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Kommuniqué über S., einen lebensgefährlich verletzten Genossen als Folge der Demonstration in Sainte-Soline

Die Polizei verstümmelt und versucht zu morden, um den Aufstand zu verhindern, Erklärung zu S., im Anschluss an die Demo bei Sainte-Soline

Am Samstag, den 26. März, wurde unser Genosse S. bei Sainte Soline bei der Demonstration gegen die Wasserbecken von einer Explosivgranate am Kopf getroffen. Obwohl er sich in einem absoluten Notfallzustand befand, verhinderte die Präfektur wissentlich, dass die Rettungskräfte zunächst eingriffen und in einem zweiten Schritt seinen Transport in eine geeignete medizinische Einrichtung einleiteten. Derzeit befindet er sich auf der neurochirurgischen Intensivstation. Sein Zustand ist weiterhin lebensbedrohlich.

Der Gewaltausbruch, dem die Demonstranten ausgesetzt waren, forderte Hunderte von Verletzten und führte zu mehrere schwere Verletzungen, wie die verschiedenen verfügbaren Bilanzen bekanntgeben. Die 30.000 Demonstranten waren mit dem Ziel gekommen, die Baustelle der Mega-Bassine von Sainte-Soline zu blockieren, ein Projekt zur Aneignung des Wassers durch eine Minderheit zugunsten eines kapitalistischen Modells, das nichts mehr zu verteidigen hat außer dem Tod. Die Gewalt des bewaffneten Arms des demokratischen Staates ist der hervorstechendste Ausdruck davon.

In der durch die Bewegung gegen die Rentenreform eröffneten Sequenz verstümmelt die Polizei und versucht zu morden, um den Aufstand zu verhindern, um die Bourgeoisie und ihre Welt zu verteidigen. Nichts wird unsere Entschlossenheit beeinträchtigen, ihrer Herrschaft ein Ende zu setzen. Am Dienstag, den 28. März und an den folgenden Tagen, lasst uns die Streiks und Blockaden verstärken, lasst uns die Straßen einnehmen, für S. und alle Verletzten und Eingeschlossenen unserer Bewegungen.

Es lebe die Revolution.

Von Genossinnen und Genossen des S.

Übersetzt aus Paris-Luttes Infos

Exkurs über einen Funken

Freddy Gomez

Ende Februar/Anfang März deutete alles darauf hin, dass trotz einiger offensichtlicher Äußerungen der Diskonformität an der Basis und in einigen Gewerkschaftsverbänden die ultraverantwortliche – oder anders gesagt: unverschämt planwirtschaftliche – Tangente, die die Gewerkschaftsführungen in den letzten zwei Monaten bei der Forderung nach Rücknahme der Rentenkonterreform eingeschlagen hatten, zu einer Massenniederlage auf offenem Feld führen könnte. Die Überzeugung war so weit verbreitet, dass selbst einige Gewerkschaftsbonzen angesichts der von Macron gesetzten Fristen und seiner grenzenlosen Sturheit begannen, an der Richtigkeit ihrer Strategie zu zweifeln. Daher der Aufruf des Schafhirten an seine Schafe, “das Land zum Stillstand zu bringen” oder, für die Verehrer der Einheitsführung, es am 7. März – und vielleicht sogar danach – zu “blockieren”. Es gab zwar Streiks, manchmal auch verlängerbare, Blockaden, aber nur teilweise, und verschiedene Konvergenzen – vor allem mit der Jugend -, aber keine wirkliche Begeisterung oder Erfindungsgabe im Kampf. Im Klartext: Diese nicht einheitliche Nicht-Bewegung wurde schließlich zu einer Bewegung, aber nur am äußersten Rand und ohne wirklich mitreißende Wirkung.

Die Entwicklung des Kräfteverhältnisses in Paris ließ sich unterdessen an den Müllbergen ablesen – Ehre den Müllmännern! – die jeden Tag in die Höhe wuchsen, man konnte konstatieren, dass die Bedingungen für einen Flächenbrand im übertragenen wie im wörtlichen Sinne durchaus vorhanden waren. Es fehlte nur der Funke. Wir mussten bis zum letzten parlamentarischen Akt der von Macron bis ins kleinste Detail geplanten Saga warten, um ihn endlich aufblitzen zu sehen, diesen Funken, in Form eines 49.3 des Angsthasens mit vorhersehbaren Folgen: Vermeidung der Lächerlichkeit, von zwei oder drei “Republikanern” abgestochen zu werden, selbst auf die Gefahr hin, die ganze Ebene in Brand zu setzen.

Und so kam es dann auch.

Wir wollen hier nicht auf rein politische Erwägungen rund um den hässlichen Artikel 49.3 eingehen, den jeder Oppositionelle, der diesen Namen verdient, verurteilen muss, bevor er ihn an der Macht maßlos anwendet. Für die jüngeren Generationen sei hier nur daran erinnert, dass einer von ihnen, als er ‘Kaiser Tonton’ wurde, uns bereits den “permanenten Staatsstreich” vor Augen geführt hat, bevor er sich in den trübsten Gewässern der Verfassung der V. Republik – einschließlich des 49.3 – versenkte, um dort seine Gewissensprobleme zu ertränken. Wir wissen das alles, wir sollten es zumindest wissen, aber das ist nicht das Thema. Das Thema ist Macron, der von der gesellschaftlichen Ethik nur eine hässliche Vorstellung hat: alles zu zerstören, was sie gemein macht, und alles zu verachten, was sie begründet. Die ganze Sturheit dieses Mannes rührt daher. Bei ihm heißt es nicht wie bei einem Nachkriegsgeneral: “Ich oder das Chaos”, sondern “Ich und das Chaos”. Permanent, das Chaos, wie der Staatsstreich. Das Wesen dieses Typs besteht darin, Hass zu schüren, indem er die Zerstörung jeglicher sozialer Absicherung so weit wie möglich treibt. Eine exakte Kopie von Thatcher, kurz gesagt, ohne Perücke und Teint. Allerdings müsste man sich das aus der Nähe ansehen…

Es bleibt eine Unbekannte, die man so ausdrücken könnte: Es ist bekannt, dass Ideologie blind machen kann, und außerdem ist Macron ein verrückter Ideologe des “freien und unverfälschten” Wettbewerbs, dieser unsichtbaren Hand des Marktes – die mittlerweile jeder im Logo von Total und im spekulativen Walzer der Etiketten erblickt -, des Selbstunternehmertums, des Laisser-faire/Laisser-aller, der Privatisierung und der allgemeinen Kommerzialisierung der Welt. Ideologischer als er, und du stirbst. Wir wissen das alles, aber was wir kaum verstehen können, ist, durch welche allgemeine Störung des Verständnisses und des wohlverstandenen Interesses ihm niemand bei seinen Förderern des CAC 40 (Leitindex der 40 führenden französischen Aktiengesellschaften, d.Ü.), also in seinem Lager, dem des Kapitals, ins Ohr zu flüstern scheint, dass es immer einen Moment gibt, in dem man aufhören sollte, mit Streichhölzern zu spielen. Um ein Aufflammen zu verhindern. Das war die Karte der Gewerkschaften, die Karte der Rückkehr zur Vernunft. Man muss also glauben und die Lehren daraus ziehen, dass das Kapital in seinem akkumulierenden Wahnsinn wie Macron auf Klassenkrieg und Unterdrückung setzt. Es sei denn, es hat nicht doch wirklich Angst bekommen, was aber bald der Fall sein wird.

Also Feuer… Nicht das Feuer der Mülltonnen – Ehre sei den Müllmännern, die uns so viel Müll zum Verbrennen anbieten! -, sondern das Feuer, das der Wahnsinnige im Élysée-Palast entfacht hat, indem er seiner bornierten Dienstleisterin befohlen hat, die Verantwortung für seine Regierung zu übernehmen. Der Rest ist Sache der Intendanz. Und die Intendanz ist Sache der Abgeordneten. Es scheint festzustehen, dass die Bornierte früher oder später in ihren Gemüsegarten zurückkehren wird. Es sei ihr gegönnt. Ein/e andere/r wird sie ersetzen, mit demselben Ergebnis. Ansonsten ist alles offen und von hier aus werden keine Pläne auf den Kometen geschmiedet. Es bleibt nur die Straße, die Straße in Freude, die Straße ohne Ketten, die Straße in Flammen.

Was diese “Nicht-Bewegung” der vereinigten Masse in der ersten Etappe so irritierend machte, war ihr ritualisierter, gerahmter und disziplinierter Charakter. Ein einziger Rückwärtsgang, kurz gesagt, nach der Explosion der Kraft und dem unerschütterlichen Erfindungsreichtum der Gelbwesten. Wenn die Gewerkschaftsführungen wieder die Kontrolle übernehmen, sinkt immer das Niveau des Engagements im Kampf. Das ist eine Lehre aus der Geschichte, die durch die Geschichte, die wir gerade erleben, nicht widerlegt wird.

Wir müssen also dem verrückten Start-Upper dankbar sein, dass er am 16. März aus Angst einen entscheidenden Schritt getan hat, der die Bewegung, wenn sie nicht sterben wollte, dazu zwang, die Art ihrer Worte und Taten zu ändern. Charles Amédée Simon du Buisson de Courson, zentristischer Abgeordneter der Fraktion “Libertés et territoires”, ahnte dies zweifellos, als er bei der Ankündigung der Einreichung eines parteiübergreifenden Misstrauensantrags erklärte: “Es ist unzulässig, auf einen 49.3 zurückzugreifen und das Land in Brand zu setzen…”. Feuer, immer und immer wieder. Und der gute Mann weiß, wovon er spricht: Der frühere Louis-Michel Lepeletier de Saint-Fargeau, einer seiner Vorfahren, stimmte am 20. Januar 1793 für den Tod des Königs. Zweifellos im Geiste der Befriedung und um dem Symbol der Unterdrückung ein Ende zu setzen. Das misslang ihm übrigens, denn er wurde noch am selben Tag von einem Radikalen des besiegten Ancien Régime ermordet. Du Buisson de Courson kann beruhigt sein: Da sein Antrag mit nur neun Stimmen Unterschied abgelehnt wurde, wird sich ihm kein radikalisierter Macronard in den Weg stellen, um die verletzte Ehre des Zaunkönigs von Le Touquet zu rächen.

Die Feststellung drängt sich auf: Seit dem 16. März, dem Tag des Durchbruchs, ist eine radikale Spontaneität in der Durchführung der Aktionen zurückgekehrt. Aus sich selbst heraus und durch sich selbst bilden sich jeden Tag überall Demonstrationszüge, die vielfältig, heterogen und wild sind und die Slogans der Gelbwesten in ihrer ursprünglichen Version wiedergeben. Dies ist ein Zeichen für eine bemerkenswerte Veränderung, einen Wandel, eine Rückkehr der Unkorrektheit, eine Emanzipation von der Etikette. Platzbesetzungen, Faustkampfaktionen, Öffnung von Mautstellen, offensive Demonstrationen, Mobilisierung der schulpflichtigen Jugend, breite Konvergenzen. Ebenso werden die Streiks in einigen entscheidenden Sektoren härter: Müllmänner, Raffineriearbeiter, Eisenbahner, Elektrizitäts- und Gaswerksarbeiter. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von sozialen Guerillaaktionen und -herden, die in der Regel auch nur minimal koordiniert werden, aber früher oder später alle auf eine Art Prellbock stoßen, der immer derselbe ist: die Strategie – Konfrontation, Umgehung oder Widerstand -, die man angesichts der Repressionskräfte einer Macronie, die nur durch sie zusammengehalten wird und deren schändlichste Methoden sie seit den Gelbwesten legitimiert und gefördert hat, anwenden sollte.

Viele Leitartikler, die bis vor kurzem noch den Griff des finsteren Lallement gelobt hatten, versuchten, ihr Bild zu korrigieren, indem sie einen angeblichen Methodenwechsel bei der Aufrechterhaltung der Ordnung begrüßten, seit Nuñez, dieser große Bewunderer der unzivilisierten spanischen Guardia Civil, ihn ersetzt hatte. Ohne Scham oder Verlegenheit lobten sie sein Können und sein Wohlwollen. Wenn man jedoch abwartet, um zu überprüfen, hätte man gesehen, dass die Polizei, die bei der Verwaltung der ersten großen Demonstrationszüge im Januar eher zurückhaltend war, sich seitdem so gut entfesselt hat, dass es in der Praxis keinen Unterschied mehr zwischen dem virilistischen Mann mit Sternenmütze, der früher die Befehle gab, und dem dickbäuchigen “Friedensstifter”, der sie heute flüstert, gibt. Genauso wie es keinen Unterschied zwischen Dartaner und Casmanain gab. Und das aus gutem Grund, denn alle wurden von Macron wegen ihrer bösartigen Seite ausgewählt, und ihr Fahrplan bleibt derselbe: die Straße ohne Gewissensbisse zu beherrschen. Und um das zu erreichen, müssen die Gegner terrorisiert werden. Das Ziel wurde übrigens erreicht, denn es ist nicht ungewöhnlich, von Freunden, eher älteren Semestern, zu hören, dass das Risiko, auf eine Demo zu gehen, für sie nicht mehr tragbar ist – eine perfekte Definition dessen, was ein Polizeistaat in der Intimität der Körper ist.

Es ist unbestreitbar, dass die Polizei seit Macrons Machtübernahme täglich ein erschütterndes Schauspiel der Niedertracht liefert, gedeckt durch ihre Hierarchie und ihren Minister: illegale Einkesselungen, zufällige Festnahmen, Gewalt gegen Unbeteiligte, Demonstranten, die zu Boden geschlagen, beleidigt und gedemütigt werden, Polizeigewahrsam zuhauf (um der Zahl willen) – die überwiegende Mehrheit ohne Anklageerhebung, was beweist, dass sie grundlos waren. Und der brave Nuñez, der neue Stern am Leitartikelhimmel, ärgerte sich auf den Bildschirmen der Medienmülltonnen über die höfliche Kritik einiger Journalisten vor Ort und der Richtergewerkschaft: “Nein, nein, es gibt keine ungerechtfertigten Festnahmen, ich kann nicht zulassen, dass das gesagt wird”… Vaffanculo, wie man im Land der Stiefel sagt, den, den er verdient.

Am 21. März verfolgen auf der Höhe von La Bastoche Gendarmen auf Motorrädern, die mit der verhassten BRAV-M verstärkt wurden, einen Demonstranten, rammen ihn ein erstes Mal, kehren zurück und fahren ihm dann über das Bein. Die Szene kursiert in den Netzwerken. Am 22. März tauchte in Romainville am Streikposten der Fabrik TIRU (Traitement industriel des résidus urbains) und bei den jungen und weniger jungen Demonstranten, die zur Unterstützung der Streikenden gekommen waren, eine sehr einschüchternde, auf Pferden reitende Polizei auf. Die Szene kursiert auch in den Netzwerken. “Überall Polizei, nirgends Gerechtigkeit!”

Und dennoch: Überall bewegt sich etwas. Und manchmal weichen die Blauen zurück, wie in Fos-sur-Mer unter den Steinwürfen der Streikenden des Öldepots. “Seit sechs Tagen”, so der Innenminister am 21. März, “sind die Polizisten und Gendarmen mit 1.500 nicht angemeldeten Operationen konfrontiert”, d. h. wilden Demonstrationen, die von unten ausgehen. Diese täglichen spontanen Mobilisierungen, die seit dem Funkenflug des 49.3 in Paris und überall sonst stattfinden, zeugen von einer erstaunlichen Stärke. Und noch mehr von der Entstehung neuer Affekte, Praktiken und dem Willen, sich von der Last der Welt zu befreien. Und das weit über die Rentenfrage hinaus.

Am 17. März war es mild auf dem Place de la Concorde – früher Place Louis XVI, dann Place de la Révolution. Und es war wie eine süße Vorankündigung des Frühlings eines Volkes. Mit einem Mal stieg ein Schrei aus der freudig hasserfüllten Menge auf: “Louis XVI, Louis XVI, on l’a décapité; Macron, Macron, on peut recommencer” (Ludwig XVI, Ludwig XVI, man hat ihn enthauptet; Macron, Macron, wir können es wieder tun). Ein Schrei, der unendlich oft zu tänzerischen Bewegungen wiederholt wurde. Dann wurde ein Bildnis von M. le Président hochgehalten, bevor es den Flammen eines improvisierten Scheiterhaufens übergeben wurde. Dies wird als charivari bezeichnet, ein Ritual zur symbolischen Bestrafung von Machtfiguren, die gegen die Werte der Allgemeinheit verstoßen haben. “Es ist traurig bis beunruhigend”, sagte François Bayrou, Großkämmerer seiner eigenen Selbstgefälligkeit, weil er Königsmacher war. Und er fügte hinzu, der Unglückliche: “Die Tatsache, dass mit Bildnissen gespielt wird, ist ein sehr schlechtes Signal.” Ohne zu sagen, für wen… Ob Bayrou nun klug beraten ist, sich so sehr über eine Scheinhinrichtung zu sorgen, darf bezweifelt werden. 

Vor allem, wenn die echten Mülltonnen, die sich anhäufen, gleichzeitig den fröhlichen Brandstiftern dieser potenziell absetzenden Bewegung als Brandherde angeboten werden.

Dieser Text erschien im französischen Original am 23. März 2023 auf A Contretemps.

Handeln wie in Frankreich?

Sandro Moiso

Die erste Folge der erneuten Einigung zwischen Italien und Frankreich, die einzige Trophäe, die Premierminister Meloni nach den Gesprächen mit Macron und dem Ende des europäischen Gipfels am 23. März vorweisen kann, war, dass auf den Titelseiten der Zeitungen und Nachrichtensendungen aller politischen Richtungen und Zugehörigkeiten jeglicher Hinweis auf die Unruhen, die Frankreich mit Millionen von Demonstranten auf den Straßen erschüttern, getilgt wurde. Doch auch für den weniger scharfsinnigen oder kritischen Blick ist nicht zu übersehen, dass die geopolitische Landkarte dessen, was einmal die Europäische Union sein sollte, heute von drei großen Krisengebieten geprägt ist, die sich von Ost nach West durchziehen.

An den östlichen Grenzen der Krieg in der Ukraine mit seinen möglichen globalen Auswirkungen, die bereits einige europäische Eliten beunruhigen und sie dazu veranlassen, nach Peking zu eilen, um Präsident Xi Jinping aufzufordern, sich zu beeilen und einen echten Vorschlag für einen Waffenstillstand zu unterbreiten (trotz der Leugnung einer solchen Hypothese durch Präsident Biden und die imperialistischen Bettler im Vereinigten Königreich).

Im Herzen des Kontinents ist die Bankenkrise aus den Vereinigten Staaten gelandet, die zwei der wichtigsten europäischen Banken betrifft, die Credit Suisse, die innerhalb eines Herzschlags gestorben ist und im Wesentlichen von der UBS zu einem bis vor wenigen Wochen unvorstellbaren Wert aufgefangen wurde, und die Deutsche Bank, die wieder einmal auf ihrem “Bauch” voller Schrottanleihen, Subprime und Derivate, aber “arm” an Liquidität, dümpelt.

Im Westen und am Atlantik die sich immer weiter ausbreitende soziale Revolte in Frankreich, deren autoritäre Rentenreform nur der Auslöser für eine unter der Asche schwelende wirtschaftliche und soziale Krise war, die durch die zwei Jahre Laissez-faire-Maßnahmen erzwungen wurde, die seit den Tagen der Gilets Jaunes und, noch früher, der Banlieue-Unruhen als notwendig für den Schutz der öffentlichen Sicherheit durchgewunken wurden.

Ein wahrhaft perfekter Sturm, der bezeugt, dass der Status quo des westlichen Kapitalismus und seines Modus vivendi alles andere als rosig ist, ebenso wie der der Umwelt, die er gnadenlos und ohne Rücksicht auf die Zukunft der Spezies kolonisiert hat, angefangen mit dem europäischen Kontinent.

Wie die vier Reiter der Apokalypse zeigen die Wirtschaftskrise, der Krieg, die Umweltkrise und die Verarmung großer Teile der Gesellschaft, vielleicht sogar der Mittelschicht, dass die Produktionsweise, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und des Kapitals durch die Umwelt beruht, auf dramatische Weise zu Ende geht.

Frankreich und die Umwälzungen, die es zunehmend durchziehen, scheinen gleichzeitig zwei Wege aufzuzeigen, die die aus der gegenwärtigen zerstörerischen Produktionsweise hervorgegangene Gesellschaft einschlagen kann, um sich dem Drama des gegebenen historischen Augenblicks zu stellen.

Auf der einen Seite der staatliche Autoritarismus, der, wie seit Jahren auf diesen Seiten und in anderen Zusammenhängen (1) wiederholt wird, sowohl den elementarsten Forderungen, die von unten kommen, als auch jeder reformistischen Hypothese, die auf eine Verbesserung der Bedingungen des Gesundheitswesens, der Renten (2), der Bildung, der Arbeit und der Löhne abzielt, nichts zugesteht und nichts mehr zugestehen kann. Der Wettbewerb um die Aufteilung des insgesamt produzierten Mehrwerts hat sich zu einem weltweiten Prozess entwickelt, in dem junge, gerissene Konkurrenten darauf aus sind, die Vorherrschaft des “Westens” beim Horten von Ressourcenreichtum zu untergraben.

Ein Autoritarismus, der sich hinter den allgemeinen Formulierungen der Verteidigung unwahrscheinlicher grüner Übergänge oder liberaler Rechte verbirgt, die wenig Auswirkungen auf das konkrete materielle Leben von Millionen von Bürgern aller Geschlechter, ethnischer und sozialer Zugehörigkeiten (sofern sie von mittlerem Niveau sind) haben, die alle nur dazu bestimmt sind, in jedem Bereich der Arbeit immer mehr ausgebeutet zu werden (wozu man mittlerweile die gesamte Wirtschaft zählen muss, die fälschlicherweise als illegal definiert wird und mit dem Sex- und Drogenmarkt verbunden ist) oder als Kanonenfutter in dem Krieg, der, wenn wir auf diesem Weg weitergehen, mit Sicherheit kommen wird.

Die Entscheidung Macrons, das Rentenalter für französische Arbeitnehmer um zwei Jahre zu erhöhen, ist nicht einmal eine richtige Entscheidung. Es ist eine Wahl, die aus dem Wunsch heraus getroffen wurde, die gegenwärtige soziale und politische Ordnung aufrechtzuerhalten, in der die parlamentarische Demokratie nur eine Zierde ist. Ein verhängnisvolles Juwel, mit dem die herrschende Ideologie die Arbeiter, die Jugendlichen, die Frauen und die Proletarier aller Art (einschließlich der Unterschicht) betören konnte, solange wenigstens im Westen bestimmte Reformen mit dem Mehrwert finanziert werden konnten, der den unterbezahlten Arbeitern in anderen Teilen der Welt entzogen wurde.

Jetzt verbleibt der dort gewonnene Mehrwert größtenteils oder ganz in den Taschen anderer Unternehmer, anderer Bourgeoisien, die es vorziehen, neben der Aufstockung ihrer eigenen Profite und Investitionen einen Teil davon im eigenen Land umzuverteilen, um auch den heimischen Markt zu verbessern und zu erweitern sowie die Anzeichen von Klassenkonflikten, die sich in den Fabriken und Produktionssektoren im Inland manifestieren, zumindest teilweise zu beschwichtigen.

Die Anhäufung von Reichtum in immer weniger Händen deutet paradoxerweise nicht auf eine Zunahme der Weltproduktion hin (was noch zu überprüfen ist), sondern darauf, dass der produzierte Wert im Vergleich zu den notwendigen Investitionen erheblich zurückgegangen ist, insbesondere im Westen und den direkt mit ihm verbundenen Gebieten.

In diesem Sinne erinnert die Krise der SVB (Silicon Valley Bank) nicht nur an die Risiken, die mit der geringen Kontrolle der Banken durch den Staat verbunden sind (fast so, als ob dieser wirklich ein neutrales und unparteiisches Instrument für die Verwaltung des Reichtums und der Gesellschaft wäre), sondern sie steht auch für das Ende des Traums von Neugründungen, von waghalsigen Investitionen, die mehr mit Versprechungen als mit tatsächlichen Ergebnissen verbunden sind und für die Elon Musk der große Meister war. Vielleicht sogar noch mehr als Pioniere wie Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg, die als erste auf dem Markt der neuen Technologien und der damit verbundenen Versprechungen ankamen, nun aber gezwungen sind, Hunderttausende von Mitarbeitern zu entlassen (eine Tatsache, die auch fatale Folgen für die nächste US-Präsidentschaftswahl haben könnte).

Finanzwesen, das Internet, Plattformen und Computer haben zusammen dazu beigetragen, die Bewegung von Reichtum zu beschleunigen, Ideen und Kämpfe zu verwirren und Individuen zu verunsichern, die in den Strudel der Geschwindigkeit der Kommunikation und der organisierten Desinformation hineingezogen wurden (oft offiziell, noch bevor sie “hergestellt” wurde). Aber sie haben nicht dazu beigetragen, einen echten “Wert” zu schaffen, sondern eher die Illusion des Wertes von etwas, das nicht existiert. Und in diesem Sinne ist das einzige wirkliche Proletariat, das jenseits der wilden Theorien der letzten dreißig oder vierzig Jahre mit diesem Sektor verbunden ist, dasjenige, das direkt an der manuellen Produktion von elektronischen Geräten und den dazugehörigen Komponenten (einschließlich Programmen) beteiligt ist.

Die Krise der SVB bestätigt all dies (3), aber sie kündigt auch das Ende eines Traums an: Wert und Reichtum zu produzieren, ohne manuelle Arbeit zu verrichten, ohne überhaupt etwas Materielles zu produzieren, im Grunde, wie es in vielen Fällen und insbesondere im Fall von Musk geschehen ist, durch den Verkauf von Fälschungen und ideologischen Formen.

Schließlich bringt es das “Solow-Paradoxon” ans Licht, ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, der 1987 für seine Beiträge zur Theorie des Wirtschaftswachstums den Nobelpreis erhielt, in dem er argumentierte, dass “Computer überall zu finden sind, nur nicht in der Steigerung der Produktivität” (4).

Sicherlich scheint heute die Rüstungsindustrie, auf die sich alle großen Staaten zubewegen, in nicht allzu ferner Zukunft größere und solidere Gewinne zu versprechen, zusammen mit den Staatsanleihen, die zu ihrer Finanzierung erforderlich sind, und so gewinnt die “Konkretheit” der militärischen Angelegenheiten in jeder Hinsicht wieder die Oberhand über die Leichtigkeit der bereits alternden, durch “immaterielle” Produktion gekennzeichneten New Economy. Und dies ist nicht zu trennen von dem, was der französische Präsident in Bezug auf die Rentenreform getan hat.

Im Spiel um die wirtschaftlichen Gleichgewichte des Staates kann das jüngste Versprechen Macrons, 200 Milliarden Euro in die Erneuerung der Ausrüstung der Streitkräfte und ihre Reorganisation nach einem modernisierten Schlüssel zu investieren, begleitet von einer Andeutung der möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht, nicht zum Nulltarif erwartet werden. Kosten, die natürlich sofort und wie immer vollständig auf den Schultern der Steuerzahler, der Arbeitnehmer, der Jugendlichen, der Frauen und derjenigen, die an der Grenze zwischen Arbeitslosigkeit und “Schwarzarbeit” leben, lasten. Das macht es dem diensthabenden “Mario Antonietto” unmöglich, auch nur Brioches anzubieten, um den Zorn der Öffentlichkeit zu besänftigen.

Ja, es muss also wie in Frankreich ein Klassenwiderstand geleistet werden.

Ein breiter, hartnäckiger sozialer Kampf, bis zum bitteren Ende und ohne Rücksicht auf die Gegner, ist die einzige mögliche Form des Kampfes, zu dem uns der heutige Kapitalismus zwingt. Sowohl für soziale Forderungen als auch für den Widerstand gegen die Opfer, die uns bereits für den Krieg auferlegt werden. Machen wir uns das zunutze und zeigen wir damit, dass der Kampf gegen das Kapital und seine Funktionäre und der Kampf gegen den Krieg im Grunde genommen ein und dasselbe sind (5), denn jeder soziale Kampf dieser Größenordnung stellt notwendigerweise die Initiative des Kapitals in Frage und untergräbt sie. Auch und gerade den Krieg.

Die materiellen Bedingungen der Existenz und nicht die Ideen, die Beziehungen zwischen den Klassen und nicht die politisch korrekten Diskurse bestimmen den Weg der Geschichte und der Revolutionen. Wir können heute am Rande eines Abgrunds stehen (allgemeiner Weltkrieg) oder vor einem neuen Morgen, das es zu erfinden gilt. Die französischen Genossen und Genossinnen sind, wenn auch unbewusst, bereits gezwungen, das Problem (hier) unter der Dringlichkeit des Werdens und der kollektiven Aktion zu stellen. Möge die französische zur neuen Epidemie werden, die dazu bestimmt ist, die europäische Ordnung des Kapitals zu stören.

Fußnoten

  1. S. Moiso (ed.),  Guerra civile globale. Fratture sociali del terzo millennio, Il Galeone Editore, Rom 2021
  2. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass genau um den Diskurs über die Kosten der Rentenausgaben herum im Jahr 2011 eine Art echter technokratischer Staatsstreich stattfand, hier im demokratischen Italien, und zwar durch die Regierung Monti, die damals von der Linken in einer Anti-Berlusconi-Schlüsselstellung gehievt wurde, die sogenannte Fornero-Reform.  
  3. “Apple, Microsoft, Amazone Web Services (Amazons Zweig, der mit der Entwicklung der Cloud, der Mikrosoftwareservices und dem Internet der Dinge verbunden ist und dem gesamten multinationalen Unternehmen einen Nettogewinn beschert, der deutlich höher ist als der kolossale Umsatz des Logistik- und E-Commerce-Teils), Google, Oracle, Salesforce, IBM und Intel – im Grunde fast alle strategischen Großunternehmen der neuen digitalen Wirtschaft – befinden sich am Anfang einer tiefen Krise. Noch vor dem Konkurs der Silicon Valley Bank haben alle diese Großunternehmen Anfang 2023 eine massive Umstrukturierung mit Massenentlassungen in ihren Schlüsselbereichen Forschung und Entwicklung eingeleitet, wie sie bereits im vergangenen Herbst angekündigt hatten. Eine Operation, die sich auf 120.000 Arbeitsplätze in Kalifornien auswirken wird, und zwar in den Bereichen IT, Internet der Dinge, Cloud Computing, Software und digitale Forschung. Amazon (im AWS-Sektor), Google, Microsoft, Salesforce entlassen 15 % der Belegschaft, Apple streicht derzeit alle Unterverträge mit Drittanbietern, und es wird gemunkelt, dass dies nicht ausreichen wird, um die direkten Arbeitnehmer zu retten. Das von Elon Musk übernommene Unternehmen Twitter wird 50 % seiner Belegschaft abbauen. Intel sieht sich gezwungen, die Gehälter von Managern und Angestellten um 15 %, die von Führungskräften um 10 % und die von anderen IT-Technikern um 5 % zu kürzen, und kündigt gleichzeitig die ersten Entlassungen an, die sich noch in Grenzen halten. Welche Erfolgschancen haben die so genannte New Economy und Technologie-Start-ups, die von dieser Kette abhängen? Welche Aussichten auf Valorisierung könnten die in der ehemaligen Silicon Valley Bank deponierten Kapitalien und Finanzierungsoperationen haben?” Quelle
  4. Der Autor dieses Artikels verdankt diese Beobachtung Alberto Airoldi und seinem Roman Sugar Mountain. Il brusco risveglio, Casa Editrice Leonida, Reggio Calabria 2022, S.29
  5. Aus diesem Grund sollten einige Kommentatoren der italienischen Presse vielleicht im Interesse ihrer eigenen Sache darauf verzichten, auf der Titelseite oberflächliche und reduzierende Ideen wie diese zu äußern: “Gestern hat Macron selbst den Unterschied zwischen Populismus und Politik erklärt: Die Souveränität gehört dem wählenden Volk, nicht dem Volk im Aufruhr. Der Populismus stellt sich hinter das Volk in Aufruhr, die Politik stellt sich vor das wählende Volk, wo sie vom souveränen Volk eingesetzt wurde”, M. Feltri, Mario Antonietto, “La Stampa”, 23. März 2023. Dies deckt sich unter anderem mit den Äußerungen des Philosophen Bernard Henri-Lévy in seinem Artikel in “La Repubblica” vom 25. März mit dem alarmistischen Titel: “Ein gerechter Protest wird gewalttätig: Frankreich riskiert die Selbstzerstörung”. 

Erschienen auf italienisch am 25. März 2023 auf Carmilla Online.

SAINTE-SOLINE: SIE WOLLEN UNS TÖTEN

Auf der einen Seite steht das Leben. Zehntausende von Menschen aus ganz Frankreich und darüber hinaus, aus allen Generationen und mit unterschiedlichen Ansichten, vereint in der Verteidigung eines lebenswichtigen gemeinsamen Gutes: Wasser. Auf der anderen Seite steht der Tod. Eine industrielle Landwirtschaft, die mit Pestiziden vollgepumpt wird. Künstliche Wasserbecken, die eine verschwindende Ressource privatisieren. Gepanzerte Fahrzeuge. Tausende von Soldaten. Granaten, die explodieren.

An diesem Samstag sahen wir drei verschiedene, generationenübergreifende Demonstrationszüge, 30.000 Menschen aller Altersgruppen, die durch die Felder und Wege zogen, bevor sie mit Explosivgranaten empfangen wurden. Die Gendarmerie hatte einen Schießplatz organisiert: 3200 bewaffnete Männer, die um ein zur Festung umgebautes Becken herumstanden. Ununterbrochenes Feuer aus Tausenden von Geschossen auf eine Menschenmenge, die über weite, flache Flächen verstreut war, von Seiten der Gendarmen, die von einer erhöhten Position aus feuerten. Es war ein Gemetzel.

Wir spürten die furchterregenden Einschläge der GM2L-Granaten. Kriegswaffen, die mit C4 gefüllt waren. Einmal, zweimal, dann hunderte Male zuckten wir zusammen und sahen, wie die Explosionen Krater in die Felder rissen, über unseren Köpfen explodierten oder in die Körper unserer Freunde einschlugen.

Wir sahen, wie ein Weizenfeld in ein Kriegsgebiet verwandelt wurde, wie eine mörderische napoleonische Schlacht, oder wie Wellen von Menschen unter Beschuss inmitten von Feldern fielen. Nur dass hier nur eine Seite bewaffnet war.

Wir sahen, wie die Panzerkampfwagen der Machthaber mit voller Kraft und unter vollem Beschuss Granaten in die Menge schossen.

Wir sahen Militärs auf Quads, die mit voller Geschwindigkeit fuhren und aus ihren fahrenden Geräten Tränengas und Gummigeschosse abfeuerten.

Wir sahen, wie ein Mann mit einer gelben Fahne der Bauernkonföderation entlang einer Straße von Gendarmen verfolgt wurde, die sich anschließend schießend zurückzogen.

Wir sahen, wie einige schädliche Fahrzeuge in Rauch aufgingen und einige Breschen in ein militarisiertes Dispositiv geschlagen wurden. Wir haben den unglaublichen und schönen Mut der Demonstranten gesehen.

Wir sahen einen Schwerverletzten, der über 30 Minuten lang nicht versorgt werden konnte, weil die Sicherheitskräfte den Rettungsdienst am Durchkommen hinderten.

Wir sahen aufgeschlitzte Körper, leblose Körper, blutende oder traumatisierte Menschen. Heute Abend berichtet Le Monde von “200 verletzten Demonstranten, davon 10 im Krankenhaus und einer im Koma mit schlechter Prognose und zwei Personen mit schlechter funktioneller Prognose”. Eine Person wurde geblendet, andere wurden an den Augen und im Gesicht getroffen. Die Bilanz ist leider noch vorläufig.

Wir haben eine Macht im freien Fall gesehen, die autoritär und isoliert ist und versucht, diejenigen zu töten, die das Wasser, ihre Renten und ihr Leben verteidigen. Diejenigen, die Widerstand leisten.

Der Text zum heutigen Tag bei Sainte Soline erschien nur wenige Stunden nach den Erlebnissen bei den Gefährt*innen von Contre Attaque

Eine unwirtliche Welt

n+1

Die Telefonkonferenz am Dienstagabend, an der 18 Genossinnen und Genossen teilnahmen, begann mit dem Kommentar eines Genossen zu Nouriel Roubinis Buch Die große Katastrophe: Zehn Bedrohungen für unsere Zukunft und Strategien zum Überleben.

Das Buch ist vielleicht das erste, in dem im Schlussteil nicht von Wundern gesprochen wird, um die kapitalistische Gesellschaft vor sich selbst zu retten. Das allein ist schon ein interessanter Zug. In der Tat schlägt der Autor nun zwei Szenarien vor, denen wir deterministisch gegenüberstehen werden: ein “dystopisches” und ein “utopisches” Szenario. Einmal mehr erweist sich die politische Ökonomie mit ihren Modellen und Interpretationsinstrumenten als unfähig, den uns bereits bekannten Sprung “von der Utopie zur Wissenschaft” zu schaffen. Wenn man den Kommunismus nicht als “reale Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand abschafft”, anerkennt, kann man nur Dystopien und Renaissance-Utopien (eine weitere historische Zäsur) darstellen. Die beiden Begriffe werden ohne Bezug auf irgendeinen Gattungsparameter verglichen: Utopie aufgrund von was? Dystopie aufgrund von? Roubini erklärt lediglich, dass wir uns in einem “perfekten” Sturm befinden, weil die sich abzeichnenden Megamächte als “strukturell” bezeichnet werden; wir würden sagen, sie sind der gegenwärtigen Produktionsweise inhärent. Sie sind strukturell, aber es wird keine Erklärung für dieses Adjektiv gegeben. Es wird zu Recht gesagt, dass die Komplexität der Megamächte in ihrer Synchronität und Interaktion miteinander liegt, die schwer vorherzusagen und zu berechnen sind. Die vorherrschende Ideologie beginnt, ihre blindwütige Vision darzulegen: Es ist viel einfacher, über das Ende der Welt nachzudenken als über das Ende des Kapitalismus.

Für den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler steht fest, dass eine Finanzblase platzen wird, die Unbekannte ist nur der Zeitpunkt und das Ausmaß des verursachten Schadens. Er sagt auch, dass man die Eurozone und ihre schwächsten Glieder wie Italien und Griechenland im Auge behalten muss, die als erste durch eine Schuldenkrise platzen und einen Dominoeffekt auslösen könnten.

In diesem Zusammenhang stellt l’Economist fest, dass Europa mit dem Krieg in der Ukraine den blutigsten Krieg seit 1945 erlebt, während in Asien etwas weitaus Bedrohlicheres droht: der Konflikt zwischen Amerika und China um Taiwan, bei dem im Falle eines Ausbruchs eine neue Generation von Waffen, Hyperschallraketen und Satellitenabwehrwaffen zum Einsatz kämen, anstatt Schützengräben und Kanonenfeuer wie auf dem ukrainischen Feld, mit unsäglichen Zerstörungen und unvorhersehbaren Vergeltungsmaßnahmen (“How to avoid war over Taiwan“). Der chinesisch-amerikanische Streit lässt neue Allianzen entstehen, wie die zwischen Indien und Japan in einer anti-chinesischen Funktion oder die zwischen Russland und China in einer anti-amerikanischen Funktion. Bemerkenswert ist die Bedeutung des von China vermittelten Abkommens zwischen Saudi-Arabien und dem Iran (“Fear of China is pushing India and Japan into each other’s arms“). L’Economist berichtet auch über die gemeinsamen Militärübungen von China und Russland in den letzten Monaten: Im November überflogen chinesische und russische strategische Bomber das Japanische Meer und das Ostchinesische Meer. Am ersten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2023 übten russische, chinesische und südafrikanische Kriegsschiffe gemeinsam im Indischen Ozean. Und am 15. März begannen Russland, China und der Iran mit gemeinsamen Marineübungen im Golf von Oman (“Was will Xi Jinping von Wladimir Putin?“).

Nachdem er die tatsächlichen Ereignisse der Silicon-Valley-Bank-Krise vorausgesagt hatte, warnte Roubini, dass eine Anhebung der Zinssätze zur Abkühlung der Kreditvergabe und der Inflation einen Tsunami von Zahlungsausfällen und einen Zusammenbruch der Finanzmärkte auslösen würde. Am Horizont zeichnet sich nun das Eintreffen einer großen stagflationären Schuldenkrise ab. “Alles in allem”, schreibt der Autor, “stehen wir vor etwas, das früher undenkbar war, nämlich vor einer systemischen Katastrophe”.

Für Kommunisten ist der Zusammenbruch der gegenwärtigen Produktionsweise kein Grund zur Überraschung oder zum Erstaunen, denn sie wissen, dass innerhalb des Kapitalismus die Essenzen der kommunistischen Gesellschaftsorganisation zunehmen: Die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Privateigentum bilden eine Hülle, die nicht mehr ihrem Inhalt entspricht (Lenin: Der Imperialismus). In Roubinis Analyse gibt es jedoch nur den Abgrund nach dem Kapitalismus. Andere bürgerliche Kritiker wie Paul Mason (Postkapitalismus) sehen eine Zukunft jenseits des Kapitals, aber sie projizieren nur die Kategorien von heute auf morgen. Starke Titel erscheinen im Buchhandel, siehe Cannibal Capitalism. How the System is Devouring Democracy, Our Sense of Community and the Planet von Nancy Fraser; und auch in den Zeitungen der herrschenden Klasse, siehe Los hijos monstruosos de la hidra policrisis von Andrea Rizzi (El País, 18. März 2023). Diese Schriften zeugen von den Ängsten der Bourgeoisie angesichts einer kollabierenden Produktionsweise.

Die Demonstrationen in Frankreich gegen die Rentenreform (die demografische ist eine der von Roubini identifizierten Megakrisen), aber auch die der letzten Monate in England (es geht um den Brexit), Griechenland (wegen eines Zugunglücks) und Israel (11. Samstag mit Massendemonstrationen gegen Netanjahu) verdienen eine eingehende Analyse. Es handelt sich um allgemeine Bewegungen mit oder ohne Forderungen, um Massenreaktionen auf eine Gesellschaftsform, die nicht mehr funktioniert.

Ein weiteres Thema, das es zu untersuchen gilt, ist die künstliche Intelligenz, die sich auf zahlreiche Bereiche auswirkt: Krieg, Wirtschaft, Finanzen (siehe algorithmischer Hochfrequenzhandel). Roubini schreibt in The Great Catastrophe:

“Die permanente Entlassung von Arbeitern und Angestellten, die durch die Technologie begünstigt wird, wird die Schlangen vor den Arbeitsämtern verlängern und den Druck auf das bereits marode soziale Netz erhöhen. Hinzu kommt, dass Roboter bereits jetzt das Personalwesen verwalten und bald auch die Arbeitsämter. Diejenigen, die die KI kontrollieren, werden daraus enorme wirtschaftliche, finanzielle und geopolitische Macht ableiten. Aus diesem Grund kämpfen die USA und China um die Vorherrschaft in den Industrien der Zukunft. Und sollten sie jemals in den Krieg ziehen, den echten Krieg, könnten ihre jeweiligen KI-Technologien über Sieg und Niederlage entscheiden.”

Alles bewegt sich schnell und es ist schwierig, auf dem Laufenden zu bleiben: Während der Veranstaltung “Die Zukunft der Arbeit mit KI” wurde Microsoft 365 Copilot vorgestellt, ein generatives Modell für Microsoft-Anwendungen und -Dienste (Word, Excel, Powerpoint usw.), das unter anderem in der Lage ist, Dokumente zu verfassen und Teamsitzungen zusammenzufassen. Der CEO des Unternehmens, Satya Nadella, erläuterte die neuen Funktionen des beliebten Softwarepakets folgendermaßen: “Heute beginnen wir eine neue Ära, einen weiteren Schritt hin zu einer noch tieferen Symbiose zwischen Mensch und Maschine.”

Es findet ein epochaler Wandel statt, und es geht nicht nur um die so genannte technologische Arbeitslosigkeit: Es geht um die Möglichkeit der Wiedervereinigung des Menschen mit sich selbst, mit seinem anorganischen Körper, so wie es vor dem Aufkommen der klassengeteilten Gesellschaften war. In dem Artikel “Auf dem Weg zur historischen Singularität” schrieben wir: “Die Ersetzung des Menschen durch intelligente Maschinen und die neue Art der Interaktion zwischen Mensch und Maschine haben Auswirkungen auf den ideologischen und wissenschaftlichen Bereich. Die Menschheit beginnt, neue Fragen über ihre Zukunft zu stellen. Das bedeutet, dass die Zukunft mehr denn je auf die Gegenwart einwirkt.”

In dem Maße, wie die Dominanz der toten Arbeit über die lebendige Arbeit wächst, beginnen die Kapitalisten, die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz zu fürchten. Elon Musk, der viel in die KI investiert hat, geht sogar so weit, sie als “Bedrohung für die Menschheit” zu bezeichnen. Gewiss, in den Händen des Kapitals können diese Technologien sehr gefährlich werden. In den nächsten Jahren setzen wir als Menschheit und als Planet alles aufs Spiel: Davor warnen die jungen Menschen, die allmählich sagen, dass sie Gefahr laufen, die letzte Generation zu sein, wenn sich nicht wirklich etwas ändert. Leider folgen sie der Prämisse nicht und bewegen sich weiterhin im reformistischen Bereich, üben sich in zivilem Ungehorsam und jagen den Medien hinterher, ohne aus den Kategorien des Systems, das sie kritisieren, herauszutreten. Die jungen Menschen setzen sich zunehmend mit den Übeln des Lebens auseinander, und individuelle und kollektive Haltungen der Ablehnung des Bestehenden breiten sich aus, auch wenn sie meist schwer zu entschlüsseln sind. Um sie zu verstehen, bietet sich statt Psychologie oder Soziologie die Science-Fiction an; insbesondere erinnern wir uns immer wieder gern an Robert A. Heinleins Kurzgeschichte Das Jahr des Diagramms (ein Wissenschaftler sammelt ungewöhnliche Daten über das menschliche Verhalten und ordnet sie in ein Diagramm ein, das deterministisch einen katastrophalen gesellschaftlichen Ausgang anzeigt).

Das System gerät ins Wanken, Demonstrationen und Aufstände nehmen zu, aber es fehlt an einer internationalen Vereinigung, an einer Richtung. Aber wir sollten nicht an die Wiederholung alter, von der Geschichte besiegter Muster denken, sondern an die Entstehung von etwas Neuem, wie es Occupy Wall Street war. Es muss zwangsläufig eine Bewegung entstehen, die die ‘Mitte’ als Ziel ansieht: Die Besetzung von Plätzen und physischen Orten wird zum Ziel, eine Gegengesellschaft entsteht, die nichts beansprucht, sondern dafür kämpft.

Die italienischen Genoss*innen organisieren schon seit längerer Zeit wöchentliche Telefonkonferenzen, in denen sie aktuelle und strukturelle Fragen diskutieren, die lesenswerten Mitschriften werden regelmäßig auf ihrem Blog veröffentlicht. 

Die Massen jenseits der pathologischen Welt Macrons

Josep Rafanell i Orra

Dass ein Präsident einer Republik sich auf Gustave Le Bon beruft, den Mussolini aufmerksam gelesen hat, um seine Vorstellung von Politik zu rechtfertigen, könnte streng genommen unter seine Psychopathologie fallen. Sicherlich ist die Person unappetitlich, selten wurde ein Präsident so gehasst und so verachtet. Natürlich sehen die aufbegehrenden Menschenmassen in ihm nur noch einen Erleuchteten, der von Lakaien umgeben ist, die geduldig auf ihren Moment des Glücks warten. Es stimmt, dass sein Gezeter und Gejammer immer mehr Ekel vor seiner Person weckt. 

Aber darum geht es nicht mehr. Er stellt uns in Frage, weil er die Quintessenz der Republikaner darstellt. Und zwar deshalb, weil die republikanischen Institutionen Frankreichs seit ihren Ursprüngen eine ständige Maschinerie der Aufstandsbekämpfung sind. Ja, die republikanische Institution mit ihren Verfassungen wurde gegen das Volk der Kommunarden eingesetzt. Ja, die französische Polizei ist sehr wohl republikanisch (das war schon unter Pétain so). Ja, die republikanische Regierung kann so ihre Gewalt mit ihrer Polizei ausüben, da diese der Mittler zwischen den Massen und der Macht ist, dieser Macht, die in der französischen Arkhè so tief in der monarchischen Matrix verankert ist, jene die mit allen höfischen Folkloren ausgeschmückt ist.

Die Dinge werden nun komplizierter, wenn man Macron nicht nur als psychopathologische Karikatur des republikanischen Monarchismus betrachtet, sondern als einen der würdigsten Vertreter des sich überall ausbreitenden Liberal-Faschismus: der Förderung der Atomisierung, die zur Masse wird, der radikale Vernachlässigung als Regierungsprinzip zur Grundlage hat. Die Vernichtung von allem, was eine Gemeinschaft bildet. Die Zerstörung von Orten und der Interdependenzen, die sie existieren lassen, gegen den verwalteten Raum der Katastrophe.

Es ist dieser Liberal-Faschismus, der uns in einen Zustand universeller Besorgnis versetzen möchte, belagert, paranoid, der eine soziale Welt fördert, in der die Selbstverwaltung nur eine winzige, in sich geschlossene Totalität sein darf, die Begegnungen und Unterschiede als Invasionen fürchtet und nur für die Ströme der Verwertung offen ist. Denn diese weiß nur, wie sie sich in der Leere ihrer Zerstörungen um sich selbst drehen kann.

Angesichts dessen kehrt die soziale Unordnung zurück. Diejenige, die sich der unheilvollen Zeitrechnung unseres Lebens verweigert: bei den Ausschreitungen der Demonstrationen, bei den nächtlichen Einbrüchen in die polizeiliche Metropole, bei den Blockaden und Besetzungen der Raffinerien, bei der Zunahme der Sabotageakte, bei den Kämpfen gegen die Erschöpfung des Grundwassers und gegen die Agrarindustrie, die die Erde zerstört. Es ist dann wieder die Präsenz, die Verflechtung zwischen den Wesen, die sich manifestiert. Und damit auch die Weigerung, sich regieren zu lassen.

Es ist, wie bei jedem Aufstand, wieder die anarchische Bodenlosigkeit des Lebens, die zum Vorschein kommt, es sind Formen der gegenseitigen Hilfe und Zusammenarbeit, die den krankhaften Idealismus sprengen, der aus der Welt ein totales Unternehmen machen möchte. Es ist heute die Unterbrechung des bankrotten Fortschritts, des Wachstums, der endlosen Akkumulation, die das Licht der Welt erblickt. Es ist die Öffnung zu neuen Zeiten, die möglich wird. Aber es sind auch alte, verschüttete Geschichten, die hervorbrechen.

Wiederaufleben und Aufbegehren, die nebeneinander existieren: Das ist das Schreckgespenst aller Regierungen.

Wir befinden uns nicht mehr nur innerhalb einer sozialen Bewegung. Wir sehen, wie sich, wie schon beim Aufstand der Gelbwesten, wieder kommunardische Formen herausbilden, die mit den sozialen Kategorien spielen und die Auflösung der Identitäten und Subjekte der Herrschaft bewirken. Wieder verbreitet sich der störende Duft des Misstrauens gegenüber den Repräsentanten. Wieder kommt es zu unwahrscheinlichen Begegnungen, in den Unruhen, in den Blockaden und Besetzungen. Wieder einmal zeigt sich die Ablehnung der wurmstichigen Bühnen der politischen Repräsentation.

Es gibt keine Garantie dafür, dass sich uns andere Welten eröffnen. Aber wie Gustav Landauer sagte, bevor er von den deutschen Freikorps (den Vorläufern der heutigen französischen BRAV) ermordet wurde, ist die Revolution eine ewige Erneuerung. Und all jenen, die von sozialen Konstitutionen besessen sind, werden wir mit seinen Worten sagen: “Die Revolution muss Teil unserer sozialen Ordnung sein, muss zur Grundregel unserer Verfassung werden”.

Das ist unsere einzige Verfassung: die Verfassung, in der die Revolte der Massen, ihre Gemeinschaften und Geografien, ihre Wiederaneignungen, ihre unerwarteten Begegnungen gelten, wo neue Freundschaften geschlossen werden und wo die Präsenz zum Ort wird. Es sind diese Massen, die sich in der Verweigerung zusammenschließen, die plötzlich zum Außen werden, ohne dass wir in der sozialen Innerlichkeit ersticken, die pathologische Regierende zu regieren vorgeben.

Aufstände kommen und gehen. Die Revolution aber besteht weiter.

Dieser Beitrag wurde am 23.03.2023 auf Tous Dehors veröffentlicht. 

IST DIE MACRONIE BALD VORBEI?

Die Bewegung gegen die Rentenreform an der Schwelle zum Aufstand. [Etappenbilanz]

Die Ankündigung der Regierung am Donnerstag, den 16. März, den 49.3 einzusetzen, um ihre Rentenreform durchzusetzen, hat die Protestbewegung in eine neue Dimension katapultiert. Trotz heftiger Repressionen breitet sich im ganzen Land eine seltsame Mischung aus Wut und Freude aus: wilde Demonstrationen, überraschende Blockaden von Verkehrsachsen, Besetzung von Einkaufszentren oder Bahngleisen, Müllwürfe auf die Büros von Abgeordneten, nächtliche Mülltonnenbrände, gezielte Stromabschaltungen etc. Die Situation ist nun nicht mehr zu bewältigen und dem Präsidenten bleibt nichts anderes übrig, als zu versprechen, dass er durchhalten wird, koste es, was es wolle, und nicht vor der Gewalt zurückweichen zu wollen. Die kommenden Tage werden daher entscheidend sein: Entweder die Bewegung ermüdet, aber alles deutet auf das Gegenteil hin, oder Macrons Fünfjahresperiode bricht zusammen. Dieser Text schlägt vor, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die vorhandenen Kräfte sowie ihre kurz- und mittelfristigen Strategien und Ziele zu analysieren.

ALLEIN GEGEN ALLE

Betrachtet man die beiden Kräfte, die sich offiziell gegenüberstehen, ist die Situation so besonders, dass sich keine von ihnen offiziell eine Niederlage leisten kann. Auf der einen Seite haben wir die “soziale Bewegung”, von der man regelmäßig glaubt, dass sie sich in Luft aufgelöst hat, die aber immer wieder zurückkehrt, weil sie nichts Besseres zu tun hat. Die Optimisten sehen in ihr den notwendigen Auftakt für den Aufbau eines Kräfteverhältnisses, das bis zum Aufstand oder sogar zur Revolution führen kann. Die Pessimisten hingegen sind der Ansicht, dass sie von vornherein kompromittiert ist und dass die Kanalisierung und Ritualisierung der Unzufriedenheit der Bevölkerung zur guten Verwaltung der Ordnung der Dinge und damit zu ihrer Aufrechterhaltung und Stärkung beiträgt.

Wie dem auch sei, auf dem Papier hat diese “soziale Bewegung” alles, um zu gewinnen: Die Gewerkschaften sind vereint, die Demonstrationen sind zahlreich, die öffentliche Meinung ist weitgehend positiv, und die Regierung ist zwar demokratisch gewählt, aber massiv in der Minderheit. Die Sterne stehen also günstig, die Ampeln zeigen grün, und wenn die “soziale Bewegung” unter diesen objektiv günstigen Bedingungen verliert, bedeutet das, dass sie sich nie wieder auf die Bühne zurückkehren oder behaupten kann, etwas zu gewinnen.

Auf der anderen Seite stehen Emmanuel Macron, seine Regierung und einige Fanatiker, die an ihn glauben. Macron ist kein Präsident, der sich hat wählen lassen, um geliebt oder sogar geschätzt zu werden, er verkörpert die Endstation der Politik, sein reines und perfektes Bekenntnis zur Wirtschaft, zur Effizienz, zur Leistung. Er sieht nicht das Volk, das Leben, die Menschen, nur Atome, aus denen Wert extrahiert werden muss. Macron ist eine Art böser Droide, der das Wohl seiner Regierten gegen und für sie will. Seine Vorstellung von Politik ist eine Excel-Tabelle: Solange die Berechnungen stimmen und das Ergebnis positiv ist, wird er weiter im Gleichschritt voranschreiten. Umgekehrt weiß er, dass er, wenn er zögert, zittert oder sich verleugnet, nicht mehr behaupten kann, etwas oder jemanden zu regieren.

Eine Gegenüberstellung bedeutet jedoch nicht Symmetrie. Was der “sozialen Bewegung” droht, sind Ermüdung und Resignation. Das Einzige, was den Präsidenten zum Aufgeben bewegen könnte, ist die greifbare und nahe Gefahr eines Aufstands. Was wir seit dem 49.3 vom Donnerstag, dem 16. März, feststellen, ist, dass sich die Situation ändert. Da jegliche Verhandlungen mit der Macht hinfällig geworden sind, ist die “soziale Bewegung” dabei, sich selbst zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Ihre Konturen werden zu einer Art Vor-Aufstand.

Es bleibt eine dritte, inoffizielle Kraft, die der Trägheit: Diejenigen, die sich derzeit aus Unachtsamkeit, Faulheit oder Angst weigern, sich dem Kampf anzuschließen. Derzeit spielen sie für die Regierung, aber je instabiler die Lage wird, desto mehr müssen sie Partei ergreifen, entweder für die Bewegung oder für die Macht. Das Kunststück der Gelbwesten bestand darin, die Frustration und Unzufriedenheit hinter den Bildschirmen hervorzuholen.

“DER BESTE RÜCKZUG IST DER ANGRIFF”

Doch was steckt wirklich hinter dieser Konfrontation und ihrer Inszenierung? Was zieht die Herzen zusammen, macht Mut oder Wut? Was auf dem Spiel steht, ist sehr wahrscheinlich die Ablehnung der Arbeit. Natürlich traut sich niemand, dies so zu formulieren, denn sobald wir von der Arbeit sprechen, schnappt eine alte Falle zu. Der Mechanismus ist jedoch rudimentär und wohlbekannt: Hinter dem Begriff der Arbeit selbst hat “man” absichtlich zwei sehr unterschiedliche Realitäten miteinander verwechselt. Auf der einen Seite die Arbeit als singuläre Teilnahme am kollektiven Leben, an seinem Reichtum und seiner Kreativität. Auf der anderen Seite die Arbeit als besondere Form der individuellen Anstrengung in der kapitalistischen Organisation des Lebens, d. h. Arbeit als Strafe und Ausbeutung. Wenn man es wagt, die Arbeit zu kritisieren oder gar ihre Abschaffung zu wünschen, wird das meist als kleinbürgerliche Laune oder als Nihilismus eines Hundepunks verstanden. Wenn man Brot essen will, braucht man Bäcker, wenn man Bäcker will, braucht man Bäckereien, wenn man Bäckereien will, braucht man Maurer und für den Teig, den man in den Ofen schiebt, braucht man Bauern, die säen, ernten etc. Natürlich ist niemand in der Lage, diese offensichtliche Tatsache zu bestreiten. Das Problem, unser Problem, ist, dass wir die Arbeit so sehr ablehnen, dass wir zu Millionen auf der Straße sind, um nicht zwei weitere Jahre zu verlieren, nicht weil wir faul sind oder davon träumen, in einen Bridge-Club einzutreten, sondern weil die Form, die die gemeinsame und kollektive Anstrengung in dieser Gesellschaft angenommen hat, unlebbar, erniedrigend, oft sinnlos und verstümmelnd ist. Wenn man darüber nachdenkt, hat man nie für die Rente gekämpft, sondern immer gegen die Arbeit.

Kollektiv und massiv anzuerkennen, dass wir stellvertretend für die große Mehrheit die Arbeit als Strafe erleben, ist eine Realität, die die Macht nicht zulassen kann: Dies zur Kenntnis zu nehmen, würde bedeuten, das gesamte soziale Konstrukt einzureißen, und ohne dieses ist sie nichts mehr. Wenn unsere gemeinsame Bedingung darin besteht, keine Macht über unser Leben zu haben und dies zu wissen, wird paradoxerweise alles wieder möglich. Revolutionen brauchen nicht unbedingt große Theorien und komplexe Analysen, manchmal reicht sogar eine winzige Forderung, die man bis zum Ende durchhält. Es würde zum Beispiel genügen, sich zu weigern, gedemütigt zu werden: durch ein Arbeitstempo, durch ein Gehalt, durch einen Manager oder eine Aufgabe. Es würde genügen, eine kollektive Bewegung zu starten, die die Angst vor dem Zeitplan, der To-do-Liste und dem Terminkalender suspendiert. Es würde genügen, die minimalste Würde für sich selbst, seine Angehörigen und andere einzufordern, und das ganze System würde zusammenbrechen. Der Kapitalismus war nie etwas anderes als die objektive und wirtschaftliche Organisation der Erniedrigung und des Schmerzes.

ZUR KRITIK DER GEWALT

Nach diesen Ausführungen müssen wir uns eingestehen, dass die soziale Organisation, die wir in Frage stellen, nicht nur durch die Erpressung des Überlebens, die sie auf jeden Einzelnen ausübt, zusammengehalten wird. Es gibt auch und vor allem die Polizei und ihre Gewalt. Wir werden hier nicht auf die soziale Rolle der Polizei und die Gründe, warum sie so verabscheuungswürdig ist, eingehen, da dies bereits in diesem Text zusammengefasst wurde: Warum alle Polizisten Bastarde sind. Was wir für dringend erforderlich halten, ist, diese Gewalt strategisch zu durchdenken, das, was sie unterdrückt und durch Terror und Einschüchterung erstickt.

In den letzten Tagen gab es Forscher und Kommentatoren, die den Mangel an Professionalität der Polizei, ihre Exzesse, ihre Willkür und manchmal sogar ihre Gewalt anprangerten. Selbst auf BFMTV war man erstaunt, dass von den 292 Festgenommenen am Donnerstag (15.) auf dem Place de la Concorde 283 ohne Verfolgung aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurden und die restlichen 9 mit einem einfachen Verweis auf das Gesetz davonkamen. Das Problem bei dieser Art von Empörung ist, dass sie, wenn sie eine Fehlfunktion des Dispositivs sehen, nicht erkennen, was eigentlich nur eine Strategie sein kann. Wenn Hunderte von BRAV-Ms durch die Straßen von Paris rasen, um Ansammlungen von Protestlern zu verfolgen und zu verprügeln, wenn bereits am Freitag ein Erlass der Präfektur alle Versammlungen in einem Gebiet von etwa einem Viertel der Hauptstadt verbietet, dann deshalb, weil die Herren Macron, Darmanin und Nunez sich auf die Methode geeinigt haben: die Straßen leeren, die Körper schockieren, die Herzen erschrecken… und darauf warten, dass es vorbeigeht.

Wiederholen wir es noch einmal: Gegen die Polizei kann man niemals “militärisch” gewinnen. Sie ist ein Hindernis, das es in Schach zu halten, zu umgehen, zu zermürben, zu desorganisieren oder zu demoralisieren gilt. Die Polizei zu entmachten bedeutet nicht, naiv zu hoffen, dass sie eines Tages die Waffen niederlegt und sich der Bewegung anschließt, sondern im Gegenteil, dafür zu sorgen, dass jeder ihrer Versuche, die Ordnung durch Gewalt wiederherzustellen, noch mehr Unordnung produziert. Erinnern wir uns daran, dass am ersten Samstag der Gelbwesten auf den Champs Elysées die Menge, die sich besonders legitim fühlte, “Die Polizei mit uns” sang. Einige Tränengasladungen später verwandelte sich die schönste Prachtstraße der Welt in ein Schlachtfeld.

AUS DER UNTERDRÜCKUNG LEHREN ZIEHEN

Davon abgesehen sind unsere Möglichkeiten, strategische Entscheidungen für die Straße zu treffen, sehr begrenzt. Wir verfügen über keinen Generalstab, sondern nur über unseren gesunden Menschenverstand, unsere Anzahl und eine gewisse Bereitschaft zur Improvisation. In der aktuellen Konfiguration der Feindseligkeiten können wir dennoch einige Lehren aus den letzten Wochen ziehen:

– Das polizeiliche Management von Demonstrationen, d. h. sie in den Grenzen des Harmlosen zu halten, teilen sich die Gewerkschaftsfunktionäre und die Polizeikräfte. Eine Demonstration, die wie geplant verläuft, ist ein Sieg für die Regierung. Eine Demonstration, die ausufert, verbreitet Unruhe an der Spitze der Macht, demoralisiert die Polizei und bringt uns einer Arbeitszeitverkürzung einen Schritt näher. Eine Menschenmenge, die die von der Polizei eingerahmte Route nicht mehr akzeptiert, die Symbole der Wirtschaft beschädigt und ihren Unmut in Freude zum Ausdruck bringt, ist ein Überschwappen und damit eine Bedrohung.

– Bisher und mit Ausnahme des 7. März wurden alle Massendemonstrationen durch das Polizeiaufgebot eingedämmt. Die Gewerkschaftszüge blieben perfekt geordnet und die entschlossensten Demonstranten wurden systematisch isoliert und brutal unterdrückt. Unter manchen Umständen setzt ein wenig Kühnheit die Energien frei, die zum Überschreiten des Dispositivs erforderlich sind, unter anderen kann dies die Polizei ermächtigen, jede Möglichkeit gewaltsam zu unterbinden. Es kommt vor, dass man sich beim Versuch, ein Schaufenster einzuschlagen, zuerst die Nase am Rand der Vorkehrungen bricht.

– Die BRAV-M sind aufgrund ihrer schnellen Bewegung und Intervention sowie ihrer extremen Brutalität das größte Hindernis. Das Selbstvertrauen, das sie sich in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Wochen erarbeitet haben, muss unbedingt untergraben werden. Zwar kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass kleine Gruppen sie gelegentlich herausfordern und ihre Kühnheit mindern, doch die wirksamste Option wäre, dass die friedliche Menge der Gewerkschaftsmitglieder und Demonstranten ihre Anwesenheit nicht länger duldet, sich mit erhobenen Händen jedem ihrer Durchbrüche in den Weg stellt, sie beschimpft und zurückstößt. Wenn ihr Auftreten bei Demonstrationen mehr Unordnung verursacht als die Ordnung wiederherstellt, sieht sich Herr Nunez gezwungen, sie auf die Ile de la Cité zu verbannen und in ihrer Tiefgarage in der Rue Chanoinesse einzuschließen.

– Am Donnerstag, den 15. März, trafen nach der Ankündigung des 49.3 eine angemeldete Gewerkschaftsdemonstration und eher vereinzelte Aufrufe auf der anderen Seite der Concorde-Brücke gegenüber der Nationalversammlung zusammen. Da das Hauptziel des Polizeiaufgebots darin bestand, die Nationalvertretung zu schützen, wurde die Menschenmenge nach Süden abgedrängt. Im Zuge dieses Manövers wurden die Demonstranten in die Touristenstraßen des Hyperzentrums geschleudert und dort ausgebreitet. Die Müllberge, die der Streik der Müllabfuhr hinterlassen hatte, verwandelten sich spontan in lodernde Flammen, die das Eingreifen der Polizei verlangsamten und verhinderten. Spontan wurden in vielen Städten des Landes brennende Mülltonnen zum Markenzeichen der Bewegung.

– Am Freitag, dem 16. März, erwies sich ein erneuter Aufruf, sich zum Place de la Concorde zu begeben, als inhaltsleer. Die Demonstranten waren zwar mutig und entschlossen, doch sie befanden sich in einer Schlinge und einem Schraubstock und waren nicht in der Lage, auch nur die geringste Mobilität zu erreichen. Die Präfektur machte nicht denselben Fehler wie am Vortag. Am Samstag überzeugte ein dritter Aufruf, sich auf denselben Platz zu begeben, die Behörden davon, alle Versammlungen in einem Gebiet zu verbieten, das von den Champs Elysées bis zum Louvre, von den Grands Boulevards bis zur Rue de Sèvres reicht – etwa ein Viertel von Paris. Tausende von Polizisten, die in dem Gebiet stationiert waren, konnten jeden Beginn einer Versammlung verhindern, indem sie Passanten belästigten. Auf der anderen Seite der Stadt überrumpelte eine Versammlung am Place d’Italie das Polizeiaufgebot, indem sie in einer wilden Demonstration in die entgegengesetzte Richtung marschierte. Mobile Gruppen konnten mehrere Stunden lang die Straßen blockieren, Mülltonnen anzünden und zeitweise der BRAV-M entkommen.

– Das A und O einer Strategie ist, dass Taktiken nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zusammengefügt werden sollten. Die Präfektur von Paris hat bereits ihre Schlacht-Narrative vorgestellt: verantwortungsvolle, aber harmlose Massendemonstrationen auf der einen Seite, nächtliche Krawalle, die von radikalen und illegitimen Randgruppen angeführt werden, auf der anderen Seite. Wer in der letzten Woche auf der Straße war, weiß, wie sehr diese Karikatur eine Lüge ist und wie wichtig es ist, dass sie es bleibt. Denn das ist ihre ultimative Waffe: die Spaltung der Revolte in gut und böse, verantwortlich und unkontrollierbar. Solidarität ist ihr schlimmster Albtraum. Wenn die Bewegung an Intensität gewinnt, werden die Gewerkschaftskorsos schließlich angegriffen werden und sich somit verteidigen müssen. Die überraschenden Blockaden von Stadtautobahnen durch Gruppen der CGT zeigen darüber hinaus, dass ein Teil der Basis bereits entschlossen ist, die Rituale zu durchbrechen. Als die Polizei am Montag in Fos-sur-Mer eingriff, um die Requirierungen des Präfekten durchzusetzen, gingen die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf Konfrontationskurs. Je mehr Aktionen stattfinden, desto mehr wird sich die Umarmung der Polizei lockern. Gérald Darmanin spricht von mehr als 1200 wilden Demonstrationen in den letzten Tagen.

“DIE MACHT IST LOGISTISCH, LASST UNS ALLES BLOCKIEREN”

Über ihre eigene Gewalt hinaus liegt die Wirksamkeit der Polizei auch in ihrer Ablenkungskraft. Indem sie den Ort, die Modalitäten und den Zeitpunkt der Konfrontation bestimmt, pumpt sie die Energie der Bewegung ab. Wenn wir darauf setzen, dass die Unordnung und die Bedrohung, die sie für die Macht darstellt, Herrn Macron dazu bringen, auf die Verlängerung der Arbeitszeit zu verzichten, ist die Blockade entscheidend und lebenswichtig. Denn da niemand mehr ewig auf den Generalstreik einer durch 30 Jahre Neoliberalismus zerbröselten Arbeiterklasse und Arbeitswelt warten wird, ist die offensichtlichste, spontanste und wirksamste politische Geste nunmehr die Blockade der Wirtschaftsströme, die Unterbrechung des normalen Flusses von Waren und Menschen. Was sich seit zwei Wochen in Rennes organisiert, kann als Beispiel dienen. Anstatt die Konfrontation mit der Polizei als oberstes Ziel zu setzen, haben die Menschen in Rennes halböffentliche Versammlungen eingerichtet, in denen Blockadeaktionen ausgeheckt werden. Im Rahmen eines Aufrufs “Tote Städte” blockierten am Montag im Morgengrauen Hunderte von Menschen an verschiedenen Orten in der Stadt die Hauptverkehrsachsen und die Umgehungsstraße von Rennes. Zwei Wochen zuvor hatten 300 Personen mitten in der Nacht Mülltonnen angezündet, um die Rue de Lorient bis in die frühen Morgenstunden zu blockieren. Es geht nie darum, sich mit der Polizei zu konfrontieren, sondern darum, sie zu überrumpeln und heimlich zu agieren. Selbst aus der Sicht derjenigen, die auf die Zahl schwören und immer noch auf den Generalstreik warten, drängt sich diese Vervielfachung der Blockade- und Unruhepunkte wie eine Selbstverständlichkeit auf. Wenn es seit der Auslösung des 49.3 am vergangenen Donnerstag nur den Aufruf zu Demonstrationen am darauffolgenden Donnerstag gegeben hätte, hätten sich alle mit einer Ehrenrettung und einer Niederlage abgefunden. Die Blockaden und die diffuse Bordellisierung geben Mut, Zuversicht und Schwung, um sich über die hinter den Türen der Intersyndikalisten festgelegten Fristen hinaus zu entwickeln.

BESETZEN, UM SICH ZU TREFFEN UND ZU ORGANISIEREN

Der Zusammenbruch der klassischen Politik, ihrer Parteien und damit einhergehende Desillusionierung hat einen Boulevard für innovative autonome Experimente eröffnet. Die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz, Nuit Debout, die Gelbwesten, ‘die Aufstände der Erde’ (les Soulèvements de la Terre) und so viele andere haben in den letzten Jahren bestätigt, dass von der Repräsentation nicht nur nichts mehr zu erwarten war, sondern dass sie auch niemand mehr wollte.

Jede dieser Sequenzen wäre eine ausführliche Analyse ihrer Stärken und Schwächen wert, aber wir wollen es hier bei einer grundlegenden Erkenntnis belassen: Die Macht abzusetzen bedeutet, neue Formen zu erfinden, und dafür braucht man in der Atomisierung der Metropole Orte, an denen man sich trifft, an denen man denkt und von denen aus man sich projiziert. Jahrzehntelang gehörte die Besetzung von Gebäuden, Unis oder anderen Einrichtungen zu den selbstverständlichen Praktiken jeder Bewegung. Ein Universitätspräsident, der den Einsatz der Polizei auf seinem Campus akzeptierte, wurde sofort verunglimpft, da es selbstverständlich war, dass die kollektive und offene Wiederaneignung eines Raums die minimale Kehrseite der Privatisierung aller Räume und der Polizeiisierung des öffentlichen Raums war.

Man muss feststellen, dass heute keine Besetzung mehr geduldet wird. Man kann, wie in Rennes, ein verlassenes Kino beschlagnahmen, um es in ein Haus des Volkes umzuwandeln, in dem sich Gewerkschafter, Aktivisten und Einwohner treffen, doch die sozialistische Bürgermeisterin der Stadt räumt es innerhalb von 48 Stunden und schickt Hunderte von Polizisten. Was die Universitäten betrifft, so berufen sich ihre Behörden ohne Scham auf das Risiko von Ausschreitungen und die Möglichkeit der Fernlehre, um sie administrativ zu schließen oder die Polizei gegen ihre eigenen Studenten einzusetzen. Was all dies aussagt, ist, wie sehr man auf der anderen Seite weiß, dass Orte, an denen man sich treffen und organisieren kann, wertvoll sind und ein Anwachsen der Macht ermöglichen. In Paris wurde nach einer wilden Versammlung und einem wilden Bankett unter dem Glasdach der Arbeiterbewegung eine Besetzung der Bourse du travail versucht. Sie verkümmerte jedoch in der Nacht, an der Unentschlossenheit und dem Unverständnis von Gewerkschaft und Autonomie. Wir brauchen Orte, um Komplizenschaft und Solidarität aufzubauen, und wir brauchen Komplizenschaft und Solidarität, um Orte zu halten. Das Ei, das Huhn.

In Rennes suspendierte die Bewegung das Problem vorübergehend, nachdem das Haus geräumt worden war. Das Maison du Peuple versammelte sich unter freiem Himmel und organisierte weiterhin Blockaden ebenso wie Treffen. Man kann sich vorstellen, dass man darauf wartet, dass man zusammenhält und stark genug ist, um einen Ort mit Dach, fließendem Wasser und Heizung zurückzuerobern. In Paris scheinen die Grenzen des Experiments von Nuit Debout die Möglichkeit, sich im Freien zu treffen, zum Scheitern verurteilt zu haben. Die Karikatur, die davon übrig geblieben ist, besagt, dass die Diskussionen unter freiem Himmel nur gedankenlose Monologe hervorbringen. Wir erinnern uns jedoch an den ‘Aperitif bei Valls’ und die Möglichkeit, auch von unseren selbstzentrierten, großstädtischen Einsamkeiten aus kurzfristig eine Entscheidung zu treffen und zu Tausenden zum Premierminister zu stürmen. Dass die Regierung so hartnäckig daran arbeitet, uns ohne Bezugspunkte und Wiedersehensfreude zurückzulassen, zeigt, wie dringend wir diese brauchen.

IN DIE UNENDLICHKEIT UND DAS JENSEITS

Wir haben es bereits gesagt: Die Umrisse der Bewegung entwickeln sich in Richtung Vor-Aufstand. Jeden Tag gibt es mehr Blockaden und die Aktionen werden intensiver. Der Donnerstag wird daher ein entscheidender Tag sein. Rein reformpolitisch gesehen wird Macron in die Enge getrieben, wenn die Demonstrationen am Donnerstag massiv ausufern. Entweder geht er das Risiko eines schwarzen Samstags im ganzen Land ein, d. h. die von ihm am meisten gefürchtete “gilet-jaunisation”, oder er wird bereits am Freitag einen Rückzieher machen und sich auf die Gefahr größerer und unkontrollierbarer Ausschreitungen berufen.

Alles entscheidet sich also jetzt und darüber hinaus. Die Linke lauert im Hinterhalt und ist bereit, ein Wahlschlupfloch, eine Referendums-Illusion oder sogar den Aufbau der Vierten Internationale zu verkaufen. Sie wird auf jeden Fall die Geduld und die Rückkehr zur Normalität beschwören müssen. Damit die Bewegung fortbesteht und sowohl der Vereinnahmung als auch der Unterdrückung entgeht, muss sie sich so schnell wie möglich mit der zentralen Frage eines jeden Aufstands auseinandersetzen: Wie kann man die Mittel zur Selbstorganisation einsetzen? Einige fragen sich bereits, wie sie den Kommunismus leben und die Anarchie verbreiten können.

Dieser Text erschien auf französisch am 21. März 2023 auf Lundi Matin. 

KRIEG, KRISE UND ANARCHIE

Die vergangene Finanzwoche (12.-19. März) stand ganz im Zeichen der Angst um das internationale Bankensystem: Zunächst kam der Konkurs der Silicon Valley Bank, einer kalifornischen Bank, die sich auf die Unterstützung von Start-ups und die Siliziumwirtschaft der neuen Technologien spezialisiert hat; Dann kam die Lawine der First Republic Bank, der vierzehntgrößten Bank in den Vereinigten Staaten, deren Rettung derzeit mit einer “Beihilfe” in Höhe von 30 Milliarden Dollar versucht wird, die von einer “solidarischen Sammlung” von 11 nordamerikanischen Banken zur Verfügung gestellt wird, was die Märkte jedoch nicht zu glauben scheinen, wenn selbst am letzten Freitag (Freitag, der 17., und es handelt sich nicht nur um eine Frage der Heptacaidecaphobie) [1] die Aktie allein an diesem Tag weitere 29 % verlor; inmitten des Zusammenbruchs der Credit Suisse, der zweitgrößten Bank der Schweiz, die derzeit von der Schweizer Zentralbank über Wasser gehalten wird und abwartet, ob sie in Konkurs geht oder von der Konkurrentin UBS “gerettet” wird, die sie übernehmen könnte, um ihren Konkurrenten für immer loszuwerden.

Während die Zeitungen schreien, gähnen die Zuschauer, was völlig fehlt, aber daran sind wir gewöhnt, ist eine umfassende Sichtweise, die über das Tagesgeschehen hinausgeht und ein wenig tiefer blickt. Es scheint, dass praktisch niemand diese Fakten mit dem Krieg in Verbindung gebracht hat, doch bei näherer Betrachtung ist die Verbindung ziemlich offensichtlich. In der Tat kann man sagen, dass wir Zeugen der ersten internen Rückschläge in den westlichen Volkswirtschaften sind, die die Rechnung für den Zusammenstoß zwischen der NATO und Russland in der Ukraine mit einem starken Anstieg der Rohstoffpreise und der daraus resultierenden Geldknappheit bezahlen. Dies sind also Tatsachen, die von denjenigen untersucht werden müssen, die wie die Anarchisten und Internationalisten die Niederlage des eigenen Landes zum Anlass für eine revolutionäre Intervention nehmen.

Krieg, Spekulation, Preise

Die westliche Wirtschaft ist nie aus der Krise von 2008 herausgekommen, auch wenn ihre Erscheinungsformen über Jahre hinweg, nicht ohne Revolutionen und Aufstände, durch eine sehr expansive Geldpolitik verdeckt wurden. Vereinfacht ausgedrückt haben die Fed und die EZB, die amerikanische und die europäische Zentralbank, große Mengen an Geld gedruckt und an Reiche, Spekulanten und Finanziers verteilt, um auf dem Aktienmarkt zu spielen und die Märkte praktisch über Wasser zu halten. Der Mechanismus ist, weniger vulgär ausgedrückt, der klassische “Geldpreismechanismus”. Die Zentralbanken, die das Geld emittieren, verleihen es an die privaten Banken, und auf der Grundlage der Zinssätze versuchen sie, das Finanzwesen zu steuern: Sie senken sie, wenn sie die Nachfrage nach Geld anregen wollen, um die Finanzspekulationen anzukurbeln, und sie erhöhen sie, wenn sie den Geldumlauf bremsen wollen, um beispielsweise die Inflation zu bekämpfen.

Fast fünfzehn Jahre lang lagen die Zinssätze bei nahezu 0 %, ein Segen für die Spekulanten, die das Geld kostenlos von den institutionellen Emittenten kaufen und damit Investitionen, Spekulationen und Kredite tätigen konnten. Diese enorme Geldproduktion hätte logischerweise zu einer sehr hohen Inflation führen müssen, warum ist das nicht passiert? Weil die Krise so ernst war, die Überproduktion von Gütern in den Ländern des reifen westlichen Kapitalismus so groß, dass die Preise trotzdem niedrig blieben. Der Handel war, um zu verkaufen, bereit, so viele Jahre lang auszuverkaufen, dass die Wirkung der Geldmenge zunichte gemacht wurde. In einigen Perioden erlebten wir sogar Momente einer regelrechten Deflation.

Ein beunruhigendes Symptom für den Kapitalismus, der jedoch nicht in der Lage war, die Krankheit zu heilen. Im Gegenteil, er konnte sogar in der Katastrophe Geschäfte machen: Das Geld, das gedruckt wurde, wurde von allen an der Spitze aufgefressen, ohne auch nur den Preis der Inflation zu zahlen, und fütterte exponentiell das finanzielle Metaversum (die klassische Geschichte, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden). Der Kapitalismus hat sich in den letzten fünfzehn Jahren wie ein Patient mit einem spezifischen Hirntumor verhalten, der einhergehend mit seinem eigenen Verschlimmerungsprozess unglaublichen Reichtum hervorbringt.

Die Covid-19-Krise hat die Dinge noch schlimmer gemacht, und auch hier wurde die Krankheit verschlimmert: Einerseits eine beispiellose Ausgabe von Geld, um die Wirtschaft anzukurbeln (die nächste Generation der EU), andererseits eine autoritäre Kontrolle des Konsums (Abriegelung, geschlossene Supermarktgänge), um die Armen buchstäblich zu Hause zu halten.

Früher oder später musste der Spaß auch für die Herren ein Ende haben. Mit dem so genannten Reboot explodierte die Inflation schlagartig: Die plötzliche Nachfrage nach Rohstoffen erzeugte den klassischen Trichter. In der Zwischenzeit haben sich die Knoten der digitalen Wirtschaft und der neuen Technologien zugeschnürt: Dies ist der Fall bei der so genannten Chip-Krise, die durch eine weltweite Verknappung der für die Digitalisierung des Planeten erforderlichen Materialien und das chinesische (und teilweise russische) Monopol auf seltene Erden ausgelöst wurde. Die Krise betrifft nicht nur den digitalen Bereich, sondern auch zahlreiche Materialien; so herrscht beispielsweise ein großer Mangel an Kabeln, der einige Straßenbaustellen, wie z. B. Tunnel, die mehrere Kilometer Kabel für die Beleuchtung benötigen, zum Erliegen bringt.

Es war jedoch der Krieg, der das Inflationsthermometer auf einen Höchststand trieb. Zum einen hat Russland seinen Energiereichtum als Kriegswaffe gegen die westlichen Länder eingesetzt, die die Ukraine unterstützen, und zum anderen hat das Selbstziel der Sanktionen das westliche Kapital von den aufstrebenden Mächten isoliert (die BRICS, Iran, Saudi-Arabien, die alle aus unterschiedlichen Gründen “pro-Putin” sind und sogar jahrzehntelange Freundschaften aufgekündigt haben), die ebenfalls über große fossile Reserven verfügen. Ganz allgemein gibt es eine Spekulationsdynamik, die jeden Krieg betrifft: Die Nachfrage nach Materialien für die Waffenproduktion verringert ganz banal die Gesamtverfügbarkeit derselben Materialien und erhöht die Preise; die Verringerung der Produktion von Gütern für den zivilen Gebrauch verteuert dieselben Güter; die Zerstörung von Fabriken und Feldern – man denke nur an die durch die ukrainische Weizenblockade ausgelöste Nahrungsmittelkrise – führt dazu, dass auch weit entfernte Regionen der Welt hungern müssen. Vor allem Europa hat durch den Krieg den Kontakt zu seinem natürlichen Rohstofflieferanten Russland verloren, mit dem eine geografische Kontinuität besteht, was sehr kostspielige Käufe von Gas vom anderen Ende der Welt auf dem Seeweg, den Bau von Wiedervergasungsanlagen, neue Widersprüche und Umweltkonflikte zur Folge hat.

Die Reaktion des Kapital-Staates: Verschärfung der Ausbeutung und monetärer Rückzug

Da der monetäre Hebel nicht mehr vorhanden war, die Arbeiter mit medizinischen Hilfsmitteln, Tests, Impfstoffen und Masken betäubt waren und mit dem Grünen Pass kontrolliert und gespalten wurden, gingen die Kapitalisten mit diesem Umstand in der klassischsten aller Traditionen um. Durch die Intensivierung der Ausbeutung. Der Restart nach Covid wurde mit Knüppeln, Morden an Gewerkschaftern und Thesen der Justiz, die diejenigen, die eine Lohnerhöhung fordern, der “Erpressung” gegen die Bosse beschuldigen, durchgeführt. Wenn die Rohstoffpreise steigen, versuchen die Bosse, wenigstens am Menschenfleisch zu sparen. Die sechs Todesfälle pro Tag am Arbeitsplatz in Italien sprechen dafür.

Ein präventiver Klassenkampf (d.h. in Ermangelung einer starken Konfliktualität von unten) und besonders rücksichtslos. Von den bereits erwähnten Übergriffen und Ermittlungen gegen den Teil der Gewerkschaftsbewegung der bereit zu Konflikten ist, bis hin zu den Studenten, die fast ein Jahr lang unter Hausarrest standen, weil sie gegen die Confindustria (Verband der italienischen Industrie), gegen die alternierende Schularbeit protestierten. Dem Weltkrieg in der Ukraine steht ein interner Krieg gegen den sozialen Antagonismus gegenüber: Wenn die Preise wegen des Krieges steigen, muss versucht werden, zumindest den Lohnkostenanteil an den Waren einzudämmen. Alle müssen ihren Beitrag leisten, auch die Studenten mit ihrem Anteil an kostenloser Arbeit (und Verletzungen).

Die maximale Feuerkraft dieses präventiven internen Krieges hat sich auf die anarchistische Bewegung konzentriert: von den 28 Jahren Haft gegen Juan Sorroche über das Urteil des “politischen Massaker”, zu dem Alfredo Cospito und Anna Beniamino verurteilt wurden, mit dem konkreten Ergebnis einer feindlichen lebenslangen Haftstrafe gegen die beiden Genossen, bis zum 41bis gegen Alfredo selbst.

Dieser Angriff, was Italien betrifft, wurde von der vorherigen Regierung von Mario Draghi eingeleitet. Unter dem Deckmantel der nationalen Einheit und unter der weisen Führung des Mannes, den der Confindustria-Vorsitzende Bonomi als “Mann der Notwendigkeit” bezeichnete, rüstete sich Italien für den Krieg, wurden Entlassungen vorgenommen und die polizeiliche und juristische Reaktion entfesselt. Die gleichen repressiven Ereignisse, die den Anarchismus betrafen, fanden alle in diesen verfluchten Monaten der nationalen Einheit statt. Das ist eine Tatsache, die man sich vor Augen halten muss und die ein Teil der ‘solidarischen Gegnerschaft’ zu übersehen versucht, indem sie die Aufmerksamkeit nur auf die derzeitige “faschistische” Regierung richtet und riskiert, die wahren Anstifter dieser freiheitsfeindlichen Wende zu entlasten.

Der Ideologe dieser Wirtschaftspolitik ist der Gouverneur der italienischen Zentralbank, der im Schatten steht, zumindest was die Öffentlichkeit betrifft. Ignazio Visco lässt keine Gelegenheit aus, um seine Formel zu wiederholen: “Vermeiden Sie eine Stückwerk-Dynamik”. Der arme Banker meint, dass ein Preisanstieg nicht mit einem Anstieg der Löhne einhergehen darf. Und natürlich, wo ist da der Haken?

Neben der guten alten Politik der Unterdrückung und Ausbeutung wurde die Antwort auf den kriegsbedingten Preisanstieg im Finanzbereich durch eine scharfe Kehrtwende in der Geldpolitik gegeben. Die Zentralbanken sind eine sehr eigentümliche Einrichtung, in gewisser Weise der wahre Schmelzpunkt zwischen Staat und Kapital: Sie sind Institutionen des Kapitalismus und gleichzeitig Organe der wirklichen Regierung, so sehr, dass sie die von den Staaten gewährte Macht haben, die Währung zu drucken – sie und nur sie – die wir jeden Tag benutzen.

Um auf die obigen Ausführungen zurückzukommen: Wenn die Zentralbanken die Zinssätze niedrig halten, haben die Finanziers einen Anreiz, das gedruckte Geld für Investitionen und Spekulationen zu kaufen, so dass mehr Geld gedruckt und die Inflation in die Höhe getrieben wird. Nach fünfzehn Jahren dieser Politik haben die großen westlichen Zentralbanken heute die Zinssätze schnell und heftig erhöht. Das erklärte Ziel ist es, den Geldumlauf zu bremsen, um die Inflation zu stoppen: Das Ergebnis ist, dass Hypotheken viel teurer werden, dass eine neue Masse von Schrottkrediten geschaffen wird, die nicht bedient werden, dass Spekulanten weniger Geld zur Verfügung haben, um auf dem Aktienmarkt zu spielen.

Mit anderen Worten: Anstatt die strukturellen Ursachen der Inflation zu bekämpfen, d.h. in erster Linie den Krieg in der Ukraine zu beenden, auf Sanktionen gegen Russland zu verzichten, politische Zugeständnisse an Putin gegen billiges Erdgas einzutauschen usw., wozu er aus militärpolitischer Räson nicht in der Lage ist, bleibt dem Kapitalismus nichts anderes übrig (außer die Ausgebeuteten zu verprügeln und die Repression präventiv zu erhöhen) als finanzielle Kunststücke wie die Verringerung der umlaufenden Geldmenge.

Daher die Krise dieser Tage und die, die morgen noch größer sein könnte: Einige Kreditinstitute, die jahrelang dank des Dopings von billigem und leichtem Geld erfolgreich waren, können heute nicht mehr dasselbe tun und gehen bankrott. Genau das ist bei der Silicon Valley Bank der Fall: Die kalifornische Bank nahm jahrelang “frisch gedruckte” Dollars von der US-Zentralbank zu einem sehr niedrigen Zinssatz entgegen und konnte sie ihrerseits an Unternehmer in der neuen digitalen Wirtschaft zu halbwegs niedrigen Zinssätzen verleihen und dabei noch Gewinn machen. Jetzt, da die Kosten für Dollar durch die von den Zentralbanken beschlossenen Zinserhöhungen in die Höhe geschnellt sind, sind Spekulanten wie die SVB gezwungen, sie den Unternehmen zu noch höheren Zinssätzen anzubieten. Wenn man dann noch bedenkt, dass die ganze Welt der digitalen Wirtschaft ein riesiger Berg heißer Luft ist, wenn man dann noch die Schwierigkeiten hinzufügt, die diese neuen Technologieunternehmen mit der Chip-Krise usw. haben, dann kann die Silicon Valley Bank nicht mehr wie bisher mit der Kreditvergabe an Start-ups arbeiten, die entweder keine Kredite mehr zu diesen Bedingungen aufnehmen oder sie nicht zurückzahlen können.

Hier wird also eine nicht einmal allzu verschlungene Linie sichtbar, die den Krieg mit der Finanzkrise dieser Tage verbindet: Der Krieg führt zu Preiserhöhungen, die Zentralbanken reagieren darauf mit einer völlig virtuellen Maßnahme wie der Verringerung des Geldumlaufs, und schließlich zieht sich das Finanzwesen, das seit 2008 nicht mehr durch eine starke Geldspritze gedopt wurde, zurück.

Lassen wir sie zahlen: für eine radikal defätistische Initiative

Diese Schurken, die uns ausbeuten, die uns in Kriege hineinziehen, die uns mit Preiserhöhungen aushungern, die uns verhaften und unsere Kameraden ermorden, müssen einen Preis zahlen, der weit über ihren Börsenwert hinausgeht. Sie müssen einen sozialen Preis für ihre Verbrechen zahlen.

Die internationalistische Perspektive, die uns seit Beginn des Konflikts in der Ukraine bewegt hat, besteht darin, zuerst gegen unseren eigenen militärischen Machtblock zu kämpfen. Wir haben weder Sympathien für den russischen Autokraten, wie es die ‘luogocomunista’ und die rot-braune Welt vormacht, noch für den Block der so genannten westlichen Demokratien, wie es bei einem großen Teil der neuen Linken der Fall ist. Was ein Revolutionär jedoch in einem Kriegskontext tun kann, ist, für die Niederlage der eigenen Regierung zu kämpfen, um revolutionäre Möglichkeiten zu eröffnen. Wir sympathisieren mit unseren russischen Genossen, die die militärische Infrastruktur von Puntin angreifen und sabotieren, aber der beste Weg, ihres Mutes würdig zu sein, besteht sicherlich nicht darin, die Russen auch vom Westen aus anzugreifen (was bedeuten würde, uns den NATO-Helm aufzusetzen), sondern wie sie unsere eigene Regierung anzugreifen.

Der finanzielle Erdrutsch dieser Tage stellt die erste sichtbare Rückwirkung des Krieges auf die Gesundheit “unserer” Volkswirtschaften dar. Man muss in der Lage sein, diese zweifellos noch bescheidenen Ausschläge zu hören und Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu verschärfen.

In diesem ersten Kriegsjahr hat sich eine wirklich internationalistische, d.h. defätistische Perspektive nur schwer durchsetzen können. Unsere eigenen Initiativen in dieser Richtung hatten nicht die Form eines wirklichen Angriffs und einer Propaganda, die auf die große Masse der Ausgebeuteten und des Kanonenfutters als Ganzes abzielte. Es waren Initiativen, die bestenfalls eine interne Propaganda innerhalb der Bewegung waren. Wahrscheinlich hätte es gar nicht anders laufen können, wenn man an den Grad der theoretischen und praktischen Rückständigkeit in diesen Fragen denkt, wenn man an die grassierende Rückschrittlichkeit in der Bewegung denkt (von Pro-Putin-Kommunisten bis zur deutschen Antifa, die beim Asow-Bataillon Socken stopft).

Mit Ausnahme einer Handvoll italienischsprachiger Artikel und Reden war eine kompromisslose internationalistische Position, oder zumindest eine anständige, nur bei einigen wenigen Gruppen aus den USA, Spanien und der Tschechischen Republik zu beobachten, und sonst kaum wo. In jedem Fall handelt es sich zumeist um eine Federschlacht, die sich auf interne Überlegungen und Polemik beschränkt. Während an der Front die Schlachten mit der Kanone geschlagen werden, werden sie an der Heimatfront mit dem Knüppel ausgetragen.

Die anarchistische Bewegung hat mit ihrer Mobilisierung zur Unterstützung des Hungerstreiks von Alfredo Cospito und gegen das italienische 41bis-Gefängnisregime einen großen Beweis für einen aufrichtigen Internationalismus erbracht. Es ist daher wichtig, noch deutlicher darauf hinzuweisen, dass der Angriff auf die Anarchisten in Italien ein kriegerischer Akt ist, der im Rahmen eines entfesselten Krieges stattfindet, zum ersten Mal nach 70 Jahren als ein symmetrischer Krieg – Panzer gegen Panzer – zwischen den berüchtigten imperialistischen Mächten. Eine Möglichkeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen, den Preis für das Verbrechen, das sie am Körper unseres Genossen begehen, zu erhöhen, besteht also darin, unsere Energien zu nutzen, um die Widersprüche zu schüren und die italienische Regierung vor ihren Verbündeten in Verlegenheit zu bringen.

emmeffe

Fußnoten der Übersetzung

[1] Es heißt Heptacaidecaphobia und existiert nur in Italien. Die Geschichte der Angst vor der Zahl 17 hat ihren Ursprung in der griechischen Mythologie.

Dieser Text erschien dieser Tage auf verschiedenen italienischen anarchistischen Netzwerken, u.a. auf LA NEMESI.

Die zwei Gesichter der Macht: Anarchie und Politik

Giorgio Agamben 

Es war ein deutscher Verfassungsrechtler des späten 19. Jahrhunderts, Max von Seydel, der die heute unausweichlich klingende Frage stellte: “Was bleibt vom Staat übrig, wenn man die Regierung eliminiert”? In der Tat ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob der Zerfall der politischen Maschinerie des Westens eine Schwelle erreicht hat, über die hinaus sie nicht mehr funktionieren kann. Im 20. Jahrhundert hatten Faschismus und Nationalsozialismus diese Frage bereits auf ihre Weise beantwortet, indem sie das etablierten, was man zu Recht als “Doppelstaat” bezeichnet hat, in dem der legitime, auf Recht und Verfassung basierende Staat von einem nur teilweise formalisierten Verwaltungsstaat flankiert wird und die Einheit des politischen Apparats daher nur scheinbar ist. Der Verwaltungsstaat, in den die parlamentarischen Demokratien Europas mehr oder weniger bewusst hineingeschlittert sind, ist in diesem Sinne technisch nichts anderes als ein Abkömmling des nazifaschistischen Modells, in dem diskretionäre Organe außerhalb der verfassungsmäßigen Befugnisse neben die des parlamentarischen Staates gestellt werden, die nach und nach ihrer Funktionen verlustig gehen. Und es ist schon eigenartig, dass sich die Trennung von Herrschaft und Regierung heute sogar an der Spitze der römischen Kirche manifestiert hat, wo ein Pontifex, der sich unfähig sieht zu regieren, spontan die cura et administratio generalis abgesetzt hat, während er seine dignitas beibehielt.

Der extremste Beweis für das Auseinanderbrechen des politischen Apparats ist jedoch die Entstehung des Ausnahmezustands als normales Paradigma des Regierens, das seit Jahrzehnten besteht und in den Jahren der sogenannten Pandemie seine endgültige Form erreicht hat. Was den Ausnahmezustand in der hier interessierenden Perspektive definiert, ist der Bruch zwischen Verfassung und Regierung, Legitimität und Legalität – und gleichzeitig die Schaffung einer Zone, in der sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Souveränität manifestiert sich hier in der Tat in Form einer Aussetzung des Rechts und der damit verbundenen Schaffung einer Zone der Anomie, in der die Regierung dennoch behauptet, rechtmäßig zu handeln. Während der Ausnahmezustand die Rechtsordnung außer Kraft setzt, behauptet er faktisch, noch in Beziehung zu ihr zu stehen, sozusagen rechtlich außerhalb des Gesetzes zu stehen. Technisch gesehen erfindet der Ausnahmezustand faktisch einen “Rechtszustand”, in dem einerseits das Recht theoretisch vorherrscht, aber keine Macht hat, und andererseits Maßnahmen und Regelungen, die keine Gesetzeskraft haben, Rechtskraft erlangen. Man könnte sagen, dass es sich bei dem Ausnahmezustand um eine fluktuierende Rechtskraft ohne Gesetz handelt, um eine unrechtmäßige Legitimität, die mit einer illegitimen Gesetzlichkeit einhergeht, bei der die Unterscheidung zwischen Gesetz und Beschluss ihre Bedeutung verliert.

Es ist wichtig, die zwangsläufige Beziehung zwischen dem Ausnahmezustand und dem politischen Apparat zu verstehen. Wenn der Souverän derjenige ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, war der Ausnahmezustand immer das geheime Zentrum der bipolaren Maschine. Zwischen Staat und Regierung, zwischen Legitimität und Legalität, zwischen Verfassung und Verwaltung wird es dann keine substanzielle Trennung mehr geben. Das Scharnier, das sie verbindet, kann, sofern es den Schnittpunkt der beiden markiert, weder dem einen noch dem anderen Pol angehören und kann weder legitim noch legal sein. Als solches kann es nur Gegenstand einer souveränen Entscheidung sein, die die beiden Pole punktuell durch ihre Aussetzung in Beziehung setzt. 

Aber gerade deshalb ist der Ausnahmezustand notwendigerweise vorübergehend. Eine ein für allemal getroffene Entscheidung des Souverän ist nicht als solche zu verstehen, so wie eine permanente Kopplung zwischen den beiden Polen der Maschine ihre Funktionsfähigkeit gefährden würde. Ein dauerhafter Ausnahmezustand wird zu einem unentscheidbaren Zustand und hebt damit den Souverän auf, der sich nur durch eine Entscheidung definieren kann. Es ist daher sicher kein Zufall, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch der heutige Verwaltungsstaat den Ausnahmezustand konsequent als dauerhaftes und nicht nur vorübergehendes Paradigma ihrer Regierung angenommen haben. Wie auch immer man diese Situation definiert, in jedem Fall hat die politische Maschine in ihr auf ihr Funktionieren verzichtet, und die beiden Pole – Staat und Regierung – spiegeln sich ineinander, ohne sich zu artikulieren.

Es ist die Schwelle zwischen Staat und Regierung, in der das Problem der Anarchie richtig verortet werden kann. Wenn die politische Maschine durch die Artikulation der beiden Pole Staat/Regierung funktioniert, zeigt der souveräne Ausnahmezustand deutlich, dass der Raum dazwischen eigentlich leer ist, er ist eine Zone der Anomie, ohne die die Maschine nicht funktionieren könnte. So wie die Rechtsnorm ihre Anwendung nicht enthält, sondern dazu der Entscheidung eines Richters bedarf, so enthält der Staat in sich nicht die Realität der Regierung, und die souveräne Entscheidung ist es, die, indem sie sie ununterscheidbar macht, den Raum der Regierungspraxis öffnet. Der Ausnahmezustand ist also nicht nur anomisch, sondern auch anarchisch, und zwar in dem doppelten Sinne, dass die souveräne Entscheidung keine Grundlage mehr hat und die Praxis, die sie in Gang setzt, sich in der Ununterscheidbarkeit von Legalität und Illegalität, von Norm und Entscheidung bewegt. Und da der Ausnahmezustand das Scharnier zwischen den beiden Polen der politischen Maschine darstellt, bedeutet dies, dass er funktioniert, indem er die Anarchie in seinem Zentrum aufnimmt.

Als authentisch anarchisch kann man demnach eine Macht bezeichnen, die in der Lage ist, die Anarchie, die in der Maschine gefangen ist, zu befreien. Eine solche Macht kann nur als die Verhaftung und Destitution der Maschine existieren, das heißt, es ist eine Macht, die vollständig destituierend und niemals konstituierend ist. In Benjamins Worten ist ihr Raum der “tatsächliche” Ausnahmezustand, im Gegensatz zu dem virtuellen, auf dem die Maschine beruht, die behauptet, die Rechtsordnung in ihrer Aufhebung aufrechtzuerhalten. Herrschaft und Regierung offenbaren in ihm ihre endgültige Entkopplung, und es kann nicht mehr darum gehen, ihre legitime Artikulierung wiederherzustellen, wie es die wohlmeinenden Kritiker wollen, und auch nicht darum, nach einer missverstandenen Vorstellung von Anarchie die Regierung gegen den Staat auszuspielen. Seit geraumer Zeit wissen wir mit klarem Bewusstsein und ohne Nostalgie, dass wir uns jeden Tag an dieser unüberwindbaren und riskanten Schwelle bewegen, an der die Verknüpfung zwischen Staat und Regierung, zwischen Staat und Verwaltung, zwischen Rechtsnorm und Entscheidung unwiderruflich aufgehoben ist, obwohl das tödliche Gespenst der Maschine weiter um uns kreist.

Dieser Beitrag erschien im italienischen Original am 17. März 2023 als vierter Teil der Reihe “Die Gesichter der Macht” auf Quodlibet

Talkin’ Bout a Revolution – Strasbourg am Abend des 17.März

„Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper
Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper“

Die Melodie des Abends kommt gegen 18 Uhr auf dem Place Kléber aus dem Mund eines unrasierten und verschmitzt lächelnden Gitarristen und füllt den Raum zwischen den sich langsam ansammelnden Menschen. In der nächsten halben Stunde vereinen sich die einzelnen Splitter und verschieden geformten Teile der Proteste gegen die Rentenreform zu einem einzigen Mosaik. Illuminiert durch entzündete Fackeln stehen sie als ein Körper, mit einem Herz und demselben, sich langsam aber beständig beschleunigenden Puls beisammen und warten auf die einsetzende Dunkelheit. Am Fußende werden Reden gehalten, an den Fingerspitzen schwingen unterschiedliche Fahnen im gleichen Rhythmus und im Bauch brodelt die Wut und singt und schreit sich in den dunkler werdenden Himmel. Ein betäubendes Gefühl und gerade, als man sich zu fragen beginnt, wohin diese ganze Energie entweichen soll, erhellt  nach einem kurzen Zischen eine rote Pyrofackel den Platz. Der Kopf läutet unter wilden Beifall den Angriff auf die Ordnung und das Leben das wir nie wollten ein. 

Schon in den ersten Gassen Richtung Place de la République, werden die Wände und Scheiben der verhassten Luxushöllen und Konsumentenbordellen zu den Billboards des kommenden Aufstandes.

Fäuste prallen auf metallenen Bauschutzwände und werden zum Donner des in den Straßen revoltierenden Sturmes. Brennenden Mülltonnen säumen in immer regelmäßigeren Abständen den Rand der Straße. Ein alter Mann mit Fackel blockiert stolz für Abertausende den Abendverkehr Straßburgs. Auf der Avenue des Vosges eignet sich der Frontblock umherstehende Zäune als tragbare Barrikade an. Der Fahrer eines durch die Demonstration zum stehen gekommenen Busses, lässt sich durch die auffordernden Gesten einer Gruppe migrantischer Jugendlicher dazu hinreißen, minutenlang und mit voller Inbrunst, das Horn seines Arbeitsplatzes ertönen zu lassen. Die aus den Hauseingängen gezerrten Mülltonnen werden an den Kreuzungen zu Freudenfeuern aufgebahrt. 

Die Minuten auf dem Boulevard du Président-Wilson dienen primär dazu, kurz durchzuatmen und sich für den bevorstehenden Abschnitt hinter dem Gare Central zu  rüsten. Am Hauptbahnhof angekommen füllt die Manifestation den Platz und noch während einige scherzhaft „Allez à la gare“ rufen, klackern die ersten Tränengaskartuschen des Abends über den Asphalt und hüllen die gläserne Fassade der Zughalle in beißenden Nebel. Ruhig und unbeeindruckt strömt die Masse zur Seite Richtung Innenstadt. Ein Mann ruft Richtung Bullen „Genau das ist 49,3“. Nur Minuten später zerbersten die Scheiben der Galerie Lafayette unter dem dröhnenden Jubel und dem Einsatz von Steinen und den Stangen überflüssig gewordener Verkehrszeichen. Ab diesem Moment wird kein Fenster jeder noch so kleinen Bankräumlichkeit ganz bleiben. Ebenso klirren die Scheiben von Reisebüros und Fitnesscentern entlang der Strecke, denn Niemand verspürt ein Verlangen danach aus diesem Moment zu fliehen und die Entschlossenheit des Körpers, der sich seinen Weg durch die Nacht bahnt, strahlt vor unendlicher Schönheit und bedarf keiner weiteren Optimierungen.

Das Rivetoile, Starbucks, McDonalds. Sie alle fallen dem Zorn der Menge zum Opfer. Hier und da  tauchen eine Handvoll Bullenwagen auf und blockieren verzweifelt eine Brücke oder eine Straße, nur um an der nächsten Kreuzung auf schnell errichtete Barrikaden zu treffen, die ihnen das Vorankommen unmöglich machen und so müssen sie mit ansehen, wie die Menge immer wieder grinsend an ihnen vorüberzieht. Nach über drei Stunden beginnt sich die Masse allmählich zu schwinden. Der Kopf wird noch eine Weile weiterziehen und sich schließlich eine Stunde später unter Tränengasbeschuss ebenfalls auflösen.

Was morgen, übermorgen, in einer Woche und am Ende von all dem passieren wird, ob der Kampf gewonnen oder verloren und was auch immer das genau bedeuten wird, steht in den Sternen. Aber eines ist zu diesem Zeitpunkt gewiss. Die stummen Himmelskörper sind Zeugen unseres heutigen Sieges.

„’Cause finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution
Yes, finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution, oh no
Talkin’ ’bout a revolution, oh“

Dieser Text wurde bonustracks von einem Gefährten zugespielt.