Mein rechtes Nasenloch tat weh. Die zwei meuj, die wir drei uns gerade reingezogen hatten, hatten ihre Spuren hinterlassen. Und dann diese anhaltende Kälte an den Füßen. Und nicht zu vergessen die Angst zu stören. Der Wunsch oder das Bedürfnis nach Einsamkeit. Und gleichzeitig diese Angst vor dem Verlassenwerden. Ich musste lernen, diese Ambivalenz zu zähmen. Ich musste auf mich selbst aufpassen, aber diese Anforderung erschien mir wie alle anderen Anforderungen, nämlich wie eine Kampfansage. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten. Es fiel mir schwer, Entscheidungen zu treffen. Mich zu disziplinieren. Was mich wirklich störte, war, es den anderen gleich zu tun. Denn ich sah die Normen der Existenz. Wo immer ich auch hinkam, sah ich diese Milieuregeln und ihre unsichtbare Befehlskette. Nein, ich wollte nicht so sein wie alle anderen. Ich hatte gelitten. Sehr viel. Ich war von so schrecklichen Intensitäten durchdrungen, dass nur poetische Metaphern hoffen konnten, wenigstens ein wenig davon zu berühren. Das war mein Geheimnis. Denn auch so schöne Intensitäten hatten mich gepackt. Also kein Jammern und Klagen. Wer würde es überhaupt verstehen? Wahrscheinlich niemand und gleichzeitig jeder. Ich denke, es ist an der Zeit, mich zurückzuziehen und mich wirklich auf mich selbst zu konzentrieren. Ich bin offensichtlich gut im Reden. Aber in der Ära des Geschwätzes habe ich das Gefühl, dass ich mich unnötig anstrenge.
Und wenn ich Ihnen sage, dass ich die Propheten verstehe, dass ich wie sie gerochen, gesehen, berührt, geschmeckt, zugehört und gehandelt habe, was werden Sie dann sagen? Was werden Sie tun oder schlussfolgern?
Wenn ich Ihnen sage, dass ich mehr weiß und dass es mir in dem Sinne egal ist, dass ich deswegen keinen Ruhm empfinde. Denn es ist nicht meine Schuld oder mein Verdienst. Es ist mir einfach zugefallen.
Wenn ich Ihnen sage, dass ich Angst habe. Angst, dass das Glück, das das Leben ist, vergeht. Wenn ich Ihnen sage, dass mir die Zeit davonläuft.
Nein, das würde nichts nützen. Denn niemand hört zu. Nicht nur ich nicht. Niemand hört überhaupt zu.
Dennoch kann ich mich nicht damit aufhalten. Es geht mir darum, dass das Leben weitergeht. Dass dieser Planet bewohnbar bleibt.
Wie kann ich das also tun?
Wie kann man dieses System des programmierten Todes zum Entgleisen bringen? Es gibt kein Rezept und ich möchte niemals beschattet werden. Ich möchte mitlaufen, weder drüber- noch voranlaufen. Ich möchte die Flamme weitertragen. Den Anspruch, die Entschlossenheit und die Freude.
Zu schreiben und zu hoffen, dass meine Worte in einem zukünftigen Moment die Welt verändern werden, ist nicht ausreichend. Noch einmal: Die Zeit drängt.
Wir anderen müssen die Schwerter des Lichts ergreifen oder zurückerobern. Denn es handelt sich hier um einen Krieg. Es ist wahrscheinlich der am schwersten zu gewinnende Krieg in der Geschichte. Denn die Magie des Feindes ist sehr mächtig, sehr komplex und sehr ausgeklügelt. Zweifellos hat sie sich verselbstständigt und ist dadurch unkontrollierbar geworden. Das ändert jedoch nichts daran. Es gibt durchaus fleischliche Wesen, die diese Magie wie fanatische Pyromanen vorantreiben.
Dagegen ist Kritik machtlos. Genauso wenig wie Verhandlungen. Man verhandelt nicht mit denjenigen, die alle in Gefahr bringen.
Man beginnt damit, sie zu entwaffnen, und dann urteilt man über sie.
Wo soll man also anfangen? Was tun wir angesichts einer Magie von solchem Ausmaß?
Nun, zunächst einmal identifizieren wir sie, während wir uns selbst wiedererkennen, aber uns nicht offenbaren. Das heißt, wir lernen unter anderem, zu schweigen. Plaudern bringt sowieso nichts. Schreien noch weniger. Handeln hingegen schon. Es gibt tausend Dinge, die man tun kann. Die Entzauberung ist eine davon, die ich für geeignet halte. Das kann nur mit weißer Magie erreicht werden. Aber diese Magie muss absolut okkult bleiben. Diejenigen, die sie anwenden, werden vernichtet, wenn sie sich offenbaren. Und diese Form der Magie trägt sehr alte und vergessene Züge, aber auch neue und noch zu erfindende Züge.
Denn so beunruhigend es auch klingen mag, es handelt sich tatsächlich um Magie. Selbstverständlich sind die Erkenntnisse der politischen Theorie zu mobilisieren. Ebenso wie die der Geosoziologie, der Geschichte, der Philosophie, der Anthropologie oder der Poesie. Die Disziplin, die sich gegenwärtig am besten für die Durchführung des Umsturzes eignet, ist jedoch die Magie. Denn sie ist der Ausgangspunkt, von dem aus alles betrachtet werden kann. Die Machtverhältnisse werden ständig unter die Lupe genommen. Dass die Worte von vornherein wieder ein wirksames Gesicht bekommen. Dass alle Reden in Bezug auf ihre Wirkung gleichgestellt werden.
Jeder trägt einen Magier in sich. Und zwar jeder. Danach ist es eine Frage der Prüfung, der Begegnung, der Erfahrungen und der Arbeit. Deshalb ist Bewusstwerdung allein mehr als unzureichend.
Sie werden uns für verrückt erklären. Und sie werden Recht haben.
Sie werden uns als eine Sekte ansehen. Und sie werden Recht haben.
Sie werden Krieg gegen uns führen. Und sie werden Recht haben.
Denn sie haben und werden immer Recht haben; bis … bis zu der Stunde, in der wir zahlreicher und stärker sind, und erst dann werden sie Unrecht haben. „Die Vernunft des Stärkeren ist immer die Beste“.
Veröffentlicht am 16. Oktober 2024 auf ENTÊTEMENT, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.
Ein leicht zu begehender Fehler, wenn man an die aktuelle Weltlage denkt, besteht darin, die Bedeutung der Entscheidungen, die von den verschiedenen Führungen getroffen werden können, zu überschätzen; oder besser gesagt, man berücksichtigt nicht ausreichend, inwieweit die Anhäufung vergangener Entscheidungen (und ihrer Folgen) das Spektrum möglicher Optionen immer mehr einschränkt und somit – in der Tat – den Schwerpunkt der Entscheidungsfindung vom Willen der politischen Eliten auf die objektive Verflechtung der Elemente vor Ort verlagert.
Nehmen wir zum Beispiel den Ukraine-Konflikt, der sich nun schon dem dritten Jahr nähert, so sollten wir – vernünftigerweise – erkennen, dass die Chancen für eine nicht-militärische Lösung inzwischen ausgesprochen gering sind und offensichtlich rasch abnehmen. Und das liegt in der Tat nicht mehr so sehr am mangelnden Willen zu einer diplomatischen Lösung, sondern an der Tatsache, dass die Spielräume für eine solche mögliche Lösung tatsächlich minimal sind.
Natürlich gibt es gegensätzliche Interessen, die nicht leicht zu vereinbaren sind oder zwischen denen sich nicht einmal eine Vermittlung finden lässt, sei es das ukrainische Interesse an der Wahrung/Wiedererlangung der territorialen Integrität oder das Interesse der USA an der Destabilisierung Russlands – und natürlich die gegensätzlichen russischen Interessen.
Es ist schon oft gesagt worden, dass der Krieg eine eigene Logik hat, die die Sache zu Ergebnissen führt, die oft ganz anders als gewünscht und vor allem unvorhergesehen sind. Und das gilt natürlich auch für die politischen Folgen. Es ist inzwischen klar, dass sich das Kalkül, mit dem die beiden Hauptakteure – die USA und Russland – in den Konflikt gegangen sind, nicht nur (in unterschiedlichem Maße) als falsch erwiesen hat, sondern gerade durch seine Fehlerhaftigkeit zu einer Veränderung der strategischen Ziele geführt hat.
Wenn der amerikanisch geführte Westen den Konflikt in dem Glauben ausgelöst hat, ihn als Faustpfand zu benutzen und dadurch eine Destabilisierung Russlands zu erreichen, die wiederum zu einem Sturz der politischen Führung des Landes führen würde, so ist dieses Ziel mehr als zweieinhalb Jahre nach Beginn des Krieges selbst in der stumpfsinnigsten Propaganda kaum noch zu erahnen. Stattdessen zeichnet sich realistischerweise eine hypothetische Kompromisslösung ab, die – zumindest – die Glaubwürdigkeit (und Einheit) der NATO nicht weiter untergraben würde.
Wenn Moskau in den Konflikt mit der Vorstellung eingetreten ist, unter militärischem Druck schnell zu einer Kompromisslösung zu gelangen, so ist im Laufe des Krieges die Überzeugung gereift, dass der Westen als Ganzes völlig unzuverlässig ist und daher jede Lösung nicht aus einer Vereinbarung, sondern aus einer tatsächlichen Situation hervorgehen muss, die durch die Vereinbarung allenfalls formal besiegelt wird.
Gegenwärtig scheint sich im Westen die (bereits seit einiger Zeit hypothetisch vorgebrachte) Möglichkeit einer Verhandlungslösung des Konflikts auf der Grundlage eines Gebietsaustauschs (den Russland bereits kontrolliert) und des Beitritts der verbleibenden Ukraine zum Atlantischen Bündnis zu etablieren. Diese Lösung, sollte sie durchführbar sein, würde es der NATO ermöglichen, sie als (halben) Sieg darzustellen, und sie würde in jedem Fall als vorübergehend angesehen werden, d.h. als eine Art kolossales Minsk III: ein Abkommen, um die Ukraine hinzuhalten, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen und sie, falls nötig, in einem irredentistischen Krieg erneut gegen Moskau einzusetzen.
Es ist klar, dass wir uns immer noch im Reich der Fiktion befinden, aber die westliche Führung scheint hartnäckig davon überzeugt zu sein, dass Russland für eine Kompromisslösung offen ist, da die Zermürbung durch den Krieg größer wäre, als es scheint.
Aber wenn eine solche Hypothese im Jahr 2022 vielleicht noch denkbar gewesen wäre, so ist sie es heute sicher nicht mehr. Zunächst einmal ist nicht zu übersehen, dass Moskau einen so gewaltigen Schritt unternommen hat, um das zu verhindern, was es als existenzielle Bedrohung ansah, nämlich die NATO-„Anlandung“ in der Ukraine. Dass es knapp drei Jahre später stattdessen bereit ist, sie zu akzeptieren, ist offen gesagt unverständlich. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Jahre des Krieges für Russland auf jeden Fall einen Preis hatten, wenn auch einen weitaus geringeren als den, den die Ukraine gezahlt hat, und sicherlich einen geringeren als den, den Europa gezahlt hat, und es wäre inakzeptabel, umsonst bezahlt zu haben. Die Annexion der Gebiete Neurusslands war nämlich nie das eigentliche Ziel (alle Kompromissversuche bis hin zu den gescheiterten Istanbuler Vereinbarungen sahen die Autonomie des Donbass und nicht den Beitritt zur Russischen Föderation vor).
Die Annexion bringt zwar einerseits einen demographischen Aufschwung für ein Land, das unter Bevölkerungsmangel leidet, bringt aber andererseits Wiederaufbaukosten mit sich, die nur teilweise und mittel- bis langfristig durch den mineralischen und industriellen Reichtum der Region kompensiert werden können. Darüber hinaus würde Washington de facto, aber nicht de jure, etwas anerkennen, was bereits besteht.
Aus russischer Sicht hat sich im Laufe des Krieges immer deutlicher gezeigt, dass das westliche Ziel der Zerstörung Russlands keineswegs aufgegeben ist, sondern allenfalls aus taktischen Gründen vorübergehend ausgesetzt werden könnte, und – was in gewisser Hinsicht noch wichtiger ist – dass die westliche Führung völlig unzuverlässig und zu jeder Doppelzüngigkeit und jeder Lüge fähig ist.
Allein aus diesen Gründen würde Moskau niemals Verhandlungen auf einer solchen Grundlage akzeptieren.
Aber es gibt noch andere, viel stichhaltigere Gründe, und zwar für beide Seiten, die nicht nur diese Vermittlungshypothese, sondern jede andere unmöglich machen.
Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Vasallen haben zu viel in diesen Konflikt investiert (wirtschaftlich, militärisch und politisch), um zu akzeptieren, dass sie als Verlierer dastehen; dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der die Wahrnehmung ihrer Schwäche katastrophale Folgen haben könnte. Ein umgekehrter Dominoeffekt, bei dem eine allgemeine Misstrauenskrise auf Seiten befreundeter Länder und eine Ermutigung zur Distanzierung auf Seiten neutraler Länder nicht nur das imperiale Ansehen gefährden würde, sondern auch die effektiven Möglichkeiten, sich den nächsten Herausforderungen zu stellen – vor allem derjenigen mit China.
Insbesondere würden dadurch sowohl die NATO als auch AUKUS und ganz allgemein das gesamte Netzwerk, auf dem die Macht des Imperiums beruht, in Gefahr geraten, auszufransen.
Dies würde unweigerlich zu einer weiteren Beschleunigung des Prozesses der Entdollarisierung der Weltwirtschaft führen, aber auch zu einem Abbau der militärischen Macht der USA in der Welt: Einige Länder, die US-Stützpunkte beherbergen, würden diese nicht mehr als Schutzgarantie – oder als zu zahlenden Preis – ansehen und auf deren Abbau drängen. Dies ist bereits der Fall.
Darüber hinaus würde die strategische Schwächung, die sich aus einer Niederlage in der Ukraine ergibt, nach dem Prinzip der kommunizierenden Gefäße einer strategischen Stärkung Russlands entsprechen, dessen Autorität und Glaubwürdigkeit – die bereits heute erheblich zunehmen – gestärkt würden. Und dieser Zuwachs würde sich wiederum auch auf die anderen Feindesländer der Vereinigten Staaten – in erster Linie Iran und China – auswirken, was die amerikanische Fähigkeit zur Kontrolle beispielsweise des Nahen Ostens weiter schwächen würde. Schließlich würde ein russischer Sieg Moskau de facto zur führenden Militärmacht machen und seine Position insbesondere innerhalb der strategischen Allianz mit Peking stärken, wobei letzteres die Rolle der Wirtschaftsmacht übernehmen würde, während Russland die Rolle des Schwertes des eurasischen Blocks spielen würde.
Jede Lösung, die nicht als Sieg oder selbst als Unentschieden zu werten ist, wäre daher für Washington inakzeptabel, da sie eine entscheidende imperiale Glaubwürdigkeit untergraben würde, und das zu einem Zeitpunkt, an dem diese Glaubwürdigkeit bereits auf wackligen Beinen steht und Amerika sich Herausforderungen von enormer Tragweite gegenübersieht, die – was die geopolitischen strategischen Auswirkungen betrifft – mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar sind.
Die Hypothese eines Rückzugs aus dem Ukraine-Konflikt ist daher nicht nur äußerst schwierig (selbst in der Trump’schen Version, die vielleicht noch phantastischer ist…), sondern auch nicht wirklich als eine echte strategische Perspektive zu verstehen. Tatsächlich befinden sich die Vereinigten Staaten immer noch in der Schwebe, unentschlossen zwischen einer Fortsetzung ad libitum und einem Abgang aus Kiew, bevor es zu spät ist. In der Pole-Position steht die mittlere Hypothese, die heiße Kartoffel an die europäischen Vasallen weiterzureichen.
Russland wiederum hat sehr gute Gründe, nicht über ein Abkommen zu verhandeln. Erstens – und offensichtlich – aus dem einfachsten Grund: Es gewinnt vor Ort. Denn Russlands Vorstellung von einem Sieg misst sich nicht an der Zahl der eroberten (oder befreiten) Quadratkilometer, sondern an der Zerstörung des militärischen und industriellen Potenzials der Ukraine. Nur dies könnte in der Tat hinreichende Garantien dafür bieten, dass die Bedrohung in einigen Jahren nicht wiederkehren wird. Der manu militari-Sieg, der im Übrigen nicht mehr lange auf sich warten lässt, wird es Moskau ermöglichen, eine Aufgabe zu erwirken und damit die Bedingungen für die Kapitulation [1] zu stellen. Ohne sie mit Washington zu diskutieren. Die Fortsetzung des Krieges ermöglicht es folglich auch, das Kriegspotenzial der NATO zu schwächen, was wiederum ein strategisches Ziel darstellt.
Mittel- bis langfristig hält die russische Führung nämlich einen offenen und direkten Konflikt mit der NATO für unvermeidlich. Diese Überzeugung – oder sagen wir besser: dieses Bewusstsein – führt zu zwei grundlegenden Schlussfolgerungen. Die erste, die in letzter Zeit noch deutlicher zutage getreten ist (auch wenn nicht klar ist, ob und inwieweit sie berücksichtigt und verstanden wurde), besteht in der Änderung der russischen Nukleardoktrin [2]. Dabei handelt es sich nicht, wie oft dargestellt, um eine Art Antwort auf die Drohung, dass die ukrainischen Streitkräfte mit Hilfe von NATO-Rüstungsgütern (und der damit verbundenen Logistik…) in der Tiefe angreifen, sondern sie hat offensichtlich eine viel größere Tragweite. Moskau ist sich zwar bewusst, dass es über einige unbestreitbare Vorteile gegenüber dem Atlantischen Bündnis verfügt (im nuklearen Bereich, im Bereich der Raketen, der industriellen Kapazitäten, der elektronischen Kriegsführung und natürlich der Kampferfahrung), aber es ist sich auch bewusst, dass die NATO ihrerseits über einige nicht unerhebliche Vorteile verfügt: die Luftwaffe, eine beträchtliche strategische Tiefe (Europa – Atlantik – Vereinigte Staaten) und vor allem eine überwältigende Mobilisierungsfähigkeit.
Um einem solchen Gegner gegenübertreten zu können, muss Moskau unbedingt in der Lage sein, die Waage zu halten, und zwar sowohl in Bezug auf die Abschreckung als auch, mehr noch, in Bezug auf die effektive Einsatzfähigkeit. Da ein Zusammenstoß dieses Ausmaßes für die Russische Föderation zweifellos existenziell wäre, wird die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen – ob taktisch oder strategisch, spielt keine Rolle, der Unterschied ist im Grunde nur symbolisch – notwendigerweise Teil der Militärdoktrin, und zwar unter den kürzlich dargelegten Bedingungen, die ihren Einsatz auch gegen Länder vorsehen, die selbst keine Atomwaffen besitzen (fast alle Europäer), wenn sie mit einem Land verbündet sind, das über Atomwaffen verfügt (…), und selbst in Ermangelung einer effektiven Drohung seitens des letzteren, sie zuerst einzusetzen.
Die zweite Schlussfolgerung ist, dass das Problem innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens gelöst werden muss. Bevor die NATO die derzeitige Krise überwunden hat (die Streitkräfte des Bündnisses sind weitgehend nicht ausreichend, und die unterstützende Industrieproduktion ist noch weit von dem für eine solche Konfrontation erforderlichen Niveau entfernt). Und solange die russische Mobilisierungskapazität auf einem ausreichenden Niveau bleibt. Die russische Bevölkerung befindet sich nämlich ebenso wie die europäische in einem demographischen Abwärtstrend, und diese Entwicklung wird sich irgendwann auf die – als erheblich angesehenen – operativen Fähigkeiten auswirken. Die Zeiten des Zweiten Weltkriegs, als die UdSSR (die ohnehin größer war als Russland allein) es sich leisten konnte, über 22 Millionen Menschen zu verlieren und trotzdem den Krieg zu gewinnen, sind längst vorbei.
Mit einer Bevölkerung von nur 150 Millionen steht Russland heute einer europäischen Bevölkerung von über 740 Millionen und einer amerikanischen Bevölkerung von über 330 Millionen gegenüber [3].
Darüber hinaus senden die Europäer ständig äußerst kriegerische Signale in Richtung Moskau aus, die inzwischen sogar noch stärker sind als die von Washington ausgesandten. Viele europäische Politiker und Militärs geben inzwischen einen Zeitpunkt für den Konflikt an, sogar einen sehr nahen (vielleicht etwas zu nahen). Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius beispielsweise hält es auf der Grundlage der Aussagen des Generalstabs der Bundeswehr für notwendig, „bis 2029 kriegsbereit zu sein“ [4], während der Generalstabschef der britischen Armee, Sir Raleigh Walker, davor gewarnt hat, dass die Kombination von Bedrohungen bis 2027-28 zu einem Zusammenstoß mit der „Achse des Schreckens“ (Russland, China, Iran und die DVRKorea) führen könnte [5]. Ganz zu schweigen davon, dass die europäischen Länder in großem Umfang sowohl in die Wiederaufnahme der industriellen Großproduktion von Munition als auch in eine Reihe von Anpassungen der logistischen Infrastruktur an die militärischen Erfordernisse investieren. Es gibt sogar einen NATO-Plan (OPLAN DEU), der den Einsatz von 800.000 Mann und 200.000 Fahrzeugen und schwerem Gerät an der Ostfront vorsieht [6]; und der unter anderem die Einleitung von Programmen zur Steigerung der Panzerproduktion, zur Aufstockung der Munitionsvorräte (derzeit für 2 Tage geplant, nach NATO-Standard sollten es aber 30 sein) und zum Bau von Gefangenenlagern vorsieht!
In Anbetracht dieser Elemente ist ein vernünftiger Zeitrahmen, innerhalb dessen Russland die Konfrontation bewältigen und lösen muss, vorhersehbar recht kurz: zwischen fünf und maximal sieben Jahren. Dieser Zeitraum deckt sich im Übrigen in etwa mit Putins Amtszeit als Präsident.
Zu glauben, dass die russische Führung nicht so weit gehen wird, ist reine Naivität. Und auch wenn die westliche Propaganda den russischen Staatschef weiterhin als Unhold darstellt, der ganz Europa erobern will, denkt man in den Staatskanzleien leider in Wirklichkeit, dass er dies niemals wagen wird und dass er ohnehin nicht die Kraft dazu hätte [7]. Das heißt, sie machen weiterhin dieselben Fehler, die sie bis zum Vorabend des 24. Februar 2022 gemacht haben: sich selbst überschätzen und den Feind unterschätzen. Andererseits ist die militärische Sonderoperation nicht nur der erwiesene Beweis dafür, dass Russland handelt, wenn es in die Enge getrieben wird, sondern Putin selbst hat deutlich gemacht, dass man zuerst zuschlagen muss, wenn man der Überzeugung ist, dass eine Konfrontation unvermeidlich ist.
Deshalb konnte Moskau nichts Geringeres als einen Sieg vor Ort, in der Ukraine, akzeptieren. Denn dies ist die Vorbereitung auf den endgültigen Zusammenstoß mit der NATO, und es ist auf jeden Fall vorteilhafter, den Krieg zu verlängern – indem man die Erholung des Atlantischen Bündnisses verlangsamt – als einen Waffenstillstand zum Verschnaufen zu schließen. Etwas, das sie im Übrigen immer wieder sehr deutlich wiederholen, was aber von den westlichen Führern weiterhin ignoriert wird, die von ihrem eigenen kollektiven Ego, ihrer eigenen Arroganz und der Überzeugung von ihrer (nur noch vermeintlichen) Überlegenheit völlig vereinnahmt sind.
Strategisch gesehen sind dies die Bedingungen der Angelegenheit. Wir bewegen uns auf eine bewaffnete Konfrontation mit Russland zu, weil wir nicht in der Lage sind, uns von dem westlichen Drang, Russland zu vernichten, zu befreien.
Wie auch immer die taktischen Schachzüge, diplomatischen Balanceakte, Doppelzüngigkeit, Zirkustricks und was auch immer aussehen mögen, wenn diese Bedrohung nicht schnell und auf absolut glaubwürdige Weise beseitigt wird, ist ein Krieg unvermeidlich.
Beim derzeitigen Stand der Dinge, sowohl was die internationalen Gleichgewichte als auch was die Zeit betrifft, besteht die einzige Möglichkeit, einen Flächenbrand zu vermeiden, vielleicht darin, dass sich europäische Länder in erheblichem Umfang zurückziehen. Nicht unbedingt ein Austritt aus der NATO, was in diesem Zeitrahmen unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich erscheint, aber sicherlich eine klare, sachliche Haltung gegen die Möglichkeit eines Krieges. Und sachlich bedeutet in erster Linie den Verzicht auf Aufrüstungsprogramme und die kriegsähnliche Umstrukturierung der europäischen Infrastrukturen, nicht nur pazifistische Erklärungen. Und vielleicht zunächst einmal eine deutliche Reduzierung der Militärhilfe für die Ukraine. Es würde wahrscheinlich schon genügen, wenn diese Abkehr in einigen der wichtigsten Länder – zum Beispiel in Deutschland und Frankreich – stattfinden würde, was auf die abenteuerlichen Impulse in Polen einwirken würde. Die Zeit ist jedoch knapp, und es ist nicht sicher, ob sie ausreichen wird.
Fußnoten
[1] In einem Interview mit Newsweek hat der russische Außenminister Lawrow kürzlich die russischen Bedingungen für ein Friedensabkommen (und die Ablehnung eines Waffenstillstands) bekräftigt: vollständiger Rückzug der AFU [Armed Forces of Ukraine, d.Ü.] aus den Oblasten DPR [Donezker Volksrepublik], LPR [Luhansker Volksrepublik], Saporoschje und Cherson; Anerkennung der territorialen Realitäten, wie sie in der russischen Verfassung verankert sind; neutraler, blockfreier und nicht-nuklearer Status der Ukraine; Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Landes; Garantie der Rechte, Freiheiten und Interessen der russischsprachigen Bürger; Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland. Eine vollständige Kapitulation, in der Tat. Siehe „Exclusive: Russia’s Lavrov Warns of ‚Dangerous Consequences‘ for US in Ukraine“, Newsweek
[2] Lawrow zitiert Putin: „Wir werden angemessene Entscheidungen auf der Grundlage unseres Verständnisses der vom Westen ausgehenden Bedrohungen treffen. Es liegt an Ihnen, daraus Schlüsse zu ziehen“. In ebd.
[3] Es stimmt auch, dass die europäischen NATO-Länder derzeit Probleme haben, neue Truppen zu rekrutieren, und dass es ihnen schwer fallen könnte, diese im Falle eines Konflikts mit Russland zu mobilisieren. Derzeit werden die Streitkräfte auf 1,9 Millionen Mann geschätzt, ein Kontingent, das ausreichen dürfte, um den russischen Streitkräften entgegenzutreten, auch wenn die Europäer in Wirklichkeit Schwierigkeiten hätten, die im Rahmen der neuen Verteidigungspläne vorgesehenen 300.000 zusätzlichen Soldaten zu rekrutieren. Aber natürlich würden diese Probleme nur im Falle einer (relativ) begrenzten Konfrontation auftreten; im Falle einer allgemeinen Mobilisierung durch die Einberufung würde die demographische Lücke ihren vollen Tribut fordern. Zu diesem Thema vgl. „Europe boldly redefines security for a new age of threats“, Financial Times
[4] “Regierung gibt neuen Plan für den Kriegsfall raus”, Bild
[5] UK must be ready for war in three years, head of British Army warns”, Deborah Haynes, Sky News
[6] “So bereitet sich Deutschland auf Krieg vor”, Nikolaus Harbusch, Bild
[7] 7 – Laut dem schwedischen Verteidigungsminister Pal Jonson ist „dem Kreml und Putin selbst klar, dass sie einen militärischen Konflikt mit der NATO verlieren werden“. Siehe ‘Pål Jonson über Wehrpflicht und eine starke NATO’, Bild
Erschienen im italienischen Original am 9. Oktober auf Giubbe Rosse News, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
Veröffentlicht am 7. Oktober 2024 auf L’Humanité (1) im Rahmen einer Reihe von Debattenbeiträgen zu Israel, Palästina, Nahost und dem 7. Oktober. Diese Übersetzung des Textes des Golem Kollektivs (2) ins Deutsche erfolgte durch Bonustracks.
Am 7. Oktober 2023 hätten die von der Hamas in Israel verübten Morde und Vergewaltigungen eine einhellige und bedingungslose Verurteilung auf der Linken hervorrufen müssen. Doch mehrere Organisationen und Aktivisten schlugen einen anderen Weg ein, begrüßten die Taten als „Sieg des palästinensischen Widerstands“ und riefen dazu auf, „die Offensive der Hamas“ zu unterstützen.
Diese Stimmen, die Rand- und Minderheitsstimmen hätten bleiben können, fanden sich im Zentrum der Debatte innerhalb der Linken wieder, die sich als unfähig erwies, sich ihnen entgegenzustellen. Aus Selbstgefälligkeit oder Passivität hat unsere politische Familie zugelassen, dass reaktionäre und antisemitische Organisationen die Führung der Solidaritätsbewegung mit Palästina übernommen haben, zum Preis von schwerwiegenden Konsequenzen.
Diese Organisationen sind weit davon entfernt, eine politische Lösung oder einen dauerhaften Frieden zu unterstützen, sondern befürworten die Zerstörung Israels durch den bewaffneten palästinensischen Widerstand ohne Rücksicht auf zivile Leben – sowohl israelische als auch palästinensische und libanesische -, die zur Erreichung dieses Ziels geopfert werden. Unter ihnen gibt es Gruppen, die jeden friedlichen Dialog ablehnen und die Bemühungen palästinensischer und israelischer Aktivisten, die sich vor Ort für Frieden, Gerechtigkeit, gegen Rassismus und für jüdisch-arabische Verständigung und Solidarität einsetzen, als „Unternehmung zur Normalisierung des Völkermords“ bezeichnen.
In diesem Zusammenhang hat ein Teil der Linken nicht nur den Kampf für den Frieden verraten und ihre Pflicht zur Solidarität mit dem palästinensischen Volk verletzt, sondern auch bei der Bekämpfung des Antisemitismus in Frankreich versagt. Seit den Ereignissen vom 7. Oktober ist eine Welle antisemitischer Akte durch das Land geschwappt.
Die antisemitische Vergewaltigung in Courbevoie oder der Anschlag auf eine Synagoge in La Grande-Motte wurden von den Tätern als Unterstützung des palästinensischen Volkes gerechtfertigt. Die Linke legitimiert dieses Narrativ, indem sie die Zunahme des Antisemitismus als logische Folge der kriminellen Politik der israelischen Regierung betrachtet. Intellektuelle Faulheit, die es vermeidet, die Diskurse und Kräfte zu analysieren, die in Frankreich einen antisemitischen Diskurs verbreiten und den Übergang zur Tat ermöglichen. Verleugnung der Durchlässigkeit der Solidaritätsbewegung mit dem „bewaffneten palästinensischen Widerstand“, die die Linke unterstützt hat, für den Antisemitismus.
Noch schlimmer ist, dass einige Figuren der Partei „La France insoumise“ [FI] die Realität des Antisemitismus leugnen, der von Jean-Luc Mélenchon als „Restbestand“ bezeichnet wird. Diese Leugnung geht einher mit einem vom Führer der FI vorgetragenen Verschwörungsdiskurs, demzufolge der Antisemitismusvorwurf ein „Paralysierungspfeil“ sei, um die Linke daran zu hindern, an die Macht zu kommen.
Angesichts dieser doppelten Niederlage ist es noch Zeit, aufzuwachen. Es ist dringend notwendig, eine echte internationale Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk für den Frieden und eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts neu aufzubauen. Dazu ist es zwingend notwendig, Organisationen, die den Krieg unterstützen und einen antisemitischen Diskurs in Frankreich führen, nicht länger das Wort zu überlassen. Ohne diese Einsicht läuft die Linke Gefahr, zum Komplizen der rechtsextremen Kräfte zu werden, die den Nahen Osten verwüsten, und einen zunehmenden Antisemitismus im Land zu schüren.
2. Das Golem Kollektiv ist ein Zusammenschluss französischer Juden, das verschiedene Aktionen, u.a. gegen die Vereinnahmung der Antisemitismus Debatte durch die französische Rechte durchgeführt hat und immer wieder mit Debattenbeiträgen in die linken Diskurse eingreift.
Das Tele-Meeting am Dienstagabend begann mit den neuesten Nachrichten aus dem Nahen Osten.
Nach dem massiven Angriff Israels auf Stellungen der Hisbollah im Libanon, bei dem Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Organisation, getötet wurde, schoss der Iran rund 200 Raketen in Richtung Tel Aviv ab.
Es sind materielle Entscheidungen, die Staaten zum Handeln zwingen, und sie alle tun dies innerhalb eines komplexen Geflechts von Bedingungen. In einem Interview, das auf YouTube zu finden ist („Ist es noch möglich, den Dritten Weltkrieg zu vermeiden?“), erklärt General Fabio Mini, dass die Weltlage nicht so sehr kompliziert als vielmehr komplex sei, da es viele Akteure gebe, die jedoch alle klar identifizierbar seien. Die Vernichtung der Hamas und der Hisbollah durch Israel kann nicht abgeschlossen werden, was eine Eskalation des Krieges auslöst. Verglichen mit der Vergangenheit steht der Aktion keine angemessene Reaktion gegenüber, sondern eine „zufällige“, chaotische und schwer vorhersehbare Reaktion.
Die Parole „Kampf gegen den Krieg, Kampf gegen den Kapitalismus“ ist für uns immer noch gültig, aber eine Massenbewegung muss ihr Substanz verleihen, und die kann nicht „kreiert” werden. Defätismus bedeutet, wie Lenin sagt, sich in erster Linie gegen die eigene Bourgeoisie zu wenden, im Frieden wie im Krieg. Partisanentum hingegen zielt auf ein Bündnis zwischen dem Proletariat und Teilen der Bourgeoisie. Für die luogocomunisti reduziert sich der Antiimperialismus auf eine antiamerikanische Einheitsfrontpolitik, eine Konzeption, die hinter der Kautskys zurückbleibt. Das Kapital hat sich völlig verselbständigt, Staaten und Regierungen zählen wenig und noch weniger aktivistische Gruppen, die, wie Bordiga sagt, nicht einmal in der Lage sind, den Wecker aufzuziehen.
Die Strömung, auf die wir uns beziehen, war immer anti-indifferentistisch und analysierte sorgfältig die nationalen Befreiungsbewegungen und ihre Auswirkungen auf die zwischenimperialistische Dynamik. In “Pressione ‘razziale’ del contadiname, pressione classista dei popoli colorati” (1953) wird aufgezeigt, wie die Klassenprägung des Proletariats bereits in den letzten antikolonialen Bewegungen entscheidend war. Da die Phase der zahlreichen Revolutionen vorbei ist, gilt die Parole der kommunistischen Unterstützung der Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegungen nicht mehr. Im Nahen Osten haben wir es mit einem Flickenteppich von Völkern zu tun, die innerhalb der von den Westmächten nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen leben; die arabischen Bourgeoisien sind historisch gespalten, haben unterschiedliche Geschichten und Interessen, und es wird niemals eine Vereinigung geben. Israel will mit dem Abraham Packt die zwischenstaatlichen Beziehungen im Nahen Osten neu gestalten und sich als politisch-militärischer Bezugspunkt in der Region positionieren.
In den letzten Monaten hört man oft, dass palästinensische, libanesische oder irakische bewaffnete Formationen antiimperialistisch sind, weil sie gegen die Amerikaner oder Israelis schießen. Diese Parteinahme ist für das Proletariat heute besonders gefährlich, weil der klassische Krieg durch eine hybride Kriegsführung ersetzt wurde: Der moderne Konflikt ist eine Konfrontation zwischen Software und Intelligenz und bezieht gleichzeitig die gesamte Gesellschaft ein, von der Logistik bis zur Information.
Das Aufeinanderprallen von Kriegen, auch wenn sie von Armeen angezettelt werden, betrifft vor allem die Zivilbevölkerung, wie in Gaza oder im Libanon. Es gibt keine klare Trennung mehr zwischen Krieg und Politik, zwischen Soldaten und Zivilisten, und es ist unumgänglich geworden, eine als feindlich angesehene Bevölkerung zu eliminieren (Dahiya-Doktrin).(link d.Ü.)
Die Komplexität der kapitalistischen Welt ist das Ergebnis einfacher Gesetze, vor allem des tendenziellen Falls der Profitrate (“Transizione di fase. Prove generali di guerra” – rivista n. 55). Ausgehend von dem, was Marx schrieb, wissen wir, dass der Kapitalismus mit Verwertungsproblemen konfrontiert ist, die dazu führen, dass er sich selbst als spezifische Produktionsweise verleugnet. Die großen Investmentfonds zum Beispiel, die Dutzende von Billionen Dollar kontrollieren, stellen die letzte mögliche Entwicklung des kapitalistischen Eigentums dar, das längst von der Konzentration zur Zentralisierung übergegangen ist. Überproduktion von Waren ist immer Überproduktion von Kapital, das durch die Vergrößerung von Finanzblasen in die Zirkulationssphäre gelenkt wird.
Alle Staaten, von Israel über den Iran bis zu den USA, haben das Problem, die Heimatfront zu halten, und die Ausbreitung des Krieges kann ein weiterer Faktor der sozialen Instabilität sein. Die staatlichen Akteure, die in den Nahostkonflikt verwickelt sind, sind innerlich nicht kohärent, z. B. der Irak, in dem pro-iranische Milizen operieren, oder Syrien, das in mehrere Gebiete aufgeteilt ist, oder der Libanon, wo eine Zentralregierung von einer nichtstaatlichen Einheit wie der Hisbollah flankiert wird. Selbst Israel hat in seinem Inneren (Westjordanland) oder an seinen Grenzen (Gazastreifen) Gebiete, die von feindlichen bewaffneten Organisationen kontrolliert werden, die als Wohlfahrtsstaat fungieren. Bei jeder Untersuchung der weltweiten Kriegsmaschinerie muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass in den beiden derzeit brennenden Krisenherden (Naher Osten und Ukraine) der Staat zum Zerfall neigt.
Die Verfechter von Projekten wie dem Multipolarismus, verstanden als Zwischenstufe zum Sozialismus, sind getarnte Agenten des Kapitalismus. Sicherlich gibt es ein Übergangsterrain zwischen dem komatösen Kapitalismus und der zukünftigen Gesellschaft, aber das ist nicht zu verwechseln mit einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Wie wir in “doppia direzione/ doppelte Richtung” in der letzten Ausgabe von ‘Rivista’ geschrieben haben, lässt das unmittelbare Programm der Revolution keine Vermittlung zu. Die „Sozialisierung” mit der “Revolution“ zu verwechseln, ist ein großer Fehler, der bereits in den 1920er Jahren begangen wurde.
In den USA ist ein Streik in den Häfen der Ostküste im Gange. Das Herz des Kapitalismus sieht eine polarisierende interne Situation: Streiks in den großen Autoindustrien, von Hollywood-Arbeitern, von Boeing-Arbeitern. Auch Peking hat mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, viele Indikatoren (Industrieproduktion, Immobilienmarkt, Arbeitslosigkeit usw.) zeigen die Überalterung des chinesischen Kapitalismus. Auch dort kommt es aufgrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Proletarier zu Massenstreiks.
Im Jahr 1917 wurde Kornilows Putscharmee von der Roten Armee besiegt. Wenn Millionen von Menschen auf die Straße gehen, können auch die Streitkräfte die Seiten wechseln; die Armeen waren ein Hauptinstrument aller Revolutionen. Israel ist eine wichtige Untersuchungsterrain: In dem Land gab es Zusammenstöße auch innerhalb der Streitkräfte, Straßendemonstrationen gegen die Regierung Netanjahu, Gruppen von Reservisten, die sich der Einberufung zum Dienst widersetzten. Mit dem Anschlag vom 7. Oktober sind diese Auseinandersetzungen zwar in den Hintergrund getreten, aber nicht völlig verschwunden.
Aus den Klassenkämpfen, die in der Welt entstehen werden, wird ein Organismus hervorgehen, der ein politisches Programm hat, das im Gegensatz zu den im Umlauf befindlichen steht und die Zukunft der Gattung repräsentiert. Die Menschheit hat die Fähigkeit verloren, sich auf die planetarische Homöostase einzustellen; sie hat keine Kontrolle über die Maschinen, die sie selbst gebaut hat. In der Tat besteht die Gefahr, dass der Krieg zwischen den Maschinensystemen die Oberhand gewinnt und der Mensch zu einem zweitrangigen Element wird. Die Notwendigkeit, die Homöostase wiederherzustellen, wird von den bürgerlichen Wissenschaftlern selbst angesprochen. In „Rivoluzione anti-entropica/ Anti-entropische Revolution“ haben wir mehrere Autoren zitiert (Capra, Maturana, Varela, Bateson, Margulis, Lovelock usw.), denen jedoch ein konsequentes politisches Programm fehlt, da sie nicht mit dem Kapitalismus und seiner Logik gebrochen haben.
Der Kapitalismus versucht, die von der Gesellschaft gestellten Forderungen (grüne Ökonomie, die Woke-Ideologie usw.) zu erfüllen, aber der Reformismus hat immer weniger Energie. Es herrscht Chaos, und gleichzeitig können wir darin eine Ordnung erahnen. Aus dem chaotischen Flimmern der sozialen Atome werden neue Strukturen entstehen, wie sie im Konzept der Linken zur Umwälzung der Praxis beschrieben werden („Teoria e azione nella dottrina marxista/ Theorie und Aktion in der marxistischen Lehre“, 1951).
Veröffentlicht am 5. Oktober 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
Wir veröffentlichen den ersten Teil einer Reihe von Artikeln, die Maurizio Lazzarato für uns verfasst hat, um eine Bestandsaufnahme des laufenden „weltweiten Bürgerkriegs“ zu machen. Im ersten Teil befasst sich der Autor mit dem „Zentrum, das nicht gehalten wird“, wie der Autor sagen würde, d.h. mit der Krise in den USA, dem Herzen der heutigen kapitalistischen Macht. Die Krisen und Kriege, die die Welt zerstören, sind die Töchter der Machtstrategien des Landes der Stars and Stripes.
Erinnern wir uns daran, dass Maurizio Lazzarato ein Buch über diese Themen geschrieben hat, das kürzlich bei DeriveApprodi erschienen ist: „Weltweiter Bürgerkrieg?”
(Vorwort Machina)
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Das wirtschaftliche und politische Fiasko der USA
Ein zweifacher, widersprüchlicher und komplementärer politischer und wirtschaftlicher Prozess ist im Gange: Der Staat und die (US-)Politik setzen ihre Souveränität durch Krieg (einschließlich Bürgerkrieg) und Völkermord gewaltsam durch. Gleichzeitig zeigen sie ihre völlige Unterordnung unter das neue Gesicht, das die wirtschaftliche Macht nach der dramatischen Finanzkrise von 2008 angenommen hat, indem sie eine noch nie dagewesene Finanzialisierung vorantreiben, die ebenso illusorisch und gefährlich ist wie diejenige, die dieSubprime-Hypothekenkrise(link d.Ü.) hervorgebracht hat. Die Ursache der Katastrophe, die uns in den Krieg geführt hat, ist zu einer neuen Medizin geworden, um aus der Krise herauszukommen: eine Situation, die nur ein Vorbote für weitere Katastrophen und Kriege sein kann. Eine Analyse der Geschehnisse in den Vereinigten Staaten, dem Herzen der kapitalistischen Macht, ist von entscheidender Bedeutung, denn von ihrem Schoß, ihrer Wirtschaft und ihrer Machtstrategie gingen alle Krisen und alle Kriege aus, die die Welt verwüstet haben und noch immer verwüsten.
Der Kern des Problems liegt im Scheitern des wirtschaftlichen und politischen Modells der USA, das sie zwangsläufig zu Kriegen, Völkermord und internen Bürgerkriegen treibt, die derzeit nur im Entstehen sind, sich aber am Ende der Präsidentschaft von Donald Trump auf dem Capitol Hill bereits ein erstes Mal materialisiert haben. Die amerikanische Wirtschaft hätte schon längst Konkurs anmelden müssen, wenn die Regeln, die für andere Länder gelten, auch für sie gelten würden. Ende April 2024 betrug die gesamte Staatsverschuldung, genannt Total Treasury Security Outstanding, also die Summe der verschiedenen Anleihen und Staatsschuldtitel, 34.617 Milliarden Dollar. Zwölf Monate zuvor lag diese Summe bei 31.458 Milliarden. Innerhalb eines Jahres stieg die Staatsverschuldung um 3.160 Milliarden Dollar, was fast der Höhe der Staatsverschuldung Deutschlands, der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, entspricht. Aber es ist die exponentielle Entwicklung, die jetzt völlig unkontrolliert ist: ein Anstieg um 1 Billion alle hundert Tage. Heute sind wir bereits bei 1 Billion alle 60 Tage.
Wenn es eine Nation gibt, die auf Kosten der Welt lebt, dann sind es die USA. Der Rest der Welt bezahlt ihre Schulden (die irrsinnigen Ausgaben für den „American Way of Life“ – von denen offensichtlich nur ein Bruchteil der Amerikaner profitiert – sowie ihren riesigen Militärapparat) vor allem auf zwei Arten. Durch den Dollar, die meistgehandelte Ware der Welt, verfügen die USA über die Seigniorage des gesamten Planeten, da ihre nationale Währung als Währung des internationalen Handels fungiert, was es ihnen ermöglicht, sich zu verschulden wie kein anderes Land. Nach der Krise von 2008 haben die USA einen anderen Weg gefunden, die Kosten der Verschuldung auf andere Länder abzuwälzen, und zwar durch eine Neuordnung des Finanzwesens. Kapital (vor allem von Verbündeten, darunter vor allem Europa) wird in die USA transferiert, um die steigenden Zinsen für die Schulden zu bezahlen, und zwar mit Hilfe von Investmentfonds. Nach der Finanzkrise kam es dank fünfzehn Jahren quantitativer Lockerung (Liquidität zum Nulltarif) durch die Zentralbanken zu einer Kapitalkonzentration, die zu einem Monopol führte, wie es der Kapitalismus nie zuvor gekannt hat. Mit politischer Hilfe der Regierungen Obama und Biden verfügt eine sehr kleine Gruppe amerikanischer Fonds über ein Vermögen (d. h. die Sammlung und Verwaltung von Ersparnissen) von 44 bis 46 Billionen Dollar. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was diese monopolistische Zentralisierung bedeutet, kann man sie mit dem BIP von Italien – 2 Billionen Dollar – oder dem der gesamten Europäischen Union – 18 Billionen Dollar – vergleichen. Die „Big Three“, wie die drei wichtigsten Fonds genannt werden, Vanguard, Black Rock und State Street, stellen in Wirklichkeit eine einzigartige Realität dar, da sich die Eigentumsverhältnisse der Fonds überschneiden und schwer zuzuordnen sind.
Der Reichtum dieses „Hypermonopols“ beruht auf der Zerstörung des Wohlfahrtsstaates. Für Renten, Gesundheit, Schulbildung und jede andere Art von Sozialleistungen sind die Amerikaner gezwungen, Versicherungen aller Art abzuschließen. Jetzt sind die Europäer und die übrige westliche Welt (aber auch Mileis Lateinamerika) an der Reihe, das Tempo des Abbaus der Sozialleistungen in die Hände der Investmentfonds zu legen (das indirekte, durch den Wohlfahrtsstaat garantierte Einkommen verwandelt sich in eine Last, in Kosten und Ausgaben, die jeder auf sich nehmen muss, um seine eigene Reproduktion sicherzustellen). Die USA haben ein doppeltes Interesse daran, den Abbau der Sozialleistungen weltweit fortzusetzen und zu intensivieren: ein wirtschaftliches, weil es zu Investitionen in die Wertpapiere der Fonds führt (die wiederum dazu dienen, Staatsanleihen, Obligationen und Aktien amerikanischer Unternehmen zu kaufen), und ein politisches, weil die Privatisierung der Dienstleistungen Individualismus und die Finanzialisierung des Individuums bedeutet, das vom Arbeiter oder Bürger in einen kleinen Finanzakteur verwandelt wird (und nicht in einen Unternehmer seiner selbst, wie die herrschende Ideologie behauptet). Auch die Steuerpolitik ist auf die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates ausgerichtet. Weder die Reichen noch die Unternehmen werden zur Zahlung von Steuern gezwungen, und die Steuerprogression wird auf Null gesenkt; daher gibt es keine Mittel mehr für Sozialausgaben, was einen Anreiz zum Kauf privater Policen schafft, die in Investmentfonds landen. Der Plan, alles zu zerstören, was in zweihundert Jahren Kampf errungen wurde, geht nun endlich auf.
Die amerikanischen Ersparnisse reichen nicht mehr aus, um den Rentenkreislauf zu füttern, so dass sich die Fonds auf die europäischen Ersparnisse stürzen. Die 35 Billionen Dollar, die Enrico Letta beispielsweise einem großen europäischen Investmentfonds zuweisen möchte, würden nach den gleichen Prinzipien funktionieren: Produktion und Verteilung von Renten, die die gleichen enormen Klassenunterschiede wie in den USA formen. Der Grund für die schnelle und unglaubliche Verarmung Europas liegt in der Wirtschaftsstrategie des amerikanischen Verbündeten. Der negative Abstand zu den USA hat sich von 15 % im Jahr 2002 auf heute 30 % erhöht. Je mehr Europa ausgeraubt wird, desto mehr wird seine politische und mediale Klasse atlantisch, kriegslüstern und anfällig für diejenigen, die sie dramatisch an den Rand drängen und sie in einen Krieg gegen Russland treiben ( welchen sie im Übrigen nicht einmal mittragen würden). Die europäischen Staaten haben China und Ostasien beim Kauf von US-Staatsanleihen abgelöst und zwingen die Bevölkerung im Zuge des Abbaus des Sozialstaates zum Abschluss von Versicherungspolicen, die auf den Konten von Investmentfonds landen. Auf diese Weise wird der Euro in Dollar umgewandelt, was die Dollarisierung vor der Bedrohung durch die Weigerung des Südens bewahrt, sich der Vorherrschaft der amerikanischen Währung zu unterwerfen.
Dieser Transfer von Reichtum betrifft auch Lateinamerika, wo Milei eine Vorhut der neuen Finanzialisierung ist, die darauf abzielt, alles zu privatisieren. Der Neofaschismus von Milei ist ein Laboratorium für die Adaption der amerikanischen Raubtechniken, die in Europa, Japan und Australien übernommen wurden, auch in den schwächeren Volkswirtschaften. Es ist kein klassischer Faschismus, es ist der neue „libertäre“ Faschismus der Renten und Investmentfonds, den Milei verkörpert, eine schlechte ideologische Kopie des Faschismus des Silicon Valley, der aus seinen „innovativen“ Unternehmen hervorgegangen ist. Wie Kissinger sagte: „Ein Feind der USA zu sein mag gefährlich sein, aber ein Freund der USA zu sein ist tödlich“. Diese enorme Liquidität hat es den Fonds ermöglicht, im Durchschnitt 22 % der gesamten Standard & Poors-Liste zu kaufen, die die 500 größten an der New Yorker Börse notierten Unternehmen enthält. Die Fonds sind bereits in den wichtigsten europäischen Unternehmen und Banken vertreten (vor allem in Italien, wo sie in rasantem Tempo veräußert werden), und ihre Spekulationen entscheiden praktisch über das Schicksal der Wirtschaft, indem sie die Entscheidungen der „Unternehmer“ lenken.
Jemand hat von der Autonomie des kognitiven Proletariats, von der Unabhängigkeit der neuen Klassenzusammensetzung geschwärmt. Nichts könnte falscher sein. Wer entscheidet, wo, wann, wie und mit welcher Arbeitskraft produziert wird (angestellt, prekär, dienstbar, weiblich usw.), ist wiederum derjenige, der über das notwendige Kapital, die Liquidität und die Macht dazu verfügt (heute sicherlich die „Großen Drei“). Es ist sicher das schwächste Proletariat der letzten zwei Jahrhunderte. Vergessen Sie Autonomie und Unabhängigkeit, die Klassenrealität ist Unterordnung, Unterwerfung und Gehorsam, wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus. Eine „lebendige Arbeit“ zu sein, ist eine Schande, denn es ist immer eine befohlene Arbeit, wie die meines Vaters und Großvaters. Die Arbeit produziert nicht „die“ Welt, sondern die „Welt des Kapitals“, die, bis zum Beweis des Gegenteils, etwas völlig anderes ist, weil sie eine Welt aus Scheiße ist. Lebendige Arbeit kann nur durch Ablehnung, Bruch, Revolte und Revolution Autonomie und Unabhängigkeit erlangen. Ohne dies ist ihr die Ohnmacht gewiss!
Die Machtkämpfe innerhalb des amerikanischen Finanzkapitals
Luca Celada[ 1] zitiert in einem bei Dinamopress erschienenen Artikel Robert Reich, der jenen als „progressiv“ bezeichnet, weil er als ehemaliger Minister in der Clinton-Regierung als guter Demokrat die Finanzialisierung (und die damit einhergehende Zerstörung der Sozialsysteme) intensiviert und abgrundtiefe Klassenungleichheiten ausgehöhlt hat, womit eine solide Grundlage für das Desaster von 2008 gelegt wurde, das die Ursache für die aktuellen Kriege ist. Das Vorgehen von Musk und Thiel, Unternehmern aus dem Silicon Valley und Verbündete von Trump, wird als Bedrohung eines neuen Monopols gesehen, während die beispiellose Zentralisierung der Macht der Fonds, die seit fünfzehn Jahren unter aktiver Mitwirkung der Demokraten die Runde macht und gemeinsam die Bedingungen für die nächste Finanzkatastrophe schafft, zu wenig beachtet wird.
„Der ‘Eintritt der Silizium-Tycoons in die Politik’ fiel, vielleicht nicht ganz zufällig, mit den ersten Anzeichen für ein energischeres regulatorisches Vorgehen der Biden-Harris-Administration zusammen, einschließlich der ersten echten Kartellklagen gegen Giganten wie Google, Amazon und Apple, die von der Vorsitzenden der Federal Trade Commission, Lina Khan (die ihre Dissertation über Amazons Monopol schrieb), und dem ebenso grimmigen stellvertretenden Justizminister Jonathan Kanter angestrengt wurden. Es ist daher vielleicht nicht überraschend, dass einige „Silicon-Barone“ auf den Kandidaten setzen, der ihnen am ehesten einen Blankoscheck ausstellen wird. Und einige von ihnen sogar in ‘die eigene Regierung’ berufen will.
Kamala Harris ist mit Händen und Füßen an den Willen der Fonds gebunden, denn die Hauptaktionäre aller (und wirklich aller) von Celada erwähnten Unternehmen sind eben diese Fonds. Ich sehe nicht, wie sie sich deren Monopol widersetzen kann, von dem das Heil der USA und das ihrer Partei („Demokraten für Genozid“) abhängt. Die Rechtfertigung für die Blindheit gegenüber den „Progressiven“ ist in Trumps Neofaschismus zu finden. Wenn er gewählt wird, kommen wir vom Regen in die Traufe; aber man darf nicht vergessen, dass wir bereits mit der Wahl Bidens vom Regen in die Traufe von Krieg und Völkermord gefallen sind. Man hat uns versichert, die Gewalt der Nazis sei eine Ausnahme, aber die Demokraten haben uns daran erinnert, dass der Völkermord vielmehr eines der Werkzeuge ist, mit denen der Kapitalismus seit seiner Gründung arbeitet. Die amerikanische Demokratie wurde auf Völkermord und Sklaverei gegründet. Rassismus, Rassentrennung und Apartheid sind ihre anderen strukturellen Bestandteile. Die Komplizenschaft mit Israel prägt die Geschichte der „politischsten“ aller Demokratien, wie Hannah Arendt es ausdrückte.
Die kleinen Monopolisten, wie Musk, haben gehandelt, weil das große Monopol sie nicht atmen lässt, aber sie sind seiner Logik völlig unterworfen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine interne Auseinandersetzung innerhalb des amerikanischen Finanzkapitals: Die kleinen Monopolisten möchten die „animalischen Geister“ des Kapitalismus repräsentieren, die ihrer Meinung nach durch das Bündnis der Demokraten mit den großen Investmentfonds gebändigt werden. Sie propagieren einen futuristischen Faschismus (auch das ist nichts wirklich Neues, wenn man an den historischen Faschismus denkt, wo der Futurismus der Geschwindigkeit, des Krieges, der Maschinen mit der antiproletarischen und antibolschewistischen Gewalt harmonierte), einen Transhumanismus und ein Delirium, das noch oligarchischer und rassistischer ist als das der Finanzfonds. Diese kleinen Monopolisten sind sich mit den großen Monopolisten in der Tat einig, was die wichtigste Frage betrifft: das Privateigentum, d.h. das A und O der Strategie des Kapitals.
Ihr gemeinsames Programm ist es, alles zu finanzieren, und das heißt, alles zu privatisieren. Es stellt sich die Frage, wie dieser riesige Kuchen aufgeteilt werden soll. Um die Grenzen der progressiven Analyse zu verstehen, müssen wir uns kurz mit der Funktionsweise der monopolistischen Finanzialisierung befassen, die von den Investmentfonds nach 2008 durchgeführt wurde. Die Subprime-Krise war sektoral und die Spekulation konzentrierte sich auf den Immobiliensektor. Heute hingegen ist das Finanzwesen allgegenwärtig. Von Obama bis Biden haben die demokratischen Regierungen das Eindringen der Fonds in die gesamte Gesellschaft begleitet: Es gibt heute keinen Lebensbereich, der nicht finanzialisiert ist.
Finanzialisierung der Reproduktion: Es wird viel über die zentrale Bedeutung der Reproduktion in den Bewegungen gesprochen, aber mit einer abgrundtiefen Verspätung im Vergleich zur Aktion der Fonds, deren Voraussetzung die Zerstörung der Wohlfahrt ist. Die Demokraten haben alle vagen Ambitionen einer neuen Wohlfahrt aufgegeben und setzen alles auf die Privatisierung aller sozialen Dienste. Sie haben es offen theoretisiert: Die Demokratisierung der Finanzen muss zur Finanzialisierung der Mittelschicht führen. Die von den Demokraten in jeder Hinsicht geförderten Fonds würden eine sichere Geldanlage garantieren, so dass die Amerikaner, die die von den Fonds produzierten Wertpapiere kaufen, sich das Einkommen und die Dienstleistungen, die die Arbeit nicht mehr bietet, selbst garantieren müssten (diejenigen, die es sich leisten können, denn die Armen, die alleinstehenden Frauen und die große Mehrheit der Arbeitnehmer sind davon ausgeschlossen – aus einer kürzlich durchgeführten Umfrage ging hervor, dass 44 % der amerikanischen Familien nicht in der Lage sind, eine unerwartete Ausgabe von 1000 Dollar zu bewältigen).
Die Mittelschicht reicht für Kamala Harris bis zu einem Einkommen von 400.000 Dollar pro Jahr. Dies ist eine wichtige Zahl, um die soziale Zusammensetzung der Demokraten zu verstehen. Arbeiter und Angestellte sind völlig aus dem Blickfeld der Demokraten und der „Linken“ im Allgemeinen verschwunden. Das Wunder der Vermehrung von Brot und Fischen, das von der Finanzwelt wiederholt wurde und bereits 2008 gescheitert ist, wird nun erneut als Lösung für die „soziale Frage“ vorgeschlagen. Wir wiederholen: Es handelt sich um einen Prozess der Finanzialisierung der Wohlfahrt, denn Anleihen und Politiken sollen die vom Staat erbrachten Leistungen ersetzen. Wir können auch den italienischen Fall anführen: Angesichts der Nichtinvestition des Staates in das von der Klimakrise verwüstete Gebiet hat der Minister für Katastrophenschutz die Idee einer obligatorischen Hochwasserversicherung wieder aufgegriffen. Matteo Salvini intervenierte mit den Worten: „Der Staat kann Anweisungen geben, aber wir leben nicht in einem ethischen Staat, in dem der Staat uns etwas vorschreibt, verbietet oder verpflichtet“, und schlug stattdessen ein neues Gesetz vor, das die Arbeitnehmer dazu verpflichten sollte, einen Teil ihrer TFR (Abfindung) in Pensionsfonds zu investieren, um am Ende ihrer Laufbahn eine Zusatzrente zu erhalten. Offensichtlich ohne zu verstehen, in welcher Beziehung das zu den amerikanischen Fonds steht (Naivität oder Idiotie), denn in Wirklichkeit würden 70 % in den USA in Dollar umgewandelt.
Die Finanzialisierung macht die Unternehmen zu Finanzagenten. Und sie betrifft auch Unternehmen, die reale Gewinne erwirtschaften, die Mitarbeiter entlassen und deren riesige Dividenden nicht investiert, sondern größtenteils an die Aktionäre ausgeschüttet oder zum Kauf eigener Aktien verwendet werden, um ihren Wert zu steigern und ihre Kapitalisierung zu erhöhen (die in keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was sie tatsächlich produzieren und verkaufen). All dies geht Hand in Hand mit der Finanzialisierung der Preise: Nicht der Markt (das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Gütern) legt die Preise fest, sondern die Wetten der Marktteilnehmer (durch Derivate), die weder mit der Produktion noch mit dem realen Handel zu tun haben. Die Preise werden von finanzialisierten Unternehmen festgelegt, die den Energie-, Lebensmittel-, Rohstoff- und Pharmasektor usw. aus einer absoluten Monopol- oder Oligopolstellung heraus kontrollieren (die Hauptaktionäre dieser Unternehmen sind stets die großen Investmentfonds). Die Inflation, die in letzter Zeit ausgebrochen ist, ist das Ergebnis von Preisspekulationen und hängt in keiner Weise von Lohnerhöhungen oder Sozialausgaben ab. Die Kombination dieser Finanzierungen, die in das „Leben“ investieren (auch wenn der Begriff zweideutig ist), lässt die Einkommens- und vor allem die Vermögensunterschiede explodieren, deren Opfer die Arbeitnehmer und die gesamte Bevölkerung sind, die sich den Kauf von Aktien nicht leisten können.
Das Scheitern der neoliberalen Politik und der Krieg
Die Behauptung, dass das Monopol das Ende des Neoliberalismus und der Marktideologie einläutet, verdient daher einige Bemerkungen. Wir sprechen von Ideologie in Bezug auf den Wettbewerb, weil der Prozess der wirtschaftlichen Vertikalisierung mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert unbeirrt fortgeführt worden ist und im Neoliberalismus, wie wir bereits erörtert haben, geradezu explodiert ist.
Die Fonds sind, wie bereits erwähnt, für die Zentralität der amerikanischen Macht funktional, mehr als jede andere Institution. Und die Fonds brauchen die Steuerpolitik der Regierung (keine Besteuerung der Finanzen und Schwächung des Faktors Arbeit), Regulierungen und Zugeständnisse, die großzügig von Obama (einem schwarzen Präsidenten, aber in perfekter Kontinuität mit dem weißen, der ihm vorausging und dem, der ihm folgte) und, noch entscheidender, von Biden gewährt wurden. Hier taucht ein theoretisches und politisches Problem auf: Das Finanzwesen, das die abstrakteste Form des Wertes und die vollkommene kosmopolitische Form des Kapitalismus darstellen sollte, wird im Westen von Apparaten beherrscht und verwaltet, die die gestreifte Flagge tragen. Die amerikanischen Fonds handeln im Einklang mit den US-Regierungen und verfolgen ihre Interessen zum Nachteil der ganzen Welt. Die Währung befindet sich in der gleichen Situation. So etwas wie eine supranationale Währung gibt es nicht, eine Währung ist immer national, denn sie ist eng mit der Politik des Staates verbunden, der sie in einem territorial begrenzten Rahmen ausgibt, insbesondere der Dollar. Man kann sagen, dass Geld und Finanzen die Tendenz, sich außerhalb der territorialen Grenzen von Staaten zu bewegen, und deren Unmöglichkeit darstellen. Die Beziehungen zwischen den USA und den Investmentfonds organisieren eine globale Aktion, die einige wenige Amerikaner und ihre Oligarchien begünstigt.
Die zweite Beobachtung betrifft die Lesart des Neoliberalismus, von dem man glaubt, dass er immer noch funktioniert, obwohl er in Wirklichkeit tot ist: getötet durch Faschismus, Kriege und Völkermord. Dasselbe Schicksal ereilte seinen illustren Vorgänger, den Liberalismus, der die kleinen Unannehmlichkeiten, die er verursachte (die beiden Weltkriege und den Nationalsozialismus), vermeiden sollte und sie stattdessen zwangsläufig reproduzierte. Ein Großteil dieser Analyse geht auf Michel Foucaults Theorie der Biopolitik zurück, die einen unheilvollen Einfluss auf das kritische Denken ausgeübt hat. Foucault versteht den Neoliberalismus als eine Theorie des Unternehmertums und seiner Subjektivierung als „Unternehmer seiner selbst“. Er erwähnt nie, nicht einmal en passant, den Kredit, das Geld und die Finanzen, auf denen die kapitalistische Strategie seit den späten 1960er Jahren aufgebaut ist. Das Hauptinstrument der Konterrevolution ist die „große Verschuldung des Staates, der Familien, der Unternehmen“, wie Paul Sweezy sagen würde, und nicht die Produktion. Das Unternehmen ist eine ordoliberale Ideologie und Idee, die dem industriellen Westen, den 1930er Jahren und der Nachkriegszeit angehört: eine definitiv tote Welt. Der Ordoliberalismus sieht die Wirtschaft als das, was den Tod des „Souveräns“ verursacht, wenn das Finanzwesen ein riesiges Monopol erlangt (der Wirtschaftssouverän). Im Rahmen des Industriekapitalismus ist dies jedoch nicht möglich, da dieser den politischen „Souverän“ (den Staat) braucht, um sich zu konstituieren und zu reproduzieren. Der Kopf des Souveräns wird nicht von der Wirtschaft abgeschnitten, sondern verdoppelt, wodurch die Zentralisierung der Macht des Kapitals und des Staates zu einer äußerst erfolgreichen Strategie wird.
Foucault hat einfach eine Epoche verwechselt, ebenso wie seine Schüler, die die Fehler des Meisters reproduzierten, z.B. vor allem Dardot und Laval. Der Markt hat nie so funktioniert, wie Foucault und die Ordoliberalen glaubten, nämlich auf der Grundlage des Wettbewerbs. Seine Wahrheit ist vielmehr das Funktionieren des Finanzwesens, das die Preise auf der Grundlage eines spekulativen Monopols festlegt und nichts mit der Nachfrage und dem Angebot an realen Gütern zu tun hat (in jüngster Zeit hat sich der Energiepreis verzehnfacht, ohne dass dies in irgendeiner Beziehung zu seiner realen Verfügbarkeit steht, dasselbe gilt für Getreide usw.). Die Subjektivierung wird nicht durch den Unternehmer repräsentiert, sondern durch die illusorische Verwandlung der Individuen (nicht aller, wie wir gesagt haben) in Finanzagenten. Für das Finanzwesen bestehen die „Bevölkerung“ und die Welt aus Gläubigern, Schuldnern und Anlegern in Aktien, Anleihen und Wertpapieren. Die Finanzialisierung der Mittelschicht, die durch das Abkommen zwischen den Demokraten und den Fonds vorangetrieben wird, ist die letzte Schimäre, die sich beim nächsten Crash in Luft auflösen wird.
Heute hat der Prozess, der von der Biopolitik nicht einmal angedeutet wurde, seinen Höhepunkt erreicht. Das Wachstum ist im Westen nur finanziell (während es im globalen Süden real ist). Seine Produktion (Geld, das Geld produziert, wie der „Birnbaum, der Birnen produziert“, sagte Marx) ist eine Fiktion, eine Erfindung aus Altpapier, die jedoch reale Auswirkungen hat. Die Fonds treiben die Kurse der Wertpapiere der Unternehmen, deren Aktien sie halten, in die Höhe, um Dividenden zu kassieren, die an die Zeichner ausgeschüttet werden. Dabei handelt es sich nicht um neuen Reichtum, sondern lediglich um die Aneignung, die Vereinnahmung und den Raub eines Wertes, der bereits existiert und lediglich vom Rest der Welt in die USA transferiert wird – unter Klassengesichtspunkten könnte man sagen, von der Arbeit zum Spekulationskapital. Wenn dieser „Diebstahl“ von im Rest der Welt produzierten Reichtum aufhört, bricht das ganze System zusammen.
Der richtige Name für diesen Prozess ist Miete. Sein Kreislauf wird durch die Dollarisierung garantiert und gesichert, weshalb die USA niemals eine multipolare Welt akzeptieren können. Sie sind zwangsläufig zum Unilateralismus gezwungen, sie sind gezwungen, ihre Verbündeten zu berauben, weil der globale Süden nicht länger als Kolonie fungieren will (eine Rolle, die vollständig von Europa, Japan und Australien übernommen wurde). Die Oligarchien, die den Westen beherrschen, sind das Ergebnis der Finanzialisierung und funktionieren genau wie die Aristokratie des „ancien régime“. Deshalb brauchen wir heute eine neue Nacht des 4. August 1789, in der die Privilegien der feudalen Aristokratie abgeschafft wurden.
Die USA befinden sich in einer Sackgasse: Sie sind gezwungen, die Zinssätze zu erhöhen, um Kapital aus der ganzen Welt anzulocken, weil sonst das Finanzsystem zusammenbricht, aber die Zinserhöhung selbst stranguliert die US-Wirtschaft. Wenn sie sie anheben, wie jetzt aus wahltaktischen Gründen (im Wahlkampf wurde den Demokraten sogar vorgeworfen, sie würden die Wirtschaft abwürgen), profitieren davon nur die Spekulanten (in erster Linie Fonds), die auf ihre Entwicklung setzen. So wie die große Liquidität, die der Wirtschaft von den Zentralbanken zur Verfügung gestellt wurde, nie in die reale Produktion geflossen ist, weil sie im Finanzsektor gestoppt wurde, so wird auch diese Zinssenkung keinen Einfluss auf die reale Wirtschaft haben, sondern nur die Spekulation aktivieren. Die USA sind nicht in der Lage, aus dem Teufelskreis der Annuitäten auszusteigen, daher ist Krieg die einzige Lösung seit 2008, als klar wurde, dass die US-Wirtschaft auf der Produktion und Verteilung von Finanzrenten basiert. Daher der Wille, den Krieg fortzusetzen und auszuweiten, den Völkermord weiter zu finanzieren und zu legitimieren, überall neue Faschismen an die Macht zu bringen. Dies scheint die nahe Zukunft zu sein, wie ein Dokument des US-Kongresses vom Juli dieses Jahres (Commission on the National Defence Strategy) bestätigt, in dem es unmissverständlich heißt, dass sich die USA auf den „großen Krieg“ gegen den globalen Süden vorbereiten müssen, in dessen Mittelpunkt Russland und China stehen. In den kommenden Jahren müssen alle Bereiche der Gesellschaft mobilisiert werden, nach dem Vorbild dessen, was vor und während des Zweiten Weltkriegs getan wurde, um die Bedrohung ihrer Existenz zu beseitigen, die seit 1945 noch nie so groß war.
Das erste Ziel besteht jedoch darin, eine (nicht mehr existierende) Industrie in eine Kriegsindustrie umzuwandeln: „Die Kommission ist der Ansicht, dass die Verteidigungsindustrie der USA (DIB) nicht in der Lage ist, den Bedarf der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten und Partner an Ausrüstung, Technologie und Munition zu decken. Ein länger andauernder Konflikt in mehreren Szenarien würde eine viel größere Kapazität zur Herstellung, Wartung und Nachschub von Waffen und Munition erfordern. Die Behebung dieses Defizits erfordert größere Investitionen, zusätzliche gemeinsame Produktions- und Entwicklungskapazitäten und in Zusammenarbeit mit den Verbündeten eine größere Flexibilität der Beschaffungssysteme. Erforderlich ist die Zusammenarbeit mit einer industriellen Basis, zu der nicht nur die großen traditionellen Rüstungsfirmen gehören, sondern auch neue Marktteilnehmer und ein breites Spektrum von Unternehmen, die in den Bereichen Unterauftragsproduktion, Cybersicherheit und Unterstützungsdienste tätig sind” [2].
Der Staat und die Verwaltungen müssen in Richtung dessen koordiniert werden, was in dem Dokument als „integrierte Abschreckung“ bezeichnet wird. Besondere Aufmerksamkeit muss den Arbeitskräften gewidmet werden, um sie für die Kriegswirtschaft umzuschulen, nachdem sie durch die Finanzialisierung und die anschließende Demontage der Industrialisierung demontiert worden waren. Die verschiedenen Abteilungen der Verwaltung müssen sich bei der Vorbereitung auf den Krieg koordinieren: „einschließlich des Außenministeriums und der US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID), der Wirtschaftsabteilungen (einschließlich des Finanzministeriums, des Handels und der Small Business Administration) und derjenigen, die die Entwicklung eines wichtigen Teils der stärkeren und besser vorbereiteten US-Arbeitskräfte unterstützen, wie das Arbeits- und das Bildungsministerium. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges müssen diese Abteilungen und Behörden einen strategischen Fokus auf den Wettbewerb legen, jetzt insbesondere auf China” [3].
Gemäß den Grundsätzen der Miete und der Oligarchie müssen die erforderlichen Großinvestitionen privat getätigt werden, um die Monopole mit Milliarden von Dollar zu überschwemmen. Es ist eindeutig von einem parteiübergreifenden „Aufruf zu den Waffen“ durch Demokraten und Republikaner die Rede, die eine Öffentlichkeit aufklären müssen, die sich der tödlichen Gefahr, in der sie sich befindet, nicht bewusst ist, und sie darauf vorbereiten müssen, die Kosten eines Weltkriegs zu tragen (es wird der enorme Prozentsatz des BIP angeführt, der im Kalten Krieg in Waffen investiert wurde). „Die US-Öffentlichkeit ist sich der Gefahren, denen die USA ausgesetzt sind, und der (finanziellen und sonstigen) Kosten, die für eine angemessene Vorbereitung erforderlich sind, weitgehend nicht bewusst. Sie sind sich weder der Stärke Chinas und seiner Partnerschaften bewusst, noch der Folgen, die ein Konflikt haben könnte. Sie sehen nicht voraus, dass die Stromversorgung, die Wasserversorgung oder der Zugang zu allen Gütern, auf die sie angewiesen sind, unterbrochen werden. Sie haben die Kosten nicht verinnerlicht, die entstehen, wenn die USA ihre Position als Weltsupermacht verlieren. Ein überparteilicher ‘Aufruf zu den Waffen’ ist dringend erforderlich, damit die USA die wichtigsten Veränderungen und Investitionen vornehmen können, anstatt auf das nächste Pearl Harbor oder den 11. September zu warten. Die Unterstützung und Entschlossenheit der amerikanischen Öffentlichkeit ist unerlässlich” [4].
Ernst Jünger hätte gesagt, dass sie sich auf eine „totale Mobilisierung“ vorbereiten. Sie haben jedoch ein kleines Problem, denn die Wirtschaft und der Reichtum, die sie durchgesetzt haben, sind für die Wenigen, während die Vielen verarmt, an den Rand gedrängt, prekär und für ihren Missstand verantwortlich gemacht wurden. Jetzt scheinen sie zu begreifen, dass sie die vielen brauchen, dass es „starke und ausgebildete“ Arbeitskräfte braucht, um die Nation und den nationalen Geist zu verteidigen … die Wirtschaft und den Besitz der wenigen. Mit einem Land, das so gespalten ist wie eh und je, können wir den Oligarchien, die für eine totale Mobilisierung für den Krieg werben, den sie gegen drei Viertel der Menschheit führen wollen, und den sie mit Sicherheit verlieren werden, so wie sie im Nahen Osten und in Osteuropa verlieren, nur viel Glück wünschen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
[2] Kommission für die nationale Verteidigungsstrategie.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
Erschienen am 3. Oktober 2024 auf Machina, ins Deutsche übersetzt in memoriam an Achim Szepanski von Bonustracks. Maurizio Lazzarato ist ehemaliger Militanter der italienischen Autonomia, der vor der Repression der 70er nach Frankreich flüchten musste und heute in Paris lebt.
Der antiautoritäre Genosse Alonso Verdejo (26) wurde am Sonntag (8.9.24, d. Ü.) von einem Angreifer ermordet, der aus den Reihen der Polizei auftauchte, und es gab zwei weitere Verletzte.
An diesem Sonntag, während einer Gedenkdemonstration zum Zentralfriedhof von Santiago, wurde ein Mann, der später als Patricio Salerick Villafaña Juica identifiziert wurde, gesehen, wie er aus einem Polizeiaufgebot auftauchte und rief, dass es sich um einen „Gegenmarsch“ handele, und drei Personen in den Rücken stach. Einer von ihnen war der antiautoritäre Veganer Alonso Verdejo, 26, der mit Wunden im Bauch und am Rücken in ernstem Zustand zurückblieb und einige Stunden später im Krankenhaus von San José starb. Angriffe durch faschistische Gruppen oder Einzelpersonen, die von repressiven Kräften geschützt werden, treten immer häufiger auf.
Die Legitimierung des faschistischen Diskurses in den Medien sowie die politische und repressive Komplizenschaft bieten ihnen Schutz für ihre Aktionen. Die Wahrheit ist, dass sie sporadisch Genossen töten und unsere Koordination und Radikalisierung der Selbstverteidigung immer dringlicher wird. Auf den Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Alonso Verdejo feige von dem dunkel gekleideten Faschisten mit einem Messer niedergestochen wird, das er mit etwas Schwarzen (anscheinend eine Jacke oder eine Tasche) verdeckt hat. Den Berichten der Anwesenden zufolge stellte sich dieser Mann mit der offensichtlichen Absicht, die Teilnehmer der Demonstration anzugreifen, in eine Polizeikette und rief, es handele sich um einen „Gegenmarsch“. Am Ende verletzte er zwei Menschen und tötete Alonso. Die Morde während der Gedenkfeiern zum 11. September 1973, dem Tag des Beginns der Diktatur in Chile, die früher von der Polizei verübt wurden, wie im Fall der Genossin Claudia López, werden heute von Faschisten verübt, die sich unter die Polizisten und ihre Fahrzeuge mischen. Offensichtlich ist es für sie einfacher, andere nützliche Idioten für diese Angriffe zu benutzen (in der Regel fanatische, unterwürfige und rücksichtslose Fans), anstatt weiterhin eine Institution zu untergraben, die dank einer großartigen Medienmanipulationsstrategie aus der Asche auferstanden ist.
Aber wer sind sie? Bezahlen sie sie? Sind sie oder waren sie Polizisten? Das sind Fragen, die sich bei diesem Szenario stellen. Tatsache ist jedoch, dass wir es mit faschistischen Zivilisten zu tun haben, die in Gruppen oder unter dem Schutz von Polizisten feige Genossen und Genossinnen angreifen, die an Demonstrationen teilnehmen. Diese Tatsache ist kein Einzelfall mehr. Im Juli 2018 wurden drei Frauen während des Marsches für freie Abtreibung niedergestochen. Im Jahr 2022 wurde Francisa Sandoval, Kommunikatorin des Kanals 3 von La Victoria, auf der Meiggs Street in der Estación Central von Marcelo Naranjo getötet, der vor den Augen der Polizei schoss. Zuvor waren an diesem Ort bereits protestierende Studenten angegriffen worden. Bewaffnete Männer sind eine Realität, die Morde an Macarena Valdés und Bau haben dies bewiesen. Die extreme Rechte und der chilenische Nazismus haben Handlanger, der Grundbesitzer schickt den Vorarbeiter und dieser den Pächter, um die Drecksarbeit zu erledigen, letzterer geht nach einem guten Geschäft mit dem Grundbesitzer ins Gefängnis. Aber es gibt auch die armen Faschisten, die, verloren in ihren nationalistischen und religiösen Diskursen, zur Waffe greifen können, um anzugreifen, angespornt durch die Aussagen, die sie täglich im Fernsehen und in allen Kommunikationskanälen der Macht sehen. Die Ermordung von Alonso und die Unterdrückung durch die Macht haben die Gedenkdemonstration dieses Jahr geprägt, aber der September ist noch nicht vorbei, und die kommenden Aktionen werden die wirkliche Rechnung präsentieren angesichts dieser feigen Angriffe auf die Erinnerung an die Ermordeten und das Leben von Alonso.
Ursprünglich veröffentlicht auf La Zarzamora – Medio Comunicatión Libre e Feminista, am 29. September 2024 auf italienisch auf Il Rovescio erschienen, aus dieser Version erfolgte die Übersetzung von Bonustracks.
Bekämpfe den Feind dort, wo er nicht ist (Sun Tzu)
Nach der Aktion der militärischen Flügel von Hamas, Islamischer Jiad in Palästina und PFLP am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet Israels zum Gaza Streifen, die zum direkten Tod von über 1100 Menschen, davon ⅔ Zivilisten führte ( von denen Dutzende Arbeitsmigranten aus anderen Ländern waren), sowie zur Verschleppung von 250 Geiseln, darunter Kindern und Holocoust Überlebende, schien unmittelbar die Frage auf, was die strategische Option dieser Operation war. Denn es war sofort klar, dass der israelische Staat, dessen so hoch gelobten Geheimdiensten die Katastrophe nicht haben kommen sehen, die Präsenz der Hamas im Gaza Streifen praktisch vollständig auslöschen würde, egal wie hoch auch immer die Kosten dafür politisch, menschlich und moralisch sein würde. Ebenso bedeutete die Operation für die Führungsriege der Hamas (unabhängig ob politische oder militärische Ebene) ein potentielles Todesurteil, von dem nur noch nicht bekannt war, wann es vollstreckt werden würde. Denn die Israelis hatten nicht nur bei der jahrelangen Jagd nach den Verantwortlichen für den Angriff auf die israelische Sportlerdelegation von München 1972 gezeigt, wozu sie fähig sind.
Was war also die strategische Option für diese Operation, deren Federführung bei der Hamas lag, und deren militärische Kommandoebene diese Operation nicht ohne Abstimmung mit der politischen Führung im Exil sowie der Garantiemacht Iran durchführen konnte? In Hintergrundgesprächen nach dem 7.Oktober mit wichtigen Hamas Führern benutzen diese das Bild eines umgestürzten Schachspiels. Doch was genau ist damit gemeint?
Die “palästinensische Frage” befindet sich in einer völlig festgefahrenen Situation. Die “2-Staaten-Lösung” (die unter den gegenwärtigen Umständen weder für die Hamas noch den Iran ein Option darstellte) ist seit Jahren eingefroren, der “Bruderkrieg” in Gaza gegen die Fatah konnte zwar 2007 innerhalb von nur 4 Tagen gewonnen werden, in den von der Fatah, bzw. der “palästinensischen Autonomiebehörde” kontrollierten Gebieten des Westjordanland verfügte die Hamas bis zum 7. Oktober aber nur über eine sehr begrenzte politische Basis und war militärisch nahezu unbedeutend.
Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation im Gaza Streifen, der allgegenwärtigen Korruption und Misswirtschaft, die nur noch von der Misswirtschaft und Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde übertroffen wird, bröckelte auch die Unterstützung für die Hamas bei der Bevölkerung im Gaza Streifen, seit Jahren kommt es immer wieder zu sozialen Protesten und Unruhen, die von der Hamas teilweise mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Auch steht die Hamas ebenso wie die Fatah vor dem grundsätzlichen Dilemma, das sich keine palästinensische Bourgeoisie etablieren kann, im Gaza Streifen wird der größte Teile des BIP im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialsektor erzielt, der eh eher unbedeutende gewerbliche Sektor liegt seit dem 7.Oktober praktisch komplett brach, ebenso entfallen die Einkünfte durch Beschäftigungsverhältnisse in Israel, was teilweise nach dem 7. Oktober auch für das Westjordanland gilt. In Gaza leben 40 % der palästinensischen Bevölkerung (jenseits der Mio im Exil), dennoch lag der Anteil am BIP 2002 (also vor dem 7. Oktober) bei nur ca 15% und ist nach dem 7. Oktober auf nur noch 3% geschrumpft.
Auch jenseits der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des Krieges nach dem 7. Oktober, um wieder auf das grundsätzliche Problem zurückzukommen, existiert kein wirkliches umfangreiches palästinensisches Kapital, wenn man von Subunternehmen für israelische Unternehmen, kleinen Klitschen, meist im Familienbesitz, kleineren landwirtschaftlichen Betriebe, sowie einige Bereiche wie Textilverarbeitung absieht. Versuche strategischer Neuorientierung wie die Schaffung von Industrieparks für den Export im Westjordanland als auch in Gaza, blieben sehr limitiert. Weit mehr als ein Drittel aller Einkünfte werden durch die direkte Beschäftigung von Palästinensern in Israel selbst erzielt, hinzu kommt das fast ein Drittel der Einkünfte sich aus Transferzahlungen aus dem Ausland generieren, zu denen noch die Gelder und Güter aus den zahlreichen Hilfsprogrammen kommen.
Unfähig einen palästinensischen Staat real kreieren zu können ohne natinonales Kapital (ein Dilemma, dass der völlig unmaterialistischen weltweiten “Free – Pelestine – Bewegung zumindestens ein sekundenschlagartiges Innehalten abringen könnte), militarisch dauerhaft in einer defensiven Dauerschleife gefangen ( aus der nur der Guerillia Krieg in einem besetzten Territorium Erlösung verspräche, der aber gerade durch die brachiale und umfassende Offensive der israelischen Armee in Gaza real ad absurdum geführt wird), politisch begrenzt durch die strategische Ausrichtung auf und Abhängigkeit vom Iran, ist die Führung der Hamas offensichtlich zu dem Schluß gekomnen, das Schachbrett umzustoßen.
Wenn nur ein begrenzter Umfang an Zugoptionen zur Verfügung steht, die auch noch fast alle vom Gegner antizipiert, bzw. vereitelt werden können, dann fällt nun die Wahl darauf, die Begrenzungen des Spielbretts zu verlassen, auch wenn das gleichzeitig das Ende der Organisation Hamas bedeutet, wie sie vor dem 7. Oktober bestanden hat.
Wie bereits oben angedeutet, ist der Entschluss für die Operation am 7. Oktober nicht allein in der Führungsebene der Hamas gefallen. Diese strategische Ausrichtung wurde von der völligen Unterstützung der Teheraner Führung mitgetragen, die, wenn auch in anderen Dimensionen, vor ähnlichen Problemen wie die Hamas Führung steht.
Eine galoppierende Inflation, die trotz Erhöhung der Erdölexporte bei mittlerweile über 40% liegt, durch Korruption und Mehrausgaben für die Rüstung, einer gescheiterten Industrialisierung und den Folgen der Sanktionsmaßnahmen liegt das BIP pro Kopf mittlerweile nur noch auf der Hälfte des Niveau des Jahres 1990. Als Folgen kommt es immer wieder zu Unruhen und Streiks, besonders im strategisch wichtigen Bereich der Erdölförderung-und Verarbeitung, der landesweite Aufstand nach der Ermordung von Jina Amini konnte erst nach Monaten blutig niedergeschlagen werden, wobei es in einigen Provinzen zu bewaffneten Guerillia Aktionen kam, und das Regime erstmalig nicht in der Lage war, wirklich wiederholt massenhaft Menschen für die Unterstützung des Regimes auf die Straße zu bringen. Hinzu kommt die Unfähigkeit unter der Bedrohung durch Israel und die USA zu einer Atommacht aufzusteigen, was den Iran erst zu einer wirklichen Großmacht in der Region machen würde (Im ersten Golfkrieg konnte der Iran gegen den wesentlich bevölkerungsärmeren Irak nur um den Preis unglaublicher Verluste [Schätzungen gehen von mindestens einer Viertelmillion Toten auf iranischer Seite aus] bestehen.
Der Iran beschloss also ‘All in’ zu gehen um im Gefolge der Auswirkungen des auf den 7. Oktober folgenden Krieges die Karten in der gesamten Region neu zu mischen. Wie die Ereignisse der letzten 12 Monate gezeigt haben, hat der Iran sich dabei deutlich verspekuliert.
Jeder Angriff muss mit einem Verteidigen enden (Carl von Clausewitz)
Während Israel nach dem 7. Oktober durch die allgemeine Mobilisierung mit einer Streitmacht von fast einer halben Millionen Frauen und Männer in den Krieg zog, konnten die Hamas und ihre Verbündeten in Gaza um die 40.000 Männer aufbieten. Die Schlacht um Gaza nahm dann den von allen erwarteten Verlauf. In den letzten 12 Monaten wurden Zehntausende Zivilisten in Gaza getötet, die Hamas und ihre Alliierten dürften fast die Hälfte ihrer Kämpfer verloren haben. Dazu kommen zahlreiche Verluste unter dem Führungspersonal der Hamas, darunter etliche hochrangige Kommandeure, die teils gezielt ausgeschaltet wurden.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober kam es zu Angriffen der Hisbollah auf den Norden Israels (vorwiegend mit Raketen und Drohnen), die mit Gegenschlägen beantwortet wurden. Zehntausende Israelis mussten den Norden Israels verlassen. In diesem “Krieg der niedrigen Intensität” wurden bis Ende 2023 um die 100 Hisbollah-Kämpfer getötet, die israelischen Verluste lagen sehr weit darunter. 2024 nahm die israelische Armee sowohl führende Funktionäre der Hisbollah ins Visier als auch sich im Libanon aufhaltende hochrangige Hamas Angehörige, als erstes erwischte es den stellvertretenden Vorsitzenden des Politbüros der Hamas in Beirut.
Ebenfalls kurz nach dem 7. Oktober begangen die Houthi Milizen im Jemen mit Angriffen auf die Handelsschifffahrt in der Region sowie Angriffen mit Raketen und Drohnen auf Israel. Diese konnten jedoch fast alle abgefangen werden oder gingen in unbewohntem Gebiet nieder. Nach mehreren Angriffen aus der Luft und von Schiffen mit Lenkwaffen durch Nato Staaten auf Houthi Stellungen scheinen die Angriffsoptionen der Houthis allerdings schon stark eingeengt zu sein.
Während der Iran also versuchte sein Blatt kontrolliert und unter dem verlustreichen Einsatz seiner Alliierten auszuspielen, scheint Israel in enger Abstimmung mit den USA und unter (mindestens) Billigung arabischer Länder wie Jordanien und Saudi Arabien entschlossen, ebenfalls ‘All in’ zu gehen, allerdings mit einem wesentlichen höheren Einsatz, um die politische Landschaft im Nahen Osten ebenfalls nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten. Nachdem Israel schon im Dezember 2023 einen General der iranischen Revolutionsgarden, der als Berater tätig war, in der Nähe von Damaskus bei einem Luftschlag tötete, griff die israelische Luftwaffe am 1. April 2024 ein Nebengebäude der iranischen Botschaft in Damaskus an, wobei mehrere hochrangige iranische Offiziere und Kommandeure der Revolutionsgarden getötet wurden, darunter ein Brigadegeneral. Der folgende Vergeltungsschlag des Iran hielt nicht annähernd das Niveau der verbalen Drohungen und Verwünschungen der Teheraner Führungsspitze. Am 13. April 2024 wurden um die 300 Raketen und Drohnen in Richtung Israel gestartet, fast alle wurden in einer koordinierten Aktion von Israel, Frankreich, GB, den USA und Jordanien abgefangen, lediglich ein Mensch wurde in Israel durch eine abgestürzte Rakete verletzt.
Unterbreche niemals deinen Feind, wenn er einen Fehler macht (Napoleon Bonaparte)
Dem Iran war es bis dahin nicht gelungen, propagandistisch erfolgversprechenden Operationen auch wirkliche militärische oder politische Erfolge folgen zu lassen, wenn man von UN Resolutionen oder Massendemos im Westen oder arabischen Ländern absieht, die aber schon in den letzten Jahrzehnten keinerlei Einfluss auf das reale Kräfteverhältnis im Nahen Osten genommen haben. Die Verwundbarkeit des Irans für Luftschläge des Westen und Israels wurde der Teheraner Führung noch einmal am 19. April 2024 in Erinnerung gerufen, als in der Nähe des iranischen Kernreaktors bei Isfahan ein israelischer Angriff auf eine iranische Militäreinrichtung erfolgte. Der nächste Schachzug des Iran konnte daher nur eine Intensivierung des Konflikts an der israelischen Nordgrenze durch die Hisbollah sein, während zeitgleich Israel die “Hamas für in Gaza besiegt erklärte”, man habe es nur noch “mit Resten zu tun”, die man “weiter bekämpfen werde”. Diese wiederum erklärt in Gestalt ihres Unterhändlers Khalil al-Hayya in Istanbul, die Hamas sei nun doch zur eigenen Entwaffnung und einer 2- Staaten Lösung bereit, allerdings mit einem palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967.
Im Laufe des Sommers 2024 spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und Israel folgerichtig auch zu. Immer wieder ortet das israelische Militär hochrangige Hisbollah Angehörige und schaltet diese mittels Luftschlägen aus. So am 3. Juli, woraufhin am nächsten Tag die Hisbollah Israel mit über 200 Raketen an einem Tag angreift. Als am 27. Juli bei einem Raketeneinschlag in einem von Drusen bewohnten Ort 12 Menschen auf einem Fussballplatz sterben, die meisten davon Kinder, hat die israelische Regierung ihr Fanal, dass sie auch von dem Druck der Straße in Israel selbst entlastet, wo immer wieder Zehntausende, teilweise Hunderttausende gegen die Fortsetzung des Krieges und für die Befreiung der verschleppten israelischen Geisels durch Verhandlungen mit der Hamas demonstrieren. Am 30. Juli wird erneut ein hoher Hisbollah-Kommandeur bei einem Luftschlag ausgeschaltet, er soll den Angriff auf das drusische Dorf verantwortet haben.
Der folgende Coup führte dann den Iran vollends vor. Der politische Führer der Hamas, I. Haniyya, wird während seines Aufenthalts in Teheran am 30. Juli im Gästehaus der iranischen Revolutionsgarden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Kommandoaktion des Mossads getötet.
Alle folgenden Versuche der Hisbollah und des Irans, wieder das Heft des Handels in die Hand zu bekommen, scheitern allerdings. Im August und September kommt es immer wieder zu gezielten Tötungen von hochrangigen Kommandanten der Hisbollah im Libanon, hunderte von Raketenstellungen werden ausgeschaltet, bevor von dort aus Angriffe auf Israel gestartet werden können. Inmitten der absoluten Defensive der Hisbollah werden dann am 17. und 18. September tausende präparierte Pager und andere Kommunikationsgeräte der Hisbollah per Fernzündung zur Explosion gebracht, die Miliz verliert große Teile ihrer Kommandostruktur durch schwere Verletzungen und tote Mitglieder ihrer Miliz. Inmitten dieses Chaos fliegt die israelische Luftwaffe ab dem 20. September schwere Luftangriffe auf Ziele in Beirut und im Süden des Libanon, erneut werden viele hochrangige Kommandeure der Hisbollah getötet. Am 27. September schließlich erfolgt ein Luftschlag auf ein HQ der Miliz in Beirut, der Angriff gilt dem Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, der dem Stand der Informationen zum jetzigen Zeitpunkt zufolge (27.9. Mitternacht), bei diesem Luftschlag getötet wurde.
Die gesamte Offensivfähigkeit der Hisbollah, die aufgrund ihres Bestandes von über 100.00 Raketen als wesentlich größere Gefahr für Israel als die Hamas beschrieben wurde, scheint innerhalb weniger Tage zumindestens vorübergehend völlig ausgeschaltet zu sein. Die Hamas hat sich, in Absprache mit der Teheraner Führung, dafür entschieden, das Schachbrett umzustoßen. Die Neuordnung der Region wird nun Realität, allerdings zu anderen Konditionen, als von Teheran beabsichtigt. Das Spiel ist erst vorbei, wenn der König fällt, das stimmt. Aber der Iran und seine Proxies haben beide Türme eingebüßt und auch die Dame steht zur Disposition.
Doch wo sich nach einem Jahr ein mögliches Ende des Krieges am Horizont abzeichnet, wird auch wieder der Horizont der sozialen Revolution sichtbar. Die inneren Widersprüche werden explodieren. In Israel selbst, wo es nur eine Frage der Zeit ist, bis die rechte Regierung zum Teufel gejagt wird, ebenso wie im Iran, wo der nächste Anlauf auf der Tagesordnung steht, die Mullahs zum Teufel zu jagen. In der gesamten arabischen Welt, wo die sozialen Widersprüche, der Hunger nach Freiheit, der 2010ff aufgebrochen ist, von einer neuen Generation von Wütenden auf die Tagesordnung gesetzt werden wird. Die Tendenz zum Krieg ist der weltweiten Verwertungskrise, der allgegenwärtigen Krise der Governance (mitsamt ihren Regionalkriegen) ebenso eingeschrieben wie die Reife zur vorrevolutionären Situation.
Das Telemeeting am Dienstagabend begann mit einer Analyse des jüngsten Angriffs auf die Hisbollah im Libanon und in Syrien.
Am 17. September wurden Tausende von Pagern, die von der Hisbollah gezielt eingesetzt werden, um die Verwendung von besser rückverfolgbaren Geräten (wie Mobiltelefonen) zu vermeiden, zur Explosion gebracht, was zu mehreren Toten und Tausenden von Verletzten führte, darunter auch der iranische Botschafter im Libanon. Abgesehen von Israel verfügt kein anderer Akteur in der Region über derartige technische Möglichkeiten und hat ein Interesse daran, die schiitische Miliz auf diese Weise zu treffen. Die Informationen über den Angriff sind nach wie vor widersprüchlich: Einige Medien behaupten, die Explosion der elektronischen Geräte sei durch eine Überhitzung der Batterien mit Hilfe von Schadsoftware verursacht worden, während andere Analysten über das Vorhandensein von Mini-Sprengladungen spekulieren, die zuvor in die Geräte eingesetzt wurden. Auf den gleichzeitigen Angriff auf die Pager folgte der Angriff israelischer Kampfjets, die mehrere Hisbollah-Stellungen 100 km von der Grenze entfernt trafen.
Milliarden von Dollar werden in die „elektronische Kriegsführung“ investiert, wobei mit dem Einsatz von Radiowellen zur Neutralisierung feindlicher Signale experimentiert wird. Es bahnt sich ein gigantischer Konflikt zwischen Empfangs-, Sende- und Verarbeitungssystemen an, die fast ausschließlich auf elektromagnetischen Wellen basieren („Phase Transition. General Warfare Trials“). Mit der Ausweitung des Internets der Dinge wird jedes Objekt potenziell vernetzt; öffentliche oder private Infrastrukturen können durch Cyberangriffe blockiert oder beschädigt werden. Die Explosion der Pager verschärft die Spannungen im Nahen Osten, wo Israel mit folgenden Problemen zu kämpfen hat: dem Krieg im Gazastreifen (der sich zu einem Vernichtungskrieg entwickelt), der Operation „Sommerlager“ im Westjordanland und den Zusammenstößen mit der Hisbollah im Libanon. Die gesamte Region hat mit einer schweren Wirtschaftskrise zu kämpfen: In Israel ist der Tourismus zum Erliegen gekommen, und die Produktionskette ist aufgrund der Mobilisierung von Reservisten an der Front in Schwierigkeiten geraten; der Libanon ist praktisch bankrott, und im Westjordanland haben Tausende von Palästinensern infolge des Krieges ihren Arbeitsplatz verloren. Zu dem sozialen Chaos und dem Krieg kommt das wachsende Elend hinzu.
Der Norden Israels ist unbewohnbar, Zehntausende von Israelis wurden wegen des ständigen Raketen- und Drohnenbeschusses aus libanesischem Gebiet evakuiert. Tel Aviv ist gezwungen zu reagieren, um die Abschreckung wiederherzustellen, und es ist falsch zu glauben, dass die „Schuld“ für das Massaker in Gaza beim jeweiligen Machthaber liegt. Nicht einzelne Personen machen die Geschichte, sondern sie sind ein Produkt der Geschichte. Es wird schwierig sein, die Hisbollah zum Einlenken zu bewegen, aber die israelische Regierung erklärt, dass sie sich darauf vorbereitet, die Situation mit der Partei Gottes zu lösen. „Die Situation im Norden kann so nicht weitergehen. Die IDF müssen sich auf eine umfassende Kampagne im Libanon vorbereiten“, sagte Premierminister Netanjahu.
In der vergangenen Woche haben die Houthis eine Rakete abgefeuert, die Israel erreichte, aber die Aktivitäten der bewaffneten jemenitischen Gruppe sind auch ein Problem für Handelsschiffe, die das Rote Meer durchfahren. In der Vergangenheit haben die USA und das Vereinigte Königreich Stellungen der Houthis im Jemen angegriffen, konnten deren Kräfte aber offensichtlich nicht neutralisieren. In diesem „Wargame“, an dem immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt sind, ist niemand „frei“, sondern jeder ist gezwungen, innerhalb eines komplexen booleschen Netzwerks (wenn/dann, 1/0) zu handeln. Wie der Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter schreibt, macht es keinen Sinn zu behaupten, „dass unsere Bedürfnisse irgendwie ‚frei‘ sind, oder dass unsere Entscheidungen es sind. Bedürfnisse und Entscheidungen sind das Ergebnis von physischen Ereignissen in unserem Kopf! Wie können sie frei sein?“ (Anelli nell’io. Che cosa c’è al cuore della coscienza?, 2010).
Im Gazastreifen, einem Gefängnis unter freiem Himmel, leben zwei Millionen Menschen auf einer Fläche von wenigen hundert Quadratkilometern zusammengepfercht, hungernd, ohne medizinische Versorgung und von der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Organisationen als Kanonenfutter benutzt. Im Westjordanland gibt es mehrere Gruppen junger Menschen, die nichts zu verlieren haben, die Israel blindlings hassen und von den IDF systematisch eliminiert werden. Die „Zweistaatenlösung“ wird von niemandem mehr geglaubt und es wird immer weniger darüber gesprochen. Israel hatte die Hypothese aufgestellt, die Palästinenser auf den Sinai, mitten in die Wüste, umzusiedeln. Unter den verschiedenen Projekten von Tel Aviv schien die Übersiedlung nach Jordanien („Jordanien ist Palästina“) das rationalste zu sein, aber selbst für diesen Plan scheint die Zeit abgelaufen zu sein.
Im Leitartikel der letzten Ausgabe unseres Magazins („”Non potete fermarvi”/ “Man kann nicht aufhören“) schrieben wir, dass wir es nicht mit lokalen Krisensituationen zu tun haben, sondern mit einer allgemeinen Krise, die die Strukturen der Staaten betrifft: Unregierbarkeit wird zur Lebensweise des kapitalistischen Systems. Im Sudan zum Beispiel ist die Situation völlig außer Kontrolle geraten, und dasselbe geschieht in Haiti. Die Ausweitung des Krieges ist eine Tatsache, der anhaltende Konflikt ist bereits weltweit. In Syrien hat der Kiewer Militärgeheimdienst eine russische Militärbasis in der Nähe von Aleppo angegriffen, und auch in Afrika kam es zu Zusammenstößen zwischen Russen und Ukrainern: Es scheint, dass die Kiewer Dienste mit den Tuareg in Mali gegen die russischen Söldner von Wagner zusammenarbeiten. Der russisch-ukrainische Krieg hat sich also nach Afrika und in den Nahen Osten verlagert, und zwar unter Beteiligung von Söldnern, Militärangehörigen und verschiedenen Parteigängern (z. B. dschihadistischen Gruppen).
Wir werden nicht von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt übergehen, wie einige Linke vage behaupten; wir werden mit einer zunehmend instabilen internationalen Situation konfrontiert sein. Dies zeigt sich an den neuen und sich verändernden globalen Allianzen, die gegen die USA gerichtet sind. Indien, ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern, versucht, sich eine eigenständige Rolle auf dem Weltschachbrett zu sichern: Es beteiligt sich mit den USA, Japan und Australien an einem antichinesischen Bündnis („Quadrilateral Security Dialogue”, QSD), ist aber auch Teil der BRICS. Die USA verlieren an Kraft, haben weltweit zu kämpfen und haben auch zu Hause verschiedene Probleme. Die politische Polarisierung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, bei der Donald Trump und Kamala Harris gegeneinander antreten, hat ihren Ursprung in der wirtschaftlichen und sozialen Polarisierung. Jedes Jahr sterben vierzigtausend Amerikaner bei Schusswaffenangriffen.
Es gibt zwei widersprüchliche Dynamiken: Auf der einen Seite breiten sich Chaos, Unregierbarkeit, Krieg und Elend aus; auf der anderen Seite führt die Notwendigkeit des Kapitalwachstums und der Steigerung der Arbeitsproduktivität zur Entwicklung strategischer Sektoren, die als profitabel gelten und von künstlicher Intelligenz über Automatisierung bis hin zu Netzwerken reichen. Auf der einen Seite löst sich die alte Gesellschaft auf, auf der anderen Seite produziert sie die materiellen Elemente der zukünftigen Gesellschaft.
Einige Studien der Bourgeoisie über Selbstorganisation konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, dass sich die Menschheit ohne Top-down-Strukturen organisiert, sondern die „netzartige“ Funktionsweise der Natur nachahmt: verteilte Informationen, autonom, aber integriert handelnde Einheiten, eine Art „organischer Zentralismus“, der auf Unternehmen, Armeen usw. angewandt wird (Auto-organizzazioni. Il mistero dell’emergenza nei sistemi fisici, biologici e sociali, De Toni, Comello e Ioan). Das Problem ist, dass die Strukturen dieser Gesellschaft hierarchisch sind, weil sie das Produkt der sozialen Arbeitsteilung sind, und wenn sie sich an eine Situation anpassen müssen, die sich zu sehr von ihren Ursprüngen unterscheidet, neigen sie dazu, sich aufzulösen.
Veröffentlicht am 24. September 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
“es ist eine täuschung, zu hoffen, es sei genug, es könne nicht schlimmer mehr kommen”
Christian Geissler: Kamalatta
Es ist erst ein paar Stunden her, dass mich Dellwo – du hast immer von ‘Dellwo’ und nicht von Karl-Heinz gesprochen, obwohl ihr euch doch so nahe standet (was für Details einem immer einfallen…)- angerufen und erzählt hat, dass sie dich heute tot in deiner Wohnung vorgefunden haben. Ich weiß nicht, ob deine Seele nicht mehr wollte, oder der Körper, es spielt auch keine wirkliche Rolle. Ich weiß, dass es dir in letzter Zeit meistens ziemlich dreckig ging, Karl-Heinz und ich haben uns neulich noch am Rande der Veranstaltung zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes in Kreuzberg darüber unterhalten. Ich habe dich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen, wir haben uns nur häufiger geschrieben und ab und zu telefoniert. Wie überraschend weich da deine Stimme immer klang, ich glaube die Wenigsten habe eine Ahnung davon gehabt, wie feinfühlig du warst. Und wir beide wissen, mein Lieber, dass es die Feinfühligen sind, die am meisten verzweifeln über dieses Elend der Welt und das, was Menschen einander antun.
Nun also werde ich keine Artikel mehr auf deinem Blog veröffentlichen können, und es waren verdammt viele Texte und Übersetzungen, die ich dank deiner Hilfe verbreiten konnte. Und niemand wird mir mehr die Geschichte mit dem Marxismus erklären…Ich weiß noch, wie ich vor nicht allzulanger Zeit zu dir meinte, ich sei einfach zu dumm dafür und du mir sagtest, das wäre alles garnicht so schwierig und du würdest es mir bei Gelegenheit erklären. Doch diese Gelegenheit wird nicht mehr kommen, dabei hatte ich mich so sehr auf die Veranstaltung mit dir im Rahmen unserer ‘Veranstaltungsoffensive’ im Sommer dieses Jahres in Berlin gefreut. Sich endlich wieder in die Augen sehen können, sich der Gemeinsamkeiten, der Wut und all der Liebe versichern können. Und natürlich das eine oder andere geteilte Bier. Wahrscheinlich wären es ziemlich viele Biere und ein paar Schnäpse geworden. Aber du musstest mir kurz vorher mitteilen, dass du es gesundheitlich nicht schaffen würdest, nach Berlin zu kommen, also haben wir improvisiert und einen Video Zoom gemacht und das hat zu meiner Überraschung gut geklappt und der volle Saal hing an deinen Lippen und du hast es sogar geschafft dich so auszudrücken dass ich Tropf alles verstanden habe. Und ich weiß wie schwierig das für dich war mit all deinen mäandernden Gedanken und Assoziationen. Und es hätte dir so gut getan, leibhaftig zu erleben, was deine Worte den Menschen bedeutet haben, wie wichtig du warst (und bleiben wirst) für die Wenigen, die in diesem elenden Lande noch ernsthaft auf der Suche nach einem neuem gesellschaftlichen Antagonismus sind. Ich weiß wie (zu Recht !) verletzt und gekränkt du durch all die Niedertracht und Missachtung der letzten Jahre warst. Wie es dich getroffen hat, dass dein letztes Buch hierzulande nicht einmal ernsthaft rezensiert wurde, während sich im fernen China einige wichtige intellektuelle Köpfe des Staatskapitalismus zur Präsentation der chinesischen Übersetzung von ‘Die Ekstase der Spekulation’ versammelten.
Nun Achim, wirst du mir nicht mehr in den frühen Stunden des Neujahrsmorgen ganz aufgeregt schreiben, ob und wie heftig das migrantische Surplus Proletariat es auf den Straßen von Berlin hat krachen lassen. Du wirst mir nicht mehr mitten in der Nacht betrunken Mitteilungen über deine Verbundenheit mit den (ehemaligen) ‘brothers and sisters in arms’ schreiben. Du wirst mir nie mehr schreiben…
Dabei hätten wir noch so vieles zu tun, Achim. Wir sind noch lange nicht fertig mit diesem Schweinesystem. Aber wie sollen wir das schaffen, endlich wieder zumindestens theoretisch wieder auf die Höhe der Zeit zu kommen wenn du nicht mehr bei uns bist. Die ganzen ersten Schritte zur Neukonstituierung einer wirklich materialistischen Kritik hierzulande hätte es wahrscheinlich ohne dich gar nicht gegeben, oder zumindestens nicht in dieser Form. Du hast den wesentlichen Anteil daran, dass Clovers epochales Werk ‘Riot.Strike.Riot’ auf deutsch erschienen ist, du hast dafür gesorgt, dass wir über das ‘NON’ reden, dass die Leute verstehen, was für eine Rolle das Surplus-Proletariat heute in den weltweiten Klassenkämpfen inmitten der allgegenwärtigen Verwertungskrise spielt (du könntest das viel geschmeidiger und substanzieller ausdrücken, ich weiß, mein Freund). Ich glaube, du hast nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie wichtig du für uns warst, auch wenn dieses ‘uns’, dieses ‘wir’, so unscharf in der derzeitigen Verwirrtheit daherkommen. Du hast das alles nicht gewusst, mein Lieber und ich habe es dir nicht wirklich oft und entschieden genug gesagt, mein Freund. Karl-Heinz hat dich noch letztens sinngemäß zitiert auf der Veranstaltung in Berlin und auch das wollte ich dir noch sagen, als ich dich vor einer Woche versucht habe anzurufen. Weil ich wusste, wie einsam und verfemt du dir häufig vorgekommen bist.
Doch du bist nicht ans Telefon gegangen und hast auch nur Karl-Heinz kurz geschrieben, dass “alles okay” sei. Doch nichts war und nichts ist ‘okay’. Nicht in deinem Leben, lieber Achim, nicht in unserem. Wir schweben alle im luftleeren Raum, so viel Geschichte, ach Achim, so viel Geschichte. Ich habe mir an diesem Abend im Jockel in Kreuzberg gewünscht, dass du dabei gewesen wärst, ich habe schon lange nicht mehr so viele aufgeregte, lebendige, warme Gesichter gesehen. Und so viel Geschichte… Die durch den Raum schwebte. Ja, so viel Geschichte. Davon haben wir reichlich. Doch was fangen wir damit an? Wie können wir daraus theoretische Werkzeuge gewinnen, um wieder in den Angriff zu kommen. Und wie sollen wir das alles anstellen ohne dich, Achim? Nein, nichts ist okay. Wir sind (fast) alle so müde und viele auch viel zu häufig viel zu einsam und verloren. Ein französischer Gefährte (auch so eine Verbundenheit, die sich merkwürdigerweise wie die unsrige über die räumliche Trennung hinweg so unwirklich real anfühlt) schrieb letztens in einem seiner klugen Aufsätze “Eine echte kollektive Macht kann man nur mit denjenigen aufstellen, die vor dem Alleinsein keine Angst mehr haben.” Und natürlich meint er damit, zumindest denke ich das, die politische Einsamkeit, die ‘wir’ alle in der Epoche des Corona Ausnahmezustandes zutiefst erfahren haben. Und die den (überfälligen) Bruch mit der gescheiterten historischen Linken unumkehrbar gestaltet. Und doch sind wir alles Subjekte, mit unseren Wunden, Wünschen, Sehnsüchten, wir sind alles und nichts, ohne den Anderen, die Andere. Martin Buber: “Der Mensch wird am Du zum Ich.”
Und so hab ich dich zu viel allein gelassen, mein lieber Achim, habe dir zu selten gesagt, wie wichtig und wertvoll du bist. Wie unersetzlich. Und so sitze ich hier mit meinen Tränen und deine Einsamkeit ist die meinige und deine Verzweiflung die meine. Und nichts bringt dich zurück zu uns, den lebenden Toten, die noch immer tanzen und hoffen und kämpfen. Aber das ist verdammt schwer ohne Menschen wie dich. Ich erinnere mich noch an diese kleine kalte Wohnung eines Genossen in der Kreuzberger Lilienthalstraße, wir hatten inmitten des Winters nur Kerzen zum Heizen, aber wir waren so unglaublich reich in jener Zeit. Und an den Wänden hing ein Plakat mit dem berühmten Foto von Gudrun und Andreas, das in einem Pariser Café entstanden ist, und darunter das Brecht Zitat: “Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. – Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. – Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. – Aber es gibt Menschen, die kämpfen ihr Leben lang: Das sind die Unersetzlichen.” Und so ein Unersetzlicher warst du, mein lieber Achim. Das wollte ich dir noch sagen, auch wenn du mich nicht mehr hören kannst.
Am 26. September findet vor dem Gericht von Turin die Anhörung der Anklageanträge statt, die sich aus den neuen Ermittlungen zur Entführung des Sektfabrikanten Vallarino Gancia ergeben, die am 4. Juni 1975 von der Turiner Kolonne der Roten Brigaden durchgeführt wurde und am folgenden Tag mit einer blutigen Schießerei vor dem Bauernhaus, in dem die Geisel festgehalten wurde, endete. Die Ermittlungen wurden wieder aufgenommen, nachdem der Rechtsanwalt Sergio Favretto im November 2021 im Namen von Bruno D’Alfonso, einem pensionierten Carabiniere und Sohn von Giovanni D’Alfonso, dem Leutnant, der bei der Schießerei ums Leben kam, bei der auch Mara Cagol [1], die Gründerin der Roten Brigaden, ihr Leben verlor und zwei weitere Mitglieder der Gruppe verwundet wurden, Klage eingereicht hatte.
Margherita Cagol
Die Anklage
Ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen beantragt die Turiner Staatsanwaltschaft den Prozess gegen vier ehemalige Brigadisten, Renato Curcio, 82, Lauro Azzolini, 81, Pier-Luigi Zuffada und Mario Moretti, beide 78, wobei letzterer „nur“ 44 Jahre Haft verbüßt hatte. Azzolini, weil er von der Staatsanwaltschaft für den (damals nicht identifizierten) „Brigadista” gehalten wurde, der zusammen mit Cagol die Geisel festhielt und nach der Schießerei in den Wäldern unterhalb von „la Spiotta“ verschwand. Die anderen drei, die nicht am Tatort anwesend waren, werden wegen moralischer Mitschuld am Tod des Carabiniere D’Alfonso angeklagt.
Die illegale Abhöraktion und der angeklagte Anwalt
Achtundzwanzig Fingerabdrücke wurden auf den Blättern gefunden, die der nach der Schießerei geflohene Brigadist an seine Genossen schrieb, um die Dynamik der Ereignisse zu beschreiben, was beweist, dass das sieben Monate nach der Schießerei gefundene Manuskript durch viele Hände gegangen war. Elf davon wurden Azzolini zugeschrieben, sieben nicht identifiziert und zehn als unbrauchbar eingestuft. Das Fehlen entscheidender Beweise – wie der Angeklagte selbst meinte – veranlasste die Staatsanwaltschaft, sich ganz auf die Überwachung des Umfelds zu konzentrieren, was dazu führte, dass eine beeindruckende Anzahl von Abhörmaßnahmen durchgeführt wurde, bei denen Dutzende von Personen betroffen waren: ehemalige Angeklagte, Familienmitglieder und Freunde, sogar Anwälte. Davide Steccanella, der Anwalt von Azzolini, wurde wiederholt ins Visier genommen, was einen schweren Verstoß gegen das verfassungsmäßige Recht auf Verteidigung darstellt. Azzolini wurde mit Hilfe eines in seinem Mobiltelefon installierten Trojaners 222 Mal abgehört, die meisten dieser Abhörmaßnahmen wurden durchgeführt, bevor die Justizbehörde im Mai 2023 die Wiederaufnahme der Ermittlungen genehmigte. Bis zu diesem Zeitpunkt war seine Rechtsstellung die einer Person, die durch ein Urteil der Justizbehörde von Alexandria vom 3. November 1987 freigesprochen wurde.
Der Freispruch verschwindet
Gegen Azzolini wurde bereits früher ermittelt und er wurde zusammen mit Angelo Basone, der inzwischen untergetaucht ist, freigesprochen. Die Wiederaufnahme der Ermittlungen wurde von der Justizbehörde bewilligt – eine beunruhigende Tatsache -, ohne dass das Urteil zum Freispruch und die Akten des Falles geprüft werden konnten, die 1994 nach dem Hochwasser des Flusses Tanaro, dessen Wasser die Archive des Gerichts von Alessandria verwüstet hatte, zerstört worden waren. Kurz gesagt, eine blinde Wiederaufnahme des Verfahrens, sozusagen auf der Grundlage der Gutgläubigkeit der Staatsanwaltschaft.
Ein Weg zur Umgehung der Verjährungsfrist
Die Liste der beunruhigenden Episoden ist lang, wir wollen nur einige erwähnen: die Anklage gegen Zuffada, der zum Zeitpunkt der Schießerei abwesend war. Trotz der Tatsache, dass er laut derselben Staatsanwaltschaft nur eine anfängliche Rolle bei der Entführung gespielt hatte (ein verjährter Straftatbestand) und dann das Gehöft verließ, als seine Aufgabe erfüllt war, wird er dennoch wegen moralischer Mitschuld an der Ermordung von Carabiniere D’Alfonso zur Rechenschaft gezogen, anstatt wegen „anormaler Mitschuld“, wie es bei Massimo Maraschi der Fall war. Der Brigadist wurde unmittelbar nach der Entführung verhaftet und auch für die Erschießung verurteilt, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Polizeibeamten von Acqui Terme befand. Das „anomale Einverständnis“ würde, da es eine andere Strafe als lebenslange Haft vorsieht, die Verjährung eintreten lassen, weshalb die Staatsanwaltschaft auf eine schwerere Verbrechensqualifikation zurückgegriffen hat, um vor Gericht zu gehen.
Das Dokument vom Oktober, das nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Vergangenheit vorweggenommen hätte
Surreal ist dann der Vorwurf der moralischen Mitschuld, der gegen Curcio und Moretti erhoben wird, auf der Grundlage eines Satzes, der in einem (nicht von ihnen) vier Monate nach der Schießerei geschriebenen Artikel in einer Untergrundpropagandazeitung, Lotta armata per il comunismo, zu finden ist, der für die Staatsanwälte einen prädiktiven Wert gehabt hätte, ein Beweis für eine von der Führung der Roten Brigaden erlassene interne Direktive. Der Text versuchte auf umständliche Weise, die Katastrophe von Spiotta herunterzuspielen, indem er das Feuergefecht als Folge einer Direktive rechtfertigte, die in solchen Fällen vorschreibt, „die Umzingelung zu durchbrechen“. Und so waren Curcio und Moretti (ersterer in Mailand, wo er sich nach der Flucht aus dem Gefängnis von Casale Monferrato im Februar letzten Jahres verstecken musste, letzterer damit beschäftigt, die Kolonne Genovese aufzubauen und die ersten Kontakte für die Gründung der römischen Kolonne zu knüpfen), nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die wahren moralischen Anstifter der Schießerei, obwohl die Entführung von der Turiner Kolonne so organisiert und durchgeführt wurde, dass jeder Kontakt mit den Ordnungskräften hätte vermieden werden müssen, auch dank der Höhenlage des Gehöfts, die es ihnen ermöglichte, die Zugangswege zu kontrollieren. In keinem strategischen Dokument, das von den BR erstellt wurde und somit normativen Wert hat, wird eine solche Regel jemals erwähnt. Mehrere wurden vor der Entführung verfasst: über die Regeln des individuellen Verhaltens der Kämpfer und über die Organisation, so dass Massimo Maraschi selbst, der eine Rolle bei der Bewachung der Geisel hätte spielen sollen (er hätte nach „la Spiotta“ zurückkehren sollen, um den beiden allein gelassenen Genossen zu helfen), im Moment der Polizeiaktion nur versuchte zu entkommen, ohne einen Schuss abzugeben. Der unvorhersehbare Charakter der Schießerei geht auch aus einigen klaren Passagen im Bericht des geflohenen Militanten der BR hervor, der von den Ermittlern als zuverlässig angesehen wird, in dem der Mann und die Frau aufgeregt darüber diskutieren, ob sie die Geisel bei der Flucht zu ihrem Schutz einsetzen sollen oder nicht, und Cagol sagt, sie sei dagegen und sie habe sich dann aus dem Bauernhaus gestürzt, „mit einer Handtasche über der Schulter und einer Pistole in der Hand“, mit „zeppe“ an den Füßen (Sommersandalen mit erhöhtem Absatz), offenem Schuhwerk, das für eine Flucht auf dem Land durch Brombeeren und Gestrüpp ungeeignet ist, wie auf den Fotos seines leblosen Körpers zu sehen ist, die von der Gerichtsmedizin aufgenommen wurden.
Schweigen über den Tod von Mara Cagol
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Fehlen einer Untersuchung der Umstände, die zum Tod von Mara Cagol geführt haben, obwohl Renato Curcio, ihr damaliger Ehemann, dies während des Verhörs gefordert hatte. Die Brigadistin, die zunächst am Handgelenk und am Rücken verwundet wurde, saß am Hang und hatte die Hände zum Zeichen der Kapitulation erhoben. Der tödliche Schuss traf sie in der Achselhöhle und durchbohrte ihre Brust von rechts nach links. Eine kalte Hinrichtung. Neben dem Carabiniere Barberis, der zuerst auf sie geschossen hatte, trafen bald auch andere Mitglieder der Polizei am Tatort ein. Die Staatsanwälte hielten es nicht für nötig, den Sachverhalt aufzuklären, um eine völlig unausgewogene Untersuchung wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Ein Waterloo für die Dietrologia [2]
Abschließend sei noch auf die unvermeidliche Einführung der Diethrologia in die Affäre hingewiesen. Die ursprüngliche Enthüllung des ehemaligen Carabiniers Bruno D’Alfonso, die die Wiederaufnahme der Ermittlungen auslöste, inspirierte nicht weniger als zwei Bücher: L’invisibile, edizioni Falsopiano (mit einem Vorwort von D’Alfonso selbst) und später Radiografia di un mistero irrisolto, Bibliotheca, beide geschrieben von zwei Journalisten, Berardo Lupacchini und Simona Folegnani. Die Autoren waren überzeugt, die Identität des „Unsichtbaren“, des nach dem Feuergefecht geflohenen Brigadisten, in der Person von Mario Moretti ausgemacht zu haben. Er wird – auf der Grundlage einer reichhaltigen Verschwörungsliteratur (es war der übliche Sergio Flamigni, der die Anschuldigung als erster in die Welt setzte) – als Erbschurke dargestellt, als skrupelloser Charakter, der, versteckt in der dichten Vegetation, wo er Unterschlupf gefunden hatte, um den Angriffen Barberis zu entgehen, einen plötzlichen Gedanken, eine strategische Voraussicht gehabt hätte, die ihn dazu gebracht hätte, Mara Cagol ihrem Schicksal zu überlassen, um ihren Platz an der Spitze der Organisation einzunehmen.
Eine Quadratur des Kreises, die den damaligen Richter Guido Salvini erregt hatte, der in der Zwischenzeit Anwalt der Zivilparteien geworden war und immer bereit war, die abstrusesten ‘ditrologischen’ Vermutungen zu reiten. Der ehemalige Ermittler stellte sich sofort zur Verfügung, indem er, wie es seine Gewohnheit war, den Boden des Fasses, die Reste des Gefängnisses, auskramte und Mitarbeiter der Justiz befragte, die immer etwas schuldig waren, um Gerüchte zu sammeln, die als Beweise verpackt werden sollten. Eine zweideutige Überschneidung von Rollen und Funktionen, bei der es schwierig zu sein scheint, zu unterscheiden, wo die neue Tätigkeit des Anwalts beginnt und die des Richters endet. Die beiden Journalisten waren damit nicht zufrieden und stellten sogar die Hypothese auf, dass der SID [3] die ganze Angelegenheit aus der Ferne gesteuert hätte, indem er über einen seiner Vertrauten die Flucht des „bösen“ Moretti in die Via Fani [4] gelenkt hätte, wohin alle Wege der Diethrologia unweigerlich führen. Nur Leonio Bozzato, der Spion des SID, der in der Autonomen Versammlung von Porto Marghera kämpfte, gab auf mehrfache Befragung durch die Staatsanwaltschaft anstelle von Moretti den (damals inhaftierten) Alberto Franceschini an, als jenen unbekannten Brigadisten, der von “la Spiotta” geflohen und Teil des Komplotts war.
Der Richter oder der Historiker?
Bislang hat die Öffentlichkeit dieser Ermittlungsmaßnahme wenig Aufmerksamkeit geschenkt, die kulturelle und politische Debatte wurde von den wichtigen Fragen, die sie aufwirft, abgelenkt. Nach den Absichten der Staatsanwaltschaft und der Liste der geladenen Zeugen soll dieser Prozess eine Art abschließendes historisches Ereignis darstellen, eine Neuauflage des Prozesses gegen den so genannten „historischen Kern“, der die endgültige Abschließung des italienischen zwanzigsten Jahrhunderts unter der Axt der permanenten Bestrafung jenseits aller Zeiten und Epochen sanktionieren soll, eineDamnatio memoriae, die jedoch den Beigeschmack eines Exorzismus hat und hinter der sich eine pathogene Angst, eine quälende Furcht vor der Vergangenheit verbirgt. Dennoch wäre es naheliegend zu fragen, ob es ein halbes Jahrhundert später noch sinnvoll ist, sich dieser fernen Zeit mit den Mitteln der Strafverfolgung zu nähern. Wer sollte sich damit befassen: Staatsanwälte oder Historiker? Ist es nicht nur irreführend, sondern auch die effektivste Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung, eine historische Epoche von sozialen Fakten zu entleeren und sie ausschließlich durch strafrechtliche Erinnerung zu ersetzen? Die Frage betrifft natürlich nicht nur die Methode, die Instrumente zur Kenntnis der Fakten, sondern auch die Ziele: Was braucht die Gesellschaft, die sich fünfzig Jahre später verändert hat, wirklich? Nur Schuldige, die um jeden Preis zu verurteilen sind und die am Ende Gefahr laufen, nur Sündenböcke zu sein?
Fussnoten der deutschen Übersetzung
[1] Zum Tod von Margherita Cagol siehe die Erzählung von Nanni Balestrini: ‘Lasst tausend Hände die Waffe aufheben’, auf deutsch auf Sunzi Bingfa veröffentlicht.
[2] Spezielle italienische Verschwörungserzählung, ursprünglich u.a. im Zusammenhang mit der OK, dann später aber sehr gerne im Zusammenhang mit der Genese des Bewaffneten Kampfes in Italien, und insbesondere im Zusammenhang mit der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, wo die irrsinnigsten Theorien und angebliche Beweise in den Medien breit getreten wurden (und werden), von der Beteiligung des Mossads, der Freimaurer bis hin zu KGB und CIA.
[3] Servizio Informazioni Difesa (SID), mittlerweile aufgelöster Geheimdienst, der dem Verteidigungsministerium unterstellt war
[4] Ort der Entführung von Aldo Moro
Ursprünglich veröffentlicht am 20. September 2024 auf Insorgenze, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.