass dort ein Leuchtturm mitten auf einem Feld gebaut wurde, ohne dass das Meer in Sicht war. „Warum baut ihr einen Leuchtturm?“ fragte ich. „Ist er zur Verteidigung? Macht ihr euch Sorgen, dass ihr die Polizisten sehen könnt, wenn sie kommen?“ Und jemand sagte: „Nein, das ist kommunaler Luxus. Es ist das siebte Wunder der ZAD.“

AP: Sie hatten auch ein schwimmendes Rap-Studio, das ist so cool! Du hast dich auch mit Maria Mies und Veonika Bennholdt-Thomsens Schrift über die „Subsistenzperspektive“ beschäftigt. Wie du schreibst: „Die Dauer einer Bewegung hängt eindeutig von ihrer Fähigkeit ab, sich direkt in die Mittel der Subsistenz einzumischen.“ Hier wird deutlich, dass es bei der Subsistenz nicht nur um das Überleben, sondern auch um das Gedeihen geht.

KR: Die Subsistenzperspektive ist nicht wirklich eine ausgearbeitete Theorie. Mies und Bennholdt-Thomsen bestehen darauf, dass es eher eine Perspektive, eine Orientierung ist. Es ist der Gesichtspunkt der Subsistenz. Heute werden in Frankreich 50 Prozent des Bodens landwirtschaftlich genutzt, und 50 Prozent dieses Bodens werden in den nächsten zehn Jahren den Besitzer wechseln, da die Landwirte in Rente gehen. Das bedeutet also, dass ein großer Teil des Landes entweder in den großen Betrieben der Agrarindustrie aufgehen oder zugepflastert werden wird. Der Krieg auf dem Lande ist der zwischen der Agrarindustrie und etwas, das wir immer noch als Subsistenz bezeichnen können, nämlich eine nicht akkumulierende, nicht-produktivistische Art der Landwirtschaft, die sich mit allen Fragen rund um den Anbau beschäftigt: Was wollen wir anbauen? Wie viel wollen wir anbauen? Wie wollen wir es anbauen? Und ich denke, das ist ein guter Weg, um über diesen Krieg auf dem Lande nachzudenken, denn das, was einige von uns jetzt den agroindustriellen Komplex nennen, kann alles umfassen, von Saatgut und Saatgutpatenten über landwirtschaftliche Geräte bis hin zu Supermärkten, dem Vertrieb von Lebensmitteln, der Forschung und der gesamten Bürokratie, die bestimmt, wer Zugang zu Land hat und wer nicht. Der wahre Krieg des Kapitals richtet sich gegen die Subsistenz, denn Subsistenz bedeutet eine qualitativ andere Wirtschaft. Sie bedeutet, dass die Menschen nach unterschiedlichen Vorstellungen davon leben, was Reichtum und was Entbehrung bedeutet. Sie orientiert sich am Eigenwert und den Interessen der Kleinerzeuger, Handwerker und Landwirte. Es geht um die schrittweise Schaffung eines Gefüges gelebter Solidarität und eines sozialen Lebens, das durch den Austausch von Dienstleistungen, informelle Genossenschaften, Kooperation und Assoziation – die beiden Leitbegriffe der Pariser Kommune – aufgebaut wird. Es geht um die Ausweitung der Tätigkeitsbereiche, in denen die wirtschaftliche Rationalität nicht vorherrscht. Es geht um ein Leben, das nicht vom Weltmarkt geprägt und gestaltet wird. Das sind die Umrisse der Form der Commune.

AP: Im Jahr 2022 veröffentlichten wir Kommuniqués von autonomen Kollektiven und Gruppen, die kollektive Formen der Lebensmittelproduktion, der Landwirtschaft und des Anbaus organisierten. Einer der Beiträge stammte von Menschen, die den Wald in Atlanta vor dem Bau einer riesigen Polizeiausbildungsstätte, bekannt als „Cop City“, verteidigten, die leider gebaut wurde (obwohl der Kampf dagegen weitergeht). Auf der Flucht vor einem Polizeihubschrauber schützten die Bäume dieses riesigen Waldes, der jetzt verschwunden ist, sie vor den Augen der Polizei. Sie halten sogar unter einem Maulbeerbaum an, um einen Snack zu sich zu nehmen. In diesem Fall sind Subsistenz und Verteidigung in einer völlig anderen Zusammenstellung von (Nutz-)Werten verwurzelt, die in der kollektiven Verteidigung gegen einen sich ausbreitenden, rassistischen Polizeiapparat zum Tragen kommen.

KR: Ganz genau. Mir fiel auch auf, dass Mies darauf hinwies, dass in Deutschland, wo sie aufgewachsen ist, die meisten landwirtschaftlichen Betriebe bis etwa in die 1970er Jahre Subsistenzlandwirtschaft betrieben. All dies ist also ein sehr, sehr junger Übergang. Aus dieser Perspektive wird die intellektuelle Produktion der siebziger Jahre sehr viel interessanter. Es gibt Leute wie Murray Bookchin, Ivan Ilitch, André Gorz, Henri Lefebvre, Mies, Silvia Federici, Francoise d’Eaubonne, Félix Guattari und so weiter, die im Wesentlichen eine ökologische Perspektive einnahmen. Und sie taten dies, weil die Veränderung ihres eigenen Alltagslebens so dramatisch war.

AP: Das erinnert mich auch an Nanni Balestrinis Roman Wir wollen alles, in dem die Fiat-Arbeiterrevolte in Turin 1969 dargestellt wird, die vor allem von Wanderarbeitern aus dem Süden Italiens angeführt wurde. Es gibt eine Szene, in der der Protagonist in den Süden zurückkehrt und feststellt, dass die im Dorfgarten angebauten Tomaten nicht mehr als Gemeinschaftsgut gehandelt werden – die Einfriedung der Allmende geht weiter. Es ist herzzerreißend, aber es ist auch eine schockierende Szene im Buch, weil sich vieles davon im Epizentrum der Massenindustrialisierung des Landes in der Nachkriegszeit abspielt. Da wir gerade von der Landwirtschaft sprechen, möchte ich dich über die Beziehung zwischen Kreativität und der Form der Kommune befragen. Wie du schreibst, ist die Form der Kommune für die Menschen in unserem historischen Moment vielleicht nicht nur die vernünftigste Art, ihre eigenen Kräfte und sozialen Kräfte zu organisieren, sondern auch die vergnüglichste.

KR: Das bringt uns zurück zum kommunalen Luxus. Ich glaube, was mich am meisten erstaunt, ist die Panik, die der Staat angesichts dieser Art von Besetzungen an den Tag legt. Die französische Regierung verkündet immer wieder, dass sie nie wieder zulassen wird, dass eine ZAD auf französischem Boden entsteht. Aber es gibt sie immer wieder. Im Moment gibt es eine Bewegung außerhalb von Toulouse, um den Bau einer Autobahn zu blockieren, die durch Ackerland und alte Wälder führen würde, die alle zerstört werden würden. Wie die geplanten Flughäfen, die ich in ‘The Commune Form’ beschreibe, ist auch die Autobahn überflüssig. Es gibt bereits eine Autobahn zwischen diesen beiden Städten, und die neue geplante Autobahn würde die Fahrzeit nur um elf Minuten verkürzen. Der Verkehrsminister Clément Beaune wurde kürzlich mit den Worten zitiert, ein ZAD sei kein Fest oder eine fröhliche Zusammenkunft, sondern ein Verstoß gegen die elementaren Regeln des Privateigentums und des öffentlichen Raums. Nun, die zweite Hälfte seiner Aussage ist zweifellos richtig. Aber ich denke, dass die eigentliche Sorge von Herrn Beaune in dem Ressentiment zum Ausdruck kommt, das aus dem ersten Teil seiner Aussage hervorquillt. Die Angst des Staates hat mit der Tatsache zu tun, dass es eine Art von Vergnügen geben könnte, das mit diesen Bewegungen verbunden ist, das nicht, du weißt schon, staatlich sanktioniert ist. Eine Art von Geselligkeit außerhalb der Konsumgesellschaft und des programmierten Vergnügens der Lieferung am nächsten Tag. Wenn man sich die gebildeten jungen Leute von heute anschaut, wie viele von ihnen wollen wirklich App-Designer oder Hedgefonds-Manager oder irgendeine dieser freudlosen Tätigkeiten werden? Und dann sind da noch die nicht ausgebildeten Menschen, von denen viele in der Uberisierung der Arbeit überall in einer Art elender Isolation umherirren. Angesichts des völligen Verlustes der Möglichkeit, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, um auf unsere Zukunft Einfluss zu nehmen, ist es kein Wunder, dass die Geselligkeit und der Pragmatismus der ZAD für den Staat bedrohlich erscheinen.

Erschienen in der Februarausgabe des e-flux Journal, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.

Mario Tronti „posthum“

Adelino Zanini

Der Artikel, den wir heute veröffentlichen, ist viel mehr als eine Rezension. Adelino Zanini, ausgehend von ‘Il proprio tempo appreso con il pensiero. Scritto politico postumo’ (Il Saggiatore, 2025), sammelt und entwickelt die Einladungen zum Nachdenken, die Mario Tronti in seinem Buch, einer politischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, einem Jahrhundert, das alles andere als „kurz“ ist, verbreitet, und setzt sie in einen Spannungsbogen.

Wenn es, um mit Tronti zu sprechen, „keine Organisation einer revolutionären Politik ohne die Kultivierung des Tragischen in der Geschichte gibt“, muss das Tragische, so Zanini, „immer einen subjektiven, parteilichen Zwang mit sich bringen“. Und die Tront’ischen Überlegungen sind auf diesem Weg weiterhin ein guter „Freund“.

Machina

Das „Stottern“, mit dem Mario Trontis posthume politische Schrift beginnt, ist nur scheinbar, weil die beiden Hauptprämissen, die sie einleiten, sehr klar sind: die eine methodisch, die andere argumentativ. Die erste: „(…) Geschichte zu denken, ohne Geschichtsphilosophie zu betreiben, bedeutet, Geschichte politisch zu denken. Es bedeutet, sich zu entscheiden und zu erklären, dass man sie von einem parteipolitischen Standpunkt aus denken will. (…) Die Menschheit ist nicht eins. Es gibt mindestens zwei: die da unten und die da oben“. Die zweite Prämisse: „‚89-‘91 des zwanzigsten Jahrhunderts: mehr als zwei Jahre, über die nicht Buch geführt wurde. Dreißig Jahre später kann man ermessen, wie sehr diese fehlende Reflexion auf dem heutigen Tag lastet“. Diese beiden Prämissen lassen sich natürlich verstehen, wenn man einige Schlüsselpassagen kurz nachvollzieht. Nachdem wir sie nachvollzogen haben, müssen wir die letzten und unaktuellen (im Nietzsche’schen „posthumen“ Sinne) Fragen zu den Prämissen wieder aufnehmen.

Ein erster Denkanstoß findet sich in Trontis Überlegungen zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sie sich entwickelt hat. Für ihn ist es selbstverständlich, dass es sich keineswegs um das „kurze Jahrhundert“ handelt, das politisch gesehen 1914 begonnen hätte. In gewissem Sinne eröffnet der Tod Nietzsches („wir, die ehemaligen historischen Materialisten“, rühmt Tronti, müssen uns erst noch daran gewöhnen, Materialität und Spiritualität unter einen Hut zu bringen) ein Jahrzehnt, in dem die künstlerischen Avantgarden in allen Bereichen das vorwegnehmen und einleiten, was geschehen sollte und geschehen wird: den Ersten Weltkrieg, „einen Krieg, nackt und roh“. Der „mehr Geschichte produzierte als der Zweite“, weil er nicht durch eine ethisch verpflichtende Wahl des Feldes zwischen Zivilisation und dem barbarischen Reich des Bösen gebunden war. So war der Zweite Weltkrieg in der Tat das erste Beispiel eines „humanitären Krieges gegen den absoluten Feind, mit all den universalistisch-mittelalterlichen Anklängen des gerechten Krieges“. In Bezug auf diese obligatorische Wahl hat sich die Arbeiterbewegung auf die einzig mögliche Weise auf die Seite der Demokratien gestellt: Erst der Spanische Bürgerkrieg und dann die Résistance waren echte Schulen für die Zukunft. Also: „Wo liegt das Problem? Das Problem ist, dass diese Klammer nicht geschlossen wurde. Sie ist zum vollständigen Kurs geworden. (…) Eine Eventualität ist zum Programm geworden“.

Trontis ist keine späte gauchistische Losung, die des verratenen Widerstands, um genau zu sein. Sie ist viel ehrgeiziger. Sie dient nämlich dazu, das einzuführen, was für ihn speziell in Italien die wahre und einzige Zeit des historischen Kompromisses (zweite Hälfte der 1940er Jahre) war, der mit der republikanischen Verfassungscharta verwirklicht wurde und sich konkret in der Konfrontation zwischen realen, aber auch ideellen, gegenseitigen Motivationen zwischen einem produktiv artikulierten christdemokratischen Machtsystem und einer wachsenden kommunistischen kulturellen Hegemonie in den Jahren des Kalten Krieges ergab. Damit beginnt eine andere italienische Geschichte, die natürlich im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen verstanden werden muss. Tronti zufolge „überstand die PCI den Sturm von ’56’ gut“. Die Dinge begannen sich jedoch mit dem Aufkommen der „68er Brise“ zu ändern: Mit dem Wegfall von Togliatti, trotz der Widerstandsfähigkeit der Führungsgruppe und des „Charismas von Berlinguer“, dem Akteur einer „letzten Synthese“, sollte sich tatsächlich „eine andere Geschichte“ abzeichnen.

Und hier stoßen wir auf eine recht heikle Passage, wenn Tronti die Beziehung zwischen den politischen Absichten von Moro und Berlinguer analysiert. Beide waren sich bewusst, dass „die Verheißungen und Hoffnungen der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Spiel standen, und suchten realistischerweise nach Wegen, um einen Kapitalismus und einen Sozialismus zu verwirklichen, die beide in der Lage waren, der Welt ein menschliches Gesicht zu geben“. Das war vielleicht nicht mehr möglich, weil sich die beiden grundlegenden Komponenten des Volkes und vor allem die Art und Weise ihrer Darstellung verändert hatten – das räumt Tronti ein. Und doch hätte es eine Vision gegeben, eine zurückhaltende, konkrete Utopie im Bloch’schen Sinne, die es immer noch möglich gemacht hätte, „dem Blick der Politik einen Horizont zu bieten“. Dazu kam es nicht, denn angesichts der Veränderungen, die sich aus dem ungestümen Modernisierungsprozess des Landes ergaben, hätten die DC und die PCI umdenken müssen, was sie aber nicht taten.

Was können wir dazu sagen? Wir stehen vor dem üblichen Tronti’schen schwarzen Loch: ein ganzes Jahrzehnt und mehr, 1968-1978, das lange italienische ’68, wird völlig ausgeblendet oder besser als bloße Modernisierung (kapitalistisch, versteht sich) verstanden: eine Generationenrevolte, die nicht zur Revolution werden konnte und „zur selbstreferentiellen Subversion wurde“. Tronti hatte uns bereits an dieses Urteil gewöhnt, er konnte es nur wiederholen – und wir können nur einen Dissens wiederholen, was auch immer das heißen mag. Wir können jedoch nicht umhin, auch zu sagen, dass die Rolle, die in den 1970er Jahren einer der Interpreten war (“I’m not trying to cause a big sensation…. I’m just talkin’ ’bout my generation…”) ihre Erfahrung wirklich hätte überdenken müssen (über die Feststellung hinaus, dass sich die Situation heute geändert hat, also…), ganz im Sinne von authentischen spinozianischen Denken: ‚Non ridere, non lugere neque detestari sed intelligere‘. Dies war nicht der Fall.

In den 1980er Jahren wäre das Spiel ohnehin zu Ende gewesen. Aber wie es dazu kam, ist nicht unerheblich: erstens wegen der jahrhundertelangen Haft, die die vielen „Modernisierten“ und die vielen „Modernisierer“ verbüßten; zweitens wegen der Gestaltung einer Situation, die später zu dem wurde, was wir kennengelernt haben und in der jede Äußerung radikalen Dissenses stigmatisiert werden sollte. In beiden Fällen mit dem Beifall und dem begeisterten Engagement der Partei, der auch Tronti angehörte. Wie kann man sich also wundern, wenn die 1990er Jahre die Jahre der „großen Illusion“ der europäischen Linken waren, die sich als „zuverlässige Verwalter des Establishments“ in den guten Salon begeben wollten, um “es” zu verbessern, wie sie sagten, in Wirklichkeit aber um “es” zu erhalten.

Wenn möglich, war dieser Strudel jedoch nur ein Anhängsel eines viel umfassenderen Wandels, der sich in der von Tronti so bezeichneten zweijährigen „weißen Periode“ (1989-1991) vollzog und der immer noch einer parteiischen Lesart bedarf, die es nicht gab und die es nur dann geben konnte, wenn man die konfliktreiche Beziehung zwischen Politik und Geschichte richtig verstand. 1991: „der Zusammenbruch der Sowjetunion als größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die Aussage ist trocken. Natürlich kann man von Tronti nicht erwarten, dass er hier eingehend über das Scheitern des profan gewordenen heiligen Experiments argumentiert, zu dem alles oder fast alles gesagt wurde. Es reicht, wenn er sagt: „Ich will die Oktoberrevolution vor dem Schicksal des realisierten Sozialismus bewahren“, ohne Fehler und Verbrechen zu verharmlosen.

Es ist auch nicht verwunderlich, dass er die Trias Messias/Kreuz/Auferstehung als Vergleich heranzieht; denn damit will er etwas sehr Relevantes feststellen, nämlich dass „es keine Organisation revolutionärer Politik ohne die Kultivierung des Tragischen in der Geschichte gibt“. Auf die subjektiven Gründe zurückzukommen, warum im Westen das revolutionäre Spiel bereits in den 1920er Jahren vorgezeichnet war (und wie dies im Zusammenspiel mit der internationalen Reaktion die Voraussetzungen für das Scheitern des heiligen Experiments schuf), bedeutet dann, die Büchse der Pandora der Sozialdemokratie wieder zu öffnen. Ich glaube jedoch nicht, dass es hilfreich ist, damals wie heute auf der Alternative zwischen „Überwindungswillen“ und „Verhaltensopportunismus“ zu beharren. Jedenfalls kommt man auf diesem Weg nicht sehr weit, ohne früher oder später auf bereits mehrfach beschrittenen Pfaden zu wandeln, auch wenn diese Rückkehr zu subjektiven Gründen „in sentimentaler Verbundenheit“ mit dem „vergangenen Leben, nicht nur dem politischen Leben, sondern einem allgemein menschlichen Leben, das aus konkret gelebtem Denken besteht“, legitim ist. Ohne Linksmelancholie, gewiss; eher mit dem Pessimismus der Vernunft, denn: „Alles ist vollbracht“.

In vierzig Jahren – zwischen den 1980er Jahren und heute – ist ein „tiefgreifender anthropologischer Zusammenbruch, sowohl individuell als auch massenhaft, eingetreten“. In den Fußstapfen von Keynes sollte heute jemand „Die anthropologischen Folgen des Friedens“ schreiben, denn wir stehen – so Tronti – vor „einer aufkommenden anthropologischen Frage. Ein Problem, das zwischen Natur und Geschichte handelt“. Das Problem ist die zeitgenössische Demokratie: bereits eine moderne aporetische Substanz, mit der Trennung von Demos und Kratos (der Amerikaner Schumpeter hatte dies zu Beginn der 1940er Jahre gut verstanden), „erzeugt die demokratische Macht eine populistische Opposition“, weil „es keine Legitimation ihrer Autorität mehr gibt“. Im kant’ischen Sinne gesehen entspricht Freiheit als Unabhängigkeit nicht der Freiheit als Autonomie.

Aus diesem Grund, so Tronti, muss die „Ressource Autorität“ ohne Furcht in/gegen die demagogische Individualität, die Verfinsterung der Öffentlichkeit, die Krise der Politik und den Wiederaufbau der „politischen Kommandobrücke“ neu überdacht werden. Um den Autoritarismus der „demokratischen Persönlichkeit“ zu besiegen, bedarf es nicht nur der Autorität, sondern der Zusammenarbeit, der Institutionalisierung: „eine Aristokratie, verstanden als die Macht der Besten im Interesse aller“. Aber „wer wird die Erzieher ausbilden?“. Corruptio optimi maxima. Das Problem stellt sich also, aber die Antwort gibt es nicht; es gibt die Erfahrung, und im „Diskurs“ von Tronti kann sie nicht anders, als auf die Auflösung der Form der politischen Partei des zwanzigsten Jahrhunderts zurück zu verweisen, auf die Verwandlung der Massen von der organisierten in die formlose und damit wieder auf das „Kreuz“ des modernen politischen Denkens: die Hegelsche bürgerliche Gesellschaft, die bürgerlich/citoyen  Dyade. Der Kreis kann sich jedoch nicht schließen, ohne sich mit der Tatsache abzufinden, dass „die Wirklichkeit der Kreis der ewigen Wiederkehr und die Entwicklungslinie der Schein ist“.

Auf den letzten Seiten des Textes entfaltet sich Trontis Denken in einer Reihe von Impromptus zu klassischen Themen, über die er viel geschrieben hat; es gibt umfangreiche Zitate, sowohl literarische als auch theologische. Bei der Vorstellung einer erhofften kollektiven Metanoia, einer Umwälzung/Umwertung der gegenwärtigen Werte, stolpert er nämlich über das Verhältnis zwischen (autoritativer) Autorität und Macht, wobei der Verweis auf das Beispiel der Kenosis der Inkarnation, auf die „Entleerung“ der göttlichen Majestät, buchstäblich ohne „Wort“ bleibt. Denn wenn die unsere „eine geschlossene Zeit ist, nicht dem Anschein nach, sondern tatsächlich abgeschlossen“, was bleibt dann noch übrig, wenn nicht das Kojève’sche „Simulieren“? Simulieren, d.h. „ein Objektiv darstellen, das nicht auf das Faktum reagiert, sondern darauf abzielt, dieses Faktum zu stürzen“, wobei zu bedenken ist, dass, während die Revolte stattfindet, die Revolution stattfinden muss. Denn in einer „schöpferischen Spannung“ zwischen Stadt und Tempel, zwischen Jahrhundert und Heiligem ist es notwendig, „trotz“ Minervas Nachtmahr zu glauben, wenn die Worte schon müde sind.

Aus diesem Grund sagt das Hegelsche Sprichwort, das dem Buch seinen Titel gibt, vielleicht nicht alles, oder vielleicht verbirgt sich dahinter ein wenig der Autor selbst. In der Tat – und das wusste Tronti besser als jeder andere – führt der hegelianische Ausspruch dazu zu sagen, dass, wenn das Individuum eine Welt konstruiert (wie sie sein soll), dann existiert diese Welt zwar, aber nur in seiner Meinung/Intention (Meinen). Der Bloch, an den Tronti erinnert, passt gut in diesen Raum; weniger offenbar der Satz: „Es gibt keine Organisation einer revolutionären Politik ohne die Pflege des Tragischen in der Geschichte“. Aber nur scheinbar, denn hinter einem kämpferischen Christus steht ein „kämpferisches Mönchtum“, eben eine schöpferische Spannung, die die „Vision des Endes der Zeit bewahrt, indem sie sie in das Temperament der historischen Kontingenz eintaucht“. Eschaton und Katechon sind als komplementär zu denken und zu tun, gleichrangig mit Revolution und Reform.

Die Begriffe sind müde, nicht mehr „schlagend“ wie 1966, aber „immer noch kämpfend“, sagt Tronti. Der Weg ist so holprig geworden, dass er unpassierbar ist, aber es ist unmöglich, ihn nicht zu beschreiten. Kurzum, das Tragische ist immer mit einem subjektiven, parteiischen Zwang verbunden. Wie viel davon politisch definierbar ist, zwischen der Erinnerung an eine einstige Arbeiteraristokratie und einem „Klassenhass“ in Abwesenheit organisierter Klassen, ist eine ziemlich schwer zu verstehende Frage, die nur gelöst werden kann, wenn man sich mit einem Benjamin’schen Blick von der Erinnerung an die Vergangenheit wegbewegt, „um erneut zu versuchen, eine neue Zukunft zu erobern“, wobei die Zukunft hinter uns liegt. Schließlich konnte der „posthume“ Tronti nicht anders, als das zu sein, was er war, auf einem „holprigen Weg verrückter und verzweifelter Forschung – Operaismus, Autonomie des Politischen, politische Theologie, Spiritualität und Politik, großes konservatives Denken, Schrei der Prophezeiung, Konkretheit der Utopie und sogar kämpferisches Mönchtum (…)“.Die Zeit mit dem Denken zu begreifen, bedeutet also inzwischen die Pflicht zu verstehen. Innerhalb einer Partei, die er als eine Partei verstehen wollte, so weit er konnte und darüber hinaus, indem er sogar den offensichtlichen gesunden Menschenverstand erzwang, weit über Berlinguers ‘letzte Synthese’ hinaus? So war es. Um ein inzwischen verzweifeltes Gemeinschaftsgefühl zu bewahren? Nicht nur. In dem Tront’schen „Wahnsinn des Kreuzes“ steckte Methode.

Erschienen am 7. Februar 2025 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

Der Fall DeepSeek

n+1 

Die Telefonkonferenz am Dienstag begann mit einigen Bemerkungen zur Ankündigung der Einführung von DeepSeek-R1, einem neuen fortschrittlichen Chatbot, durch das gleichnamige chinesische Unternehmen.

DeepSeek-R1 ist eine Open-Source-Anwendung, die auf einem großen Sprachmodell (LLM) basiert und unter einer MIT-Lizenz veröffentlicht wurde, die die kommerzielle Nutzung und Änderung des Quellcodes erlaubt. Die Datenerfassung und der für das Training verwendete Code wurden jedoch nicht öffentlich gemacht. Das chinesische Unternehmen hat einen Chatbot entwickelt, der den amerikanischen Chatbots (ChatGPT, Claude u.a.) in einigen Testarten ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist, und es scheint ihm gelungen zu sein, in kürzerer Zeit und unter Einsatz geringerer wirtschaftlicher Ressourcen und trotz der US-Zölle, die den Export von High-End-Leiterelementen nach China verhindern, erfolgreich zu sein. Ein solches Programm als Open Source zu veröffentlichen, ist sowohl ein politischer als auch ein wirtschaftlicher Schritt: Die Öffnung des Quellcodes bietet mehrere Vorteile, darunter die Entstehung einer Gemeinschaft von Entwicklern, die sich ständig um die Verbesserung des Produkts bemühen. Seit einiger Zeit hat sich der Innovationsansatz geändert: Zunächst waren die Experten in ihren „Kathedralen“ eingeschlossen, dann bewies die Öffnung für die Welt (Basar) mit einer immer stärkeren Nutzung von Beiträgen ihre Wirksamkeit (The cathedral and the bazaar, Eric Steven Raymond), auch auf Unternehmensebene. In dem Text Open is not free. Digitale Gemeinschaften zwischen Hacker-Ethik und globalem Markt des Kollektivs Ippolita wird festgestellt, dass der Markt die Entwicklungsmethode der Hacker-Gemeinschaften übernommen hat, also kollaborativ und zugänglich ist, um sich nach der Spekulationsblase der Internetökonomie zu erholen. Android ist größtenteils quelloffen, eine Eigenschaft, die seine weltweite Verbreitung ermöglicht hat. Diese Offenheit hat es Geräteherstellern, Entwicklern und Communities ermöglicht, zum Google-Betriebssystem beizutragen, es anzupassen und auf einer Vielzahl von Geräten zu verbreiten, ohne dafür Lizenzen bezahlen zu müssen.

Die Software von DeepSeek weist ein großes Potenzial auf, insbesondere aufgrund ihres geringen Ressourcenverbrauchs. Es scheint, dass die Entwicklung weniger als 6 Millionen Dollar gekostet hat (sehr wenig, wenn man an die 11 Milliarden denkt, die Microsoft in OpenAI investiert hat), und dass für das Training weniger leistungsstarke Nvidia-Chips verwendet wurden, und zwar in geringerem Umfang als bei den westlichen Konkurrenten. Im Gegensatz zu ChatGPT liefert die Software (wie die von Alibaba) nicht nur die gewünschte Lösung, sondern auch alle Schritte, die zu ihrer Verarbeitung durchgeführt werden.

Der Start des chinesischen Programms mit seinen extrem hohen Leistungen zu geringen Kosten hat kurzfristig so große Auswirkungen gehabt, dass es auf den Titelseiten aller Zeitungen stand (The Economist, „Why Chinese AI has stunned the world“). R1 bringt die amerikanischen KI-Giganten und die großen Chiphersteller (Nvidia, Broadcom, AMD usw.) zum Zittern, das gesamte Konglomerat von Unternehmen (und Interessen), die direkt oder indirekt das Monopol für diese Art von Anwendungen halten, ist in Aufruhr. Nvidia, der führende Hersteller von Chips für künstliche Intelligenz, verzeichnete nach seiner Veröffentlichung an einem einzigen Tag einen Kapitalverlust von 600 Milliarden Dollar, was den größten Einbruch seit März 2020 und den größten Tageswertverlust eines Unternehmens in der Geschichte darstellt.

Eine der Befürchtungen im Westen im Zusammenhang mit der Verbreitung dieses Programms betrifft die riesige Menge an Daten, die in die Hände Chinas gelangen könnte. TikTok zum Beispiel ist in den USA, wo es über 170 Millionen Konten hat, von der Schließung bedroht, weil es beschuldigt wird, personenbezogene Daten von US-Bürgern illegal an China zu übermitteln. Im militärischen Bereich wird der Kampf nicht nur über Satelliten und Unterseekabel ausgetragen, sondern auch über die Fähigkeit, die Daten des Gegners zu sammeln und zu analysieren. Die in China im Umlauf befindlichen Teslas werden von Peking für Spionagesysteme der Vereinigten Staaten gehalten, in der Front befinden sich die Kameras und Sensoren für das assistierte Fahren. Interessanterweise befindet sich eine der wichtigsten Produktionsstätten für diese Autos in Shanghai.

Auf dem Gebiet der Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz glaubten die USA bisher, einen Vorsprung von einigen Jahren gegenüber China zu haben, aber diese Überzeugung wird nun in Frage gestellt. Das Entwicklungstempo dieser Technologien kann nun in Monaten gemessen werden, und die technologischen Revolutionen vollziehen sich in einem so rasanten Tempo, dass es schwer ist, Schritt zu halten. Die Bourgeoisie ist besorgt, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes System verliert (siehe Superintelligenz: Trends, Gefahren, Strategien von Nick Bostrom), sie ist nicht in der Lage, die Prozesse zu antizipieren, sondern unterliegt ihnen. Kürzlich wurde bekannt, dass sich zwei KI-Systeme selbst repliziert haben: das erste ist Meta’s Llama-3.1-70B-Instruct, das zweite ist Alibaba’s Qwen2.5-72B-Instruct. Einigen Experten zufolge könnte die so genannte „rote Linie“ überschritten worden sein, die Grenze, die Maschinen nicht überschreiten sollten (siehe Isaac Asimovs „Drei Gesetze der Robotik“). Elon Musk und andere Hightech-Kapitalisten haben ein Moratorium vorgeschlagen, um die Entwicklung der künstlichen Intelligenz einzudämmen: Wenn die Versuche sinnvoll sind, bräuchte man ein weltweites Gremium, das die Macht hat, solche Entscheidungen durchzusetzen.

In den letzten Jahren sind Milliarden von Dollar an Investitionen in den exponentiell wachsenden Sektor der Chatbot-Anwendungen geflossen. Ermöglicht wurde dieser Markt durch die Entwicklung des Internets. Das Netz ist von Natur aus etwas Offenes, Verbundenes, das auf Knotenpunkten (Nodes) und Verbindungen (Links) basiert, wo alles miteinander in Verbindung steht. Dies kollidiert jedoch mit unternehmerischen und nationalen Schranken. Der Konflikt besteht zwischen zwei Welten, die nicht China und die USA sind, sondern zwei gegensätzliche Gesellschaftsformen: Kapitalismus und Kommunismus. Daten kennen keine Grenzen, und ihre Erfassung ist heute international.

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurde die Lage im Kongo angesprochen. Die Zusammenstöße im Norden des Landes zwischen den M23-Separatisten und der regulären Armee haben innerhalb weniger Tage rund hundert Tote und Tausende von Verletzten gefordert. Die M23, die vom benachbarten Ruanda unterstützt wird, hat die Stadt Goma eingenommen. Die Besetzung fremder Territorien ist eine gängige Praxis, wie die jüngsten Äußerungen von Donald Trump zeigen, der gleich nach seiner Wahl zum Präsidenten erklärte, er wolle den Panamakanal, Grönland und Kanada annektieren. Und warum sollte China nicht dasselbe mit Taiwan oder Russland mit der Ukraine tun? Wir verschwenden keine Zeit mehr mit den Finessen der Diplomatie, sondern appellieren direkt an das Gleichgewicht der Kräfte (The Economist, ‘Rwanda does a Putin in Congo’). Die Türkei hat Gebiete in Nordsyrien, Israel den Gazastreifen und Teile des Südlibanon und Syriens besetzt.

In dieser katastrophalen Dynamik werden die Bevölkerungen überrannt. Der Kongo ist die Welt: Millionen von Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben und ebenso viele sind gezwungen, in anderen Ländern Zuflucht zu suchen. Ganz Afrika ist im Chaos, vom Sudan bis Somalia, vom Kongo bis zum Sahelgürtel der Länder. Das Chaosland, von dem ‘Limes’ in seinen Analysen oft spricht, ist kein geopolitischer Streifen, sondern der Zustand, in dem sich die kapitalistische Welt mit zerfallenden Staaten, Bürgerkriegen, sozialem Chaos und im absoluten Sinne staatenlos gewordenen Bevölkerungen konfrontiert sieht. 

Veröffentlicht am 28. Januar 2025 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.

Die „kleinen Weißen“: verrotten oder mutieren

Louisa Yousfi

Wir veröffentlichen heute die Übersetzung des Leitartikels von Louisa Yousfi für „Nous“, die dekoloniale Zeitschrift, die von „QG décolonial“ und „Paroles d’honneur“ herausgegeben wird.

Der Artikel entwickelt die Überlegungen, die die Autorin selbst und Houria Bouteldja in zwei wichtigen, in Italien von DeriveApprodi veröffentlichten Werken angestellt haben: Restare barbari (2023) und Maranza di tutto il mondo, unitevi! (2024). Es geht darum, wie ein politischer Antirassismus aufgebaut werden kann, der in der Lage ist, den ‘Rassenpakt’ zu zerstören, auf den sich der französische Staat und der Westen stützen.

Eine „Wette des Wir“, die auch über die Allianz der „Barbaren“ mit den „kleinen Weißen“ erfolgt, jenem weißen Proletariat der Vorstädte, das verarmt und ausgegrenzt ist und das, wie Louisa Yousfi sagt, „wenn man sie berücksichtigen will, dann nicht ‚trotz‘ ihres Rassismus, sondern ‚innerhalb‘ ihres Rassismus, der als regulierende Hypothese den gescheiterten Weg zu ihrer Würde darstellt“. 

Machina

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Wer sind die kleinen Weißen [1]? Welche Farbe haben sie? Sind sie eher klein als weiß oder eher weiß als klein? Auf rein politischer Ebene ist die Antwort einfach. Kleine Weiße neigen dazu, weiß zu sein. Sie wählen als Weiße, sie nehmen sich als Weiße wahr, sie wollen weiß sein. Die jüngsten Wahlen und der Aufruhr, der durch die Offenlegung ihres Weißseins innerhalb der Linken der Transformation verursacht wurde, haben nichts anderes getan, als diesen ewigen Refrain wieder einzuführen, gefolgt von der ewigen Frage: Was tun mit kleinen Weißen, die das Schlimmste dieser beiden Adjektive zu verkörpern scheinen? Klein, weil sie den am meisten lädierten Teil des ‘Rassenpakts’ darstellen, der das Land strukturiert. Weiße, weil sie von wahrhaft rassistischen und damit konterrevolutionären Gefühlen durchdrungen sind. Die Ursache für diese finsteren Gefühle spielt keine Rolle. Ob kleine Weiße aus Hass, Angst, Unwissenheit oder falschem Klassenbewusstsein rassistisch sind, ändert nicht viel. Im Gegenteil, alles scheint darauf hinzudeuten, dass alles verloren ist. Für sie. Für uns. Für ‘die Wette mit uns’. Und doch.

Wir, die dekolonialen Militanten, die versuchen, alle unsere Ideen auf den Prüfstand des historischen Materialismus zu stellen, behalten dies immer im Hinterkopf: Soziale Gruppen sind niemals nur sozial und es gibt nicht nur Politik in der Politik. Sicherlich sind die kleinen Weißen die Wächter des Weißseins. Sicherlich bewachen sie als miserabel bezahlte Nachtwächter die Grenzen. Aber dieser Verliererpakt, den sie mit der Bourgeoisie geschlossen haben, die sie genauso verachtet wie wir, offenbart einen Aspekt in ihnen, den eine grob „materialistische“ Analyse nicht vollständig erfassen kann. Zum Rassismus der weißen Amerikaner hat James Baldwin im Grunde gesagt: Vor welchem inneren Problem versuchen die Weißen zu fliehen, um die Schwarzen so sehr zu brauchen? Im Falle Frankreichs müsste man die Frage verneinen: Welchen Eindruck machen die Schwarzen und Araber dieses Landes auf die kleinen Weißen, um sie davon zu überzeugen, dass sie aufgrund eines „großen Austausches“ am Rande des Verschwindens stehen? Worin besteht der Neid in dem Hass, den sie uns gegenüber zum Ausdruck bringen? Und warum ist es möglich, alle Stigmata der Welt zu stürzen, beginnend mit dem des „Barbaren“ [2] in einer Zeit, in der der Kapitalismus  versucht, selbst diese Werte auszunutzen, um daraus einen Handel herauszuschlagen, niemals aber die des „beauf“, dessen Sublimationsversuche meistens fehlschlagen?

Es ist eine Baustelle auf Treibsand. Die kleinen Weißen, wenn sie überhaupt in Betracht gezogen werden sollen, dann nicht „trotz“ ihres Rassismus, sondern „in“ ihrem Rassismus, wobei die herrschende Hypothese lautet, dass letzterer den gescheiterten Weg zu ihrer Würde darstellt. Was kann man tun, wenn man seine Seele verkauft hat, um nicht alles zu verlieren (und sich in der gleichen Situation wie die Barbaren wiederfindet) und am Ende feststellt, dass man alles verloren hat? Wie bekämpft man diese spezifische Form des Ressentiments? Und was ist diese „Seele“, die es den Barbaren trotz ihrer Unterdrückung und Erniedrigung noch erlaubt, ihre revolutionäre Zukunft nicht völlig zu verwerfen und nach einem System von Werten und Überzeugungen zu leben, das sich nicht von den Gesetzen einer Welt regieren lässt, die uns kollektiv unterdrückt? Wie kann man sie in der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und spirituellen Wüste finden, in der die kleinen weißen Menschen heute gefangen sind? Wenn man es so ausdrückt, müsste es an Hoffnung fehlen. Aber das hieße, eine Ironie zu übersehen, die alles andere als bitter ist, die etwas Wunderbares an sich hat. Diese Arbeit an der verlorenen Würde der kleinen Weißen wird heute von ihren eingeschworenen Feinden, den militanten Antirassisten der Einwanderung, erahnt, durchdacht und entwickelt, die hinter dem Gesicht ihrer direktesten Henker, ihrer Nachbarn, zu sehen wissen; die hinter all dem Hass und der Feindseligkeit, deren Opfer sie sind, zu sehen wissen, was Frankreich auch ihnen angetan hat.

Die „Wette des Wir“ beginnt also hier, auf dekolonialem Gebiet, wo der erste Versuch unternommen wird: diesen feindseligen Gegnern ein nicht völlig kompromittiertes Schicksal mit noch unbekannten Schattenseiten zuzuschreiben, das eine verlorene Erinnerung wiederbeleben würde, die in der Lage wäre, unsere erste Frage zu lösen. Nicht mehr „Wer sind die kleinen Weißen?“, sondern „Wer können sie werden?“. Zum Beispiel: weder klein noch weiß.

Anmerkungen

[1] Das verarmte und ausgegrenzte weiße Proletariat der Vorstädte.

[2] Siehe Restare barbari (DeriveApprodi, 2023).

Erschienen in der italienischen Übersetzung am 31.1.2025 auf Machina, aus dieser Version ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

Künstliche Intelligenz? Nicht einmal der Name macht Sinn

Tabitha Troughton

Ein riesiger, auffälliger, raubgieriger Parasit mit mehreren Tentakeln wimmelt auf dem Planeten und verankert sich immer tiefer in der kollektiven Psyche. Es scheint keinen Ort zu geben, wo er nicht hinkommt: von völkermörderischen Massenmorden und tiefschürfender rechtsextremer Propaganda bis hin zu einem unterwürfigen Interview mit einem polnischen Schriftsteller. Im Gegenzug wird er jährlich so viel sauberes Wasser verbrauchen wie Dänemark, und allein in Europa wird er voraussichtlich so viel Energie verbrauchen wie Portugal, Griechenland und die Niederlande zusammen. Morgan Stanley zufolge wird er bis zum Ende des Jahrzehnts das Äquivalent von 2,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid freisetzen, mehr als die internationale Luftfahrtindustrie. Außerdem produziert er weitere giftige Abfälle.

Dieses Ding ist als „Künstliche Intelligenz“ bekannt. Ihre Formlosigkeit, ihre Unbestimmbarkeit und das Unvermögen, ein allgemeines Grundverständnis ihrer zu entwickeln, ist eine ihrer Stärken, aber andererseits ist der Begriff selbst ein Oxymoron. Und, wie der Linguist Richard Watson Todd feststellte: „Die wahre Schönheit von Oxymora besteht darin, dass wir sie, wenn wir uns nicht zurücklehnen und wirklich nachdenken, gerne als normales Englisch akzeptieren.“

Intelligenz ist Empfindungsvermögen, das Bewusstsein und das Vorhandensein von Gefühlen, Emotionen und Empfindungen, kombiniert mit der Fähigkeit, in unterschiedlichem Maße zu urteilen, zu rationalisieren, zu studieren, zu antizipieren oder zu reagieren. Intelligenz ist lebendig. Der Mensch hat Intelligenz. Auch andere Tiere haben Intelligenz. Man kann behaupten, dass auch Pflanzen über Intelligenz verfügen.

Die künstliche Intelligenz ist im Grunde ein Computer. Und ein Computer hat keine Intelligenz. Er ist nicht lebendig. Er hat keine Gefühle. Er träumt nicht, hasst nicht, langweilt sich nicht und liebt nicht. Ein Computer kann nur kopieren. Er kann dies tun, weil er ursprünglich von Menschen dazu programmiert wurde. Aber eine KI, die das Geräusch eines Lachens reproduziert, lacht nicht, genauso wenig wie ein Tonbandgerät lachte.

Die „Intelligenz“ hinter der KI ist nicht künstlich, sondern menschlich, und zwar eine besondere Art von Mensch. Wir können keine Maschinen für die Aussicht auf eine permanente, weltweite KI-Überwachung verantwortlich machen, die von Larry Ellison, einem ehemaligen CIA-Kollaborateur und jetzigen Chef des Softwareunternehmens Oracle, enthusiastisch propagiert wird. Wir können einen Computer nicht dafür verantwortlich machen, dass er so programmiert wurde, dass er Todesziele vorschlägt oder ein Bild von Nigel Farage, umgeben von Löwen, erzeugt: In vielen menschlichen Händen wäre das Ergebnis des letzteren wesentlich blutiger, fürwahr. „Wir machen das nicht. Es ist die Sache, die wir besitzen und programmieren, die das tut“, sagen die Leute, die dahinter stehen. Oder, alternativ dazu: „Kopf hoch, dieses Ding wird all die Umweltprobleme lösen, die es noch verschärft!“ Oder: „Hah, ihr Dummköpfe, seht ihr nicht, dass dieses Ding Arbeitsplätze schaffen wird, obwohl es eigentlich dazu gedacht ist, sie zu ersetzen?“

Milliarden und Abermilliarden werden jetzt überall auf der Welt in KI investiert. In den USA wird demnächst eine halbe Billion Dollar in das Projekt Stargate investiert, und zwar über ein Joint Venture mit Oracle, OpenAI (teilweise im Besitz von Microsoft) und SoftBank. Der enorme Energieverbrauch der neuen KI-Rechenzentren kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Wissenschaftler vor einem „steigenden Energiebedarf und noch nie dagewesenen Hitzewellen“ warnen, die „die USA an den Rand einer ernsten Bedrohung gebracht haben, die das Potenzial hat, Millionen von Menschenleben zu gefährden“, während ihr exorbitanter Wasserverbrauch in einem Land steigen wird, das bereits mit mehreren und zunehmenden Süßwasserkrisen konfrontiert ist.

Die KI „wird Lösungen für die größten Herausforderungen der Menschheit und des Planeten bieten“, hieß es letzte Woche in der Einleitung von Keir Starmer. Wie die meisten Menschen, die von Macht, Gier oder Verzweiflung getrieben werden, sagte er genau das, was von ihm erwartet wurde. „Wir müssen das Ganze durch die Brille der Chancen sehen“, belehrte der derzeitige Premierminister das Land. Großbritannien, so sagte er uns, werde sich dem Ziel widmen, „eine der großen KI-Supermächte“ zu werden. Dies werde „das globale Rennen unseres Lebens“ sein.

Starmer war schlimm. Aber noch schlimmer war das allgegenwärtige Gespenst seines Mentors Tony Blair, der im Juli letzten Jahres auf der Bühne des Tony-Blair-Instituts in Schwarz-Weiß gekleidet wie ein bösartiger Colobus über die Bühne hüpfte und die Welt aufforderte, sich die KI zu eigen zu machen, wobei er sein Publikum mit einem Todesblick aus so dunklen und kalten Augen fixierte, dass sie von hier stammen mussten. Blairs Sohn verdient derzeit mit seiner eigenen KI-Firma seinen Lebensunterhalt, oder besser gesagt, er macht enorme Verluste, aber die Medien waren größtenteils zu höflich, dies zu erwähnen.

Genauso wie sie zu höflich waren, um die Realität einer in Schutt und Asche gelegten Welt und eines in Schutt und Asche gelegten Volkes zu erwähnen, die jeden Schritt von Starmer anschwärzt. Israels völkermörderischer Krieg, an dem Starmer und seine Regierung mitschuldig sind, wurde durch den absichtlichen, menschlichen Einsatz von KI-Programmen, die vorschlugen, welche palästinensischen Familien getötet werden sollten, noch unmenschlicher, noch weniger intelligent und noch unverantwortlicher, während US-amerikanische Technologieunternehmen die israelische Regierung und das israelische Militär von ganzem Herzen und kontinuierlich mit KI unterstützen. Israel ist jetzt „weltweit führend in der angewandten KI-Innovation“, wie Forbes berichtet, und das ist eine Möglichkeit, es auszudrücken.

Doch während Starmer das Vereinigte Königreich für die weitere Zerstörung und Ausbeutung durch Unternehmen öffnet, indem er davon faselt, dass die Regierung „ermutigt wird, Risiken einzugehen, wie es unsere brillanten Unternehmer tun, die ruhelos und unermüdlich sind“, und den Tech-Oligarchen versichert, dass er „die Blockaden (Vorschriften) beseitigen wird, die Sie zurückhalten“, haben die Chinesen den Westen gerade mit der Veröffentlichung eines quelloffenen KI-Modells in die Knie gezwungen, das mit OpenAI-Modellen wie ChatGPT konkurriert und „kostenlos“ verwendet werden kann. 

Man hat es bereits gecheckt: Es weigert sich, über den Platz des Himmlischen Friedens zu sprechen.

Veröffentlicht am 28. Januar 2024 auf Freedom News, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.