Juives et Juifs Révolutionnaires (Frankreich)
Nach dem 8. März, dem internationalen Tag des Kampfes für die Rechte der Frauen, möchten wir daran erinnern, dass jüdische Frauen eine immense Rolle in den feministischen, gewerkschaftlichen und sozialistischen Kämpfen gespielt haben.
Die Idee zu diesem Tag wurde ursprünglich von Theresa Serber Malkiel [1] vorgeschlagen, einer russischen Jüdin, die in die USA eingewandert war und sich für das Frauenwahlrecht und die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter, insbesondere der Immigrantinnen und Immigranten, einsetzte. Die Tatsache, dass ihr Name so wenig bekannt ist, zeugt von einer Geschichtsschreibung, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterprivilegierte Menschen immer wieder aus der Geschichte der Kämpfe, von denen alle profitiert haben, auslöscht. Wir tragen die Erinnerung an diese Kämpfe in uns und empören uns mehr denn je, wenn sie diskreditiert, verachtet oder vergessen werden.
Aufgrund dieser Geschichte möchten wir heute die Tatsache anprangern, dass im Jahr 2024 jüdische Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt sind, wie gelähmt vor einer feministischen Emanzipationsbewegung in Frankreich stehen, die sich schwer damit tut, sie zu hören und anzuerkennen.
Wir erinnern uns an den 25. November letzten Jahres, als es um den Marsch gegen sexuelle Gewalt ging: Viele von uns hatten es nicht geschafft, ihre Stimmen und ihren legitimen Zorn über die sexuelle Gewalt gegen israelische Frauen am 7. Oktober zu Gehör zu bringen.
Wir fragen uns: Wenn die feministische Unterstützung, die wir für alle weiblichen Opfer erwarten, nicht erfolgt, liegt es dann daran, dass sie jüdisch oder vermeintlich jüdisch sind?
Denn unabhängig vom antisemitischen Charakter der Gewalt vom 7. Oktober findet in diesem Fall die Rezeption in Frankreich statt, die bestenfalls die Verharmlosung, schlimmstenfalls die Leugnung von sexueller Gewalt verpönt. Wo bleibt die bedingungslose Unterstützung für alle Opfer, unabhängig davon, ob die Gewalt rassistisch motiviert ist oder nicht?
Judith Butlers Worte von letzter Woche, in denen sie forderte, Beweise für die Vergewaltigung israelischer Frauen zu sehen, verfolgen uns.
Hat man jemals erlebt, dass Feministinnen so rücksichtslos mit Opfern sexueller Gewalt umgehen? Hat man jemals von feministischen Aktivistinnen ein solches Schweigen, solche Verharmlosungen und Rechtfertigungen und solche Verdächtigungen gehört?
Sofort nach der Veröffentlichung des UN-Berichts über die von der Hamas an mindestens drei Angriffsorten begangenen Sexualverbrechen und der Aussage der befreiten Geiseln*innen über Folter und sexuelle Gewalt war von Aktivistinnen zu lesen, dass es sich in Wirklichkeit um Lügen handele, dass es keine Beweise gäbe und dass die UN von “den Zionisten” manipuliert würde. In dem Bericht werden auch Interviews im Westjordanland mit palästinensischen Gefangenen, Männern und Frauen, geschildert, in denen von sexueller Gewalt in Form von Leibesvisitationen und Vergewaltigungsdrohungen durch israelische Sicherheitskräfte berichtet wird.
Müssen Sie dafür auch Beweise sehen oder entscheiden Sie sich dafür, einer einzigen Kategorie von Opfern zu glauben?
Die Leugnung dieser Gewalt, aller Gewalt, ist unwürdig für alle, die sich zur Linken und zum Feminismus bekennen.
Es sollte “keine Debatte über die Existenz der Gewalt vom 7. Oktober geben, die sich bei den Massakern speziell gegen Frauen richtete”, wie wir am 24. November in einem Text schrieben.
Ebenso wenig sollte es eine “Debatte” über die notwendige Solidarität mit den palästinensischen Frauen geben, deren Lebens- oder Überlebensbedingungen sich von Tag zu Tag verschlechtern. Wir sind entsetzt, dass israelische Soldaten sich selbst fotografieren, während sie in sozialen Netzwerken die Unterwäsche von palästinensischen Frauen wie Trophäen zur Schau stellen. Wir sollten keine Bewegung, keinen Staat und keine politische Gruppe romantisieren oder unterstützen, die danach streben, den Körper von Frauen zu kontrollieren, sie ihrer Freiheiten zu berauben und Individuen mit Geschlechter- und Sexualitätsidentitäten zu bestrafen, die als außerhalb der Norm liegend angesehen werden. Der revolutionäre Kampf, der antikoloniale Kampf und der antirassistische Kampf können nur dann Sinn machen, wenn sie das Grundrecht von Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt sind, unterstützen, über ihren Körper zu verfügen, Zugang zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch zu haben und das Recht auf eine einvernehmliche und erfüllte Sexualität zu haben, das Recht, außerhäuslich zu arbeiten oder nicht, Kinder zu haben oder nicht, an sozialen und politischen Kämpfen teilzunehmen, zu wählen, ihr Leben selbst zu gestalten und nicht die zweite Geige in hegemonialen männlichen Erzählungen zu spielen, und damit das klar ist: Dazu gehören weder die Hamas, noch die Regierung Netanjahu und ihre neofaschistische Koalition, noch die derzeitige französische Regierung und ihr natalistischer Wille, die Einwanderung zu bekämpfen, und ganz sicher nicht die USA und die Explosion ihrer freiheitsberaubenden Gesetze gegen Frauen und Transpersonen, insbesondere die Angriffe auf den Schwangerschaftsabbruch.
Am 7. März wurden in mehreren französischen Städten radikal-feministische Märsche organisiert, bei denen unsere Aktivistinnen und Aktivisten antisemitische Slogans sahen und hörten. Wie kann man diese noch durchgehen lassen? Kann man sich vorstellen, was jüdische Aktivistinnen und Aktivisten, die immer an diesen Kämpfen teilgenommen haben, durchmachen?
Am 8. März wurden in Bordeaux die Frauen des Kollektivs Nous vivrons, die die sexuelle Gewalt anprangerten, die am 7. Oktober in Israel stattgefunden hatte, an der Teilnahme an einer Demonstration gehindert.
Die Inter-Orga war der Ansicht, dass die bloße Anprangerung dieser sexuellen Gewalt nur eine “zionistische” Provokation sein könne, die von der “extremen Rechten” und der rechtsextremen Organisation Ligue de défense juive (LDJ) ausgehe. Infolgedessen hinderte der Ordnungsdienst die Frauen von Nous vivrons physisch daran, sich dem Demonstrationszug anzuschließen.
In Paris wiederum ließ das gleiche Kollektiv die gesamte Demonstration unter den Slogans “Faschisten, Zionisten, Terroristen” oder “Zionist, verpiss dich, Palästina gehört dir nicht” laufen. Das Kollektiv (Nous vivrons), das aus mehr als hundert Frauen bestand, wurde hier von einem Ordnungsdienst aus Männern begleitet, die zum Teil schwarz maskiert waren und taktische Handschuhe trugen. Wir verurteilen die Anwesenheit dieses ausschließlich männlichen Ordnungsdienstes. Es muss auch gesagt werden, dass es sich nicht um die Faschisten der LDJ handelte, wie viele Personen und Politiker der Linken beeilten sich zu behaupten, sondern um den ‘Schutzdienst der jüdischen Gemeinschaft’ (Service de protection de la communauté juive, SPCJ), der die Rolle eines Ordnungsdienstes und des Schutzes der Community vor Synagogen und jüdischen Schulen innehat.Das Kollektiv Nous vivrons ist nicht links und unser Verständnis von Feminismus ist sehr weit von ihrem entfernt.
Es ist jedoch keine rechtsextreme Gruppe (auf dieser Lüge beruhte ihr Ausschluss in Bordeaux). Ihr Ziel ist es, die sexuelle Gewalt gegen israelische Frauen anzuprangern, die in Teilen der sozialen und feministischen Bewegung absolut geleugnet, verharmlost und relativiert wird und die wir seit unserem Aufruf an die linke feministische Welt immer wieder beklagt haben. Daher verurteilen wir trotz der großen Meinungsverschiedenheiten, die wir mit diesem Kollektiv haben, und unserer Verurteilung ihres Einsatzes eines ausschließlich männlichen Ordnungsdienstes auch die Vorgehensweise, mit der sie behandelt wurden, aufs Schärfste.
In keinem Fall dürfen Frauen, ob israelische oder andere Nationalitäten, allein aufgrund ihres Wohnortes, ihrer Nationalität, ihrer Religion oder der Tatsache, dass sie sexuelle Gewalt als Kriegswaffe anprangern, als Faschistinnen oder Terroristinnen verurteilt werden.
Die Gleichsetzung des Anprangerns von Gewalt gegen israelische Frauen mit einer Unterstützung des laufenden Massakers in Gaza ist irreführend. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich gegen beides zu engagieren.
Diese Vorfälle sind symptomatisch für die Ausgrenzung israelischer Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, durch einen beträchtlichen Teil der Linken.
Der Angriff auf das Kollektiv, insbesondere durch Mitglieder von Urgence Palestine, ist eine Schande. Viele jüdische Frauen in diesem Demonstrationszug wurden angegriffen, ohne zu verstehen, warum. Die Leitsätze von Nous vivrons vor der Demonstration lauteten wie folgt: “Wir müssen diesen offiziellen Platz, der uns eingeräumt wird, durch eine gewissenhafte Einhaltung der uns auferlegten Organisation begrüßen. (…) Keine Provokation. Keine Reaktion auf Provokationen. Keine feindseligen Äußerungen gegenüber den Organisatorinnen, die uns einen Platz eingeräumt haben. Kein ‘Israel wird leben/siegen’ oder Slogans außerhalb des Zwecks unseres Kommens, nämlich: israelische Frauen als Opfer und Geiseln”.
Nach den Angriffen auf ihre Demonstrationsblöcke in mindestens zwei Städten haben die Reaktionen eines Teils der sozialen Bewegung, von Antoine Léaument von La France Insoumise bis zu Raphael Arnault von der Jeune Garde Antifasciste, für weitere Verunsicherung gesorgt und viele Juden in Frankreich schockiert.
Es gibt durchaus legitime Kritik an dem Schweigen, der Positionierung und den Aktionen des Kollektivs Nous vivrons zu vielen Themen, insbesondere an ihrer Vermischung von Kritik am Zionismus und Antisemitismus, aber die Verwechslung zwischen der extremen Rechten und dem Kollektiv Nous vivrons ist gefährlich. Sie ist nicht nur sachlich falsch, sondern schürt auch den in der sozialen Bewegung bereits vorhandenen Hass auf Israelis*⋅innen und Jüdinnen und Juden. Es gibt legitime Kritik, die am Zionismus geübt werden kann, insbesondere an seinen konkreten Konsequenzen für die Palästinenser*innen, aber das Wort “zionistisch” ist nicht gleichbedeutend mit “faschistisch”.
Nous vivrons ist nicht das “zionistische Gegenstück” zu Némésis, einer “identitären weiblichen” Gruppe, die wir dazu aufrufen, sich aus unseren Kampfräumen ohne Zweideutigkeiten zu entfernen.
Die Tatsache, dass zahlreiche jüdische Frauen, darunter auch solche, die weit von ihren Positionen entfernt sind, sich in der von Nous vivrons vorgenommenen Anprangerung der unzureichenden Reaktionen auf die sexuellen Übergriffe am 7. Oktober oder der am Werk befindlichen Mechanismen der Leugnung wiedererkannt haben, sollte zumindest zu einer kritischen Hinterfragung führen.
Wir sagen es ganz klar: Eure Unschärfe ist der Nährboden für Antisemitismus und führt zu realen Aggressionen. Nehmt eure Verantwortung wahr, wir können es nicht mehr ertragen.
Wir begrüßen die Akzeptanz ihrer Anwesenheit durch die Inter-Orga des Pariser Marsches und rufen dazu auf, uns zu diesem Thema mit den Organisationen, aus denen sich die soziale Bewegung zusammensetzt, zusammenzusetzen, um die Uneindeutigkeiten zwischen einem gerechten Kampf gegen den Faschismus und der Ablehnung der Unterstützung von israelischen und jüdischen Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, auszuräumen
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Wir sind antirassistische Aktivistinnen und Aktivisten und haben als jüdische Menschen unsere Plätze in den antirassistischen feministischen Demonstrationszügen. Wir haben das Recht, uns in unseren politischen Organisationen und auf den Demonstrationen, die uns betreffen, sicher zu fühlen. Wir lehnen es ab, dass wir aufgefordert werden, unsere weiße Weste in Bezug auf Israel-Palästina unter Beweis zu stellen, um an der Veranstaltung teilnehmen zu können.
Wir lehnen es ab, dass weiße Linke sich das Recht herausnehmen, jüdische Frauen, Queers und Transpersonen als “Kollaborateure” zu bezeichnen oder Israel als den “einzigen Kolonialstaat” zu verteufeln, anstatt genauso aktiv gegen Franco-Afrika oder die französische Politik in Mayotte zu kämpfen, so wie sie es gegen Israel tun.
Wir verurteilen die Linie eines Teils der feministischen und queeren Bewegungen, die, um von ihrem eigenen Kolonialismus (dem französischen) abzulenken, den israelischen Kolonialismus zum zentralen Thema der Emanzipationskämpfe machen, indem sie nicht zögern, Jagd auf tatsächliche oder eingebildete “Zionisten” zu machen, und das bis in unsere militanten Kreise hinein. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Antisemiten diesen Begriff seit seiner Popularisierung durch Soral und Dieudonné benutzen, um damit einfach Juden und Jüdinnen zu identifizieren.
Wir lehnen es ab, dass ethnisch unterdrückte Menschen uns als “weiß” bezeichnen, wenn viele unserer Eltern und Großeltern aus denselben Ländern stammen wie sie selbst. Die Weißmachung von Juden in einigen “antirassistischen” Diskursen ist Teil desselben Willens, Juden zu dämonisieren und sich zu weigern, die prägnante und unbestreitbare Realität des Antisemitismus in der französischen Gesellschaft und in der Welt im Allgemeinen zu berücksichtigen.
Wir haben es im Vorfeld der feministischen Demonstration am 25. November gesagt und wiederholen es heute, am Tag nach dem 8. März, dem internationalen Kampftag für Frauenrechte: Diese Gewalt traumatisiert uns und schließt uns als geschlechtlich benachteiligte Menschen und als Jüdinnen und Juden aus.
Dabei sind die Positionen für den Frieden, gegen Kolonialisierung und gegen Faschismus innerhalb von JJR (Juives et Juifs Révolutionnaires) klar und in unserer Geschichte verankert.
Was wir fordern, ist eine internationalistische feministische Position, die, ohne die unterschiedlichen Machtverhältnisse zwischen Staaten zu leugnen, ohne Erpressung oder Konditionierung, jegliche sexistische, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt anprangert, unabhängig davon, ob sie von Palästinenserinnen, Iranerinnen, Israelis, Ukrainerinnen oder anderen Nationalitäten erlebt wird. Die ersten Opfer von Kriegen sind Frauen und Kinder. Wir kämpfen für Solidarität zwischen allen geschlechtlich minorisierten Menschen, wir kämpfen für eine Welt, in der alle Vergewaltigungen und sexistische Unterdrückung vorbehaltlos verurteilt werden, nicht für eine Welt, in der ihre Schwere “kontextualisiert”, sofort in Frage gestellt, verleugnet oder für politische Agenden genutzt werden. Wir glauben an Bewegungen für Frieden und Gerechtigkeit, die oft von Frauen getragen werden, die sich weigern, ihr Leben, ihre Häuser und ihre Familien zerstören zu lassen, um nationalistische oder ethnozentrische Bestrebungen zu nähren, deren Wurzeln ebenfalls patriarchalisch und kapitalistisch sind.
[1] Clara Zetkin, eine deutsche sozialistische Feministin, die oft als Initiatorin des Internationalen Frauentags bezeichnet wird, behauptete jedoch selbst, das von Theresa Serber Malkiel konzipierte Modell des Nationalen Frauentags übernommen zu haben. https://www.jstor.org/stable/23881894
Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks.