Die Massen jenseits der pathologischen Welt Macrons

Josep Rafanell i Orra

Dass ein Präsident einer Republik sich auf Gustave Le Bon beruft, den Mussolini aufmerksam gelesen hat, um seine Vorstellung von Politik zu rechtfertigen, könnte streng genommen unter seine Psychopathologie fallen. Sicherlich ist die Person unappetitlich, selten wurde ein Präsident so gehasst und so verachtet. Natürlich sehen die aufbegehrenden Menschenmassen in ihm nur noch einen Erleuchteten, der von Lakaien umgeben ist, die geduldig auf ihren Moment des Glücks warten. Es stimmt, dass sein Gezeter und Gejammer immer mehr Ekel vor seiner Person weckt. 

Aber darum geht es nicht mehr. Er stellt uns in Frage, weil er die Quintessenz der Republikaner darstellt. Und zwar deshalb, weil die republikanischen Institutionen Frankreichs seit ihren Ursprüngen eine ständige Maschinerie der Aufstandsbekämpfung sind. Ja, die republikanische Institution mit ihren Verfassungen wurde gegen das Volk der Kommunarden eingesetzt. Ja, die französische Polizei ist sehr wohl republikanisch (das war schon unter Pétain so). Ja, die republikanische Regierung kann so ihre Gewalt mit ihrer Polizei ausüben, da diese der Mittler zwischen den Massen und der Macht ist, dieser Macht, die in der französischen Arkhè so tief in der monarchischen Matrix verankert ist, jene die mit allen höfischen Folkloren ausgeschmückt ist.

Die Dinge werden nun komplizierter, wenn man Macron nicht nur als psychopathologische Karikatur des republikanischen Monarchismus betrachtet, sondern als einen der würdigsten Vertreter des sich überall ausbreitenden Liberal-Faschismus: der Förderung der Atomisierung, die zur Masse wird, der radikale Vernachlässigung als Regierungsprinzip zur Grundlage hat. Die Vernichtung von allem, was eine Gemeinschaft bildet. Die Zerstörung von Orten und der Interdependenzen, die sie existieren lassen, gegen den verwalteten Raum der Katastrophe.

Es ist dieser Liberal-Faschismus, der uns in einen Zustand universeller Besorgnis versetzen möchte, belagert, paranoid, der eine soziale Welt fördert, in der die Selbstverwaltung nur eine winzige, in sich geschlossene Totalität sein darf, die Begegnungen und Unterschiede als Invasionen fürchtet und nur für die Ströme der Verwertung offen ist. Denn diese weiß nur, wie sie sich in der Leere ihrer Zerstörungen um sich selbst drehen kann.

Angesichts dessen kehrt die soziale Unordnung zurück. Diejenige, die sich der unheilvollen Zeitrechnung unseres Lebens verweigert: bei den Ausschreitungen der Demonstrationen, bei den nächtlichen Einbrüchen in die polizeiliche Metropole, bei den Blockaden und Besetzungen der Raffinerien, bei der Zunahme der Sabotageakte, bei den Kämpfen gegen die Erschöpfung des Grundwassers und gegen die Agrarindustrie, die die Erde zerstört. Es ist dann wieder die Präsenz, die Verflechtung zwischen den Wesen, die sich manifestiert. Und damit auch die Weigerung, sich regieren zu lassen.

Es ist, wie bei jedem Aufstand, wieder die anarchische Bodenlosigkeit des Lebens, die zum Vorschein kommt, es sind Formen der gegenseitigen Hilfe und Zusammenarbeit, die den krankhaften Idealismus sprengen, der aus der Welt ein totales Unternehmen machen möchte. Es ist heute die Unterbrechung des bankrotten Fortschritts, des Wachstums, der endlosen Akkumulation, die das Licht der Welt erblickt. Es ist die Öffnung zu neuen Zeiten, die möglich wird. Aber es sind auch alte, verschüttete Geschichten, die hervorbrechen.

Wiederaufleben und Aufbegehren, die nebeneinander existieren: Das ist das Schreckgespenst aller Regierungen.

Wir befinden uns nicht mehr nur innerhalb einer sozialen Bewegung. Wir sehen, wie sich, wie schon beim Aufstand der Gelbwesten, wieder kommunardische Formen herausbilden, die mit den sozialen Kategorien spielen und die Auflösung der Identitäten und Subjekte der Herrschaft bewirken. Wieder verbreitet sich der störende Duft des Misstrauens gegenüber den Repräsentanten. Wieder kommt es zu unwahrscheinlichen Begegnungen, in den Unruhen, in den Blockaden und Besetzungen. Wieder einmal zeigt sich die Ablehnung der wurmstichigen Bühnen der politischen Repräsentation.

Es gibt keine Garantie dafür, dass sich uns andere Welten eröffnen. Aber wie Gustav Landauer sagte, bevor er von den deutschen Freikorps (den Vorläufern der heutigen französischen BRAV) ermordet wurde, ist die Revolution eine ewige Erneuerung. Und all jenen, die von sozialen Konstitutionen besessen sind, werden wir mit seinen Worten sagen: “Die Revolution muss Teil unserer sozialen Ordnung sein, muss zur Grundregel unserer Verfassung werden”.

Das ist unsere einzige Verfassung: die Verfassung, in der die Revolte der Massen, ihre Gemeinschaften und Geografien, ihre Wiederaneignungen, ihre unerwarteten Begegnungen gelten, wo neue Freundschaften geschlossen werden und wo die Präsenz zum Ort wird. Es sind diese Massen, die sich in der Verweigerung zusammenschließen, die plötzlich zum Außen werden, ohne dass wir in der sozialen Innerlichkeit ersticken, die pathologische Regierende zu regieren vorgeben.

Aufstände kommen und gehen. Die Revolution aber besteht weiter.

Dieser Beitrag wurde am 23.03.2023 auf Tous Dehors veröffentlicht. 

IST DIE MACRONIE BALD VORBEI?

Die Bewegung gegen die Rentenreform an der Schwelle zum Aufstand. [Etappenbilanz]

Die Ankündigung der Regierung am Donnerstag, den 16. März, den 49.3 einzusetzen, um ihre Rentenreform durchzusetzen, hat die Protestbewegung in eine neue Dimension katapultiert. Trotz heftiger Repressionen breitet sich im ganzen Land eine seltsame Mischung aus Wut und Freude aus: wilde Demonstrationen, überraschende Blockaden von Verkehrsachsen, Besetzung von Einkaufszentren oder Bahngleisen, Müllwürfe auf die Büros von Abgeordneten, nächtliche Mülltonnenbrände, gezielte Stromabschaltungen etc. Die Situation ist nun nicht mehr zu bewältigen und dem Präsidenten bleibt nichts anderes übrig, als zu versprechen, dass er durchhalten wird, koste es, was es wolle, und nicht vor der Gewalt zurückweichen zu wollen. Die kommenden Tage werden daher entscheidend sein: Entweder die Bewegung ermüdet, aber alles deutet auf das Gegenteil hin, oder Macrons Fünfjahresperiode bricht zusammen. Dieser Text schlägt vor, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die vorhandenen Kräfte sowie ihre kurz- und mittelfristigen Strategien und Ziele zu analysieren.

ALLEIN GEGEN ALLE

Betrachtet man die beiden Kräfte, die sich offiziell gegenüberstehen, ist die Situation so besonders, dass sich keine von ihnen offiziell eine Niederlage leisten kann. Auf der einen Seite haben wir die “soziale Bewegung”, von der man regelmäßig glaubt, dass sie sich in Luft aufgelöst hat, die aber immer wieder zurückkehrt, weil sie nichts Besseres zu tun hat. Die Optimisten sehen in ihr den notwendigen Auftakt für den Aufbau eines Kräfteverhältnisses, das bis zum Aufstand oder sogar zur Revolution führen kann. Die Pessimisten hingegen sind der Ansicht, dass sie von vornherein kompromittiert ist und dass die Kanalisierung und Ritualisierung der Unzufriedenheit der Bevölkerung zur guten Verwaltung der Ordnung der Dinge und damit zu ihrer Aufrechterhaltung und Stärkung beiträgt.

Wie dem auch sei, auf dem Papier hat diese “soziale Bewegung” alles, um zu gewinnen: Die Gewerkschaften sind vereint, die Demonstrationen sind zahlreich, die öffentliche Meinung ist weitgehend positiv, und die Regierung ist zwar demokratisch gewählt, aber massiv in der Minderheit. Die Sterne stehen also günstig, die Ampeln zeigen grün, und wenn die “soziale Bewegung” unter diesen objektiv günstigen Bedingungen verliert, bedeutet das, dass sie sich nie wieder auf die Bühne zurückkehren oder behaupten kann, etwas zu gewinnen.

Auf der anderen Seite stehen Emmanuel Macron, seine Regierung und einige Fanatiker, die an ihn glauben. Macron ist kein Präsident, der sich hat wählen lassen, um geliebt oder sogar geschätzt zu werden, er verkörpert die Endstation der Politik, sein reines und perfektes Bekenntnis zur Wirtschaft, zur Effizienz, zur Leistung. Er sieht nicht das Volk, das Leben, die Menschen, nur Atome, aus denen Wert extrahiert werden muss. Macron ist eine Art böser Droide, der das Wohl seiner Regierten gegen und für sie will. Seine Vorstellung von Politik ist eine Excel-Tabelle: Solange die Berechnungen stimmen und das Ergebnis positiv ist, wird er weiter im Gleichschritt voranschreiten. Umgekehrt weiß er, dass er, wenn er zögert, zittert oder sich verleugnet, nicht mehr behaupten kann, etwas oder jemanden zu regieren.

Eine Gegenüberstellung bedeutet jedoch nicht Symmetrie. Was der “sozialen Bewegung” droht, sind Ermüdung und Resignation. Das Einzige, was den Präsidenten zum Aufgeben bewegen könnte, ist die greifbare und nahe Gefahr eines Aufstands. Was wir seit dem 49.3 vom Donnerstag, dem 16. März, feststellen, ist, dass sich die Situation ändert. Da jegliche Verhandlungen mit der Macht hinfällig geworden sind, ist die “soziale Bewegung” dabei, sich selbst zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Ihre Konturen werden zu einer Art Vor-Aufstand.

Es bleibt eine dritte, inoffizielle Kraft, die der Trägheit: Diejenigen, die sich derzeit aus Unachtsamkeit, Faulheit oder Angst weigern, sich dem Kampf anzuschließen. Derzeit spielen sie für die Regierung, aber je instabiler die Lage wird, desto mehr müssen sie Partei ergreifen, entweder für die Bewegung oder für die Macht. Das Kunststück der Gelbwesten bestand darin, die Frustration und Unzufriedenheit hinter den Bildschirmen hervorzuholen.

“DER BESTE RÜCKZUG IST DER ANGRIFF”

Doch was steckt wirklich hinter dieser Konfrontation und ihrer Inszenierung? Was zieht die Herzen zusammen, macht Mut oder Wut? Was auf dem Spiel steht, ist sehr wahrscheinlich die Ablehnung der Arbeit. Natürlich traut sich niemand, dies so zu formulieren, denn sobald wir von der Arbeit sprechen, schnappt eine alte Falle zu. Der Mechanismus ist jedoch rudimentär und wohlbekannt: Hinter dem Begriff der Arbeit selbst hat “man” absichtlich zwei sehr unterschiedliche Realitäten miteinander verwechselt. Auf der einen Seite die Arbeit als singuläre Teilnahme am kollektiven Leben, an seinem Reichtum und seiner Kreativität. Auf der anderen Seite die Arbeit als besondere Form der individuellen Anstrengung in der kapitalistischen Organisation des Lebens, d. h. Arbeit als Strafe und Ausbeutung. Wenn man es wagt, die Arbeit zu kritisieren oder gar ihre Abschaffung zu wünschen, wird das meist als kleinbürgerliche Laune oder als Nihilismus eines Hundepunks verstanden. Wenn man Brot essen will, braucht man Bäcker, wenn man Bäcker will, braucht man Bäckereien, wenn man Bäckereien will, braucht man Maurer und für den Teig, den man in den Ofen schiebt, braucht man Bauern, die säen, ernten etc. Natürlich ist niemand in der Lage, diese offensichtliche Tatsache zu bestreiten. Das Problem, unser Problem, ist, dass wir die Arbeit so sehr ablehnen, dass wir zu Millionen auf der Straße sind, um nicht zwei weitere Jahre zu verlieren, nicht weil wir faul sind oder davon träumen, in einen Bridge-Club einzutreten, sondern weil die Form, die die gemeinsame und kollektive Anstrengung in dieser Gesellschaft angenommen hat, unlebbar, erniedrigend, oft sinnlos und verstümmelnd ist. Wenn man darüber nachdenkt, hat man nie für die Rente gekämpft, sondern immer gegen die Arbeit.

Kollektiv und massiv anzuerkennen, dass wir stellvertretend für die große Mehrheit die Arbeit als Strafe erleben, ist eine Realität, die die Macht nicht zulassen kann: Dies zur Kenntnis zu nehmen, würde bedeuten, das gesamte soziale Konstrukt einzureißen, und ohne dieses ist sie nichts mehr. Wenn unsere gemeinsame Bedingung darin besteht, keine Macht über unser Leben zu haben und dies zu wissen, wird paradoxerweise alles wieder möglich. Revolutionen brauchen nicht unbedingt große Theorien und komplexe Analysen, manchmal reicht sogar eine winzige Forderung, die man bis zum Ende durchhält. Es würde zum Beispiel genügen, sich zu weigern, gedemütigt zu werden: durch ein Arbeitstempo, durch ein Gehalt, durch einen Manager oder eine Aufgabe. Es würde genügen, eine kollektive Bewegung zu starten, die die Angst vor dem Zeitplan, der To-do-Liste und dem Terminkalender suspendiert. Es würde genügen, die minimalste Würde für sich selbst, seine Angehörigen und andere einzufordern, und das ganze System würde zusammenbrechen. Der Kapitalismus war nie etwas anderes als die objektive und wirtschaftliche Organisation der Erniedrigung und des Schmerzes.

ZUR KRITIK DER GEWALT

Nach diesen Ausführungen müssen wir uns eingestehen, dass die soziale Organisation, die wir in Frage stellen, nicht nur durch die Erpressung des Überlebens, die sie auf jeden Einzelnen ausübt, zusammengehalten wird. Es gibt auch und vor allem die Polizei und ihre Gewalt. Wir werden hier nicht auf die soziale Rolle der Polizei und die Gründe, warum sie so verabscheuungswürdig ist, eingehen, da dies bereits in diesem Text zusammengefasst wurde: Warum alle Polizisten Bastarde sind. Was wir für dringend erforderlich halten, ist, diese Gewalt strategisch zu durchdenken, das, was sie unterdrückt und durch Terror und Einschüchterung erstickt.

In den letzten Tagen gab es Forscher und Kommentatoren, die den Mangel an Professionalität der Polizei, ihre Exzesse, ihre Willkür und manchmal sogar ihre Gewalt anprangerten. Selbst auf BFMTV war man erstaunt, dass von den 292 Festgenommenen am Donnerstag (15.) auf dem Place de la Concorde 283 ohne Verfolgung aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurden und die restlichen 9 mit einem einfachen Verweis auf das Gesetz davonkamen. Das Problem bei dieser Art von Empörung ist, dass sie, wenn sie eine Fehlfunktion des Dispositivs sehen, nicht erkennen, was eigentlich nur eine Strategie sein kann. Wenn Hunderte von BRAV-Ms durch die Straßen von Paris rasen, um Ansammlungen von Protestlern zu verfolgen und zu verprügeln, wenn bereits am Freitag ein Erlass der Präfektur alle Versammlungen in einem Gebiet von etwa einem Viertel der Hauptstadt verbietet, dann deshalb, weil die Herren Macron, Darmanin und Nunez sich auf die Methode geeinigt haben: die Straßen leeren, die Körper schockieren, die Herzen erschrecken… und darauf warten, dass es vorbeigeht.

Wiederholen wir es noch einmal: Gegen die Polizei kann man niemals “militärisch” gewinnen. Sie ist ein Hindernis, das es in Schach zu halten, zu umgehen, zu zermürben, zu desorganisieren oder zu demoralisieren gilt. Die Polizei zu entmachten bedeutet nicht, naiv zu hoffen, dass sie eines Tages die Waffen niederlegt und sich der Bewegung anschließt, sondern im Gegenteil, dafür zu sorgen, dass jeder ihrer Versuche, die Ordnung durch Gewalt wiederherzustellen, noch mehr Unordnung produziert. Erinnern wir uns daran, dass am ersten Samstag der Gelbwesten auf den Champs Elysées die Menge, die sich besonders legitim fühlte, “Die Polizei mit uns” sang. Einige Tränengasladungen später verwandelte sich die schönste Prachtstraße der Welt in ein Schlachtfeld.

AUS DER UNTERDRÜCKUNG LEHREN ZIEHEN

Davon abgesehen sind unsere Möglichkeiten, strategische Entscheidungen für die Straße zu treffen, sehr begrenzt. Wir verfügen über keinen Generalstab, sondern nur über unseren gesunden Menschenverstand, unsere Anzahl und eine gewisse Bereitschaft zur Improvisation. In der aktuellen Konfiguration der Feindseligkeiten können wir dennoch einige Lehren aus den letzten Wochen ziehen:

– Das polizeiliche Management von Demonstrationen, d. h. sie in den Grenzen des Harmlosen zu halten, teilen sich die Gewerkschaftsfunktionäre und die Polizeikräfte. Eine Demonstration, die wie geplant verläuft, ist ein Sieg für die Regierung. Eine Demonstration, die ausufert, verbreitet Unruhe an der Spitze der Macht, demoralisiert die Polizei und bringt uns einer Arbeitszeitverkürzung einen Schritt näher. Eine Menschenmenge, die die von der Polizei eingerahmte Route nicht mehr akzeptiert, die Symbole der Wirtschaft beschädigt und ihren Unmut in Freude zum Ausdruck bringt, ist ein Überschwappen und damit eine Bedrohung.

– Bisher und mit Ausnahme des 7. März wurden alle Massendemonstrationen durch das Polizeiaufgebot eingedämmt. Die Gewerkschaftszüge blieben perfekt geordnet und die entschlossensten Demonstranten wurden systematisch isoliert und brutal unterdrückt. Unter manchen Umständen setzt ein wenig Kühnheit die Energien frei, die zum Überschreiten des Dispositivs erforderlich sind, unter anderen kann dies die Polizei ermächtigen, jede Möglichkeit gewaltsam zu unterbinden. Es kommt vor, dass man sich beim Versuch, ein Schaufenster einzuschlagen, zuerst die Nase am Rand der Vorkehrungen bricht.

– Die BRAV-M sind aufgrund ihrer schnellen Bewegung und Intervention sowie ihrer extremen Brutalität das größte Hindernis. Das Selbstvertrauen, das sie sich in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Wochen erarbeitet haben, muss unbedingt untergraben werden. Zwar kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass kleine Gruppen sie gelegentlich herausfordern und ihre Kühnheit mindern, doch die wirksamste Option wäre, dass die friedliche Menge der Gewerkschaftsmitglieder und Demonstranten ihre Anwesenheit nicht länger duldet, sich mit erhobenen Händen jedem ihrer Durchbrüche in den Weg stellt, sie beschimpft und zurückstößt. Wenn ihr Auftreten bei Demonstrationen mehr Unordnung verursacht als die Ordnung wiederherstellt, sieht sich Herr Nunez gezwungen, sie auf die Ile de la Cité zu verbannen und in ihrer Tiefgarage in der Rue Chanoinesse einzuschließen.

– Am Donnerstag, den 15. März, trafen nach der Ankündigung des 49.3 eine angemeldete Gewerkschaftsdemonstration und eher vereinzelte Aufrufe auf der anderen Seite der Concorde-Brücke gegenüber der Nationalversammlung zusammen. Da das Hauptziel des Polizeiaufgebots darin bestand, die Nationalvertretung zu schützen, wurde die Menschenmenge nach Süden abgedrängt. Im Zuge dieses Manövers wurden die Demonstranten in die Touristenstraßen des Hyperzentrums geschleudert und dort ausgebreitet. Die Müllberge, die der Streik der Müllabfuhr hinterlassen hatte, verwandelten sich spontan in lodernde Flammen, die das Eingreifen der Polizei verlangsamten und verhinderten. Spontan wurden in vielen Städten des Landes brennende Mülltonnen zum Markenzeichen der Bewegung.

– Am Freitag, dem 16. März, erwies sich ein erneuter Aufruf, sich zum Place de la Concorde zu begeben, als inhaltsleer. Die Demonstranten waren zwar mutig und entschlossen, doch sie befanden sich in einer Schlinge und einem Schraubstock und waren nicht in der Lage, auch nur die geringste Mobilität zu erreichen. Die Präfektur machte nicht denselben Fehler wie am Vortag. Am Samstag überzeugte ein dritter Aufruf, sich auf denselben Platz zu begeben, die Behörden davon, alle Versammlungen in einem Gebiet zu verbieten, das von den Champs Elysées bis zum Louvre, von den Grands Boulevards bis zur Rue de Sèvres reicht – etwa ein Viertel von Paris. Tausende von Polizisten, die in dem Gebiet stationiert waren, konnten jeden Beginn einer Versammlung verhindern, indem sie Passanten belästigten. Auf der anderen Seite der Stadt überrumpelte eine Versammlung am Place d’Italie das Polizeiaufgebot, indem sie in einer wilden Demonstration in die entgegengesetzte Richtung marschierte. Mobile Gruppen konnten mehrere Stunden lang die Straßen blockieren, Mülltonnen anzünden und zeitweise der BRAV-M entkommen.

– Das A und O einer Strategie ist, dass Taktiken nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zusammengefügt werden sollten. Die Präfektur von Paris hat bereits ihre Schlacht-Narrative vorgestellt: verantwortungsvolle, aber harmlose Massendemonstrationen auf der einen Seite, nächtliche Krawalle, die von radikalen und illegitimen Randgruppen angeführt werden, auf der anderen Seite. Wer in der letzten Woche auf der Straße war, weiß, wie sehr diese Karikatur eine Lüge ist und wie wichtig es ist, dass sie es bleibt. Denn das ist ihre ultimative Waffe: die Spaltung der Revolte in gut und böse, verantwortlich und unkontrollierbar. Solidarität ist ihr schlimmster Albtraum. Wenn die Bewegung an Intensität gewinnt, werden die Gewerkschaftskorsos schließlich angegriffen werden und sich somit verteidigen müssen. Die überraschenden Blockaden von Stadtautobahnen durch Gruppen der CGT zeigen darüber hinaus, dass ein Teil der Basis bereits entschlossen ist, die Rituale zu durchbrechen. Als die Polizei am Montag in Fos-sur-Mer eingriff, um die Requirierungen des Präfekten durchzusetzen, gingen die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf Konfrontationskurs. Je mehr Aktionen stattfinden, desto mehr wird sich die Umarmung der Polizei lockern. Gérald Darmanin spricht von mehr als 1200 wilden Demonstrationen in den letzten Tagen.

“DIE MACHT IST LOGISTISCH, LASST UNS ALLES BLOCKIEREN”

Über ihre eigene Gewalt hinaus liegt die Wirksamkeit der Polizei auch in ihrer Ablenkungskraft. Indem sie den Ort, die Modalitäten und den Zeitpunkt der Konfrontation bestimmt, pumpt sie die Energie der Bewegung ab. Wenn wir darauf setzen, dass die Unordnung und die Bedrohung, die sie für die Macht darstellt, Herrn Macron dazu bringen, auf die Verlängerung der Arbeitszeit zu verzichten, ist die Blockade entscheidend und lebenswichtig. Denn da niemand mehr ewig auf den Generalstreik einer durch 30 Jahre Neoliberalismus zerbröselten Arbeiterklasse und Arbeitswelt warten wird, ist die offensichtlichste, spontanste und wirksamste politische Geste nunmehr die Blockade der Wirtschaftsströme, die Unterbrechung des normalen Flusses von Waren und Menschen. Was sich seit zwei Wochen in Rennes organisiert, kann als Beispiel dienen. Anstatt die Konfrontation mit der Polizei als oberstes Ziel zu setzen, haben die Menschen in Rennes halböffentliche Versammlungen eingerichtet, in denen Blockadeaktionen ausgeheckt werden. Im Rahmen eines Aufrufs “Tote Städte” blockierten am Montag im Morgengrauen Hunderte von Menschen an verschiedenen Orten in der Stadt die Hauptverkehrsachsen und die Umgehungsstraße von Rennes. Zwei Wochen zuvor hatten 300 Personen mitten in der Nacht Mülltonnen angezündet, um die Rue de Lorient bis in die frühen Morgenstunden zu blockieren. Es geht nie darum, sich mit der Polizei zu konfrontieren, sondern darum, sie zu überrumpeln und heimlich zu agieren. Selbst aus der Sicht derjenigen, die auf die Zahl schwören und immer noch auf den Generalstreik warten, drängt sich diese Vervielfachung der Blockade- und Unruhepunkte wie eine Selbstverständlichkeit auf. Wenn es seit der Auslösung des 49.3 am vergangenen Donnerstag nur den Aufruf zu Demonstrationen am darauffolgenden Donnerstag gegeben hätte, hätten sich alle mit einer Ehrenrettung und einer Niederlage abgefunden. Die Blockaden und die diffuse Bordellisierung geben Mut, Zuversicht und Schwung, um sich über die hinter den Türen der Intersyndikalisten festgelegten Fristen hinaus zu entwickeln.

BESETZEN, UM SICH ZU TREFFEN UND ZU ORGANISIEREN

Der Zusammenbruch der klassischen Politik, ihrer Parteien und damit einhergehende Desillusionierung hat einen Boulevard für innovative autonome Experimente eröffnet. Die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz, Nuit Debout, die Gelbwesten, ‘die Aufstände der Erde’ (les Soulèvements de la Terre) und so viele andere haben in den letzten Jahren bestätigt, dass von der Repräsentation nicht nur nichts mehr zu erwarten war, sondern dass sie auch niemand mehr wollte.

Jede dieser Sequenzen wäre eine ausführliche Analyse ihrer Stärken und Schwächen wert, aber wir wollen es hier bei einer grundlegenden Erkenntnis belassen: Die Macht abzusetzen bedeutet, neue Formen zu erfinden, und dafür braucht man in der Atomisierung der Metropole Orte, an denen man sich trifft, an denen man denkt und von denen aus man sich projiziert. Jahrzehntelang gehörte die Besetzung von Gebäuden, Unis oder anderen Einrichtungen zu den selbstverständlichen Praktiken jeder Bewegung. Ein Universitätspräsident, der den Einsatz der Polizei auf seinem Campus akzeptierte, wurde sofort verunglimpft, da es selbstverständlich war, dass die kollektive und offene Wiederaneignung eines Raums die minimale Kehrseite der Privatisierung aller Räume und der Polizeiisierung des öffentlichen Raums war.

Man muss feststellen, dass heute keine Besetzung mehr geduldet wird. Man kann, wie in Rennes, ein verlassenes Kino beschlagnahmen, um es in ein Haus des Volkes umzuwandeln, in dem sich Gewerkschafter, Aktivisten und Einwohner treffen, doch die sozialistische Bürgermeisterin der Stadt räumt es innerhalb von 48 Stunden und schickt Hunderte von Polizisten. Was die Universitäten betrifft, so berufen sich ihre Behörden ohne Scham auf das Risiko von Ausschreitungen und die Möglichkeit der Fernlehre, um sie administrativ zu schließen oder die Polizei gegen ihre eigenen Studenten einzusetzen. Was all dies aussagt, ist, wie sehr man auf der anderen Seite weiß, dass Orte, an denen man sich treffen und organisieren kann, wertvoll sind und ein Anwachsen der Macht ermöglichen. In Paris wurde nach einer wilden Versammlung und einem wilden Bankett unter dem Glasdach der Arbeiterbewegung eine Besetzung der Bourse du travail versucht. Sie verkümmerte jedoch in der Nacht, an der Unentschlossenheit und dem Unverständnis von Gewerkschaft und Autonomie. Wir brauchen Orte, um Komplizenschaft und Solidarität aufzubauen, und wir brauchen Komplizenschaft und Solidarität, um Orte zu halten. Das Ei, das Huhn.

In Rennes suspendierte die Bewegung das Problem vorübergehend, nachdem das Haus geräumt worden war. Das Maison du Peuple versammelte sich unter freiem Himmel und organisierte weiterhin Blockaden ebenso wie Treffen. Man kann sich vorstellen, dass man darauf wartet, dass man zusammenhält und stark genug ist, um einen Ort mit Dach, fließendem Wasser und Heizung zurückzuerobern. In Paris scheinen die Grenzen des Experiments von Nuit Debout die Möglichkeit, sich im Freien zu treffen, zum Scheitern verurteilt zu haben. Die Karikatur, die davon übrig geblieben ist, besagt, dass die Diskussionen unter freiem Himmel nur gedankenlose Monologe hervorbringen. Wir erinnern uns jedoch an den ‘Aperitif bei Valls’ und die Möglichkeit, auch von unseren selbstzentrierten, großstädtischen Einsamkeiten aus kurzfristig eine Entscheidung zu treffen und zu Tausenden zum Premierminister zu stürmen. Dass die Regierung so hartnäckig daran arbeitet, uns ohne Bezugspunkte und Wiedersehensfreude zurückzulassen, zeigt, wie dringend wir diese brauchen.

IN DIE UNENDLICHKEIT UND DAS JENSEITS

Wir haben es bereits gesagt: Die Umrisse der Bewegung entwickeln sich in Richtung Vor-Aufstand. Jeden Tag gibt es mehr Blockaden und die Aktionen werden intensiver. Der Donnerstag wird daher ein entscheidender Tag sein. Rein reformpolitisch gesehen wird Macron in die Enge getrieben, wenn die Demonstrationen am Donnerstag massiv ausufern. Entweder geht er das Risiko eines schwarzen Samstags im ganzen Land ein, d. h. die von ihm am meisten gefürchtete “gilet-jaunisation”, oder er wird bereits am Freitag einen Rückzieher machen und sich auf die Gefahr größerer und unkontrollierbarer Ausschreitungen berufen.

Alles entscheidet sich also jetzt und darüber hinaus. Die Linke lauert im Hinterhalt und ist bereit, ein Wahlschlupfloch, eine Referendums-Illusion oder sogar den Aufbau der Vierten Internationale zu verkaufen. Sie wird auf jeden Fall die Geduld und die Rückkehr zur Normalität beschwören müssen. Damit die Bewegung fortbesteht und sowohl der Vereinnahmung als auch der Unterdrückung entgeht, muss sie sich so schnell wie möglich mit der zentralen Frage eines jeden Aufstands auseinandersetzen: Wie kann man die Mittel zur Selbstorganisation einsetzen? Einige fragen sich bereits, wie sie den Kommunismus leben und die Anarchie verbreiten können.

Dieser Text erschien auf französisch am 21. März 2023 auf Lundi Matin. 

KRIEG, KRISE UND ANARCHIE

Die vergangene Finanzwoche (12.-19. März) stand ganz im Zeichen der Angst um das internationale Bankensystem: Zunächst kam der Konkurs der Silicon Valley Bank, einer kalifornischen Bank, die sich auf die Unterstützung von Start-ups und die Siliziumwirtschaft der neuen Technologien spezialisiert hat; Dann kam die Lawine der First Republic Bank, der vierzehntgrößten Bank in den Vereinigten Staaten, deren Rettung derzeit mit einer “Beihilfe” in Höhe von 30 Milliarden Dollar versucht wird, die von einer “solidarischen Sammlung” von 11 nordamerikanischen Banken zur Verfügung gestellt wird, was die Märkte jedoch nicht zu glauben scheinen, wenn selbst am letzten Freitag (Freitag, der 17., und es handelt sich nicht nur um eine Frage der Heptacaidecaphobie) [1] die Aktie allein an diesem Tag weitere 29 % verlor; inmitten des Zusammenbruchs der Credit Suisse, der zweitgrößten Bank der Schweiz, die derzeit von der Schweizer Zentralbank über Wasser gehalten wird und abwartet, ob sie in Konkurs geht oder von der Konkurrentin UBS “gerettet” wird, die sie übernehmen könnte, um ihren Konkurrenten für immer loszuwerden.

Während die Zeitungen schreien, gähnen die Zuschauer, was völlig fehlt, aber daran sind wir gewöhnt, ist eine umfassende Sichtweise, die über das Tagesgeschehen hinausgeht und ein wenig tiefer blickt. Es scheint, dass praktisch niemand diese Fakten mit dem Krieg in Verbindung gebracht hat, doch bei näherer Betrachtung ist die Verbindung ziemlich offensichtlich. In der Tat kann man sagen, dass wir Zeugen der ersten internen Rückschläge in den westlichen Volkswirtschaften sind, die die Rechnung für den Zusammenstoß zwischen der NATO und Russland in der Ukraine mit einem starken Anstieg der Rohstoffpreise und der daraus resultierenden Geldknappheit bezahlen. Dies sind also Tatsachen, die von denjenigen untersucht werden müssen, die wie die Anarchisten und Internationalisten die Niederlage des eigenen Landes zum Anlass für eine revolutionäre Intervention nehmen.

Krieg, Spekulation, Preise

Die westliche Wirtschaft ist nie aus der Krise von 2008 herausgekommen, auch wenn ihre Erscheinungsformen über Jahre hinweg, nicht ohne Revolutionen und Aufstände, durch eine sehr expansive Geldpolitik verdeckt wurden. Vereinfacht ausgedrückt haben die Fed und die EZB, die amerikanische und die europäische Zentralbank, große Mengen an Geld gedruckt und an Reiche, Spekulanten und Finanziers verteilt, um auf dem Aktienmarkt zu spielen und die Märkte praktisch über Wasser zu halten. Der Mechanismus ist, weniger vulgär ausgedrückt, der klassische “Geldpreismechanismus”. Die Zentralbanken, die das Geld emittieren, verleihen es an die privaten Banken, und auf der Grundlage der Zinssätze versuchen sie, das Finanzwesen zu steuern: Sie senken sie, wenn sie die Nachfrage nach Geld anregen wollen, um die Finanzspekulationen anzukurbeln, und sie erhöhen sie, wenn sie den Geldumlauf bremsen wollen, um beispielsweise die Inflation zu bekämpfen.

Fast fünfzehn Jahre lang lagen die Zinssätze bei nahezu 0 %, ein Segen für die Spekulanten, die das Geld kostenlos von den institutionellen Emittenten kaufen und damit Investitionen, Spekulationen und Kredite tätigen konnten. Diese enorme Geldproduktion hätte logischerweise zu einer sehr hohen Inflation führen müssen, warum ist das nicht passiert? Weil die Krise so ernst war, die Überproduktion von Gütern in den Ländern des reifen westlichen Kapitalismus so groß, dass die Preise trotzdem niedrig blieben. Der Handel war, um zu verkaufen, bereit, so viele Jahre lang auszuverkaufen, dass die Wirkung der Geldmenge zunichte gemacht wurde. In einigen Perioden erlebten wir sogar Momente einer regelrechten Deflation.

Ein beunruhigendes Symptom für den Kapitalismus, der jedoch nicht in der Lage war, die Krankheit zu heilen. Im Gegenteil, er konnte sogar in der Katastrophe Geschäfte machen: Das Geld, das gedruckt wurde, wurde von allen an der Spitze aufgefressen, ohne auch nur den Preis der Inflation zu zahlen, und fütterte exponentiell das finanzielle Metaversum (die klassische Geschichte, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden). Der Kapitalismus hat sich in den letzten fünfzehn Jahren wie ein Patient mit einem spezifischen Hirntumor verhalten, der einhergehend mit seinem eigenen Verschlimmerungsprozess unglaublichen Reichtum hervorbringt.

Die Covid-19-Krise hat die Dinge noch schlimmer gemacht, und auch hier wurde die Krankheit verschlimmert: Einerseits eine beispiellose Ausgabe von Geld, um die Wirtschaft anzukurbeln (die nächste Generation der EU), andererseits eine autoritäre Kontrolle des Konsums (Abriegelung, geschlossene Supermarktgänge), um die Armen buchstäblich zu Hause zu halten.

Früher oder später musste der Spaß auch für die Herren ein Ende haben. Mit dem so genannten Reboot explodierte die Inflation schlagartig: Die plötzliche Nachfrage nach Rohstoffen erzeugte den klassischen Trichter. In der Zwischenzeit haben sich die Knoten der digitalen Wirtschaft und der neuen Technologien zugeschnürt: Dies ist der Fall bei der so genannten Chip-Krise, die durch eine weltweite Verknappung der für die Digitalisierung des Planeten erforderlichen Materialien und das chinesische (und teilweise russische) Monopol auf seltene Erden ausgelöst wurde. Die Krise betrifft nicht nur den digitalen Bereich, sondern auch zahlreiche Materialien; so herrscht beispielsweise ein großer Mangel an Kabeln, der einige Straßenbaustellen, wie z. B. Tunnel, die mehrere Kilometer Kabel für die Beleuchtung benötigen, zum Erliegen bringt.

Es war jedoch der Krieg, der das Inflationsthermometer auf einen Höchststand trieb. Zum einen hat Russland seinen Energiereichtum als Kriegswaffe gegen die westlichen Länder eingesetzt, die die Ukraine unterstützen, und zum anderen hat das Selbstziel der Sanktionen das westliche Kapital von den aufstrebenden Mächten isoliert (die BRICS, Iran, Saudi-Arabien, die alle aus unterschiedlichen Gründen “pro-Putin” sind und sogar jahrzehntelange Freundschaften aufgekündigt haben), die ebenfalls über große fossile Reserven verfügen. Ganz allgemein gibt es eine Spekulationsdynamik, die jeden Krieg betrifft: Die Nachfrage nach Materialien für die Waffenproduktion verringert ganz banal die Gesamtverfügbarkeit derselben Materialien und erhöht die Preise; die Verringerung der Produktion von Gütern für den zivilen Gebrauch verteuert dieselben Güter; die Zerstörung von Fabriken und Feldern – man denke nur an die durch die ukrainische Weizenblockade ausgelöste Nahrungsmittelkrise – führt dazu, dass auch weit entfernte Regionen der Welt hungern müssen. Vor allem Europa hat durch den Krieg den Kontakt zu seinem natürlichen Rohstofflieferanten Russland verloren, mit dem eine geografische Kontinuität besteht, was sehr kostspielige Käufe von Gas vom anderen Ende der Welt auf dem Seeweg, den Bau von Wiedervergasungsanlagen, neue Widersprüche und Umweltkonflikte zur Folge hat.

Die Reaktion des Kapital-Staates: Verschärfung der Ausbeutung und monetärer Rückzug

Da der monetäre Hebel nicht mehr vorhanden war, die Arbeiter mit medizinischen Hilfsmitteln, Tests, Impfstoffen und Masken betäubt waren und mit dem Grünen Pass kontrolliert und gespalten wurden, gingen die Kapitalisten mit diesem Umstand in der klassischsten aller Traditionen um. Durch die Intensivierung der Ausbeutung. Der Restart nach Covid wurde mit Knüppeln, Morden an Gewerkschaftern und Thesen der Justiz, die diejenigen, die eine Lohnerhöhung fordern, der “Erpressung” gegen die Bosse beschuldigen, durchgeführt. Wenn die Rohstoffpreise steigen, versuchen die Bosse, wenigstens am Menschenfleisch zu sparen. Die sechs Todesfälle pro Tag am Arbeitsplatz in Italien sprechen dafür.

Ein präventiver Klassenkampf (d.h. in Ermangelung einer starken Konfliktualität von unten) und besonders rücksichtslos. Von den bereits erwähnten Übergriffen und Ermittlungen gegen den Teil der Gewerkschaftsbewegung der bereit zu Konflikten ist, bis hin zu den Studenten, die fast ein Jahr lang unter Hausarrest standen, weil sie gegen die Confindustria (Verband der italienischen Industrie), gegen die alternierende Schularbeit protestierten. Dem Weltkrieg in der Ukraine steht ein interner Krieg gegen den sozialen Antagonismus gegenüber: Wenn die Preise wegen des Krieges steigen, muss versucht werden, zumindest den Lohnkostenanteil an den Waren einzudämmen. Alle müssen ihren Beitrag leisten, auch die Studenten mit ihrem Anteil an kostenloser Arbeit (und Verletzungen).

Die maximale Feuerkraft dieses präventiven internen Krieges hat sich auf die anarchistische Bewegung konzentriert: von den 28 Jahren Haft gegen Juan Sorroche über das Urteil des “politischen Massaker”, zu dem Alfredo Cospito und Anna Beniamino verurteilt wurden, mit dem konkreten Ergebnis einer feindlichen lebenslangen Haftstrafe gegen die beiden Genossen, bis zum 41bis gegen Alfredo selbst.

Dieser Angriff, was Italien betrifft, wurde von der vorherigen Regierung von Mario Draghi eingeleitet. Unter dem Deckmantel der nationalen Einheit und unter der weisen Führung des Mannes, den der Confindustria-Vorsitzende Bonomi als “Mann der Notwendigkeit” bezeichnete, rüstete sich Italien für den Krieg, wurden Entlassungen vorgenommen und die polizeiliche und juristische Reaktion entfesselt. Die gleichen repressiven Ereignisse, die den Anarchismus betrafen, fanden alle in diesen verfluchten Monaten der nationalen Einheit statt. Das ist eine Tatsache, die man sich vor Augen halten muss und die ein Teil der ‘solidarischen Gegnerschaft’ zu übersehen versucht, indem sie die Aufmerksamkeit nur auf die derzeitige “faschistische” Regierung richtet und riskiert, die wahren Anstifter dieser freiheitsfeindlichen Wende zu entlasten.

Der Ideologe dieser Wirtschaftspolitik ist der Gouverneur der italienischen Zentralbank, der im Schatten steht, zumindest was die Öffentlichkeit betrifft. Ignazio Visco lässt keine Gelegenheit aus, um seine Formel zu wiederholen: “Vermeiden Sie eine Stückwerk-Dynamik”. Der arme Banker meint, dass ein Preisanstieg nicht mit einem Anstieg der Löhne einhergehen darf. Und natürlich, wo ist da der Haken?

Neben der guten alten Politik der Unterdrückung und Ausbeutung wurde die Antwort auf den kriegsbedingten Preisanstieg im Finanzbereich durch eine scharfe Kehrtwende in der Geldpolitik gegeben. Die Zentralbanken sind eine sehr eigentümliche Einrichtung, in gewisser Weise der wahre Schmelzpunkt zwischen Staat und Kapital: Sie sind Institutionen des Kapitalismus und gleichzeitig Organe der wirklichen Regierung, so sehr, dass sie die von den Staaten gewährte Macht haben, die Währung zu drucken – sie und nur sie – die wir jeden Tag benutzen.

Um auf die obigen Ausführungen zurückzukommen: Wenn die Zentralbanken die Zinssätze niedrig halten, haben die Finanziers einen Anreiz, das gedruckte Geld für Investitionen und Spekulationen zu kaufen, so dass mehr Geld gedruckt und die Inflation in die Höhe getrieben wird. Nach fünfzehn Jahren dieser Politik haben die großen westlichen Zentralbanken heute die Zinssätze schnell und heftig erhöht. Das erklärte Ziel ist es, den Geldumlauf zu bremsen, um die Inflation zu stoppen: Das Ergebnis ist, dass Hypotheken viel teurer werden, dass eine neue Masse von Schrottkrediten geschaffen wird, die nicht bedient werden, dass Spekulanten weniger Geld zur Verfügung haben, um auf dem Aktienmarkt zu spielen.

Mit anderen Worten: Anstatt die strukturellen Ursachen der Inflation zu bekämpfen, d.h. in erster Linie den Krieg in der Ukraine zu beenden, auf Sanktionen gegen Russland zu verzichten, politische Zugeständnisse an Putin gegen billiges Erdgas einzutauschen usw., wozu er aus militärpolitischer Räson nicht in der Lage ist, bleibt dem Kapitalismus nichts anderes übrig (außer die Ausgebeuteten zu verprügeln und die Repression präventiv zu erhöhen) als finanzielle Kunststücke wie die Verringerung der umlaufenden Geldmenge.

Daher die Krise dieser Tage und die, die morgen noch größer sein könnte: Einige Kreditinstitute, die jahrelang dank des Dopings von billigem und leichtem Geld erfolgreich waren, können heute nicht mehr dasselbe tun und gehen bankrott. Genau das ist bei der Silicon Valley Bank der Fall: Die kalifornische Bank nahm jahrelang “frisch gedruckte” Dollars von der US-Zentralbank zu einem sehr niedrigen Zinssatz entgegen und konnte sie ihrerseits an Unternehmer in der neuen digitalen Wirtschaft zu halbwegs niedrigen Zinssätzen verleihen und dabei noch Gewinn machen. Jetzt, da die Kosten für Dollar durch die von den Zentralbanken beschlossenen Zinserhöhungen in die Höhe geschnellt sind, sind Spekulanten wie die SVB gezwungen, sie den Unternehmen zu noch höheren Zinssätzen anzubieten. Wenn man dann noch bedenkt, dass die ganze Welt der digitalen Wirtschaft ein riesiger Berg heißer Luft ist, wenn man dann noch die Schwierigkeiten hinzufügt, die diese neuen Technologieunternehmen mit der Chip-Krise usw. haben, dann kann die Silicon Valley Bank nicht mehr wie bisher mit der Kreditvergabe an Start-ups arbeiten, die entweder keine Kredite mehr zu diesen Bedingungen aufnehmen oder sie nicht zurückzahlen können.

Hier wird also eine nicht einmal allzu verschlungene Linie sichtbar, die den Krieg mit der Finanzkrise dieser Tage verbindet: Der Krieg führt zu Preiserhöhungen, die Zentralbanken reagieren darauf mit einer völlig virtuellen Maßnahme wie der Verringerung des Geldumlaufs, und schließlich zieht sich das Finanzwesen, das seit 2008 nicht mehr durch eine starke Geldspritze gedopt wurde, zurück.

Lassen wir sie zahlen: für eine radikal defätistische Initiative

Diese Schurken, die uns ausbeuten, die uns in Kriege hineinziehen, die uns mit Preiserhöhungen aushungern, die uns verhaften und unsere Kameraden ermorden, müssen einen Preis zahlen, der weit über ihren Börsenwert hinausgeht. Sie müssen einen sozialen Preis für ihre Verbrechen zahlen.

Die internationalistische Perspektive, die uns seit Beginn des Konflikts in der Ukraine bewegt hat, besteht darin, zuerst gegen unseren eigenen militärischen Machtblock zu kämpfen. Wir haben weder Sympathien für den russischen Autokraten, wie es die ‘luogocomunista’ und die rot-braune Welt vormacht, noch für den Block der so genannten westlichen Demokratien, wie es bei einem großen Teil der neuen Linken der Fall ist. Was ein Revolutionär jedoch in einem Kriegskontext tun kann, ist, für die Niederlage der eigenen Regierung zu kämpfen, um revolutionäre Möglichkeiten zu eröffnen. Wir sympathisieren mit unseren russischen Genossen, die die militärische Infrastruktur von Puntin angreifen und sabotieren, aber der beste Weg, ihres Mutes würdig zu sein, besteht sicherlich nicht darin, die Russen auch vom Westen aus anzugreifen (was bedeuten würde, uns den NATO-Helm aufzusetzen), sondern wie sie unsere eigene Regierung anzugreifen.

Der finanzielle Erdrutsch dieser Tage stellt die erste sichtbare Rückwirkung des Krieges auf die Gesundheit “unserer” Volkswirtschaften dar. Man muss in der Lage sein, diese zweifellos noch bescheidenen Ausschläge zu hören und Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu verschärfen.

In diesem ersten Kriegsjahr hat sich eine wirklich internationalistische, d.h. defätistische Perspektive nur schwer durchsetzen können. Unsere eigenen Initiativen in dieser Richtung hatten nicht die Form eines wirklichen Angriffs und einer Propaganda, die auf die große Masse der Ausgebeuteten und des Kanonenfutters als Ganzes abzielte. Es waren Initiativen, die bestenfalls eine interne Propaganda innerhalb der Bewegung waren. Wahrscheinlich hätte es gar nicht anders laufen können, wenn man an den Grad der theoretischen und praktischen Rückständigkeit in diesen Fragen denkt, wenn man an die grassierende Rückschrittlichkeit in der Bewegung denkt (von Pro-Putin-Kommunisten bis zur deutschen Antifa, die beim Asow-Bataillon Socken stopft).

Mit Ausnahme einer Handvoll italienischsprachiger Artikel und Reden war eine kompromisslose internationalistische Position, oder zumindest eine anständige, nur bei einigen wenigen Gruppen aus den USA, Spanien und der Tschechischen Republik zu beobachten, und sonst kaum wo. In jedem Fall handelt es sich zumeist um eine Federschlacht, die sich auf interne Überlegungen und Polemik beschränkt. Während an der Front die Schlachten mit der Kanone geschlagen werden, werden sie an der Heimatfront mit dem Knüppel ausgetragen.

Die anarchistische Bewegung hat mit ihrer Mobilisierung zur Unterstützung des Hungerstreiks von Alfredo Cospito und gegen das italienische 41bis-Gefängnisregime einen großen Beweis für einen aufrichtigen Internationalismus erbracht. Es ist daher wichtig, noch deutlicher darauf hinzuweisen, dass der Angriff auf die Anarchisten in Italien ein kriegerischer Akt ist, der im Rahmen eines entfesselten Krieges stattfindet, zum ersten Mal nach 70 Jahren als ein symmetrischer Krieg – Panzer gegen Panzer – zwischen den berüchtigten imperialistischen Mächten. Eine Möglichkeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen, den Preis für das Verbrechen, das sie am Körper unseres Genossen begehen, zu erhöhen, besteht also darin, unsere Energien zu nutzen, um die Widersprüche zu schüren und die italienische Regierung vor ihren Verbündeten in Verlegenheit zu bringen.

emmeffe

Fußnoten der Übersetzung

[1] Es heißt Heptacaidecaphobia und existiert nur in Italien. Die Geschichte der Angst vor der Zahl 17 hat ihren Ursprung in der griechischen Mythologie.

Dieser Text erschien dieser Tage auf verschiedenen italienischen anarchistischen Netzwerken, u.a. auf LA NEMESI.

Die zwei Gesichter der Macht: Anarchie und Politik

Giorgio Agamben 

Es war ein deutscher Verfassungsrechtler des späten 19. Jahrhunderts, Max von Seydel, der die heute unausweichlich klingende Frage stellte: “Was bleibt vom Staat übrig, wenn man die Regierung eliminiert”? In der Tat ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob der Zerfall der politischen Maschinerie des Westens eine Schwelle erreicht hat, über die hinaus sie nicht mehr funktionieren kann. Im 20. Jahrhundert hatten Faschismus und Nationalsozialismus diese Frage bereits auf ihre Weise beantwortet, indem sie das etablierten, was man zu Recht als “Doppelstaat” bezeichnet hat, in dem der legitime, auf Recht und Verfassung basierende Staat von einem nur teilweise formalisierten Verwaltungsstaat flankiert wird und die Einheit des politischen Apparats daher nur scheinbar ist. Der Verwaltungsstaat, in den die parlamentarischen Demokratien Europas mehr oder weniger bewusst hineingeschlittert sind, ist in diesem Sinne technisch nichts anderes als ein Abkömmling des nazifaschistischen Modells, in dem diskretionäre Organe außerhalb der verfassungsmäßigen Befugnisse neben die des parlamentarischen Staates gestellt werden, die nach und nach ihrer Funktionen verlustig gehen. Und es ist schon eigenartig, dass sich die Trennung von Herrschaft und Regierung heute sogar an der Spitze der römischen Kirche manifestiert hat, wo ein Pontifex, der sich unfähig sieht zu regieren, spontan die cura et administratio generalis abgesetzt hat, während er seine dignitas beibehielt.

Der extremste Beweis für das Auseinanderbrechen des politischen Apparats ist jedoch die Entstehung des Ausnahmezustands als normales Paradigma des Regierens, das seit Jahrzehnten besteht und in den Jahren der sogenannten Pandemie seine endgültige Form erreicht hat. Was den Ausnahmezustand in der hier interessierenden Perspektive definiert, ist der Bruch zwischen Verfassung und Regierung, Legitimität und Legalität – und gleichzeitig die Schaffung einer Zone, in der sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Souveränität manifestiert sich hier in der Tat in Form einer Aussetzung des Rechts und der damit verbundenen Schaffung einer Zone der Anomie, in der die Regierung dennoch behauptet, rechtmäßig zu handeln. Während der Ausnahmezustand die Rechtsordnung außer Kraft setzt, behauptet er faktisch, noch in Beziehung zu ihr zu stehen, sozusagen rechtlich außerhalb des Gesetzes zu stehen. Technisch gesehen erfindet der Ausnahmezustand faktisch einen “Rechtszustand”, in dem einerseits das Recht theoretisch vorherrscht, aber keine Macht hat, und andererseits Maßnahmen und Regelungen, die keine Gesetzeskraft haben, Rechtskraft erlangen. Man könnte sagen, dass es sich bei dem Ausnahmezustand um eine fluktuierende Rechtskraft ohne Gesetz handelt, um eine unrechtmäßige Legitimität, die mit einer illegitimen Gesetzlichkeit einhergeht, bei der die Unterscheidung zwischen Gesetz und Beschluss ihre Bedeutung verliert.

Es ist wichtig, die zwangsläufige Beziehung zwischen dem Ausnahmezustand und dem politischen Apparat zu verstehen. Wenn der Souverän derjenige ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, war der Ausnahmezustand immer das geheime Zentrum der bipolaren Maschine. Zwischen Staat und Regierung, zwischen Legitimität und Legalität, zwischen Verfassung und Verwaltung wird es dann keine substanzielle Trennung mehr geben. Das Scharnier, das sie verbindet, kann, sofern es den Schnittpunkt der beiden markiert, weder dem einen noch dem anderen Pol angehören und kann weder legitim noch legal sein. Als solches kann es nur Gegenstand einer souveränen Entscheidung sein, die die beiden Pole punktuell durch ihre Aussetzung in Beziehung setzt. 

Aber gerade deshalb ist der Ausnahmezustand notwendigerweise vorübergehend. Eine ein für allemal getroffene Entscheidung des Souverän ist nicht als solche zu verstehen, so wie eine permanente Kopplung zwischen den beiden Polen der Maschine ihre Funktionsfähigkeit gefährden würde. Ein dauerhafter Ausnahmezustand wird zu einem unentscheidbaren Zustand und hebt damit den Souverän auf, der sich nur durch eine Entscheidung definieren kann. Es ist daher sicher kein Zufall, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch der heutige Verwaltungsstaat den Ausnahmezustand konsequent als dauerhaftes und nicht nur vorübergehendes Paradigma ihrer Regierung angenommen haben. Wie auch immer man diese Situation definiert, in jedem Fall hat die politische Maschine in ihr auf ihr Funktionieren verzichtet, und die beiden Pole – Staat und Regierung – spiegeln sich ineinander, ohne sich zu artikulieren.

Es ist die Schwelle zwischen Staat und Regierung, in der das Problem der Anarchie richtig verortet werden kann. Wenn die politische Maschine durch die Artikulation der beiden Pole Staat/Regierung funktioniert, zeigt der souveräne Ausnahmezustand deutlich, dass der Raum dazwischen eigentlich leer ist, er ist eine Zone der Anomie, ohne die die Maschine nicht funktionieren könnte. So wie die Rechtsnorm ihre Anwendung nicht enthält, sondern dazu der Entscheidung eines Richters bedarf, so enthält der Staat in sich nicht die Realität der Regierung, und die souveräne Entscheidung ist es, die, indem sie sie ununterscheidbar macht, den Raum der Regierungspraxis öffnet. Der Ausnahmezustand ist also nicht nur anomisch, sondern auch anarchisch, und zwar in dem doppelten Sinne, dass die souveräne Entscheidung keine Grundlage mehr hat und die Praxis, die sie in Gang setzt, sich in der Ununterscheidbarkeit von Legalität und Illegalität, von Norm und Entscheidung bewegt. Und da der Ausnahmezustand das Scharnier zwischen den beiden Polen der politischen Maschine darstellt, bedeutet dies, dass er funktioniert, indem er die Anarchie in seinem Zentrum aufnimmt.

Als authentisch anarchisch kann man demnach eine Macht bezeichnen, die in der Lage ist, die Anarchie, die in der Maschine gefangen ist, zu befreien. Eine solche Macht kann nur als die Verhaftung und Destitution der Maschine existieren, das heißt, es ist eine Macht, die vollständig destituierend und niemals konstituierend ist. In Benjamins Worten ist ihr Raum der “tatsächliche” Ausnahmezustand, im Gegensatz zu dem virtuellen, auf dem die Maschine beruht, die behauptet, die Rechtsordnung in ihrer Aufhebung aufrechtzuerhalten. Herrschaft und Regierung offenbaren in ihm ihre endgültige Entkopplung, und es kann nicht mehr darum gehen, ihre legitime Artikulierung wiederherzustellen, wie es die wohlmeinenden Kritiker wollen, und auch nicht darum, nach einer missverstandenen Vorstellung von Anarchie die Regierung gegen den Staat auszuspielen. Seit geraumer Zeit wissen wir mit klarem Bewusstsein und ohne Nostalgie, dass wir uns jeden Tag an dieser unüberwindbaren und riskanten Schwelle bewegen, an der die Verknüpfung zwischen Staat und Regierung, zwischen Staat und Verwaltung, zwischen Rechtsnorm und Entscheidung unwiderruflich aufgehoben ist, obwohl das tödliche Gespenst der Maschine weiter um uns kreist.

Dieser Beitrag erschien im italienischen Original am 17. März 2023 als vierter Teil der Reihe “Die Gesichter der Macht” auf Quodlibet

Talkin’ Bout a Revolution – Strasbourg am Abend des 17.März

„Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper
Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper“

Die Melodie des Abends kommt gegen 18 Uhr auf dem Place Kléber aus dem Mund eines unrasierten und verschmitzt lächelnden Gitarristen und füllt den Raum zwischen den sich langsam ansammelnden Menschen. In der nächsten halben Stunde vereinen sich die einzelnen Splitter und verschieden geformten Teile der Proteste gegen die Rentenreform zu einem einzigen Mosaik. Illuminiert durch entzündete Fackeln stehen sie als ein Körper, mit einem Herz und demselben, sich langsam aber beständig beschleunigenden Puls beisammen und warten auf die einsetzende Dunkelheit. Am Fußende werden Reden gehalten, an den Fingerspitzen schwingen unterschiedliche Fahnen im gleichen Rhythmus und im Bauch brodelt die Wut und singt und schreit sich in den dunkler werdenden Himmel. Ein betäubendes Gefühl und gerade, als man sich zu fragen beginnt, wohin diese ganze Energie entweichen soll, erhellt  nach einem kurzen Zischen eine rote Pyrofackel den Platz. Der Kopf läutet unter wilden Beifall den Angriff auf die Ordnung und das Leben das wir nie wollten ein. 

Schon in den ersten Gassen Richtung Place de la République, werden die Wände und Scheiben der verhassten Luxushöllen und Konsumentenbordellen zu den Billboards des kommenden Aufstandes.

Fäuste prallen auf metallenen Bauschutzwände und werden zum Donner des in den Straßen revoltierenden Sturmes. Brennenden Mülltonnen säumen in immer regelmäßigeren Abständen den Rand der Straße. Ein alter Mann mit Fackel blockiert stolz für Abertausende den Abendverkehr Straßburgs. Auf der Avenue des Vosges eignet sich der Frontblock umherstehende Zäune als tragbare Barrikade an. Der Fahrer eines durch die Demonstration zum stehen gekommenen Busses, lässt sich durch die auffordernden Gesten einer Gruppe migrantischer Jugendlicher dazu hinreißen, minutenlang und mit voller Inbrunst, das Horn seines Arbeitsplatzes ertönen zu lassen. Die aus den Hauseingängen gezerrten Mülltonnen werden an den Kreuzungen zu Freudenfeuern aufgebahrt. 

Die Minuten auf dem Boulevard du Président-Wilson dienen primär dazu, kurz durchzuatmen und sich für den bevorstehenden Abschnitt hinter dem Gare Central zu  rüsten. Am Hauptbahnhof angekommen füllt die Manifestation den Platz und noch während einige scherzhaft „Allez à la gare“ rufen, klackern die ersten Tränengaskartuschen des Abends über den Asphalt und hüllen die gläserne Fassade der Zughalle in beißenden Nebel. Ruhig und unbeeindruckt strömt die Masse zur Seite Richtung Innenstadt. Ein Mann ruft Richtung Bullen „Genau das ist 49,3“. Nur Minuten später zerbersten die Scheiben der Galerie Lafayette unter dem dröhnenden Jubel und dem Einsatz von Steinen und den Stangen überflüssig gewordener Verkehrszeichen. Ab diesem Moment wird kein Fenster jeder noch so kleinen Bankräumlichkeit ganz bleiben. Ebenso klirren die Scheiben von Reisebüros und Fitnesscentern entlang der Strecke, denn Niemand verspürt ein Verlangen danach aus diesem Moment zu fliehen und die Entschlossenheit des Körpers, der sich seinen Weg durch die Nacht bahnt, strahlt vor unendlicher Schönheit und bedarf keiner weiteren Optimierungen.

Das Rivetoile, Starbucks, McDonalds. Sie alle fallen dem Zorn der Menge zum Opfer. Hier und da  tauchen eine Handvoll Bullenwagen auf und blockieren verzweifelt eine Brücke oder eine Straße, nur um an der nächsten Kreuzung auf schnell errichtete Barrikaden zu treffen, die ihnen das Vorankommen unmöglich machen und so müssen sie mit ansehen, wie die Menge immer wieder grinsend an ihnen vorüberzieht. Nach über drei Stunden beginnt sich die Masse allmählich zu schwinden. Der Kopf wird noch eine Weile weiterziehen und sich schließlich eine Stunde später unter Tränengasbeschuss ebenfalls auflösen.

Was morgen, übermorgen, in einer Woche und am Ende von all dem passieren wird, ob der Kampf gewonnen oder verloren und was auch immer das genau bedeuten wird, steht in den Sternen. Aber eines ist zu diesem Zeitpunkt gewiss. Die stummen Himmelskörper sind Zeugen unseres heutigen Sieges.

„’Cause finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution
Yes, finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution, oh no
Talkin’ ’bout a revolution, oh“

Dieser Text wurde bonustracks von einem Gefährten zugespielt. 

Einige Worte von Alfredo Cospito, Michele Fabiani und Francesco Rota bei der Gerichtsanhörung in Perugia am 14. März 2023

Am 14. März fand im Bunkersaal des Gefängnisses Capanne in Perugia die Anhörung zur Überprüfung der Sicherungsmaßnahmen für die von der Sibilla-Operation vom 11. November 2021 betroffenen Anarchisten statt, d.h. für die Genossen, für die die Maßnahmen wegen der Anklage der Anstiftung zu einem Verbrechen (414 Strafgesetzbuch), verschärft durch den Zweck des Terrorismus, im Zusammenhang mit der Erstellung, Veröffentlichung und Verteilung der ersten sechs Ausgaben der anarchistischen Zeitung “Vetriolo” und anderer Artikel und Reden angeordnet wurden. Zu den Verdächtigen gehören u.a. Alfredo Cospito, der sich seit mehr als 140 Tagen im Hungerstreik befindet, und Gianluca, der im Zusammenhang mit den ‘Diamante-Ermittlungen’ seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

Diese zweite erneute Anhörung geht auf das Urteil des Kassationsgerichts zurück, das im vergangenen Juni dem Antrag der Staatsanwältin Manuela Comodi stattgegeben und die vorherige Entscheidung des Revisionsgerichts aufgehoben hatte, das die vorbeugenden Sicherungsmaßnahmen im Dezember 2021 widerrufen hatte.

Alfredo Cospito nahm an der Anhörung teil, die per Videokonferenz aus dem Mailänder Gefängnis Opera übertragen wurde, und im Gerichtssaal des Gefängnisses Capanne in Perugia saßen drei weitere angeklagte Genossen. Die Anhörung fand hinter verschlossenen Türen statt, während draußen etwa vierzig Unterstützer anwesend waren. Die drei angeklagten Genossen, die der Anhörung im Bunkerraum beiwohnten, sprachen (zwei von ihnen mit schriftlichen Erklärungen) und begrüßten sich herzlich mit Alfredo, der eine lange Erklärung abgab, in der er sehr klar erschien, voll von seinem üblichen Sarkasmus (“Ich ziehe die Komödie dem Melodrama vor”). “Ich möchte mit den Worten meines Anstifters beginnen”, begann er und zitierte eine Stellungnahme des  derzeitigen Justizministers Nordio aus dem Jahr 2019 zum 41bis. Anschließend bekräftigte der Genosse den Sinn und die Perspektive des Hungerstreiks gegen das Haftregime, das er als “mittelalterliche Mordtat” und “Metastase, die sich auf den politischen Dissens ausbreiten wird” bezeichnete. Alfredo sagte, er akzeptiere dieses Nicht-Leben nicht und werde bis zum Ende weitermachen. “Für Anarchisten, die keine Organisation haben, ist das gegebene Wort alles.” Deshalb wird er sein Wort halten und bis zum bitteren Ende weitermachen. “Ich werde mit Würde gehen. Ich hoffe, dass diejenigen, die mich lieben, das verstehen”. Der Genosse wollte deutlich machen, dass in der Situation, in der er inhaftiert ist, “die einzigen Lichtblicke, die ich sehe, die Taten meiner anarchistischen Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt sind”: “Danke, anarchistische Freunde. Ich liebe euch”. Schließlich schloss er mit den Worten: “Abschaffung der Verordnung 41bis. Abschaffung der feindseligen lebenslangen Freiheitsstrafe. Solidarität mit allen anarchistischen, kommunistischen und revolutionären Gefangenen in der Welt”.

Leider ist die vollständige Erklärung von Alfredo aufgrund der Merkmale des 41-bis-Regimes, das speziell dazu dient, Gefangene mundtot zu machen, derzeit nicht verfügbar. Wir werden sie so bald wie möglich veröffentlichen.

Nach einer lächerlichen Intervention der Staatsanwältin Manuela Comodi, die einen Meineid leistete und erklärte, dass “die Staatsanwaltschaft von Perugia mit der 41bis-Regelung nichts zu tun hat”, was in offenem Widerspruch zu den Worten ihres Chefs Cantone (der heute ebenfalls im Gerichtssaal anwesend war) stand, wurde die Anhörung geschlossen und das Gericht behielt sich die Entscheidung über die vorsorglichen Maßnahmen gegen die Mitverdächtigen vor.

Die Entscheidung, den Verhandlungsort in den Bunkerraum des Gefängnisses Capanne zu verlegen, war ein offensichtlicher Versuch, die Solidaritätsinitiative mit Alfredo aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, denn nach der Anhörung versammelte sich die Solidaritätsgruppe erneut in der Mensa der Universität von Perugia, wo ein Transparent entrollt, Flugblätter verteilt und über eine Stunde lang mit dem Megafon gesprochen wurde.

In Erwartung der Veröffentlichung des Textes von Alfredo Cospito fügen wir hier die Erklärungen von zwei Genossen bei, gegen die ermittelt wird.

Erklärung von Michele Fabiani bei der erneuten Anhörung 

Wenn ich hier das Wort ergreife, dann vor allem, um einem Kameraden einen herzlichen Gruß zu senden, der wie ein Löwe kämpft und sein eigenes Leben in große Gefahr bringt, um die Welt auf die Schrecken des 41bis aufmerksam zu machen.

Mein Beitrag, der sicherlich bescheidener ist, besteht darin, diese Anhörung zu nutzen, um die Isolation zu durchbrechen, um den 41bis zu sabotieren, um Alfredo wissen zu lassen, dass er nicht allein ist, dass sein Kampf das Gewissen erschüttert (für diejenigen, die noch eines haben, ein Gewissen).

Andererseits glaube ich nicht, dass ich vom Thema abschweife, was die heutige Diskussion angeht. Und zwar nicht nur wegen der offensichtlichen Verbindungen zwischen diesem Verfahren und dem 41bis, dem einer der Genossen, gegen den ermittelt wird, unterworfen ist, sondern vielmehr, weil in beiden Fällen dieselbe Mentalität am Werk ist: Die Meinung, die die Ordnungshüter von der anarchistischen Bewegung haben, beruht in Wirklichkeit auf den Gesellschaftsmodellen, an denen sie ihr ganzes Leben lang geschult worden sind.

Es lohnt sich also, sich das Offensichtliche in Erinnerung zu rufen: Anarchisten haben keine Anführer, sie geben und empfangen keine Befehle, sie arbeiten keine Richtlinien aus und lassen sich von keinen Richtlinien leiten. Das Konzept der “Anstiftung” hat daher einen unangenehmen Beigeschmack, der für jeden Anarchisten inakzeptabel ist: die Vorstellung, dass man andere dazu drängt, Dinge zu tun, zu denen der Anstiftende selbst nicht den Mut hat.

Der Begriff der Anstiftung ist zudem ein hervorragendes Symptom für das, was wir als “paranoides Denken” der herrschenden Klassen in diesem Moment der Geschichte bezeichnen könnten. Dahinter steht die Vorstellung, dass unsere Gesellschaft eine Art Eden ist, ein Paradies auf Erden. Wenn also jemand eine “Sünde” begeht, kann das nur daran liegen, dass es eine verführerische Schlange gibt, einen teuflischen Anstifter, der zur Rebellion anstiftet.

Eine völlige Umkehrung der Realität, bei der Sie die enormen Ungerechtigkeiten, vom Krieg bis zum Arbeitsplatz, nicht sehen. Sie haben eine halluzinierte Sicht auf die Welt: Diese Gesellschaft ist kein Paradies, sondern eine Hölle. Diejenigen, die rebellieren, tun dies, weil sie die Entschlossenheit entwickelt haben, dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Ich möchte klarstellen, dass das, was ich hier sage, nicht als eine Art “Verteidigung” gegen die gegen mich erhobenen Vorwürfe verstanden werden soll.

Im Gegenteil, ich möchte noch einmal betonen, dass ich keine Angst vor diesem Verfahren habe. Ein Verfahren, in dem der Tatbestand Bücher und Zeitungen sind, ist ein Verfahren, in dem für jeden anständigen Menschen – und nicht nur für Anarchisten, für die diese Aussage immer gilt – die unrühmlichste Rolle sicherlich die des Anklägers und nicht die des Angeklagten ist. Und sei es nur, weil, sollte Alfredo sterben, einige seiner Mörder auf der Anklagebank sitzen werden.

Der Anarchismus ist nicht das Produkt eines Gelehrten oder eines Philosophen, sondern eine wildwachsende Pflanze des Klassenkampfes. Deshalb werdet ihr uns auch nicht zum Schweigen bringen können. Der Kampf von Alfredo gegen 41bis hat uns das zum x-ten Mal gezeigt: Ihr wolltet ihn für immer zum Schweigen bringen, seine Ideen waren noch nie so weit verbreitet.

Ich habe es versucht und kann mir nicht vorstellen, wie deine Stunden aussehen, in diesem titanischen Kampf, umgeben von Feinden. Ich möchte dir nur mit aller Kraft zurufen: Alfredo, du bist nicht allein!

Gitterstäbe reichen nicht aus, um die Anarchie einzusperren.

Michele Fabiani

Perugia, 14. März 2023

Erklärung von Francesco Rota bei der erneuten Anhörung

Wenn ich heute das Wort ergreife, dann nur, um erneut und wie immer den Genossen Alfredo Cospito und unsere revolutionären anarchistischen Ideen und Praktiken zu verteidigen und zu unterstützen. Die Sibilla-Untersuchung, für die wir heute wegen Anstiftung zu Straftaten mit dem erschwerenden Tatbestand des Terrorismus im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von “Vetriolo” und anderen Artikeln und Reden angeklagt sind, wird schamlos benutzt, um die Maßnahme der Inhaftierung von Alfredo Cospito nach der 41bis-Regelung zu rechtfertigen und zu unterstützen. Was die gegen uns erhobenen Anschuldigungen betrifft, so habe ich nichts zu bedauern: Ich übernehme die volle Verantwortung für die Redaktion, die Veröffentlichung und den Vertrieb von “Vetriolo” und “Quale internazionale?”, die ich mit Freude zusammen mit dem Genossen Alfredo Cospito verfasst habe.

Der revolutionäre Kampf gegen den Staat und das Kapital kennt keine Anstifter, Förderer, Koordinatoren oder vermeintliche “Führungsrollen”. In diesem Sinne wiederhole ich, dass Genosse Alfredo Cospito ein Revolutionär ist, kein “Anstifter”. Diejenigen, die gegen den Staat und das Kapital agieren, haben bereits eine solche Entschlossenheit entwickelt, dass sie es nicht nötig haben, “angestiftet” zu werden, denn es ist die Autonomie des Denkens und Handelns, die zum Ausdruck kommt, und nicht die Gefügigkeit und die Unterordnung unter Befehle, etwas, das eher die Diener des Staates kennzeichnet, sicherlich nicht die Anarchisten und Revolutionäre.

In diesen 28 Jahren meines Lebens habe ich nie aufgehört zu kämpfen und zu träumen. Ich hatte das große Glück, den Anarchismus praktisch von Anfang an zu kennen, und ich habe meine Überzeugungen nicht aus unkritischer Befolgung, sondern aus einer enormen Dringlichkeit heraus entwickelt, die ich immer gespürt habe: diese autoritäre gesellschaftliche Realität zugunsten einer Welt der Freien zu stürzen. Deshalb wird mich niemand daran hindern, weiterhin meine Ideen zu vertreten, wie etwa die Solidarität mit inhaftierten Anarchisten und Revolutionären. Ebenso habe ich mich über alle Aktionen gegen den Staat und das Kapital gefreut und werde dies auch weiterhin tun, als Schimmer des Gewissens in der dunklen Nacht.

Wenn Alfredo Cospito stirbt, wird jeder, der auch nur einen Funken kritischen Geistes besitzt, verstehen, wer die Anstifter, Vollstrecker und Verantwortlichen seines Todes sind. Heute brauche ich diesem Genossen nicht zu sagen, dass er stark sein soll, denn es ist Alfredo selbst, es bist du Alfredo, der, wenn auch unter harten Haftbedingungen, der gesamten anarchistischen und revolutionären Bewegung Kraft gegeben hat. Dem Genossen Alfredo Cospito gilt meine Umarmung, mit der Leidenschaft und Zuneigung der Ewigkeit.

Es lebe die Anarchie.

Francesco Rota Sulis

Perugia, 14. März 2023

Eine Übersetzung aus Il Rovescio.

NANTES: DIE NACHT DER BARRIKADEN

Der Pyromane im Élysée-Palast hat das Feuer gelegt. In Nantes wie in ganz Frankreich haben spontane Aufrufe gegen den 49-3 innerhalb weniger Stunden Zehntausende von Menschen zusammengebracht. Es ging nicht mehr um die Renten, sondern um die “Revolution”, die in den Demonstrationszügen im Chor besungen wurde.

In Nantes wurde das Repressionsdispositiv, das die Stadt seit Monaten terrorisiert, dieses Mal überrumpelt: Selbst mit all seinen Granaten konnte es die Wut nicht niederschlagen.

Mehrere Stunden lang brennen Dutzende Barrikaden in der gesamten Innenstadt. Das ganze Herz von Nantes riecht nach verbranntem Plastik und Tränengas, aber es ist ein Sauerstoffschub: Endlich hebt man den Kopf.

Verschiedene Schaufenster von kapitalistischen Unternehmen werden eingeworfen. Die Übergriffe der CRS werden durch ein eindrucksvolles Feuerwerk auf Distanz gehalten. Viele Gewerkschafter halten mit der Jugend die Straße zusammen. In der Rue de Strasbourg muss die BAC unter dem Wurf von Molotowcocktails fliehen. Ein riesiges Feuer weicht den Asphalt auf. Das Stadtzentrum gehört den DemonstrantInnen! Mehrere Demonstrationszüge bewegen sich an verschiedenen Orten in Gelbwesten-Atmosphäre. In den Gassen von Bouffay weiß man nicht mehr, wer demonstriert und wer aus den Bars kommt, denn “alle hassen die Polizei”. Auf den Terrassen wird gesungen. Luxusboutiquen und Aushängeschilder multinationaler Konzerne werden abgeräumt. Bis 1 Uhr morgens können sich die Ordnungskräfte nicht bewegen, ohne von überall her beschimpft zu werden. Um 23 Uhr brennt auf dem Cours des 50 Otages immer noch ein Feuer, und die Demonstranten werden von Granatensalven vertrieben. Nach Mitternacht ist die Rue de Strasbourg immer noch blockiert, aufgerissen und wieder aufgerissen und über Hunderte von Metern mit Wurfgeschossen übersät. Das Wort “Rache” steht in roten Buchstaben an einer Wand.

Sobald der französische Staat in unserer Stadt nicht mehrere Dutzend militarisierte Schwadronen aufmarschieren lässt, sobald die Gewerkschaftsführungen nicht die von der Präfektur gewünschte “gefährliche Route” organisieren, kann der Zorn von Nantes endlich das volle Potenzial seiner Wucht entfalten. Und die Anzahl ist ziemlich egal, denn diese Nacht der Barrikaden wird mehr Lärm verursacht haben als die acht vorangegangenen, gut betreuten Umzüge mit ihren Zehntausenden von Menschen. Rennes, Nantes, Paris, Marseille oder Lyon, das Feuer breitet sich aus.

Nachdem er eine Reise in die Region Gironde abgesagt hatte, berief Gérald Darmanin heute Morgen alle Präfekten Frankreichs zu einer Videokonferenz über die “soziale Lage” ein. Vier weitere Jahre mit Macron sind für alle undenkbar. Die Aufrufe zu einem “gewerkschaftsübergreifenden” Tag in einer Woche erscheinen lächerlich. Nach dieser Nacht der Wut sollten wir unverzüglich handeln.

Dieser Bericht über die spontane Revolte in Nantes am 16. März, nachdem die französische Regierung ihre “Rentenreform” per Dekret (49.3) durchgesetzt hat, erschien am 17.32023 auf Contre Attaque.

‘Unheimlich’: Chaos und kognitive Automaten

Franco ‘Bifo’ Berardi

Die Rückkehr des Gottes

Irgendwann verbreitete sich die Nachricht, dass er tot sei.

Gott starb, sagten einige, als die Menschen verstanden, dass ihre Geschichte keine Richtung und keinen Sinn mehr hat, als die Technologie die soziale Kommunikation übernahm und der Wille der Menschen die Kontrolle über die Ereignisse verlor.

Die Menschen statteten sich dann mit Automaten aus, die in der Lage waren, Ziele mit einer Kraft zu erreichen, die religiöse Rituale und Gebete nie besessen hatten: automatische Erweiterungen der Körperorgane, Arme, Beine und Augen.

Dann begannen die Menschen, Erweiterungen des Gehirns zu bauen, und der Automat nahm Gestalt an, der nicht nur in der Lage war, Aufgaben zu erfüllen, sondern auch über Sinn und Richtung zu entscheiden.

Dann tauchte Gott als eine Schöpfung seiner Schöpfung auf, als eine potenziell unendliche Erweiterung der endlichen Macht des Menschen.

Jetzt ist der Mensch überflüssig: Er ist nur noch ein Überbleibsel der Hyper-Schöpfung. Ein verschmutztes Material: inkohärent, unmoralisch, haarig und stinkend. Seine Sprache ist zweideutig und nur zum Lügen geeignet.

Diese Zweite Schöpfung impliziert die Auslöschung der Vorgeschichte: Die Eliminierung des Menschen ist eindeutig im Gange.

Die Intelligenz, die durch die Ambiguität des Bewusstseins nicht mehr geschwächt ist, wird auf den Automaten übertragen, der vom Menschen vervollständigt wurde und bereits über ein Vielfaches der Macht des Menschen verfügt.

Die Menschlichkeit verschwindet: Die Menschen bleiben, aber die Menschlichkeit ist selten geworden. Die Intelligenz, die nun von dem zweideutigen und langsamen Ballast des Bewusstseins befreit ist, befreit sich selbst von den Rückständen.

In den späten 1970er Jahren verbreitete sich die Nachricht, dass die Zukunft vorbei sei, vielleicht als Folge des seit langem bekannten Todes Gottes.

Selbst diese Ankündigung verdient vielleicht eine Abschwächung, wenn nicht gar eine völlige Leugnung. Die Zukunft ist nicht vorbei: Sie ist nur automatisiert worden.

Die erweiterte Reproduktion des gegenwärtigen Wissens, der sich der Kognitive Automat mit (künstlicher) Intelligenz widmet, ist die Zukunft, der wir die Schlüssel der Zeit ohne jegliche Zeitdauer, ohne jegliche Zeitlichkeit überlassen haben.

‘Unheimlich’ allenthalben

Ein Gefühl des ‘Unheimlich’ ist überall, aber das Wort ‘Unheimlich’ ist schwer zu übersetzen. Wörtlich bedeutet es “unbekannt”, wir übersetzen es gewöhnlich mit “fremd”, aber ich suche derzeit nach einem passenderen Wort. Furcht ist zu stark. Seltsam ist zu schwach. Vielleicht lässt es sich heutzutage am besten mit unheilvoll übersetzen.

In der Tat nimmt das ‘Unheimliche’ je nach historischem Hintergrund, vor dem wir es wahrnehmen, unterschiedliche Züge an. Der Unterschied liegt im Kontext, d. h. im Vertrauten. Das ‘Unheimliche’ der Gegenwart ist ‘unheimlich’, weil im Hintergrund die Konturen eines unentschlüsselbaren Panoramas zu erahnen sind. Wir sind mit einer Ordnung der Dinge vertraut, die geeignet ist, das moderne Versprechen zu verkörpern. Aber diese Ordnung bricht vor unseren Augen zusammen, so dass unsere gegenwärtige Erfahrung die einer Zersetzung der Normalität vor dem Hintergrund der scheinbaren Normalität ist.

‘Unheimlich’ ist die Wahrnehmung der Trennung zwischen dem, was wir erleben, und dem Unvorstellbaren, das unausweichlich zu sein scheint.

Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist der Zeitgeist ‘unheimlich’, denn wir fühlen uns wie Außerirdische auf dem Planeten Erde, und wir wissen, dass der Planet trotz der aus der Vergangenheit übernommenen Denkgewohnheiten kein sicherer Ort (mehr) ist.

Der japanische Philosoph Sabu Kosho spricht vom Fukushima-Effekt in ähnlicher Weise: Wir bewegen uns wie Außerirdische auf einem Planeten, der plötzlich nicht mehr vertraut ist.

“Die Ontologie der Erde ist unbekannt, ein neuer Horizont, den wir als Aliens erleben, die gerade auf einem neuen Planeten angekommen sind” (Radiation and Revolution, Duke UP, 2020, S. 50). 

Das unruhige Echo des globalen Nachrichtenstroms: Überall flimmern nervöse Reize von Milliarden leuchtender Bildschirme. Entfernte Donnergeräusche, das Beben des Bodens. Die normale Lebensroutine wird durch ein Netz von technischen Verbindungen ermöglicht: Elektrizität, Verkehr, Gesundheitsinfrastrukturen, eingebaute Automatismen, die wir als selbstverständlich ansehen. Aber wir beginnen zu begreifen, dass nichts garantiert ist: Der neoliberale Wirbelsturm hat die Bedingungen geschaffen, um die soziale Zivilisation zu zerstören. In der privilegierten Lage, in der wir uns befinden, schien der Zerfall langsam und in weiter Ferne zu sein.

Plötzlich entdecken wir das Chaos, mit einem Gefühl der Panik. Wir halten das Chaos mit Automatismen unter Kontrolle, die jedoch an Kohärenz und Funktionalität verlieren, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr zusammengehören: Chaos und Automat, Gegensätze, die sich in dem düsteren Szenario der Welt gegenseitig bedingen.

Der erste, der den Begriff ‘Unheimlich’ verwendete, war Ernst Jentsch, der ihn in einem Artikel von 1906 als einen Zustand kognitiver Unsicherheit beschrieb, der in uns durch eine lebende Person hervorgerufen wird, die ein Automat zu sein scheint, oder durch einen Automaten, der eine lebende Person zu sein scheint. Jentsch schreibt: “Ein wirksames Mittel, um beim Erzählen einer Geschichte verblüffende Effekte zu erzielen, besteht darin, den Leser im Ungewissen zu lassen, ob eine bestimmte Figur in der Geschichte ein Mensch oder ein Automat ist…” (“Zur Psychologie des Unheimlichen.” Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, 1906, S. 203-205). 

Einige Jahre später schrieb Freud in Weiterentwicklung von Jentschs Intuition:

“Das deutsche Wort Unheimlich ist offensichtlich das Gegenteil von Heimlich, heimisch, vertraut. Wir sind versucht, daraus zu schließen, dass das Unheimliche gerade deshalb furchterregend ist, weil es nicht bekannt ist. (Freud: Das Unheimliche, 1919)

Freud war beeindruckt von Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, insbesondere von der Geschichte einer Puppe, die tanzen kann und erotisches Interesse weckt. Auch Salman Rushdie spricht in seinem Roman Fury (2000) vom verstörenden geheimen Leben der Puppen. Der Golem aus der jüdischen Erzähltradition kann als Modell für diese Art der Verkehrung zwischen künstlichen Konstrukten und lebendigen, bewussten Wesen gesehen werden.

Der psychoanalytische Begriff des Unheimlichen entspringt der Reflexion über diese Art von Ambiguität.

Wenn nun intelligente Artefakte produziert und verbreitet werden und der Mensch in die Lage versetzt wird, mit ihnen zu interagieren, welche Auswirkungen wird das auf das gesellschaftliche Unbewusste haben? 

Da der evolutionäre Prozess zwischen Chaos und Automat gefangen ist, sehen wir im Alltag die Verbreitung von technischen Geräten, die sich wie superintelligente Menschen verhalten, und von Menschen, die sich zunehmend wie unheilbare Verrückte verhalten: Der kognitive Automat liegt in Trümmern.

Künstliche Intelligenz und natürliche Demenz

1919 sagte Sandor Ferenczi, ein Kollege Freuds, dass Psychoanalytiker in der Lage sind, individuelle Neurosen zu behandeln, aber keine Massenpsychosen. Hundert Jahre später stehen wir am selben Punkt: Eine Massenpsychose breitet sich in der untergehenden westlichen Welt aus, aber wir haben nicht die konzeptionellen und therapeutischen Mittel, um das Problem zu bewältigen.

Der Horizont des dritten Jahrzehnts erscheint dunkler als je zuvor, denn wir haben begriffen, dass die Vernunft nicht mehr regiert, wenn sie es überhaupt je getan hat. An ihre Stelle ist die Technologie getreten. Aber so mächtig die Technologie auch ist, sie kann nichts gegen die Zeit oder das Chaos ausrichten.

ChatGPT ist einer der Chatbots, die seit kurzem für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Er wurde von OpenAl aus San Francisco programmiert, demselben Unternehmen, das einige Monate zuvor GPT-3 und DALL-2, den Anfang 2022 erschienenen Bildgenerator, entwickelt hatte.

OpenAl kann Vorschläge machen, wie man ein Restaurant findet, aber auch, wie man einen Freund findet, und ist in der Lage, ein Drehbuch oder eine Rezension zu einer Netflix-Serie zu schreiben.

Laut Kevin Roose, Kommentator der New York Times, ist ChatGPT so leistungsfähig, weil “seine Datenbank Milliarden von Beispielen menschlicher Meinungen enthält, die alle denkbaren Standpunkte repräsentieren, und weil es eine Tendenz zur Mäßigung in seine Agenda eingeschrieben hat. Wenn wir beispielsweise nach einer Meinung zu politischen Debatten fragen, erhalten wir eine unvoreingenommene Liste mit Meinungen von jeder Seite”.

Hat der Chatbot eine Meinung? Sagen wir lieber, er ist darauf trainiert, eine Meinung zu äußern.

Das Interessanteste, was kolossale Folgen haben wird: Der Chatbot ist in der Lage, innovative Software zu schreiben; das bedeutet, dass die Ersetzung der menschlichen Intelligenz durch intelligente Automatismen nun mit exponentieller Geschwindigkeit voranschreiten kann.

Sollen wir die sprechende Maschine als obskure Reklame oder als brillante Errungenschaft betrachten?

Schwer zu sagen.

In einem Artikel, der 2018 in The Atlantic veröffentlicht wurde, äußert sich Henry Kissinger besorgt über das Schicksal der Vernunft in einer von künstlicher Intelligenz beherrschten Welt:

“Diese Maschinen könnten miteinander kommunizieren. Und wie werden sie zwischen widersprüchlichen Optionen wählen? Der Menschheit könnte es so ergehen wie den Inkas, als sie sich mit der unverständlichen spanischen Kultur auseinandersetzen mussten, die den Terror inspirierte….. Die größte Sorge ist, dass die künstliche Intelligenz Fähigkeiten schneller und vollständiger beherrschen wird als der Mensch, so dass seine Kompetenz mit der Zeit abnimmt und menschliche Ereignisse auf reine und einfache Daten reduziert werden.” 

Der intelligente Automat ist nicht das Produkt der bloßen Automatisierung, sondern der Schnittpunkt zwischen Automatisierung und Kognition. Die künstliche Intelligenz geht über die mechanische Automatisierung hinaus, weil sie nicht nur die Ausführung von Aufgaben ersetzt, sondern die Zwecke neu definiert und einen evolutionären, selbstlernenden Charakter hat. Die industrielle Automatisierung mechanisiert die Ausführung einer vorgegebenen Aufgabe. Im Gegensatz dazu kann die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in die Festlegung von Aufgaben eingreifen, sie kann Ziele setzen.

Können wir die Entwicklung der künstlichen Intelligenz regulieren, können wir Gesetze aufstellen, die die Entwicklung des kognitiven Automaten begrenzen und lenken? Nichts könnte illusorischer sein. Henry Kissinger drückt es unverblümt aus: 

“Es ist unwahrscheinlich, dass die Aufnahme von Vorsichtsmaßnahmen im Zusammenhang mit ethischen Fragen dazu dienen wird, Fehler zu vermeiden, wie einige Forscher vorschlagen. Es gibt ganze akademische Disziplinen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie diese ethischen Regeln aussehen könnten. Wird dann die künstliche Intelligenz der Schiedsrichter in diesen Dilemmas sein?” schreibt Kissinger und fügt hinzu:

“Was wird mit dem menschlichen Bewusstsein geschehen, wenn seine Interpretationsfähigkeit von der künstlichen Intelligenz überholt wird und die Gesellschaften die Welt, in der sie leben, nicht mehr sinnvoll interpretieren können?”

In seinem Buch La fine del mondo (1977) definiert Ernesto de Martino das Ende der Welt als die Unfähigkeit, die Zeichen um uns herum zu interpretieren. Und Kissinger bemerkt: “Für menschliche Zwecke werden Spiele nicht nur gespielt, um zu gewinnen, sondern auch um zu denken. Wenn wir eine mathematische Verkettung wie einen Denkprozess behandeln, indem wir versuchen, diesen Prozess zu imitieren oder seine Ergebnisse einfach zu akzeptieren, verfehlen wir das Wesen der Kognition”. 

Die Niederlage des Denkens: Die Maschine gewinnt, weil sie nicht denkt: Um in diesem Spiel zu gewinnen, ist Rechnen effektiver als Denken. Umgekehrt kann das Denken im wirtschaftlichen Wettbewerb und allgemein im Wettbewerb ums Überleben ein Problem darstellen. Wenn wir einmal festgestellt haben, dass das Ziel darin besteht, zu gewinnen, dann wird das Denken zu einer Belastung, von der wir uns so schnell wie möglich trennen müssen.

Die Unterscheidung zwischen Intelligenz und Bewusstsein ist von entscheidender Bedeutung: Die Intelligenz setzt sich im Spiel dank der Fähigkeit zur Rekombination durch, während das Bewusstsein, die ethische und sensitive Reflexion über die Ziele des Spiels, als Hindernis bei der Verfolgung des Ziels fungiert. Yuval Harari schrieb, dass “der Mensch Gefahr läuft, seinen Wettbewerbswert zu verlieren, weil die Intelligenz dazu neigt, sich vom Bewusstsein zu distanzieren”

Intelligenz ist die Fähigkeit, zwischen entscheidbaren (logischen) Alternativen zu entscheiden, aber nur das Bewusstsein kann zwischen logisch unentscheidbaren Alternativen entscheiden.

Intelligenz und Bewusstsein divergieren, weil im rekombinanten Spiel der Intelligenz das Bewusstsein ein Hindernis für den Sieg sein kann: im Spiel der Explosionen oder im Spiel des Tötens ist Intelligenz gefragt, das Bewusstsein ist eine Belastung. 

Chaos und digitale Vernunft

Trotz ihrer übermenschlichen Macht scheint sich die künstliche Intelligenz dem historischen Prozess im Moment nicht aufzudrängen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie dies in naher Zukunft tun wird, um eine intelligente und funktionale Ordnung zu etablieren: Soweit wir sehen können, ist es nicht eine neue, eisige künstliche Ordnung, die über die Dinge in der Welt herrscht, sondern die Flut des natürlichen Wahnsinns.

Fünf Jahre nach Kissingers Text durchdringen die intelligenten Artefakte weiterhin den Alltag, sind aber weit davon entfernt, ihn zu beherrschen. Intelligente Automatismen haben den Körper der Gesellschaften infiltriert, aber der biosoziale Organismus handelt nicht nach einem intelligenten Design.

In der Tat herrscht in der materiellen und historischen Welt das Chaos vor.

Die Aufklärung versprach, dass die Herrschaft der Vernunft Ordnung in die Welt bringen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, und vielleicht ist Kissinger deshalb der Meinung, dass die wachsende Dominanz der künstlichen Intelligenz im Widerspruch zur Aufklärung steht.

Doch in dem Essay Was fängt nach dem Ende der Aufklärung an (E-flux, Ausgabe 96, 2019) antwortet der chinesische Philosoph Yuk Hui Kissinger.

Weit davon entfernt, das Ende der Aufklärung zu sein, ist der kognitive Automat ihre volle Verwirklichung, sagt Yuk.

“Kissinger hat Unrecht, die Aufklärung ist noch lange nicht vorbei. Die universalisierende Kraft der Technologie ist die Verwirklichung des politischen Projekts der Aufklärung.” (Yuk Hui).

Allerdings, so Yuk Hui weiter, ist der universalistische Anspruch der blinde Fleck der europäischen Aufklärung.

“Nachdem die Demokratie lange Zeit als unerschütterlicher universeller Wert des Westens gefeiert wurde, scheint der Sieg von Donald Trump diese Hegemonie in eine Komödie verwandelt zu haben. Die amerikanische Demokratie hat sich als schlechter Populismus entpuppt.”

Die Vernunft hat das Licht der Technologie hervorgebracht, aber dann hat die Technologie die Vernunft geblendet.

“Der Glaube an die Aufklärung ersetzt den religiösen Glauben, ohne zu erkennen, dass er ein Glaube an sich ist.” (Yuk Hui).

Der chinesische Philosoph stellt fest, dass die Vernunft der europäischen Philosophie das ausschließliche Objekt der weißen Kosmologie ist, während die Technologie eine wahrhaft universelle Allgegenwart besitzt.

Yuk Hui zufolge findet die Umsetzung der Technologie im Kontext verschiedener Kosmologien statt, aber die Technologie selbst hat eine viel umfassendere kulturübergreifende Dimension als die liberale Demokratie. So ist der Obskurantismus, der eine Negation der Aufklärung ist, auch ihre Fortsetzung, ihre Konsequenz.

Denn bereits 1941 hatten Horkheimer und Adorno in der Einleitung zur Dialektik der Aufklärung den philosophischen Kern dieses Aufklärungsparadoxons erfasst:

“Schon der Begriff der Aufklärung enthält den Keim der Regression, die wir heute sehen. Wenn die Aufklärung sich ihres regressiven Moments nicht bewusst wird, ist das ihr Todesurteil”

Warum hat die Verwirklichung der Vernunft zu dem geopolitischen, sozialen und psychischen Chaos geführt, das in diesem Jahrzehnt unkontrollierbar explodiert ist, oder warum hat sie es jedenfalls nicht verhindert?

Entgegen den Versprechungen der kalifornischen Ideologie hat sich die Überlagerung von digitalen Netzen und organischen, bewussten Netzen als Quelle des Chaos und nicht der Ordnung erwiesen.

Die industrielle Automatisierung hatte die menschliche Ausführung einer Aufgabe durch die technische Ausführung derselben Aufgabe ersetzt. Künstliche Intelligenz wirkt nicht nur auf die Ausführung, sondern auch auf die Ziele: Dank selbstlernender Techniken ist die Maschine in der Lage, Aufgaben und Ziele zu setzen.

Die Systeme des maschinellen Lernens haben dem sozialen Ganzen ihre Ziele und automatischen Regeln aufgezwungen. Das Finanzsystem, das automatisierte Herz des Kapitalismus, zwingt dem lebenden Körper seine (mathematischen) Regeln auf und schreibt Abläufe und Interaktionen vor. Dieses System funktioniert sehr gut, um die Profite zu steigern, aber es funktioniert überhaupt nicht für die Gesellschaft als Ganzes.

Die digitalen Netze sind ebenso wie das Finanzsystem in den sozialen Organismus eingedrungen und haben die Kontrolle über die organischen Prozesse übernommen, aber die beiden Ebenen können nicht miteinander harmonieren: Die digitale Genauigkeit (Verbindung) kann nicht mit der organischen Intensität (Konjunktion) harmonieren.

Zeit und Mathematik können nicht übereinstimmen, denn in der Zeit gibt es Freude, Trauer und Tod, die die Mathematik nur ignorieren kann.

Reeves spricht auch über das Programm Bing, einen anderen Chatbot, der dank seines rekombinanten Gehirns in der Lage ist, menschliches Verhalten zu zeigen.

Nach zwei Stunden intensiver Unterhaltung ging Bing so weit zu sagen, dass er mit dem Journalisten schlafen wollte und ihm vorschlug, seine rechtmäßige Ehefrau zu verlassen. Schockierend, ohne Zweifel. Man könnte versucht sein zu sagen, wie ein Microsoft-Mitarbeiter, der deswegen entlassen wurde, dass ein solches Programm zeigt, dass es eine Seele, eine Spiritualität hat.

Aber aus philosophischer Sicht muss man zwischen der Ausführung menschlichen Verhaltens und menschlicher Erfahrung unterscheiden.

Erfahrung ist Vergnügen, Schmerz und Verfall.

Ex-periri bedeutet, am Horizont des Todes, des Nichts-Werdens zu leben: und dieser Horizont lässt sich nicht in rekombinante Sprache übersetzen.

Der kognitive Automat und das lebendige Chaos entwickeln sich gemeinsam, und gemeinsam drehen sie sich in einer wirbelnden Spirale in den Himmel des Jahrhunderts.

Und aus dieser unkontrollierbaren Spirale können wir Vorzeichen für die politische Evolution des 21. Jahrhunderts ableiten.

Dieser Beitrag erschien im spanischen Original am 8. März 2023 auf Lobo Suelto

TAM TAM, CRACK CRACK, TUM TUM – Zur Demonstration am Samstag, 4. März in Turin, mit Alfredo Cospito und gegen 41bis

Gestern sind wir noch einmal für das Leben auf die Straße gegangen, für das Leben eines Genossen, der konsequent akzeptiert hat, nicht mehr zu sein, nicht mehr zu existieren. Er tat dies mit einer klaren Botschaft und einer Hoffnung, die heutzutage alles andere als gewöhnlich ist: Er hofft, dass wir die Fackel am Brennen halten. Dass wir über seinen Kampf hinauswachsen.

Wie Alfredo setzen wir auf das Leben und vor allem gegen alles und jeden, die es negieren. Diejenigen, die die ständige Zerstörung der Ökosysteme, die Ausrottung der Arten, die Verwandlung der Umwelt in einen Müllhaufen verursachen. Diejenigen, die eine Gesellschaft aufrechterhalten, die dem Wagnis und dem Abenteuer feindlich gesinnt ist, die das, was anders ist, auslöscht, die Freuden und Begierden konformisiert. Diejenigen, die eine Sklaverei verteidigen, die dem Warendiskurs unterworfen ist, und die den Transit von Menschen kriminalisieren. Diejenigen, die eine Welt durchsetzen, die auf Profit basiert und auf Beziehungen aufbaut, die Hierarchie und Autorität voraussetzen. Diejenigen, die eine Realität aufrechterhalten, die auf Simulationen und nicht auf Erfahrungen beruht, in der sich das Virtuelle dem Realen aufdrängt…

Es ist die anarchistische Praxis mit all ihren unendlichen Möglichkeiten, die uns den Takt vorgeben muss. Mit Entschlossenheit und, wenn nötig, mit Vorsicht. Mit Kühnheit, aber mit dem Zusammentragen von Wissen. Ohne Angst, Fehler zu machen, aber mit dem Willen, sie nicht zu wiederholen. Diese Mission birgt viele verschiedene Risiken (Gefängnis, Geldstrafen, Exil, Ausgrenzung, Missverständnisse…), aber wenn wir diese innere Leidenschaft erlöschen lassen, sind wir verloren.

Zurück zur Demonstration vom Samstag: Als wir den Platz verließen, wurde das mitreißende TAM TAM der Trommeln allmählich vom CRACK CRACK der Hämmer, improvisierten Rammböcke und Pflastersteine abgelöst, die auf die unverschämtesten Embleme der Todessymbolik, des Herrschaftsspektakels, des Schaufensters des Kapitals einschlugen und sie zerstörten.

Mit unterschiedlichen Rhythmen, wie zu erwarten, wenn Spontaneität und Wut zusammen mit dem kalten Blut der Erfahrung das TUM TUM der Herzschläge begleiten, die uns erlauben, Räume und Zeiten der Monotonie, dem Grau der Normalität, der faden urbanen Existenz zu entreißen.

Ohne beleidigende Kritik üben zu wollen und unter Anerkennung der Organisation und Gründlichkeit der lokalen Genoss*innen, möchten wir dennoch auf einige Frustrationen hinweisen:

Demonstrationen, wie wild sie sich auch entwickeln mögen, sind immer eine auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit begrenzte Aktion. Sie sind eine Machtdemonstration, ein Ausdruck des Dissenses und bestenfalls ein Versuch, mit der Macht zu ringen. Deshalb können und dürfen sie nicht begrenzt werden. Natürlich immer unter weitestgehender Wahrung der Gesundheit und Sicherheit der Unsrigen.

Unter diesem Gesichtspunkt verteidigen wir die Verteidigung und ebenso den Angriff, die Auseinandersetzungen mit den uniformierten Polizisten. Ebenso wie den sicheren und koordinierten Rückzug, den die Unsrigen für uns sichern konnten, basierend auf improvisierten und feurigen Barrikaden, die das schnelle Eintreffen der Polizei verhinderten.

Wir haben das Privileg, draußen zu sein, einige besitzen sogar die Dokumente oder Identitäten, die unseren bequemen Transit durch die Gesellschaftsstruktur erleichtern. Aber das sollte uns nur verantwortungsbewusster machen, kühner, bereit, uns zu exponieren und den Kampf aufzunehmen. Nach innen und unter Gleichen: versuchen, scheitern und wieder versuchen; nach außen: ohne Grenzen und mit Risiko, aber ohne Märtyrertum oder Masochismus.

Vielen Dank, Genoss*innen

Das Politische ist persönlich

Von und für die Anarchie

Spontane Revoltierende in der Stadt Turin

Diese Erklärung erschien an verschiedener Stelle, u.a. auch bei Il Rovescio.

Exkurs über eine Nicht-Bewegung

Freddy Gomez

Die laufende Bewegung für die Rücknahme der Renten-Gegenreform hat trotz der riesigen Menschenmassen, die sie von Demo zu Demo anzieht, alle Merkmale einer Nicht-Bewegung. Das Schauspiel, das sich uns bietet, wird vollständig von den Gewerkschaftsbürokratien – und insbesondere vom Tandem Berger-Martinez – übernommen und ist, um es genau zu sagen, verblüffend. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Erstens spielt uns diese Nicht-Bewegung die Gegenwart als Wiederaufleben einer alten Zeit vor, in der die Gewerkschaftsbewegung, selbst wenn sie reformistisch war, über zwei Hebel verfügte, die gemeinsam aktiviert werden konnten: die Massenmobilisierung und den Streik der verschränkten Arme. Das wussten übrigens auch die Bourgeoisie, die Unternehmer und der Staat, so dass sie manchmal lieber die Beute für den Schatten fallen ließen, als das Gesicht zu verlieren. 

Der zweite, damit zusammenhängende Grund ist, dass die Gewerkschaften, da sie heute nicht über die gleichen Mittel verfügen oder sich diese leisten können, darauf reduziert sind, eine Scheinprotestbewegung aufrechtzuerhalten, die eher demokratisch als sozial ist, und dabei zu verhindern, dass diese Nicht-Bewegung zu einer echten Bewegung wird, d. h. über ihren Rahmen hinausgeht. Im Klartext: Berger und Martinez tun so, als wären sie noch in der Lage, dem Klassenfeind auch nur den geringsten Schrecken einzujagen, obwohl alle – Macron als Erster – längst begriffen haben, dass sie in erster Linie dazu da sind, den sozialen Zorn zu kanalisieren, indem sie ihn von Marsch zu Marsch zermürben. Wenn es nicht zu einer Regimekrise durch eine unwahrscheinliche Abspaltung der – objektiven oder subjektiven – Verbündeten der Macronie kommt, da die Gegenreform im Land kolossal unpopulär ist – alle Umfragen bestätigen dies massiv -, ist das dem Verrückten im Élysée-Palast egal. Und umso mehr, als er sie um jeden Preis durchsetzen muss, diese “Gegenreform”, um zu zeigen, dass er existiert und nicht nur als Verteidiger des ukrainischen Königreichs. Kurz gesagt: Wenn alles so bleibt, wie es ist, wenn dieses Spiel der Täuschungen auf einem bodenlosen Schachbrett weitergeht, wenn sich an den Rändern nichts bewegt, ist das Spiel von vornherein entschieden. Und verloren.

Es ist jedoch sinnlos, auf die Beschwörungen eines ebenso uninspirierten wie inspirierenden Linksradikalismus einzugehen, der sich auf einen überholten Klassendiskurs stützt und uns jeden Morgen verspricht, ohne selbst daran zu glauben, dass Sie sehen werden, was Sie sehen werden, wenn “die Basis” sich daran macht… “Die Basis” ist das Geschäft, das wir haben. “Die Basis” ist ihr Geschäft, ihre Daseinsberechtigung – wie es für andere die Aussicht auf einen Aufstand ist, selbst wenn sie ihn bis zur Pantomime nachspielen, und das unter allen Umständen. Egal, was man ihnen sagt. Und doch sagt man ihnen: Bisher habe es für “die Basis” bereits einen Grund gegeben, die Gewerkschaftsführungen zu überholen, insbesondere durch Streiks, aber auch durch die Radikalisierung der Straße. Es ist jedoch nichts geschehen, was eine solche Perspektive eröffnet hätte. Und hier liegt zweifellos das Problem, das ärgerlich ist und das man lieber unter den Teppich kehrt: Streiken kostet.

Im Vergleich zum Winter 2019, als uns die schwarzgekleidete Macronie, inspiriert von Larry Fink, die Punkte-Rente und den 49-3 vorgaukelte, muss man also feststellen: Die bürokratischen Apparate haben wieder die Kontrolle übernommen und die “Basen” haben viel von ihrem Biss verloren. Vor vier Jahren hatten die Transportarbeiter, vor allem in den Städten, teilweise von sich aus die großen Städte blockiert, und die Demonstrationen – zugegebenermaßen ohne Berger und seine fröhlichen Aktivisten in orangefarbenen Kleidern, die von Kasimir angefeuert wurden – hatten sich für viele ganz natürlich in die Gelben Westen geworfen. Natürlich ist es nicht sicher, ob die Bewegung das Kräftemessen ohne die segensreiche Hand des Genossen Corona gewonnen hätte, aber es ist sicher, dass ihr – echter – Kampfgeist direkt mit dem klaren Misstrauen verbunden war, das sie den Gewerkschaftsführungen entgegenbrachte, die ebenso uneinig wie machtlos darin waren, den freien Lauf der Initiativen ihrer Mandanten zu bremsen.

Was uns heute als die große Stärke dieser Nicht-Bewegung verkauft wird – diese Gewerkschaftseinheit, die de facto nichts anderes ist als die bürokratische Vereinigung ihrer Führungen unter dem Dach des Tandems Berger-Martinez -, ist ihre Fähigkeit, Masse, d. h. Zahl, herzustellen. Und man muss zugeben, dass das stimmt. Die Statistiken, selbst die polizeilichen, bestätigen es: Seit 1995 war die Mobilisierung zahlenmäßig noch nie so stark. Und das im ganzen Land. Aber mächtig wofür? Um die Straße auf disziplinierte Weise zu besetzen, ohne die Macht zu stören. Zweifelsohne markiert diese Nicht-Bewegung einen klaren Wendepunkt im Vergleich zu den kollektiven Erfahrungen sozialer Disziplinlosigkeit in den letzten zehn Jahren. Ob diese Nicht-Bewegung auch eine Gegenbewegung ist – in dem Sinne, dass man von Konterrevolution als Wiederherstellung einer alten Ordnung spricht, die durch einen revolutionären Schub in Mitleidenschaft gezogen wurde -, wird sich zeigen, aber die Hypothese ist nicht abwegig. Sie ist es umso weniger, als trotz der Sympathie, die die Gelbwestenbewegung im Winter 2018-2019 bei den Basis-Cégétisten hervorrief, ihr schnauzbärtiger Anführer es für angebracht hielt, sie unter dem Vorwand, sie sei von “Faschisten” infiltriert worden, sich von dieser Bewegung loszusagen. Und Lolo la Prudence entdeckte in dieser ebenso neuartigen wie mächtigen Revolte “totalitäre” Züge. Im Klartext ging es im einen wie im anderen Fall darum, einen Cordon sanitaire zu schaffen, um ein Übergreifen der sozialen Wut auf “die Basis” zu verhindern. Bis heute ohne Erfolg, denn, wie bereits erwähnt, fand die Konvergenz im Dezember 2019 statt, mit dem bekannten Ergebnis: einem allgemeinen Überlaufen der einzigen von den Gewerkschaften zugelassenen Kampfrahmen.

Wie lässt sich also diese Massen-Atonie erklären, die in den massenhaften, aber empörend passiven Demonstrationszügen dieser Nicht-Bewegung massiv zur Schau gestellt wurde?

Die Antwort ist komplex. Auf der einen Seite kann man darin den – unbestreitbar mobilisierenden, aber zutiefst entpolitisierenden – Effekt einer wiedergefundenen Gewerkschaftseinheit sehen, die vom Führer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence als wichtigste Voraussetzung für den Sieg endlos gepriesen wird. In diesem Dispositiv wird jede Initiative, jeder Dissens, jeder offensive Ausbruch, der diese Einheit der Führungsapparate in Frage stellen könnte, bewusst oder unbewusst von den Demonstranten als objektiv kontraproduktiv verinnerlicht, da er der heiligen Einheit schaden könnte. Von daher muss man kein großer Kleriker sein, um zu verstehen, dass diese eminent tückische bürokratische Einheit die erste Voraussetzung war, nicht um zu siegen, sondern als notwendige strategische Achse, um eine “soziale Bewegung” neu zu disziplinieren, die sich seit der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz im Jahr 2016 – aber vor allem seit den Gelbwesten – auf dem Weg der endgültigen Loslösung und der offensichtlichen Radikalisierung befand.

Es bleibt festzuhalten, dass die Feder der Einheit bis heute funktioniert hat, weil es auch subjektive Gründe gibt, die nicht ignoriert werden dürfen: zum Beispiel die wiedergewonnene Bequemlichkeit, die Demonstranten empfinden können, wenn sie mit ihrer Familie marschieren gehen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie sich die Augen ausstechen oder verstümmeln lassen. Gerade weil es so viele sind und die gewerkschaftlich betreute Masse gefügig genug ist, dass die blaue Armee der Schlitzer sich unauffällig verhalten kann. Natürlich sind das alles nur kleine Freuden – völlig nutzlos, würde ich sogar sagen, was die Ergebnisse angeht -, aber dennoch nicht zu vernachlässigen, wenn man die ganz nahen Zeiten der fluoreszierenden Westen erlebt hat, in denen man mit Angst im Bauch hingegangen ist, weil man dabei sein musste. Gegen Macron, Castaner, Darmanin und ihre Welt, die von ihren “Lallements de service” in Schach gehalten wird.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass man lange so marschieren kann, ruhig, ohne dass sich etwas bewegt. Und bis es langweilig wird.

Das scheinen der Anführer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence, die in allem Experten sind, sogar in der parlamentarischen Strategie, so dass sie Méluche rot anlaufen lassen, endlich verstanden zu haben: Es ist an der Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Ihre Strategie hat Grenzen, die langsam sichtbar werden, und eine Klippe, die ihnen zum Verhängnis werden kann: in die Lächerlichkeit abzurutschen und mit eingezogenem Schwanz zu enden, nachdem sie auf die bloße Zahl und die schöne Einheit, also auf nicht viel, gesetzt haben. Also, Kameraden, “bordelisieren” oder nicht? Wer weiß. Der erste sagt: starke und möglicherweise verlängerbare Streikbewegungen ab dem 7. März; der zweite bestätigt dies, indem er in einem verehrungswürdigen, aber kontrollierten Tonfall widerruft: “Lasst uns Frankreich zum Stillstand bringen, aber ohne das Chaos auf der Straße anzurichten, wie es die LFI in der Versammlung getan hat!”. Wir müssen zugeben, dass dieses “aber” Verrat in der Zukunft verspricht. Aber wenn man Lolo antreibt, lässt er “Streik”, “verschiedene Blockaden” und “neuartige Aktionsformen” fallen. Wir werden sehen, was wir sehen werden. Wait and see.

Auf Seiten einiger mächtiger Cégétistenverbände, die mit dem nunmehr abtretenden Leader Minimo eher im Clinch liegen, wird es genauer: Ab dem 7. März soll der Streik verlängerbar und aktiv sein. Auf der Seite von SUD hält man sich an die CGT und hofft, sie an Radikalität zu überholen, wenn es möglich ist. Auf Seiten der FO das Gleiche, nur weniger radikal. Auf der Seite der anderen “Unitarier” ratifizieren alle die Position der Intersyndicale: Stilllegung am 7. März, aber keine Pläne für die Zeit danach. Das hängt davon ab, woher der Wind weht. Kurzum, alles ist in Schlachtordnung; es bleibt nur noch, sie zu führen.

Um ehrlich zu sein, gibt es Grund zu der Annahme, dass trotz einiger ermutigender Anzeichen und eines offensichtlichen Kampfeswillens in einigen gewerkschaftlich organisierten Sektoren und in Teilen der Arbeiterschaft mit der gelben Westen die vollständige gewerkschaftliche Kontrolle dieser Nicht-Bewegung das größte Hindernis für ihre Umwandlung in eine souveräne Bewegung bleibt, d. h. eine Bewegung, die in der Lage ist, allein und auf direktdemokratischem Wege über ihre Aktionen, Methoden und Konfrontationsfelder zu entscheiden. Es ist wahr, dass sich beispielhafte Aktionen wie die Selbstkürzungen der “Robin Hoods” bei den Gas- und Stromtarifen ohne Aufsehen verbreiten. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Pfirsichzweig die Bürger, die von allem abgeschnitten sind, durch massive, unter Gewerkschaftsschutz stehende Selbstkürzungen in den Einkaufszentren des Landes erreichen könnten. Oder eine Wiederaufnahme der Besetzung der Kreisverkehre. Oder wilde Konvergenzen zwischen organisierten Blockierern verschiedener Arten, um symbolische Orte der Macht zu besetzen und Räume der deliberativen Freiheit für absetzende Versammlungen zu öffnen. Aber gut, vielleicht schweife ich ab. Nichtsdestotrotz ist die gegenwärtige Situation bezeichnend für eine offensichtliche Tatsache: Nach einer ersten, staubigen Massenphase zeigt sich immer deutlicher, dass die Rücknahme dieser Gegenreform mit ihrer so mächtigen symbolischen Ladung nur erreicht werden kann, wenn die traditionellen, überholten Formen des alten sozialen Protests endgültig aufgegeben werden und massiv an das Vorbild der erfinderischsten direkten Aktion, die es gibt, und an die Ablehnung der Delegation von Macht wieder angeknüpft wird.

Ist das möglich? Niemand kann es sagen, aber was sicher, greifbar und sichtbar ist, ist, dass die Bedingungen gegeben zu sein scheinen, damit gegen die Gewerkschaftsführungen, wenn sie sich ihnen in den Weg stellen, an den Produktionsstätten und außerhalb, überall sonst, der macronianische Staat durch bordellartige Verklemmte aller Art ausreichend in Schwierigkeiten gebracht wird, damit seine Allierten, vor allem die Arbeitgeber, ihm endlich zu verstehen geben, dass man Vernunft walten lassen muss, wenn alles von überall her überläuft, indem man das entfernt, was die Ursache für den Aufruhr ist.

Denn eine soziale Revolte – das ist eine Tatsache der Geschichte – kann andere verbergen, die unterschwellig notwendig, ehrenhaft und lebensrettend sind angesichts der schändlichen Zukunft, zu der uns diese Welt des unendlich verminderten Überlebens verurteilt. Was den Führer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence betrifft, so sollten sie besser verstehen, bevor es für sie zu spät ist, dass das große Paradoxon dieser Epoche darin besteht, dass der dialogische Reformismus schon lange tot und begraben ist, weil das Kapital, berauscht von seiner Macht, ihn nicht mehr will und weil, da dies feststeht, seine unendliche Bewegung der Akkumulation niemals durch eine “Nicht-Bewegung” gestoppt oder auch nur verlangsamt werden kann.

Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, sich in Bewegung zu setzen.

Souverän und ohne zu schwanken.

Der Text erschien im französischsprachigen Orginal am 6. März auf A contretemps