Am Montag werden viele von uns in Paris sein, die geografisch und politisch von hier und da kommen, um sich unter die marschierenden Gewerkschaftsumzüge zu mischen. Natürlich kennen wir die Strecke auswendig. Und wir werden unsere Freude daran, Schaufenster zu zerschlagen, Lanvin zu plündern, in Stromkästen Feuer zu machen, Fackeln in Schaltschränke zu werfen, brennende Mülltonnen unter Glasfaserkabel zu schieben und Angreifer einzuseifen, und uns dabei nicht zurückhalten. Es leben die Nachzügler! Es leben die Arbeitslosen! Aber wir werden nicht all unsere verbleibende Kraft einsetzen.
Zunächst einmal, weil wir uns in diesen von Polizisten gesäumten Straßenabschnitten körperlich eingeschränkt fühlen. Übrigens, wann haben wir das letzte Mal eine Kompanie Bullen während eines von den Gewerkschaften und der Präfektur geregelten Marsches in Paris überrumpelt?… Und zweitens, weil wir finden, dass die Zeitspanne zwischen République und Nation zu kurz ist. Kurz gesagt, weil wir auch Lust haben, von diesem Terrain abzuweichen, von der Logik des festen Blocks.
In den letzten Wochen haben wir uns mehrmals nachts auf der Straße getroffen. Es gab zwar einige Versuche, Anführer der Bewegung zu spielen (es gibt immer welche, die es versuchen), um sich den Anschein zu geben, die Feierlichkeiten um die Müllfeuer herum zu organisieren und Entscheidungen an den Straßenecken zu erzwingen. Aber ehrlich gesagt musste man nicht auf sein Handy, Insta-Accounts, Tweets und dergleichen schauen, um zu wissen, wo sich Leute versammelten: Es war entweder um Les Halles, um die Bastille oder um Saint-Lazare. Und vor allem hatten wir nicht wirklich Lust, auf einen Aufruf zu reagieren, dem wir folgen sollten.
In der Nacht zum 1. Mai werden wir genug sein: Wo immer wir hingehen, wo immer wir schon Gewohnheiten angenommen haben und wo immer wir neue Gewohnheiten annehmen werden, wir werden nicht allein sein!
Lassen wir uns auf den Instinkt ein! Sobald man sich im tatsächlichen Raum der Straßen wiederfindet, ist alles offen, man fühlt sich regelrecht wohler. Alles ändert sich, angefangen bei den Stimmungslagen, deren Bandbreite größer ist. Selbst das Verhältnis zur eigenen Angst ist anders. Man wechselt das Terrain. Jeder greift nach Belieben an, was der Herrschaft dient. Wenn uns die Polizei auf Motorrädern und mit anderen behelmten Kreaturen in den Rücken fällt, fliehen wir, und dann sind wir wieder ein Stück weiter weg von ihnen. Was nicht heißt, dass einem dieser Kreaturen nicht die Fresse eingeseift wird. Und das Terrain verändert sich ständig. Bei plus/minus hundert oder tausend Leuten, die sich an verschiedenen Orten der Stadt bewegen, gibt es immer mehr Gelegenheiten, die man nutzen kann.
Es ist ein dekomprimierter Aufstand, den wir erleben wollen! Ausgedehnt im Raum, verlängert in der Nacht. Und nicht von einer festgefahrenen Vorstellungskraft eingefangen, die in einem Front gegen Front-Spiel auf dem Feld, das der Gegner aufzwingt und beherrscht, erstarrt ist. Ein Aufstand, den wir uns gegenseitig erzählen müssen, weil wir nicht alle denselben erlebt haben. Denn in einer Menschenmenge, die keine einheitliche Masse bildet, können alle Arten von Abenteuern auftreten. Solche, die wie bereits erlebte Abenteuer aussehen, und solche, die wie nichts Bekanntes erscheinen. Vor allem wegen der letzteren wollen wir heute Nacht auf der Straße bleiben.
Bis später!
Anonym veröffentlicht am 27. April 2023 auf Nantes Indymedia, übersetzt von Bonustracks.
Anlässlich der Neuauflage des Buches “La generazione degli anni perduti. Storia di Potere Operaio” von Aldo Grandi, herausgegeben von Chiarelettere, hat uns Cecco Bellosi seinen Text geschickt, der vor allem der Sektion Potere Operaio in Como gewidmet ist, nach Padua die wichtigste in Norditalien. Wir danken dem Herausgeber und dem Autor für den Text. [Vorwort Machina]
* * *
Als ich Zeile für Zeile durch die Seiten dieses nunmehr zwanzig Jahre alten Buches blätterte, durchströmten mich eine intensive Überzeugung und Ergriffenheit. Potere Operaio war unter den Gruppen der außerparlamentarischen Linken die einzige radikale politische Organisation, die die schnellen, scheinbar endlosen Zeiten des Übergangs von den späten 1960er zu den frühen 1970er Jahren durchlief. Synonyme für radikal: entscheidend, total, tiefgreifend, drastisch.
Oder, auch und nur, an die Wurzeln gehen.
Das ist es: Potere Operaio war genau das.
Andere Gruppen waren entweder extremistisch und populistisch, oder ästhetisch stalinistisch und politisch rückschrittlich. Am Ende fanden sie sich, wie so oft bei der Begegnung zwischen Extremisten und Populisten, in einem kurzen und engen parlamentarischen Abenteuer wieder zusammen.
Potere Operaio nicht: seine Führungsschicht, seine Kader, seine Militanten landeten fast alle im Gefängnis. Wenn auch nur aus diesem Grund, sollte es eine Quelle des Stolzes sein, in ihr militant gewesen zu sein. Franco Piperno sagte damals bissig wie immer: “Man kann kein Revolutionär sein, wenn man behauptet, ein sauberes Strafregister zu haben”.
Die anderen verlangten es. Wir nicht. Die anderen sprachen von Revolution, Potere Operaio versuchte, sie zu leben. Begleitet von einer soliden theoretischen Grundlage, dem Arbeitertum, das in der Lage war, den Klassenwandel vom Facharbeiter, der an seinen eigenen Arbeitsplatz gebunden war, zum Massenarbeiter, der in der großen fordistischen und tayloristischen Fabrik eingeschlossen war, zu verstehen.
Die Klasse als Motor und gleichzeitig tadelloser Abrissbirne des Kapitalismus. Die grobe heidnische Spezies von Mario Tronti. Der Autor von “Operai e capitale”, unserem Bildungsroman im Herzen Europas.
Wie “Hundert Jahre Einsamkeit”, seine lateinamerikanische Version
Das Jahr 1969 wurde von der Arbeiterbewegung als das Jahr 1905 in Italien erlebt und interpretiert, das von Tronti in “classe operaia” skizziert wird. Von der Explosion der Kämpfe bei FIAT im Frühjahr über die Zusammenstöße am 3. Juli auf dem Corso Traiano bis hin zu dem ausgesprochen heißen Herbst war es das Jahr der größtmöglichen und umfassendsten Ausdruckskraft der Arbeitermassen.
Es folgt ein rotes Jahrzehnt, auch wenn das Jahr 1917 nicht kommt.
Im September 1969 wurde Potere Operaio gegründet. Die Gruppe versucht, die Früchte der vorangegangenen Kämpfe zu ernten und die blutige Frage der Löhne als unabhängige Variable, die das System sprengen kann, wieder aufzugreifen. Die Parole der gleichen Lohnerhöhung für alle wurde schließlich sogar von der Gewerkschaft herausgestellt, die damit versuchte, die Kontrolle über eine völlig aus dem Ruder gelaufene Situation zurückzugewinnen.
Im Sommer 1969 unternahm ich mit drei anderen Begleitern eine ziemlich abenteuerliche Reise nach Kalabrien. Auf der Suche nach Bestätigung oder Entdeckung. Wir hatten von der politischen Arbeit einer marxistisch-leninistischen Gruppe, in der maoistischen Version, unter den Bauern gehört und wollten dieser kleinen urbanen Legende auf den Grund gehen. Alles, was wir fanden, waren kleine, obskure Parteifunktionäre, die in ihrem Hauptquartier eingesperrt waren.
Zu diesem Zeitpunkt hätte die Reise sinnlos erscheinen können, wäre da nicht die Gesellschaft gewesen: eine lebenslange Freundschaft. Stattdessen trafen wir in Marina di Camerota einen Genossen aus Como, Ronni, aus der “Arbeiterklasse”, der unserem politischen Ziel skeptisch gegenüberstand und uns stattdessen riet, nach Capo Vaticano zu fahren, wo Seminare zwischen FIAT-Arbeitern, die in ihren Ursprüngen Urlaub machten, und der römischen Studentenbewegung stattfanden.
Oreste Scalzone. Das Treffen.
Wir standen unter einem Zelt am Rande des Strandes, mit seltenen Bädern zwischen den Sitzungen, um die Kämpfe des Frühjahrs und die Aussichten des Herbstes zu analysieren. Endlich atmete ich eine neue Luft in den Dingen, nicht in Worten im Wind.
Oreste gab mir einen Termin in Mailand, im September. So war ich ganz zufällig in der Via Modena an der Geburt von Potere Operaio, der Zeitung und der Gruppe beteiligt. Ich verstand wenig oder gar nichts, außer dass ich viel lernen musste, um die Reden von Toni Negri und Sergio Bologna zu verstehen. Damals überwog die Faszination.
Die Zeitung kam dank der Schuldscheine heraus, die von Personen unterzeichnet wurden, die den Militanten nahe standen. Sogar mein Vater unterschrieb einige von ihnen, um sie zu ehren, er, der niemals in seinem Leben einen Schuldschein für sich selbst unterschrieben hätte.
Im Herbst begann ich, an den Kursen von Ferruccio Gambino und Giairo Daghini über Il Capitale in der Casa dello Studente teilzunehmen, und der Nebel begann sich zu lichten.
In Mailand war Potere Operaio eine Gruppe von wenigen Auserwählten, die später durch externe Mitglieder verstärkt wurde. In Como hingegen war sie zur hegemonialen Organisation innerhalb des Comitato Operai Studenti geworden. Die Bewegung entstand aus den Erfahrungen, die eine Gruppe von Textilarbeitern, die über eine solide praktische Kultur verfügten, und eine rastlose Handvoll junger Intellektueller, die auf der Suche nach einer theoretischen Dimension waren, um die sich vollziehenden Veränderungen zu interpretieren, in den Jahren zuvor in der “Arbeiterklasse” gesammelt worden waren.
Sie interessierten sich für Politik, Kino und Literatur.
Die Anekdote von damals erinnert an einen alten Sergio Annoni, einen Mitarbeiter der Tintoria Lombarda, der Mario Tronti seine Version von Il Capitale im dialetto lariano erzählte. Tronti nickte verwundert: nicht über den Inhalt, sondern über die barbarische Sprache.
Der Operaismo in Como hatte die Bewegung durchdrungen. Der Potere Operaio schlossen sich vor allem die Kollektive der industriellen Einrichtungen wie das Setificio und die Magistri Cumacini an, aber auch die des Liceo Scientifico und der Professionale. Und auch einige junge Arbeiter. Eine Gruppe von Trontiani schloss sich stattdessen der Kommunistischen Partei an und versuchte es mit der Taktik des Für und Wider. Mit wenig Erfolg in einer Partei, die stärker oxidiert ist als anderswo.
Im Herbst 1969 gab es viele Initiativen des Kampfes, auch in Como. Zusammen mit anderen Genossen sammle ich über ein Dutzend Anklagen wegen Straßenblockaden, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Sie sollten im Mai 1970 amnestiert werden.
Um uns herum hatte sich ein Komitee von Anwälten für die freie Verteidigung gebildet. Zu ihnen gehörte Felice Sarda, der Freund, der mich in den folgenden Prozessen immer begleiten sollte.
Der intensivste Moment war, als wir nach einer großen Gewerkschaftsdemonstration auf der Piazza del Duomo in einem Umzug, gefolgt von tausend Menschen, abzogen. Wir erzwangen die Schließung der Standa, warfen Steine auf den Sitz der Industriegewerkschaft, zogen durch einige Fabriken und erreichten schließlich die Arbeiterkammer, um den Sitzungssaal mit einer Kampfversammlung zu besetzen.
Ein in seiner Art einzigartiges Ereignis.
Um Potere Operaio herum begann sich ein geschlossener und effektiver Ordnungsdienst zu formieren, der sich täglich Scharmützel mit den Faschisten lieferte. Bis zum Angriff auf das Hauptquartier des MSI in der Via Milano, bei dem Möbel aus den Fenstern regneten.
Dann kam der 12. Dezember.
In den Tagen zuvor war Francesco Tolin, der Chefredakteur der Zeitung, verhaftet worden. Er hatte das Unrecht, als Mitglied des Berufsverbands der Journalisten und Publizisten seine Unterschrift darunter zu setzen.
Mit Großzügigkeit: Er konnte sich nur Ärger einhandeln.
Potere Operaio war mit der Schlagzeile herausgekommen: “Gewalt ist weder gut noch schlecht: Gewalt ist”.
Eine apodiktische Wahrheit.
Es gibt die Gewalt der Unterdrücker und manchmal die Gewalt der Unterdrückten. Die erste wird vom Staat als legitim angesehen, die zweite nicht.
Wie Francesco Tolin bei der Verhandlung bekräftigte: “Wenn der Chef Tausende von Arbeitern entlässt, wie bei Mirafiori geschehen, rebellieren die Arbeiter. Auf die Gewalt der Arbeitgeber folgt die Gewalt der Arbeitnehmer. Doch während die Gewalt der Bosse als legitim und sogar erhaben gilt, wird die Gewalt der Arbeiter verurteilt. Unsere Zeitung hat über die Gewalt berichtet. Die Gewalt der Arbeiter hängt nicht von mir ab: Sie hat ihre eigenen Formen.”
Der Staat selbst ist Gewalt, oft rücksichtsloser als diejenigen, die gegen seine Gesetze verstoßen. Und staatliche Gewalt wird jeden Tag ausgeübt, in allen Breitengraden. Man denke nur an Urteile wie die Todesstrafe oder lebenslange Haft, eine Todesstrafe, die tropfenweise verhängt wird.
Das Massaker auf der Piazza Fontana war ein Schock für alle.
Bis dahin hatten sich die Kämpfe gegen das Kapital gerichtet; nun erschien der Staat nicht mehr nur als Ausfluss des Kapitals, sondern als direkter Feind. Die Arbeiterautonomie und der Lohn als unabhängige Variable, die das System in jenem Jahr in die Krise gestürzt hatten, konnten es nicht sprengen. Die Antwort darauf war mehr als deutlich.
Auch die Arbeiter mussten sich mit diesem Paradigmenwechsel auseinandersetzen.
Die Konferenz von Florenz im Januar 1970 gab den Anstoß zu Überlegungen über die Reaktion des Kapitals, das mit der technologischen Umstrukturierung lebende Arbeit in tote Arbeit umwandeln würde, wodurch das Beschäftigungsniveau sinken würde, und über die Notwendigkeit, die Lohndynamik auf die Gesellschaft auszudehnen und die Fragen des Wohnens und dessen, was man heute das Recht auf ein würdiges Leben nennen würde, in den Mittelpunkt zu stellen.
Der Begriff “Garantielohn” tauchte allmählich auf.
Im Mittelpunkt der Debatte stand jedoch vor allem die Dialektik zwischen Spontaneität und Organisation, zwischen denjenigen, die die Organisation als taktisches Instrument der Arbeiterautonomie betrachteten, und denjenigen, die das Problem der Organisation stattdessen als notwendigen strategischen Schritt darstellten.
Die leninistische Entscheidung.
In dem Bewusstsein, dass es notwendig war, uns mit Mitteln auszustatten, um dem Angriff des Staates zu widerstehen, der sich inmitten der Unterdrückung der Kämpfe auf den Plätzen und den Massakern in der Funktion einer schrecklichen Abschreckung entfaltete. Wir waren nur fleißige Ameisen im Angesicht des Riesen, aber wir mussten einen Anfang machen, angefangen bei den Ordnungsdiensten auf den Demonstrationen.
Es ist nicht wahr, dass Potere Operaio die Auswirkungen des Massakers auf die folgenden Jahre unterschätzt hat, auch weil einer der Protagonisten der Gegenuntersuchung über die Piazza Fontana, La strage di Stato, Marco Liggini war, ein Genosse, der Potere Operaio sehr nahe stand.
In der Woche nach dem 12. Dezember wurde ich zu einem Treffen in der Via Modena in der Redaktion der Zeitung eingeladen. Ich wusste, dass man mich nicht bitten würde, einen Artikel zu schreiben, auch weil ich mich im Vergleich zu denen, die für mich heilige Ungeheuer waren, wie am ersten Tag der Grundschule fühlte, wenn einem alles im Vergleich zu einem selbst riesig erscheint. Ich wurde gebeten, mich um die Verlegung der Presse der Zeitung in die Schweiz zu kümmern. Die Verhaftung von Francesco Tolin schien eine Warnung zu sein, aber dann war das Massaker geschehen, und es war keine Warnung mehr. Ich kannte die Wege. Und ich kannte Genossen im Kanton Tessin, die uns hätten helfen können, wie sie es immer taten.
Mit großer Großzügigkeit.
So konnte die Sache erledigt werden. Das Redaktionsteam war nicht gezwungen, ins Ausland zu gehen, aber das war das Klima. Dasselbe, das Giangiacomo Feltrinelli einige Tage später dazu zwingen würde, in die Schweiz zu ziehen. Ein Opfer der perfekten Piazza-Fontana-Inszenierung. Viele Jahre später erzählten einige faschistische Verräter im Prozess um das Massaker auf der Piazza Della Loggia in Brescia, der mit der posthumen Verurteilung der Täter endete, dass ihr Plan darin bestand, Giangiacomo Feltrinelli in seiner Residenz in Villadeati im Piemont zu töten, indem sie dort identische Zeitschaltuhren wie die auf der Piazza Fontana auffinden ließen. Sie gehörten Franco Freda und Giovanni Ventura, den Massenmördern vom 12. Dezember, die der Staat bis zum Schluss schützte. Wie man es mit treuen Dienern tut.
Am 1. Januar 1970, nach einem starken Schneefall, begleitete ich Giangiacomo mit Hilfe eines befreundeten Schmugglers in die Schweiz.
Ich war einundzwanzig Jahre alt.
Einige Tage zuvor, am 21. Dezember, hatte ich am ersten Versuch einer Demonstration nach dem Massaker teilgenommen, die von der Studentenbewegung vor der Statale, wenige Meter von der Piazza Fontana entfernt, organisiert worden war. Wir waren etwas mehr als tausend Leute, die umzingelt waren. Es herrschte eine Atmosphäre des Schreckens, aber der Wille zur Rebellion war da. Einen Monat später, am 21. Januar 1970, nahmen wir an einer Massendemonstration auf der Piazza Santo Stefano teil. Wir sind zehntausend: Der Nebel beginnt sich zu lichten, Zweifel und Angst werden überwunden. Von Como kommend, ordneten wir uns in zwei Kordons des Ordnungsdienstes ein, unmittelbar nach den zehn Kordons der Katanga, dem Ordnungsdienst der Studentenbewegung, der später dafür berüchtigt werden sollte, mehr Genossen als Faschisten zu verjagen.
Aber das war damals nicht der Fall.
Der Angriff der Polizei war äußerst heftig und wurde von einem dichten Tränengasfeuer begleitet. Den Katanga gelang es, ihre Position zu halten, aber hinter ihnen musste der Zug geräumt werden. Es lag an uns, den letzten Stoß abzuwehren, und es war unsere Taufe in einer echten Auseinandersetzung. Unter dem Druck des Tränengases und in einem Handgemenge mit Schlägen, die wir einstecken mussten, gelang es uns, unsere Aufgabe zu erfüllen.
Am 31. Januar wurde zu einer neuen Demonstration aufgerufen. Fünfzigtausend Menschen kommen: Die Polizei bleibt auf Distanz. Niemand war nach Hause zurückgekehrt. Wenn die Strategie der Spannung eines erreicht hatte, dann war es, uns noch mehr von unseren Gründen zu überzeugen.
Unser Ordnungsdienst hatte sich in der Praxis bewährt und gelernt, sich zu verteidigen, aber auch anzugreifen. Vor allem, als wir anfingen, Molotows zu benutzen.
1970 war ein Jahr der langsamen Erholung der politischen Initiative und der Ausbildung auf logistischer und organisatorischer Ebene.
Gleichzeitig reifte die Idee einer Annäherung an die anderen Gruppen, insbesondere an Lotta Continua und Il Manifesto, um der Phase mit einer angemesseneren Kraft zu begegnen. Auch wenn Lotta Continua sich zunehmend als Partei identifizierte und Il Manifesto in der historischen Tradition der Arbeiterbewegung verankert war. Es lag nahe, Alberto Magnaghi zum politischen Sekretär zu wählen, einen ruhigen und sanftmütigen städtebaulichen Architekten, der im Gegensatz zu den historischen Führern von Potere Operaio die Kunst der Vermittlung beherrschte. Auf die eine oder andere Weise wenig geeignet für diese Aufgabe.
Franco Piperno war der charismatische Anführer, der mit bissigen, ätzenden, sarkastischen Sprüchen, in cui il venenum stava sempre in cauda, alle bezauberte; Toni Negri war der geniale und visionäre Professor, alles andere als ein schlechter Lehrer, der die Aufmerksamkeit mit seinen synkopischen Rhythmen und seinen Redewendungen fesselte, in denen man kein Wort verpassen durfte, um nicht den Faden der Ideen zu verlieren, die immer über das Hier und Jetzt hinaus projiziert wurden; Oreste Scalzone war der unermüdliche Streiter, immer in der Nähe seiner Genossen, Tag und Nacht der revolutionären Sache verpflichtet.
Eigenschaften, die keiner von ihnen je verlieren würde.
Magnaghi bezahlte teuer dafür, dass er diesen Posten angenommen hatte: Obwohl er immer gegen den bewaffneten Kampf und persönlich sogar gegen Gewalt war, landete er jahrelang im Gefängnis, bevor er von jeder absurden Anklage freigesprochen wurde.
Die Gerechtigkeit.
Der Versuch der ‘kalten Fusion’ mit Il Manifesto wurde jedoch von beiden Seiten unternommen, auch wenn eine gemeinsame Basis fehlte. Aber Rationalität zahlt sich nicht immer aus.
Das kurze Treffen fand im Zirkuszelt Medini in Mailand statt. Im Mittelpunkt der Debatte stand der Übergang von Basiskomitees zu politischen Komitees in den Fabriken und Territorien. Fast einhundertfünfzig Arbeitervertreter waren anwesend. Es fehlte jedoch eine Verschmelzung der beiden Formationen. Potere Operaio war nun auf eine revolutionäre Perspektive in Italien ausgerichtet, Il Manifesto unterstützte Revolutionen in der ganzen Welt, insbesondere in Lateinamerika, war aber sehr skeptisch, um es gelinde auszudrücken, was die Möglichkeit einer revolutionären Entwicklung in Italien anging.
In diesen zwei Tagen Ende Januar 1971 fiel mir die Aufgabe zu, für den Ordnungsdienst zu sorgen, so dass ich ständig zwischen dem Außenbereich, in dem die Kamele scheinbar selig vor sich hin dösten, und dem Festzelt hin und her pendelte. Mit anderen Genossen tauschten wir nur einen Scherz aus: “Mit diesen Typen gehen wir nirgendwo hin”. Und tatsächlich hielt das Bündnis nur einen Vormittag lang.
Mitte 1970 hatten wir den Kontakt zu Giangiacomo Feltrinelli und seiner Organisation GAP wieder aufgenommen. In Mailand hatten sie mit der Brigade Valentino Canossi, benannt nach einem Arbeiter, der bei der Arbeit gestorben war, einige Bulldozer auf Baustellen in die Luft gesprengt. Aber sie zielten auch auf die Medien ab.
Deshalb bat mich Giangiacomo, der Genosse Osvaldo wurde, zwölf deutsche Funkgeräte aus der Schweiz mitzubringen. Sie wurden für die Sendungen von Radio GAP benötigt: Auf einem Auto montiert, konnten sie die Sendungen der RAI stören, insbesondere die 20-Uhr-Nachrichten, die meistgehörte Nachrichtensendung. In Mailand betraf die Unterbrechung des Programms, das mit “L’Internazionale” und “Qui radio Gap” begann, nur einige Wohnblocks am Corso di Porta Romana, aber das sollte nur der erste Test sein. Der Diskurs innerhalb von Potere Operaio begann, über den Ordnungsdienst hinauszugehen, der seinerseits den Sprung vom Kopfsteinpflaster zum Molotow vollzog. Valerio Morucci aus Rom kam, um uns die Zubereitung der chemischen Molotow-Cocktails beizubringen. Wir probierten sie in der Oase Bassone in Como aus. Wie unsere römischen Genossen vor uns waren auch wir verblüfft und erstaunt, wie sie bei jedem Wurf funktionierten.
Politisch gesehen war 1970 das Jahr der Fabrikarbeit bei Alfa Romeo, bei Pirelli, bei Autobianchi in Desio.
Meine Lehrzeit verbrachte ich bei Alfa mit Toni, Gianni und anderen Genossen, die aus der Region Veneto nach Mailand gekommen waren. Das Leben war hektisch: Vor sechs Uhr morgens mussten wir vor den Toren von Arese stehen, um Flugblätter für die erste Schicht zu verteilen; dann in der Zentrale; dann, vor zwei Uhr nachmittags, immer noch in Arese, um Flugblätter für die zweite Schicht zu verteilen und mit den Arbeitern zu sprechen, die von der ersten Schicht kamen, von denen einige begannen, engere Beziehungen zu unserer Gruppe zu unterhalten; wenn die Hitze der Kämpfe zunahm, kehrten wir auch zum 10-Uhr-Ausgang zurück, um eine Bilanz der Situation zu ziehen und die Entwicklungen der nächsten Tage zu diskutieren. Es gab auch die ersten Blockaden auf der Autobahn, und die autonome Versammlung der Alfa-Arbeiter begann sich zu formieren, die in den folgenden Jahren einen starken Einfluss auf die Situation in der Fabrik haben sollte.
Abends, wenn es möglich war, nahmen wir unsere einzige Mahlzeit bei Nino ein, eine der Trattorien, von denen es in Mailand viele gab und die es heute fast nicht mehr gibt. Nino war ein alter sozialistischer Genosse, bei dem Corrado Bonfantini, der Kommandant der Matteotti-Brigaden in der Resistenza und damals Abgeordneter der Sozialistischen Partei war, oft speiste. Er hatte Gefallen an uns gefunden, und wenn wir kein Geld hatten, hat er die Rechnung beglichen. So war es auch im Mailänder Arbeitermilieu jener Jahre: Unser neuer Sitz in der Via Maroncelli lag in der Nähe von Isola, dem Viertel von Ezio Barbieri, dem Banditen auf der Isola, der Ligera, der traditionellen Mailänder Unterwelt entstammend.
Nachdem ich bei Alfa die Arbeit an der Tür gelernt hatte, ging ich mit einem anderen Genossen zum Autobianchi-Werk in Desio, wo die Arbeiter die Produktion störten, indem sie auf dem Fließband über die Karosserie sprangen. Dort war die Klasse eher traditionell, aber sehr kämpferisch, bis hin zu dem Punkt, dass sie im Zentrum eines sehr harten Kampfes stand. Die Treffen mit den Arbeitern fanden in einer nahe gelegenen Bowlingbahn statt. Nach den Versammlungen machten wir manchmal eine Pause, um mit Mauro Rostagno, der zusammen mit einem anderen Genossen für Lotta Continua sprach, Bowling zu spielen. Mit ihm, der über eine natürliche Fähigkeit zur Geselligkeit verfügte, entstand eine wunderbare menschliche Beziehung, in der die politischen Differenzierungen verblassten.
1971 war das Jahr der Beschleunigung.
Für alles.
Die Kämpfe erstreckten sich von der Fabrik auf das Territorium. Vor allem um Wohnraum und kostenlosen Transport durch die Praxis der Aneignung. Und um die Verkürzung der Arbeitszeit, außerhalb der vertraglichen Dynamik. Die Hausbesetzungen betrafen alle großen Städte, insbesondere Rom und Mailand.
Ich erinnere mich an eine Besetzung im Mailänder Stadtteil Ticinese, wo wir nach der Räumung und Wiederbesetzung von zwei Sozialwohnungen auf dem Gleisbett nach Steinen suchten und mit der Polizei zusammenstießen. Ich bekam einen Tränengaskanister ans Bein; ich merkte nicht einmal, dass ich blutete, denn ich wurde sofort von einem Polizisten angegriffen, mit dem wir uns auf dem Boden wälzten: In dem Handgemenge verlor ich meine Brille. Am Ende der Auseinandersetzungen fanden wir uns in der Redaktion von Sapere auf der Piazza Vetra wieder, wo man meine Wunde verband. Ich ging hinunter, um das Auto zu holen, den roten Cinquecento, der so viele Geschichten erlebt hatte, in Begleitung von Toni, der mich fragte, ob ich Lust hätte, zu fahren. Meine Sehkraft war durch die Schmerzen der Beinverletzung getrübt und außerdem hatte ich keine Brille, so dass ich nichts sehen konnte; Toni fragte also, ob ich Lust hätte zu fahren. “Warum nicht?”, antwortete ich fast ärgerlich. Tatsächlich krachte ich in den Poller einer Parkverbotszone, vor dem ich mein Auto geparkt hatte. Und Toni schaute mich verwundert an, als wollte er sagen: “Ich wusste es”.
Im Juli hatte es beim Led-Zeppelin-Konzert im Vigorelli, das die ganze Nacht andauerte, Krawalle gegeben.
In jenem Sommer hatte Giangiacomo uns mit der Aufgabe betraut, einen möglichen Angriff auf das Casino von Saint Vincent im Aostatal zu untersuchen. Die römischen Genossen und Gefährten gingen zuerst, dann waren wir Mailänder an der Reihe. Ich ging mit Carlo Fioroni, der damals als zuverlässiger Genosse galt, auch wenn er ungeschickt und etwas seltsam war, und zwei Begleitern hinauf. Die Römer mussten die innere Erkundung vornehmen, mit einigen Abenden an den Spieltischen; wir mussten die äußere Erkundung vornehmen, mit frühem Aufstehen vor der Morgendämmerung und stundenlangem Aufenthalt mit dem Fernglas auf einem Hügel, um die Momente zu erwischen, in denen das Geld floss. Um Geld zu sparen, übernachteten wir in einer Hütte, die ihre Dienste draußen in einem Abstellraum anbot.
Die Wiesen waren fast noch besser.
Wir erfuhren die Zeiten und die Art und Weise der Geldbewegungen, ich erstellte einen detaillierten Bericht. Als ich Osvaldo im September in Mailand wiedersah, war er mit der Genauigkeit des Berichts zufrieden, zeigte sich aber skeptisch, was die Durchführbarkeit der Operation anging. Aber das war schon vorher bekannt: Das Aostatal hat nur eine einzige Ein- und Ausfahrt, und damals gab es gerade in St. Vincent eine Konzentration von Polizeikräften.
Giangiacomo war gerade aus Südamerika zurückgekehrt: Er hatte zwei Bücher im Gepäck, die gerade ins Italienische übersetzt worden waren: ‘Tupamaros in Aktion, Theorie und Praxis’. Und die Praxis: der Überfall auf das Casino von Montevideo.
Bald darauf erhielt ich einen weiteren Auftrag: Ich sollte zwei Maschinenpistolen aus der Schweiz zu einem Stützpunkt in der Viale Sarca in Mailand bringen. Damals war Silvano, der von nun an Genosse Siro heißen sollte, mit uns gekommen, direkt von der PSIUP kommend. Er war älter als wir und besaß ein Textilgeschäft, war aber zuvor als Schmuggler tätig gewesen, und zwar auf eine sehr geheimnisvolle Weise. Er hatte ernsthafte gesundheitliche Probleme, mit plötzlichen Asthmaanfällen bei einer bereits geschwächten Physis, aber auch eine ausgeprägte Entschlossenheit. Er hatte einen NSU Prinz, ein hässliches Auto, aber eines, in dem zwei Waffen in den Rücklichtern versteckt werden konnten. Aber nicht zwei M16. Die Maschinenpistolen, die die amerikanischen Soldaten in Vietnam benutzten: Sie waren zu lang und wir konnten sie nicht auseinandernehmen. Schließlich taten wir das Einzige, was man nicht tun sollte. Wir fuhren mit den beiden M16 unter dem Sitz los. Für uns hat es gut funktioniert. Wir kamen lässig am Treffpunkt an: Der Schweiß der Fahrt war von uns abgewischt worden.
Ende September 1971 fand im EUR-Palast in Rom die dritte Konferenz der Organisation, der Kongress der Potere Operaio, statt, an dem tausend Delegierte teilnahmen. Wir reisten mit dem Bus an. Drei von der Libreria Sapere gelieferte Bücher begleiteten uns: die “Quaderni Rossi”, die fast ad hoc neu aufgelegt wurden, und zwei von Einaudi veröffentlichte Texte. Der erste war natürlich “Arbeiter und Kapital”, das Kultbuch der Arbeiterbewegung. Der zweite, der am meisten nachgefragt wurde, um die Metamorphose von Potere Operaio zu unterstreichen, war ‘I Fratelli di Soledad’, George Jacksons Briefe aus dem Gefängnis. Mit der Widmung: “An Jonathan Peter Jackson, der am 7. August 1970 starb, mit dem Mut in der einen und dem Gewehr in der anderen Hand; an meinen Bruder, Genossen und Freund … den wahren Revolutionär, die schwarze kommunistische Guerilla in ihrer reinsten Ausprägung”. Jonathan war da 17 Jahre alt. Im folgenden Jahr, 1971, wurde George Jackson von Wärtern im Gefängnis von San Quentin getötet.
Der Ausbruch der Gefängnisrevolte und der afroamerikanischen Rebellion an der Seite des Klassenkampfes. In der Tradition der Arbeiterbewegung war dies bis dahin undenkbar.
In Rom wurden drei Positionen gegenübergestellt.
Die erste, die der Mehrheit, wurde von Franco Piperno angeführt: Sie führte die sozialen Kämpfe über die Fabrik hinaus, betonte die Notwendigkeit einer Intervention im Süden und vor allem die Notwendigkeit einer Organisation: die Partei, die den revolutionären Prozess anführen sollte. Die zweite, etwas nuanciertere, wurde von Toni Negri interpretiert: Sie bekräftigte die Bedeutung der Fabrikkämpfe; sie unterstützte die Intervention auf dem Territorium, auch wenn sie sich nicht zur Entwicklung der Kämpfe im Süden äußerte; sie stimmte der Notwendigkeit einer Organisation zu, die in der Lage war, die Revolution zu flankieren. Diese scheinbar unbedeutenden Differenzen sollten sich innerhalb von anderthalb Jahren zu einem Abgrund von Missverständnissen und Gegensätzen entwickeln. Die dritte, deutlich in der Minderheit befindliche Position bezieht sich auf die klassischen Operaiisten, deren Blick stets auf die Fabrik und die Formen der Selbstorganisation der Arbeiter gerichtet ist.
Die ersten beiden Positionen vereinten sich im Begriff des Aufstands, verstanden in der sozialen Dimension des Aufstands und der lexikalischen Kategorie einer kollektiven Bewegung der Revolte gegen die konstituierte Autorität. Später sollte dieser Begriff teuer bezahlt werden, und zwar von allen, als der Staat das Verbrechen des bewaffneten Aufstands gegen die Staatsgewalt aus der Schublade der Repressionsinstrumente zog, ein Artikel, der absichtlich in den Code Rocco eingefügt wurde, um jede Form von organisierter Opposition gegen das Regime zu unterdrücken. Aber entweder ist der Aufstand erfolgreich, dann gibt es das Verbrechen nicht mehr, weil die Aufständischen die Macht ergriffen haben, oder es handelt sich bestenfalls um einen Versuch, und das Verbrechen des versuchten Aufstands ist gar nicht vorgesehen. In den 1980er Jahren wurde diese Anklage auf alle Militanten der Roten Brigaden ausgedehnt, um die Höchstgrenze für die Untersuchungshaft zu erhöhen.
Danach wurde nichts mehr in diese Richtung unternommen, jedenfalls was die Strafverfolgungsordnung betraf.
Stattdessen wurde dies zum Leitmotiv der Anklage gegen Potere Operaio.
Auf dem Kongress war vielen klar, dass der Begriff “Organisation” zu diesem Zeitpunkt den Aufbau einer bewaffneten Struktur vorsah. Mit illegalen Strukturen rüsteten sich in dieser Zeit fast alle außerparlamentarischen Gruppen aus, einige aus defensiven Motiven: die düstere Atmosphäre eines möglichen Staatsstreichs herrschte noch vor, andere dachten, dass ein Revolutionär früher oder später versuchen müsse, eine Revolution zu machen.
Potere Operaio gehörte zu diesen, aber sie war die einzige Gruppe, die dies offen aussprach. Toni Negri brachte es am Ende seiner Rede, als er zum Generalsekretär gewählt wurde, auf den Punkt: “Hier muss jeder von uns wissen, dass militant zu sein bedeutet, alles zu riskieren.
Im Sinne von Engagement, Leidenschaft, Hingabe.
In der Atmosphäre des Kongresses herrschte eine starke emotionale Spannung. Tupa, tupa, Tupamaros’, dem ein zaghaftes ‘Potere Operaio’ entgegengesetzt wurde.
An einem dieser Abende wurde in einer vertraulichen Sitzung, die keinen Namen trug und daher anscheinend auch keinen Inhalt hatte, die illegale Arbeit, seither LI, formalisiert. Etwa dreißig von uns wurden zusammengerufen: wir kamen noch motivierter heraus. An diesem Abend wurde der nationale Leiter, Valerio Morucci, ernannt. Sowohl er als auch jeder Leiter der Zentrale unterstehen einem politischen Referenten, der auf nationaler Ebene Franco Piperno ist.
Um zu betonen, dass die Politik das Gewehr beherrschen würde. Nicht andersherum. Auf lange Sicht war dies nicht der Fall. Für Mailand und Como war der politische Referent Oreste, mit dem es nie ein Problem gab.
Jahre später war der Vorstoß in Richtung Schwarzarbeit die vierte Komponente des Kongresses. Eine Variable, die sich zunehmend verselbständigte.
Como, vielleicht nach Padua, im Norden, war der zahlenmäßig stärkste Stützpunkt der Gruppe. Siro und ich bekamen den Auftrag, ‘LI’ auf der Achse Mailand-Como-Schweiz aufzubauen. Durch Osvaldo, eine wahre Fundgrube an Informationen, hatten wir erfahren, dass im Fürstentum Liechtenstein Waffen aller Art und, einzigartig in Europa, sogar Pistolen und Revolver frei verkäuflich waren. Am Ortseingang von Vaduz begrüßte ein Schild mit der Aufschrift “Waffen und Munition” besondere Touristengruppen. Das erste Mal kauften wir Walter PPKs. Der Verkauf war frei, aber nur für eine Waffe pro Tag und gegen Vorlage eines Personalausweises.
Offensichtlich eine Fälschung.
Wenn man eine halbe Stunde später mit demselben Gesicht und einem anderen Ausweis auftauchte, wurde man von der Verkäuferin nur mit einem mitleidigen Lächeln begrüßt. Wie in jedem Nuss- und Schokoladenladen.
Abgesehen von den Ausweisen, die regelmäßig von den Gemeinden ausgestellt wurden, gab es damals zwei Kategorien von Ausweisen: diejenigen, die wir bei schnellen Überfällen auf die Rathäuser der Vororte gestohlen hatten, und diejenigen, die wir gekauft hatten. Erstere verbreiteten sich in der europäischen Klassensolidarität und erreichten die antifranquistische ETA und die RAF. Die letzteren waren sofort einsatzbereit, wurden in der Druckerei neu hergestellt und kosteten fünfzigtausend Lire. Ein Pass, mit dem die Grenzkontrollen umgangen werden konnten, kostete viel mehr. Aber sie waren garantiert.
Auf der Piazza Tirana in Giambellino, damals eine Enklave der Genossen und der Ligera, verkaufte er sie unter freiem Himmel, auf einem grünen Tisch, Il Bumba, wenn er nicht am Bahnhof in San Vittore seinen Stand aufgeschlagen hatte.
Ganz in der Nähe, an einer Straßenbahnhaltestelle.
Ein transversales Mailand, in dem Genossen, alte Rentner, die sich als wissenschaftliche Kartenspieler verstanden, junge Möchtegern-Revolutionäre und nach einer Weile auch nicht mehr ganz so Möchtegern-Revolutionäre, Boccia-Spieler, Würfelspieler, die Unterwelt des Volkes, ohne Probleme nebeneinander existierten, außer einer Schlägerei im Nebel. Wie in Giorgio Gaber’s ‘La Ballata del Cerutti Gino’.
Diese Ausweise, diese Pässe, aber auch Motorräder, mit oder ohne Kennzeichen, waren für uns von großem Interesse, aber man brauchte auch Geld, um sie zu kaufen. Mehrere Genossen des Ordnungsdienstes verharrten an diesem Punkt, ohne sich dem ‘LI’ anzuschließen, obwohl sie dies als einen notwendigen Schritt erkannten. In den 1970er Jahren war der bewaffnete Kampf der Fluchtpunkt, der der Bewegung nie fremd war. Was unsere Wahl bestimmte, war der Traum vom Angriff auf den Himmel, das Band der Zugehörigkeit, das Prinzip des ethischen Absolutismus.
Selbst in Como schien die Suche nach dem ‘LI’ stärker als das Gefahrensignal. Eine Auswahl war auf jeden Fall notwendig, und wir fanden die neuen Genossen der illegalen Arbeit in einigen Studenten von Industriefachhochschulen, in einigen rebellischen und motivierten Arbeitern, die so weit gingen, in einem sehr jungen anarchistischen Jungen, frisch aus Beccaria, der weder Land noch Heimat hatte, aber sehr geübt im Umgang mit dem Messer war und Schlüssel zum Öffnen von Sardinenbüchsen benutze, um Autos zu stehlen.
Auf seine Art war das auch eine Kunst.
Wir befanden uns mitten in der Ausbildung.
Wir schossen in einer verlassenen Mine im Val di Scalve, im oberen Bergamo, in einigen Schluchten im Valsassina, in einer Höhle oberhalb von Tremezzo, in die wir uns mit einem Seil von oben herabließen. Eine Legende besagte, dass man, wenn man dort hineinfiel, im Luganer See landete.
Aber damals, als wir im Gänsemarsch zu dieser Höhle hinaufkletterten, warfen uns die Dorfjungen mitleidige Blicke zu. Einmal fanden wir sie dort oben versteckt. Sie wollten auch mitmachen.
Das war das Klima damals.
In dieser Zeit stießen wir auf zwei politische Themen, auf die wir gerne verzichtet hätten. Das erste, lokale, betraf die Sektion in Como. Mit ihren über hundert Militanten hatte sie Anspruch auf einen Sektionssekretär. Einige Genossen, die mit der historischen Tradition des Arbeitertums verbunden sind, nominierten rechtmäßig einen der ihren. Sie wollten uns kontrollieren.
Ich für meinen Teil konnte nicht kandidieren. Das hätte bedeutet, die Kontrolle über mich selbst zu übernehmen, was ich nie getan habe. Da ich wusste, dass ich die Mehrheit auf meiner Seite hatte, schlug ich einen anderen Genossen vor, der aus der Arbeitertradition stammte, der uns aber mit großer Sympathie betrachtete. Cäsar wurde dann gewählt, und er hat uns nie nach irgendetwas gefragt. Vor allem nicht, woher das Geld kam, das wir ihm für die regelmäßige Zahlung der Miete für das Hauptquartier gaben. Aber als der erfahrene Mann, der er war, hatte er seinen Spaß mit uns.
Das zweite schien viel heimtückischer zu sein. Unsere Beziehungen zur GAP, insbesondere zu Giangiacomo, wurden immer intensiver, bis zu dem Punkt, dass selbst wir nicht mehr wussten, inwieweit wir Militante des ‘LI’, der GAP oder einer Föderation zwischen beiden Strukturen waren. Dies führte dann zu einem heftigen Briefwechsel zwischen Osvaldo und Saetta.
Zwischen Giangiacomo und Franco.
Die Dinge gingen jedoch weiter wie bisher, ohne dass es zu weiteren Reibereien kam. Das lag zum einen an der Langsamkeit der geheimen Post, die allerdings manchmal besser war als die der italienischen Post, und zum anderen daran, dass vielleicht niemand das Bedürfnis hatte, einer Frage auf den Grund zu gehen, die von Anfang an eher auf einige Gemeinsamkeiten verwies.
Trotz politischer Differenzen.
Dann kam der 12. Dezember 1971. Oder besser gesagt, die Nacht des Vortages. Das Hauptquartier von Potere Operaio in Mailand hatte beschlossen, einen Tag lang einen großstädtischen Guerillakrieg zu führen, begleitet von der intensiven und flüchtigen Glut von Molotowcocktails.
Zweihundertfünfzig.
‘LI’ war von den Verantwortlichen angewiesen worden, sich herauszuhalten: Untergrundbewegung und Massenbewegung begannen sich unwiederbringlich zu trennen. Ich mache mich also auf den Weg zu meinem Elternhaus am See, mit der Idee, am Morgen des 12. Dezember nach Mailand zurückzukehren, um die Zusammenstöße zu beobachten.
Aus der Ferne.
Am 10. Dezember wurde ich zurückgerufen: nicht einmal Zeit, einen Tag in Ruhe zu genießen. Aber so war es dann immer. Am nächsten Morgen fuhr ich sehr früh mit vier Kameraden des Ordnungsdienstes von Como nach Mailand hinunter. Wir arbeiteten den ganzen Tag wie die Verrückten und atmeten das Benzin aus vollem Halse. Um uns zu helfen, war ein erfahrener Genosse, Sergio Zoffoli, aus Rom gekommen, Zoff für alle.
Um sechs Uhr abends musste alles fertig sein, um auf die Autos verladen zu werden, die von außerhalb Mailands kamen. Die Demonstration hatte einen landesweiten Charakter. Über die Polizeifunkgeräte wussten wir, dass die Kontrollen an der Autobahnausfahrt langwierig und mühsam sein würden. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr wurde der Transfer zum Glücksspiel, und wir waren nervös: Die Wohnung, in der wir wohnten, in der Via Galilei, war fünfhundert Meter vom Polizeipräsidium entfernt. Nach zehn Uhr abends fuhren die Streifenwagen auf Nachtpatrouille, die in jenen Tagen verstärkt wurde, und eine ganze Reihe von ihnen fuhr in unsere Richtung. Besorgt stürmte ich um acht Uhr in das Hauptquartier, das ganz in der Nähe lag, und sagte, dass wir in einer Stunde nichts mehr laden könnten.
Stattdessen kamen die Genossen um Mitternacht an. Ich war sehr unruhig.
Nachdem ich sie versorgt hatte – die Molotowcocktails befanden sich in Pappbehältern, die wie Bücher- oder Weinkisten aussahen – verließ ich mit einem anderen Genossen aus Como als Letzter die Wohnung, um den letzten mit Flaschen bestückten Wagen zu verschieben. Wir stiegen die Treppe hinunter, als ein Schwarm Polizisten herbeieilte und uns fast überfuhr. Unglaublicherweise hielten sie uns nicht an, als ob sie uns nicht gesehen hätten. Wir kamen im Hauptquartier an, und in der Nacht gab es eine ziemlich stürmische Versammlung: Einige Anwälte argumentierten, dass den Verhafteten im Fall der Fälle zwanzig Jahre Gefängnis drohten. In der Wohnung waren außer uns noch zwei oder drei Personen, deren einzige Verantwortung darin bestand, Freunde des Vermieters zu sein. Alle gingen davon aus, dass sie bei einer Befragung nicht nur versuchen würden, sich selbst zu verteidigen, sondern auch über die anderen Genossen sprechen würden, die kurz zuvor in der Wohnung waren. Das heißt, über uns beide.
Deshalb haben wir uns für ein paar Wochen in der Schweiz versteckt. Stattdessen sagten diese Jungs nichts und verhielten sich vorbildlich. Die Bewegung bestand in jenen Jahren auch aus solchen Leuten.
Nach zwei Monaten waren sie alle raus.
Zurück in Italien verbrachte ich die Silvesternacht mit Siro und Valerio in seinem Haus: Im anderen Zimmer stand ein Tisch vollgepackt mit lauter Waffen. Die letzten beiden Tage des Jahres hatten wir einer neuen Reise in die Schweiz gewidmet: Valerio wollte die Molotowcocktails vom 11. Dezember schnell wieder gutmachen. Die folgenden Monate verbrachten wir in Mailand in einer halbseidenen Umgebung. Auf Osvaldos Anweisung hin begann ich eine Untersuchung zur Entführung eines Autobianchi-Managers. Gleichzeitig gab es einige Sabotageaktionen bei Alfa Romeo, bei denen Zuggleise blockiert und einige Autos auf dem Weg zum Markt verbrannt wurden. Die Logik erschien in ihrer Einfachheit unübersehbar: Wenn es ein Problem mit der Überproduktion gibt, zerstört man einfach das fertige Produkt. Der Warenfetisch, ein Lieblingsthema des alten Neo-Luddisten Gianfranco Faina.
Das frühe Frühjahr 1972 war besonders ereignisreich. Die Roten Brigaden führten die erste Entführung durch, die des Sit-Siemens-Managers Hidalgo Macchiarini. Am 11. März fand die Demonstration statt, für die ich über zehn Jahre später im ‘Prozess des 7. April’ verurteilt werden sollte. An diesem Tag hatten die Faschisten eine Wahlkundgebung auf dem Largo Cairoli organisiert. In Mailand. Und das wurde als Provokation verstanden: Zu diesem Zeitpunkt war es für alle, nicht nur für uns, offensichtlich, dass sie in die Staatsverschwörungen und insbesondere in das Massaker auf der Piazza Fontana verwickelt waren. Also beschlossen wir, die Kundgebung anzugreifen. Um eine Wiederholung des 11. Dezembers zu vermeiden, kam jeder der Aktivisten des Sicherheitsdienstes mit mindestens zwei Flaschen zu der Kundgebung: ich als Verantwortlicher hatte, etwas übertrieben, vier dabei. Wir hielten uns länger bei den Zusammenstößen mit der Polizei, die zur Verteidigung der Faschisten in der Via Cusani postiert war, auf. Geplant war auch ein Angriff auf den “Corriere della Sera”, der sich damals für die Unterdrückung unserer Kämpfe besonders positionierte, und auf ein Renault-Autohaus, um gegen die Ermordung des Arbeiters Pierre Overnay in Frankreich durch den Werksschutz zu protestieren. Die wenigen Polizisten vor dem “Corriere” zogen sich ins Innere zurück, und der letzte Molotow-Cocktail wurde auf einen Ferrari geworfen, der – wer weiß warum – in der Halle des Renault-Autohauses ausgestellt war. Zu diesem Zeitpunkt trafen wir zusammen mit den Leitern des Ordnungsdienstes von Lotta Continua, die uns in der Demonstration gefolgt waren, eine überstürzte Entscheidung: Wir kehrten in Richtung Largo Cairoli zurück, obwohl wir wussten, dass wir von einem Zangenmanöver der Polizei und der Carabinieri umgeben waren. Als wir auf der Piazza San Simpliciano ankamen, waren wir wie vor den Kopf geschlagen. Es gab nur eine Möglichkeit, aus diesem Schraubstock herauszukommen: mit einem Gegenangriff die Gruppe von Bullen zu durchbrechen, die den Platz auf der Seite, die auf den Corso Garibaldi trifft, besetzt hatte. Ein großer Teil der Genossen von Lotta Continua hatte sich in der Kirche verschanzt, vielleicht in dem Glauben, dass sie ein unantastbarer Ort wie im Mittelalter sei. Sie haben sie alle verhaftet. Wir stürmten mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Kordon der Polizisten, die, überrascht, nicht verhindern konnten, dass wir eine Bresche schlugen. Auf dem Corso Garibaldi war die Baustelle des Teatro Fossati, das langsam renoviert wurde: Wir kletterten über die Absperrungen und erreichten die Via Legnano. Völlig sauber. Keiner unserer Leute war erwischt worden.
Am Morgen des 16. März verließ ich mit Oreste das Haus, um die Zeitungen zu holen. Als Vorsichtsmaßnahme schliefen wir in den Tagen nach der Demonstration bei anderen Genossen. Weniger exponiert. Der “Corriere della Sera” hatte unten auf der Titelseite eine Schlagzeile, also eine Eilmeldung, über einen mutmaßlichen Terroristen, der tot in der Nähe eines Strommastes gefunden wurde. Daneben war ein etwas verblasstes Foto aus seinem Personalausweis zu sehen, auf dem der Name Vincenzo Maggioni stand.
Wir bogen um die Ecke, ohne ein Wort zu sagen. Als wir zum Haus zurückkehrten, überkamen uns Tränen des Schmerzes und der Fassungslosigkeit. Wir konnten keinen Zweifel daran haben: Es war Giangiacomo.
Ohne ihn wäre nichts mehr so, wie es war. Aber wir mussten uns sofort auf den Weg machen. Zunächst einmal verstehen, was wirklich geschehen war. Dann, um durchzuhalten. Dann, um die revolutionäre Verantwortung des Genossen Osvaldo einzufordern. Und schließlich die Auswirkungen abschätzen, die sich daraus ergeben könnten. Obwohl dies das Allerletzte war, woran wir dachten.
Nach dem traumatischen Aufschlag waren wir in heller Aufregung. Bald fanden wir einige Kameraden von den GAP und den Roten Brigaden., die bestätigten, was wir vermutet hatten. Ein verdammter defekter Zeitzünder. Die beiden Genossen, die mit ihm unter dem Strommast waren, waren durch die Explosion verwundet und betäubt worden, aber sie hatten es zu einem Stützpunkt geschafft, wo sie behandelt wurden. Und sie berichteten mit vor Rührung gebrochenen Stimmen, was passiert war. Ihr Trauma war unumkehrbar: Es war ihr erster und auch ihr letzter bewaffneter Einsatz gewesen.
Mit unseren Genossen beschlossen wir, zusammenzuhalten, nicht nachzulassen und an der Beerdigung von Giangiacomo Feltrinelli teilzunehmen. Etwa fünfzig von uns versammelten sich vor dem Monumentalfriedhof und trugen Potere Operaio-Fahnen. Der stellvertretende Quästor Vittoria hinderte uns daran, mit den Fahnen einzutreten, also zerrissen wir einige von ihnen, um daraus Bänder zu machen, die wir nacheinander auf den Sarg legten, um eine rote Fahne zu formen.
Die Zeitung “Potere Operaio” erschien mit einem stilisierten ganzseitigen Foto von Giangiacomo Feltrinelli und der Schlagzeile “Ein Revolutionär ist gefallen”. Für seine Ehre. Für unser Engagement. Für die Wahrheit.
Fast sofort gab es Auswirkungen, wenn auch begrenzte. Aber wir hatten plötzlich einen Flüchtigen zu versorgen, zwei gesuchte Genossen aus der GAP, die nicht in die BR eintreten wollten, um mit uns zu kommen, und die Miete für einige Stützpunkte zu zahlen.
Siro, der Kontakte zu Kunsthändlern in der Schweiz hatte, plante einen Raubüberfall auf die Villa von Renato Guttuso in Velate, in den Hügeln von Varese. Der Maler war zu dieser Zeit nicht da, so dass die Villa theoretisch leer stand, da der Hausmeister mit seiner Familie im Haus nebenan wohnte. Der Concierge. Um dem zu entgehen, waren wir nach einem langen Rundgang durch die Parks der benachbarten Villen mit einem Bergsteigerseil auf der Rückseite hinuntergeklettert. Wir waren zu dritt, und der einzige, der bewaffnet war, war ich, mit einer Walter PPK. Siro und ein Begleiter warteten auf uns beim Autowechseltreffpunkt.
Die beiden Begleiter stiegen mit Leichtigkeit ein: Wir waren Experten geworden. Ich für meinen Teil musste das Äußere kontrollieren. Das würde fast eine Stunde dauern, denn die Gemälde mussten aus ihren Rahmen genommen und vorsichtig eingepackt werden. Von Zeit zu Zeit konnte ich ihre Stapel sehen. Plötzlich ging ein Licht an: der Hausmeister, bewaffnet mit einem Gewehr. Offensichtlich schlief er dort und war nicht zu Hause. Ich hörte, wie die beiden Kameraden aus dem Fenster des ersten Stocks sprangen. Jetzt war ich an der Reihe, ihnen Deckung zu geben, denn der Mann war inzwischen mit dem Gewehr herausgekommen und stand mir gegenüber. Ich schob den Lauf des Gewehrs nach oben und schrie ihn an, es wegzuwerfen. Er tat dies, ohne etwas zu sagen. In diesem Moment stieg auch ich die Leiter hinunter und gesellte mich wieder zu den anderen Genossen.
Wir saßen buchstäblich in der Klemme, denn wir mussten drei Flüchtlinge verstecken. Nach einer mehrtägigen Diskussion beschlossen wir, eine Bank zu überfallen. Ein Banküberfall hat etwas Politisches an sich. Aber auch viel an sich. Der Sprung, vor der Bank, musste in uns stattfinden. Unsere Bildung, unsere Geschichte, unser Gewissen.
Nach zwei Wochen waren wir in der Bank. Mit einem gut durchdachten Plan, vor allem was den Fluchtweg anging. Wir nahmen fast zwanzig Millionen mit: eine beachtliche Summe für die damalige Zeit. Nicht alles war glatt gelaufen, denn wir waren beschossen worden und hatten das Auto verfehlt. Wir konnten aufatmen: Am Abend fühlten wir uns angesichts des angehäuften Geldes wie Kinder vor einem Monopoly-Spiel. Aber es hielt nicht lange an: Mieten, Flüchtlinge, neue Waffen, eine kleine Basis gekauft, etwas Geld für die Zeitung: Spenden an Mitstreiter. Und innerhalb weniger Monate waren wir wieder in der Bank.
Unser Bezugspunkt war mehr und mehr der Illegale und immer weniger der Massenarbeiter.
Im November heiratete ich: Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wirklich verliebt. Die Hochzeit fand in zwei Etappen statt: die offizielle mit allen Verwandten, obwohl meine Trauzeugen Oreste und ein anderer Genosse waren, und die Hochzeit mit den Genossen eine Woche später in derselben Trattoria. An diesem Abend waren wir hundertfünfzig Leute, Alberto Magnaghi spielte Akkordeon, die Genossen von Giambellino spielten Gitarre. Und alle sangen die Lieder des Kampfes, vor allem die Hymne Potere Operaio. Von diesen einhundertfünfzig Genossinnen und Genossen landeten in späteren Jahren mehr als hundert im Gefängnis. Darunter natürlich auch ich.
Es war in der Tat eine lebhafte Gesellschaft. Nicht nur musikalisch.
1973 war auf persönlicher Ebene ein gutes Jahr: Im Mai wurde unsere Tochter Chiara geboren. Aber auf politischer Ebene war es sehr problematisch. In unserem militanten Engagement erlitten wir unsere ersten Blessuren. Im Laufe des Jahres 1972 waren wir gewachsen, in jeder Hinsicht. Die ‘LI’ Como-Mailand zählt nun etwa zwanzig Genossinnen und Genossen. Und in Como ein großes Netz von Freunden. Für die Roten Brigaden kamen Mario Moretti und Alberto Franceschini zu den Treffen: Wir hatten eine Beziehung zu ihnen für den Austausch von Dokumenten und allgemeiner in der Logistik aufgebaut, und sie versuchten sogar, uns zu überzeugen, mit ihnen zu gehen. Wir wohnten in einer Villa in der Stadt, direkt am See. Die Besitzer waren nie da, dafür aber zwei von uns als Hausmeister.
Wir hatten uns in Zellen aufgeteilt, in die wir unsere neuen Genossen steckten, um sie besser voneinander abzuschotten und damit zu schützen. Bis dahin kannten wir uns alle. Meine Zelle hat einige Anschläge auf die faschistische Zentrale in Mailand verübt. Dabei passierte uns folgendes zufällig oder durch Glück. Wir stiegen aus dem üblichen Cinquecento aus, um in das Auto zu steigen, das wir für die Operation brauchten, als der Genosse, der hinten auf der gegenüberliegenden Seite des Fahrers saß, eine Patrone in den Lauf der Pistole steckte. Als er nach dem Schlitten griff, löste sich ein Schuss. Die Kugel durchschlug die Karosserie des Wagens zwanzig Zentimeter hinter meinem Sitz: in einem anderen Winkel von einem Grad hätte sie meinen Rücken durchschlagen. Ein Schuss in einem Cinquecento hat eine Menge Dezibel. Wir waren einen Moment lang fassungslos und beschlossen, trotzdem auf unsere Ziele zu schiessen.
Militanz.
Dann geschah die Geschichte mit der Vedano-Bank. Zwei Kameraden wurden verhaftet, einer von ihnen verwundet. Sie befanden sich im Präsidium von Como, wo eine sehr schwere Luft herrschte. Alle saßen uns im Nacken: die Polizei, die Parteien, die Presse, sogar die Militanten, die es nicht verstanden haben. Und einige von ihnen gingen. Unter ihnen auch jemand, der es verstand: Siro, nach einer Zeit des stillen Rückzugs, entschied sich für ein neues Zeitalter. Nachvollziehbar.
Am nahen Horizont tauchte die Konferenz von Rosolina auf, auf einem einsamen Meer. In der Heimat der Venezianer. Die Hauptquartiere der Sektionen bereiteten sich darauf vor. Franco Piperno war nach Como gekommen, da es als ein wichtiger Stützpunkt galt. Trotz der Wunden und Verletzungen gewann die Linie der organisatorischen Kontinuität mit einem Erdrutschsieg. Die Partei der doppelten Ebene, der legalen und der illegalen, schien noch immer lebendig und gesund.
Es schien so zu sein.
Aber gegen die nun intensive Zerstörungsarbeit von Toni Negri, der mit seinem gewohnt starken intellektuellen Scharfsinn und seiner gewitzten Fähigkeit, politisch inkorrekt zu agieren, nun offen die Auflösung von Potere Operaio in die Autonomia-Bewegung anstrebte, wäre ein starker Wille zur Wiederbelebung notwendig gewesen. Was wahrscheinlich ohnehin nur von kurzer Dauer gewesen wäre, denn die Logik der doppelten Ebene wurde von den Tatsachen überholt: Auf der einen Seite gingen die Strukturen der BR mit zäher Entschlossenheit auf die Ebene einer allgemeine politisch-militärischen Organisation zu, auf der anderen Seite begannen sich die Bewegung der Arbeiterautonomie mit ihrer weit verbreiteten Gewalt auf generalisierter Art und Weise auszubreiten, in die sich nicht nur die Negrianer einfügten, sondern auch, auf einer anderen Seite und mit einer militanteren Tendenz, die Gruppe, die von Oreste angeführt wurde und die mit den Exilanten von Lotta Continua verstärkt wurde, zwei Komponenten mit einer intensiven Arbeiterpräsenz in den Fabriken von Mailand und vor allem von Sesto San Giovanni.
Söhne und Rebellen der Werkstatt.
Jene merkwürdigen Dynamik, die das Rote Jahrzehnt kennzeichnete: von der großen Bewegung der Kämpfe des Frühjahrs 1969 zur Bildung der organisierten Gruppen, insbesondere Potere Operaio und Lotta Continua, zum überzeugten Eintauchen in das glühende Magma der Arbeiterautonomie bis zu den Siebenundsiebzigern, um mit einem neuen Zwang zur bewaffneten Organisierung zu schließen.
Bis zur Niederlage von allen. Und Gefangenschaft für viele.
Das Problem ist nicht so sehr, dass wir die herrliche Dämmerung der Klasse mit ihrer Morgendämmerung verwechselt haben. Das wahre Problem ist, dass in diesem unerbittlichen Kampf zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital das Kapital gewonnen hat. Und die gesamte Linke, angefangen bei der historischen Linken, hat verloren. Sie ist zusammengefallen wie Schnee in der Sonne.
Die Daten der Niederlage sind unmissverständlich. In den 1970er Jahren gingen zwei Drittel des produzierten Reichtums an die Arbeit, ein Drittel an das Kapital. Und das erschien uns aufgrund des zahlenmäßigen Missverhältnisses zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital wenig. Heute gehen weit über zwei Drittel an das Kapital, weit weniger als ein Drittel an die Arbeit.
Die Arbeitskraft ist nur Ware, die Arbeiterklasse ist sich ihrer selbst und ihrer Macht bewusst. Der Unterschied liegt hier.
Und das Kapital will alles haben und überlässt einige wenige, unbedeutende Krümel dem Prekariat, die Arbeit, die Armut, das Elend. Ein Ergebnis, das es mit der Hybris der neoliberalen Politik, die es in der westlichen Welt übernommen hat, erobert hat, und das nicht nur nach dem zynischen und dramatischen Experiment der Chicagoer Schule bei Augusto Pinochets Staatsstreich in Chile.
Der Neoliberalismus hat Armut und Ungleichheit, die Sklaverei des Konsums und die Zerstörung der Umwelt gesät. Er wird schließlich implodieren und sich selbst zerstören. Wenn eine neue Massenbewegung, die in der Lage ist, Proteste gegen die Zerstörung des Klimas und der Umwelt mit dem Klassenkampf zu verbinden, ihn nicht sprengt. Denn, wie Chico Mendes sagte: “Umweltbewegung ohne Klassenkampf ist Gartenarbeit”. Erst dann wird man wieder sagen können, wie es 2001 in Genua versucht wurde: “Gut gegraben, alter Maulwurf”.
Der Nährboden des Operaismus.
Zwischen Klassen-, Geschlechter- und Generationskonflikten. Nur ein Teil der Jugend versteht es, auch bei der Überwindung ethnischer Konflikte, in die Zukunft zu blicken. Alle anderen grasen wie müde Kühe in der Gegenwart.
Nach Rosolina, als ‘LI’ aus Como, sind wir nicht hingefahren. Wir waren natürlich sauer auf Tonis Gruppe und ihr unruhiges Treiben, aber damals waren wir auch wütend auf Franco. Nach der Enteignung von Vedano hatte er einen bösen Artikel in der Zeitung geschrieben, in dem er die beiden verhafteten Genossen völlig in den Dreck zog. Allerdings hätte man über jedem von uns, der gefangen genommen worden war, sagen müssen, dass er ein Bandit und kein Potere Operaio-Militanter war. Nun, abgesehen davon, dass es mit Oreste, der mit uns zur Bank kam, buchstäblich unmöglich gewesen wäre, sich als Bandit auszugeben, hätte uns niemand geglaubt, sobald einer von uns erwischt worden wäre. Und niemand hatte es den beiden verhafteten Genossen geglaubt.
Wir waren alle aus Potere Operaio, wir waren alle in Potere Operaio. Die beiden Genossen hatten sich an die Weisung gehalten, und wir alle erwarteten eine formale und nicht eine inhaltliche Distanzierung. Stattdessen hatte sich dieser Text substanziell geäußert.
Vielleicht begann Franco zu sehr das Gewicht der Wahl von ‘LI ‘zu spüren und die Tatsache, dass diese Struktur nicht mehr von der politischen Führung kontrolliert werden konnte. Aber das war nicht gut. Nicht zuletzt deshalb, weil keiner von uns jemals die Erlöse aus Enteignungen für sich selbst behalten hat. Geld, auch dieses Geld, war für uns Teufelszeug: Deshalb sind wir es so schnell wie möglich losgeworden und haben es sofort an den Logistikleiter weitergegeben. Der wiederum berichtete mit peinlicher Genauigkeit.
Franco wirkte sehr müde, er war gegen das Verschwinden von Potere Operaio, hatte sich aber fast damit abgefunden. Die Stimmung war auch deshalb angespannt, weil es in Rom die Primavalle-Episode gegeben hatte. Ein Benzinanschlag auf die Wohnungstür des Sektionssekretärs des MSI, mit unvorhersehbaren Folgen: zwei seiner Söhne starben. Der Gedanke, oder vielleicht mehr als der Gedanke, der Wille war, dass sie keine Genossen gewesen waren. Als gegen drei Militante der Sektion Primavalle ermittelt wurde und sie für fremdbestimmt erklärt wurden, wollten wir das alle glauben. Die Wahrheit war anders. Es handelte sich um eine Entscheidung, die in völliger Autonomie getroffen worden war, von Zauberlehrlingen, ohne dass jemand zugestimmt hatte. Niemand sonst wusste etwas davon, und das war auch die Wahrheit. Aber bis zu diesem Tag waren sie Militante von P.O. gewesen.
Pipernos Verve als großer und raffinierter Polemiker hatte zu diesem Zeitpunkt etwas nachgelassen. Wir für unseren Teil konnten diesen Epilog nicht akzeptieren. Wir hatten Potere Operaio vier Jahre unseres Lebens gewidmet, mit absoluter Hingabe. Negri beschloss das Ende, ohne auch nur den rituellen Schritt des Ausschlusses zu vollziehen. Die Gruppe überlebte ein Jahr und löste sich dann schnell auf, mit einem Sekretariat, das aus drei Genossen bestand, die von keinem der Militanten als Führung anerkannt wurden, mit Ausnahme eines Teils von Mario Dalmaviva. Sie wurden in kürzester Zeit in die Rolle von Notaren des Todes von Potere Operaio gezwungen.
Das wirkliche Ende war in dieser trostlosen nordadriatischen Heide eingetreten. Vor allem aus diesem Grund sind wir nicht nach Rosolina gefahren. Da wir diesen traumatischen Übergang nicht direkt miterlebt haben, wurden wir nicht permanent von den folgenden Ressentiments geplagt.
Die Erinnerung an Potere Operaio mit seinem Zugehörigkeitsgefühl ist die intensivste Erinnerung meines Lebens: eine Gemeinschaft in ständigem Flimmern. Wie Quecksilber. Bereit, den revolutionären Traum bis zum Ende zu verfolgen. Sogar in den nachfolgenden theoretischen und praktischen Entwicklungen, vom Massenarbeiter zum Sozialarbeiter, zu den vielen Menschen, die den digitalen Geräten unterworfen sind und von ihnen vereinnahmt werden. Und vor allem die Aktualität der Lektüre des „Maschinenfragments“ in den Grundrissen von Karl Marx mit den Umwälzungen des General Intellekts von der im Kapital eingebauten Technologie gegen die Arbeiterklasse zur Kritik der Ideologie der Lohnarbeit bis hin zur aktuellen Gegenüberstellung zwischen dem General Intellekt, der im Wissenskapital verankert ist, und der möglichen Befreiung des sozialen Individuums.
Immer in die Bresche springen. Denn das operaistische Paradigma, wenn es einmal in dich eingedrungen ist, verlässt dich nie mehr: Es ist eine desorientierende Denkmethode, manchmal sogar für dich selbst, eine originelle Form der Reflexion und der Erkenntnis, eine Art, sich immer wieder zu erkennen, auch in zeitlicher und räumlicher Entfernung.
Fast keiner der ehemaligen Potere Operaio-Mitglieder hat sich, im Gegensatz zu anderen Gruppen, in die allmählich vorherrschenden Denk- und Machtströmungen eingefügt oder sich darin wohl gefühlt. Ein guter Teil von uns hat keine Karriere gemacht, sondern den Knast ausprobiert; andere haben ihr gemeinsames Empfinden weiter in neue soziale Konfliktherde verlegt, wieder andere haben sich in ein würdiges Privatleben zurückgezogen. Ohne diese Erfahrung jemals zu verleugnen, manchmal sogar mit einem Aufblitzen neuer Neugierde.
Gerade deshalb war Potere Operaio nicht die Generation der verlorenen Jahre, sondern die Generation der gelebten Jahre.
Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks. Ursprünglich veröffentlicht am 21. April 2023 auf Machina.
Alfredo fängt wieder an zu essen (wenn auch langsamer, als ihm lieb ist), nach und nach nimmt er auch wieder Nudeln und feste Nahrung zu sich und folgt dabei den Empfehlungen der Ernährungsberaterin.
Die allgemeinen medizinischen Werte sind recht gut. Der Zustand seines Fußes, an dem er das Gefühl verloren hatte, scheint sich leicht zu verbessern, aber im Moment ist es laut den Ärzten nicht möglich, eine Prognose zu wagen, auf jeden Fall kann er ihn ein wenig besser bewegen.
Er befindet sich immer noch in der Gefängnisabteilung des San Paolo und möchte das Krankenhaus verlassen, da er im Moment nicht einmal an die frische Luft gehen kann und sein Zimmer bzw. seine Zelle, in der es nicht einmal natürliches Licht gibt, so gut wie nie verlässt; die Ärzte sagen jedoch, dass er noch mindestens eine Woche dort bleiben muss. Seine Stimmung ist gut, kurzum, er erholt sich.
Er wird weiterhin Besuche von seinem Anwalt und seinem Arzt erhalten, sodass wir ihn auf dem Laufenden halten werden.
Er erhält kaum Post, aber wir fordern alle auf, die Zensoren trotzdem mit Briefen und Telegrammen zu belästigen, damit sie sich ihren schmutzigen Lohn verdienen! Wir erinnern Euch daran, dass Ihr an die Adresse von Opera schreiben könnt, auch wenn er derzeit im Krankenhaus ist:
Einen Monat nach dem Granatenbeschuss, der unseren Sohn Serge am 25. März 2023 bei der Demonstration gegen die Megabassinen in Sainte-Soline schwer am Kopf verletzte, besteht weiterhin Ungewissheit über seine Zukunft.
Nach rein klinisch-medizinischen Kriterien ist Serge aus dem Koma erwacht. Das bedeutet, dass er die Augen geöffnet hat, aber keineswegs, dass er wach ist.
Seit seiner Ankunft im Krankenhaus wurde er behandelt, um verschiedene Verletzungen und Infektionen einzudämmen. Diese waren auf den Granatenbeschuss zurückzuführen, dem er zum Opfer gefallen war, aber auch auf die Bedingungen, unter denen ihm am Ort der Demonstration Erste Hilfe geleistet wurde, da die Sicherheitskräfte Feuerwehrleuten und Krankenwagen den Zugang zu den Verletzten verweigerten, um sie zu versorgen.
Diese erste Versorgung trug dennoch dazu bei, dass sich der Zustand von Serge, der sich nach wie vor in einem “extrem fragilen Zustand” befindet, nicht weiter verschlechterte. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, dass er das Bewusstsein wiedererlangt, aber noch ist das nicht der Fall.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unmöglich zu sagen, ob Serge seine geistigen Fähigkeiten und seine Befähigung zum Gebrauch seines Körpers (seine Gliedmaßen und Sinne, seine Fähigkeit zu atmen und zu sprechen) wiedererlangen wird, oder die langfristigen Folgen seiner Verletzung abzuschätzen, des weiteren ist ein infektiöser Rückfall weiterhin zu befürchten.
Seine Prognose ist daher weiterhin lebensbedrohlich. Aus diesem Grund lehnen wir jegliche missbräuchliche Ausnutzung der Tatsache, dass Serge aus dem Koma erwacht ist, ab: Serge ist leider weit davon entfernt, aus dem Gröbsten heraus zu sein. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine glatte Lüge.
Serges Eltern, 26. April 2023 Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks.
Er sagt: “Es geht darum, die Erinnerung an die alten Revolten wiederzufinden, sich mit ihnen zu beschäftigen und die ausgetretenen Pfade des programmierten Scheiterns zu verlassen. Wir werden nur gewinnen, wenn wir die Ressourcen dafür bereitstellen, und dafür müssen wir viel von uns selbst investieren”. Der Genosse hat klare Vorstellungen. Er kommt aus Marseille, ist in der CGT organisiert, ein echter Basistyp und ein “Rotkehlchen”. Die gewerkschaftsübergreifende Demo ist ein Muss, aber er weiß, dass es anderswo um die Sache geht. In einer Vielzahl von illegalen, sorgfältig geplanten und gewagten Aktionen. Er spricht von “grévilla” (1), und das Wort begeistert ihn. Er ist ein sportlicher Mittvierziger, hat eine stolze Haltung, einen erobernden Blick und eine schwarze Baskenmütze im Stil eines Black Panthers. Auf dem breiten Bürgersteig läuft eine gut genährte, junge und kämpferische Gruppe der “Révolution permanente” vorbei, die skandiert: “Generalstreik! Generalstreik!” Als ob man ihn nur ausrufen müsste. “Die Avantgarden von heute sind die Nachhut von morgen. Einmal Bolchos, immer Bolchos (2). Aber was zum Teufel hat Lordon in diesem Spiel verloren”, sagte er. Und er antwortet sich selbst: “Als organischer Intellektueller existieren? Das ist ja mal eine Perspektive.” Dieser Typ hat alles, um mir zu gefallen.
Mathias’ Ding – wir werden ihn so nennen – ist der Zbeul (3) als Theorie, als Ausdruck der Spontaneität der Massen, als methodische Organisation der Unordnung, als Vervielfachung der Bruchstellen. La Grande Java (4), kurz gesagt. Mathias definiert sich nicht als Aktivist und schert sich einen Dreck um den Großen Abend ebenso wenig wie um seine Erstkommunion – die er übrigens nicht empfangen hat. Er kennt seine Klassiker. Er sagt: “Ein Fremdkörper, der an der richtigen Stelle in einem Computer platziert wird, kann wundersame Auswirkungen auf die Arbeitsgeschwindigkeit haben.” Und genauso, wie man mit einem Trennschleifer Rohre beschädigen, 5G-Antennen abfackeln, Stromkabel durchtrennen und mit der Kneifzange hantieren kann, bedeutet dies, das Betriebssystem zu entwaffnen. Er sagt “entwaffnen”, Mathias, nicht “sabotieren”. Ich frage ihn, warum. “Weil man schlau sein muss”, sagt er, weil der Begriff Sabotage einen schlechten Ruf hat und weil es zweifellos erfolgversprechender ist, wie es die “Soulments de la terre” tun, also alte Praktiken wie die Arbeiterbewegung zu reaktualisieren, ohne deren Stigmatisierung Vorschub zu leisten. Um ehrlich zu sein, überzeugt mich das Argument nicht wirklich, ebenso wenig wie der strategische Wille, die Praxis zu dekonfliktualisieren, indem man sie akzeptabler macht. Mathias hört meine Kritik, lässt sich aber nicht davon abbringen. “Wenn man nur in der Defensive zugrunde geht, ist es nicht verboten, die Offensive auf strategische Weise zu denken. Und zuzugeben, dass schräge Wege manchmal die direktesten sind.” Mathias hat einen langen Atem.
Um ehrlich zu sein, ist der Zbeul für ihn wie ein Ruf aus der Ferne, eine Reaktivierung der alten Erinnerung an die wilden Kämpfe vor ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Domestizierung. Die aktuelle Bewegung, davon ist er überzeugt, hat zunächst einmal gezeigt, dass die zahlenmäßige Stärke und die Einheit von nun an nicht mehr hinreichende Bedingungen sind, um eine Macht zu besiegen, die nicht nachgeben will. In diesem Sinne markiert das Ereignis durch die Verschiebung der Vorstellungswelt, die es induziert, bereits ein historisches Datum, das unweigerlich zu einer Neukonfiguration der Konfrontation führen wird, die auf archaische Formen des Widerstands zurückgreift und neue erfindet. Der Zbeul fördert die Verbreitung von Ausdrucksformen. Jeder muss seine eigene Ausdrucksweise finden, die seinen Möglichkeiten entspricht. Alles, was rund um diese Bewegung passiert ist – auf den Streikposten, in den Blockaden, Besetzungen, an einigen Kreisverkehren – hat sich um diese alte Idee der Unregierbarkeit der Revolte, ihrer ständigen Neuerfindung und der Fantasie, die sie nährt und anstachelt, gedreht. Es gibt keine andere Notwendigkeit als die, eine Bewegung, eine Linie oder eine Spur zu hinterlassen. Das geht so weit, dass außer bei einigen tugendhaften linken Avantgarden der alten Welt niemand es für angebracht hielt, allzu viel Zeit auf die nutzlose Kritik an den alten Zwischengliederungen zu verwenden, die von der Macht törichterweise verachtet werden, wenn sie per Definition und Natur ihr letztes Reserverad sind. Mathias ist einer von ihnen. Er argumentiert eher, als dass er ideologisiert: “Die Gewerkschaften haben mobilisiert”, sagt er, “und zwar ziemlich massiv. Das ist schon etwas, und für viele ist es ihnen zu verdanken, dass in den Demonstrationszügen verschiedene Bekanntschaften geknüpft wurden, dass Begegnungen entstanden sind, dass Emotionen geweckt wurden. Wenn man nicht, wie in diesem Falle, um den Laden oder den Apparat konkurriert, ist man mit seiner Klasse eins. Selbst auf die Gefahr hin, sich von der gewerkschaftlich organisierten Menge zu emanzipieren, sobald der Wunsch nach einem wilden Ausbruch aufkommt.” Und das war nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie groß die cortèges de tête waren.
Der Ruf des Zbeul hätte also etwas mit der Vorahnung einer fast existenziellen Sackgasse zu tun, die den Gewerkschaftsdemonstranten unweigerlich in einen Akteur einer Sache verwandelt, die nur teilweise die seine ist. Es ist bequem und beruhigend, zwischen Transparenten und Spruchbändern zu demonstrieren, aber es füllt die Seele nicht aus. Und da die fast schon militärische Disziplin, die die Stärke dieser Kohorten ausmachte, glücklicherweise schon lange nicht mehr gegeben ist, gibt es nur noch kleine Soldaten – sehr kleine -, die lediglich für einen mageren Ordnungsdienst sorgen, der im Übrigen völlig wirkungslos ist, um dem geringsten Polizeiangriff standzuhalten. Ansonsten neigt man dazu, sich dort zu langweilen. Auch wenn die Masse da ist und man manchmal spürt, dass sie überkocht.
Um endgültig unfassbar zu werden, und aus dem Rahmen zu fallen, sieht Mathias keine andere theoretisch zulässige Perspektive als in der angenommenen Desidentifikation. Im Klartext: in der Tatsache, dass man in den Dispositiven, die das System für uns definiert, nie an seinem Platz ist. “Ich habe das während der Gelbwesten-Bewegung verstanden. Die Weste war ein Zeichen der Anerkennung, kein Anspruch auf Identität. Und dann wurde sie zu einem Beschwerdeheft: Auf der Rückseite notierte man die Botschaft, die man übermitteln wollte, und zeigte an, wie sehr man sich am Bürgeraufstand beteiligte. Aber sie wurde auch zur Zielscheibe. Heute gibt es bei den Zbeuls in Frankreich und Navarra jede Menge Gelbwesten, aber viele sind ohne Weste unterwegs. Und das ist der Beweis für die politische Intelligenz dieser Bewegung, denn es gibt sie, aber sie achten darauf, die Spuren zu verwischen, sich zu verbergen, sich zu bewegen, Schritte zur Seite zu machen, sich zu maskieren oder zu offenbaren, je nachdem.”
Der Zbeul ist gleichzeitig eine Strategie des randalierenden Herumstreunens, einer Allergie gegen Fangnetze, eine gewisse Fähigkeit, ein Bordel zu organisieren, und eine Entschlossenheit, sich den von der Ware kolonisierten Raum wieder anzueignen, einer Taktik zur Erschöpfung der behelmten Ordnungskräfte und eines Großen Spiels der fröhlichen Leidenschaften, in dem es zunächst nicht darum geht, das Kapital und den Staat zu besiegen, sondern mit Fantasie und an verschiedenen Orten die legitime Kraft unseres unendlichen Willens, ihm zu schaden, indem wir uns von ihm emanzipieren, wiederherzustellen. Diese “Streiks” des Zbeul, von denen Mathias spricht, und die abseits der markierten Wege den Querweg und den Echo-Effekt suchen, gehen über die einfache Taktik hinaus. Sie stellt in der Spontaneität ihrer Taten eine nicht parasitäre Beziehung zu der Bewegung her, die sie hervorgebracht hat. Denn es geht nicht darum, Recht zu haben, sondern darum, das eigene Recht als Teil eines Ganzen, aber immer als einzigartig zu erleben. “Alle Formen sind überholt”, sagt Mathias, “die Gewerkschaften ebenso wie die Parteien, aber sie haben noch ihren Nutzen, um eine große Anzahl zu stellen und in dieser Anzahl Affinitäten zu koalieren, die zur Überschreitung und zum Abdriften neigen.” Und weiter: “Auch hier haben die Gelbwesten den Weg für eine neue Vorstellungswelt des Offensiven geebnet. Und von sich aus, durch sich selbst, haben sie sich Verbündete gesucht. Es stimmt, dass angesichts der geringen Unterstützung, die sie von den Gewerkschaften, den Nerds und dem kulturellen Kleinbürgertum erhalten haben, die einzigen, die sie zur Hand hatten, die Black Blocks waren. Erstaunlich ist, wie schnell sie das verstanden haben, indem sie den Medien- und Polizeidiskurs, mit dem sie, wie alle anderen auch, vollgestopft worden waren, wie ein Nichts abstreiften. Wenn du dir heute ansiehst, was auf allen Demonstrationen passiert, dann ist kein Lager wirklich festgefahren. Es gibt viele Brücken. Du kannst in einer Gewerkschaftskolonne demonstrieren, indem du dich durch sie schleppst, aber du kannst sie auch zu deiner Rückzugsbasis machen, bevor du wieder ein Schaufenster stürmst. Das geht so weit, dass man daraus schließen kann, dass es zumindest in den Großstädten und insbesondere in Paris eine neue Geografie der Demonstrationszüge gibt. Man sieht dort jede Menge Archipele, die von scheinbar gegensätzlichen Gezeiten angetrieben werden, wo aber niemand, außer den letzten Avantgarden, behauptet, die Wahrheit über das Ganze zu besitzen.”
Sie sagt: “Was mich an dieser Bewegung fasziniert, ist ihr Echo auf die überbordenden Volksinitiativen, die die Pariser Vorstädte in den Monaten vor dem Sturm auf die Bastille zeigten.” Mathilde – wir werden sie so nennen -, eine emeritierte Geschichtsprofessorin an der Sorbonne und Spezialistin für die Große Revolution, ist der rote Faden in der Geschichte. Im Feuer des Wiedersehens hatte ich Mathias verloren, der es nicht mehr ausgehalten hatte und in die vorderste Front der Konfrontation hatte aufsteigen wollen. Mathilde erklärt mir: “Noch faszinierender ist, dass sich die Sozialgeschichte immer nach demselben Muster abspielt, nämlich dem der Ansteckung. So geht alles auf eine Provokation von Jean-Baptiste Réveillon, dem Besitzer der Königlichen Tapetenmanufaktur, zurück, der am 23. April 1789 beschloss, die Löhne mit der Begründung zu senken, dass die Arbeiter zwar mit zwanzig Soles pro Tag leben könnten, es aber keinen Hinweis darauf gebe, dass sie es nicht auch mit fünf weniger könnten. Das war wenige Tage vor der Eröffnung der Generalstände. Henriot, ein Salpeterfabrikant, fand Réveillons Idee gut und übernahm sie für seine kleine Belegschaft. Es rumorte, es wurde unruhig, es regte sich unter dem Gesindel. Und dann, mit einem Mal, stieg es auf. Auf einen Schlag: Am 27. April wurden zwei Schaufensterpuppen mit dem Bildnis von Réveillon und Henriot auf dem Place de Grève verbrannt und die hasserfüllte Menge zog in die Rue de la Cotte zu Henriot, wo alles zerstört wurde; am 28.April war “la folie Titon”, Réveillons Wohnsitz, an der Reihe, verwüstet zu werden. Die Grands Crus von Château-Margault, die dort gelagert waren, wurden in der “régalade” heruntergeholt. So begann die Große Revolution. Wie ein Mülltonnenfeuer, das sich ausbreitet und das niemand löschen kann, weil seine Lichter die Zukunft blenden.”
Mathilde hatte in einem fort gesprochen, wie vom Atem ihrer Erzählung getragen.
– Ein großer Zbeul”, sagte ich.
– Ein was?
– Ein Zbeul, eine Ansteckung mit Unordnung, ein Überschreiten von Schwellen, ein Vorwärtsmarsch bis zum Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt?
– Ja, so etwas in der Art. Eine Dynamik, bei der die einzige Frage, die es zu entscheiden gilt, ist, wie weit man geht. Dieser vorrevolutionäre 28. April war, so heißt es, mit Ausnahme des 10. August 1792, der tödlichste Tag in einem langen Prozess, der zum Sturz des Ancien Régime führte.
– Und wie werden in deinem scharfen Verstand die heutigen Ausschreitungen mit denen von gestern in Verbindung gebracht?
– Um die Wahrheit zu sagen, die wahren Ausschreitungen von heute müssen noch kommen, aber alles deutet darauf hin, dass Macron aufgrund seiner Person und der Substanz seiner Arroganz das Feuer schüren wird. Die Geschichte könnte ihm eine große Hilfe sein, aber das ist Macron egal. Als alles in Scherben von seiner Macht fiel, beruhigte Brienne, der Premierminister Ludwigs des Sechzehnten, ihn: “Ich habe alles geplant, Sire, sogar den Bürgerkrieg.” Und der König ging auf die Jagd. Bevor er selbst von einem Volk gejagt wurde, das sich seiner Stärke bewusst wurde und schließlich die Angst verlor. Das ging am Ende schnell, denn sobald man sich von der Angst vor der Autorität emanzipiert hat, ist es die Angst, die die Seiten wechselt. Macron ist ein kleiner, unscheinbarer Despot. Das darf man nie vergessen. Diese hundert Tage zur Beruhigung haben gerade erst begonnen und das Land lärmt von tausend Wutausbrüchen. Von nun an ist kein Winkel des Landes mehr ein Schutzraum für ihn und seine Minister. Wenn der Zbeul, wie du sagst, anhält, sich ausweitet, sich ausbreitet und man nicht sehen kann, was ihn stoppen könnte, wird man nicht hundert Tage warten, um die Carmagnole zu tanzen. So ist dieses Land, was McKinsey entgangen ist.
Anmerkungen Übersetzung
Eine Grévilla ist teils ein Streik (grève), teils ein ‘Guerillakampf’. Darunter werden z.B. die gezielten Stromabschaltungen durch Beschäftigte der E-Werke verstanden, bei denen bestimmten Institutionen oder prominenten Politikern der Strom abgedreht wird. Angedroht wurde des Weiteren auch dem Filmfestival in Cannes nächsten Monat das Licht auszuschalten, sowie den Großen Preis von Monaco, das französische Tennisturnier in Roland-Garros und das Theaterfestival in Avignon zu stören.
Abfällige Bezeichnung für jene, die man hierzulande als Salonkommunisten bezeichnen würde.
Das Wort kommt vom Arabischen “زبل, zebl’ ” und bedeutet eigentlich Gestank oder Dung. In den Banlieues wird zbeul oder sbeul als Begriff für Chaos, Unordnung, Krawall verwendet und hat mittlerweile den Weg aus den Vororten gefunden.
Anspielung auf einen populären französischen Film über eine Handvoll Rugbyspieler.
Erschienen auf französisch am 25. April 2023 auf A contretemps, übersetzt von Bonustracks.
“Kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass der Mensch noch eine Seele haben wird, wenn die Biologie und die Psychologie ihn gelehrt haben werden, sie zu verstehen, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu behandeln?”
Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften
Gruppen werden gebildet und zerfallen. Eine Gruppe ist nur eine Form, deren Existenzdauer durch die Notwendigkeit ihres Entstehens bestimmt wird – unermesslich, zum Glück! Denn die Dauer der Existenz einer Gruppe ist immer eine Singularität und hängt von ihrer eigenen Erfahrung ab. Auf unseren verschiedenen Wanderschaften – ob politisch oder nicht – sind Gruppen das Nest der furchtbaren Gemeinschaften (Tiqqun). Sich in einer Gruppe einzukapseln bedeutet, sich festzulegen und zu beobachten, wie die Identität es sich bequem macht. Diese furchtbaren Erfahrungen führen zu einer militanten Besessenheit, sich um die Mitstreiter und die Gruppe – und sogar um andere Gruppen – zu kümmern. Die Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge verschwindet zugunsten eines medizinalistischen Blicks, in dem jedes Phänomen potenziell krank ist. Alles tendiert so dazu, analysierbar und analysiert zu werden, einschließlich des Intimsten, dessen verschiedene Konflikte durch die Sprache offengelegt werden müssen, um sie abzuwenden. Das Unbewusste als angebliches Herz der Intimität wird zu einem Objekt, das es einzufangen und in seiner ganzen Tiefe zu sezieren gilt. Den anderen mit einem psychologisierenden Blick zu erfassen, bedeutet jedoch, ihn beherrschen zu wollen, nicht ihm zu begegnen. Wenn man außerdem bedenkt, dass eine der Komponenten der zeitgenössischen Entfremdung tatsächlich in einem Mangel an Welt, in einer Trennung von der Welt, in einer Maskierung der tatsächlichen Verbindung zwischen Innerlichkeit und Welt besteht, ist jedes psychologisierende Verständnis von Gemeinschaft nicht nur vergeblich, sondern hält diese Trennung aufrecht und festigt eine furchtbare Gemeinschaft.
Seit ihren Anfängen und bis heute besteht das gesamte Unterfangen der Psychologie darin, das Subjekt von seiner Welt zu isolieren und eine klare Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu ziehen. Dieses Postulat betrifft sowohl die neurowissenschaftlichen Ansätze als auch die Psychoanalyse. Denn die Erforschung des Unbewussten durch Letztere zielt darauf ab, die Tiefe des Lebens für den Verstand und die Vernunft transparent zu machen und sie vom Logos abhängig zu machen. Die Innerlichkeit und ihr unsagbarer Teil werden zu einem metapsychologischen Gegenstand, der wissenschaftlich erforscht werden muss, ein Ansatz, der die Idee einer Innerlichkeit vermittelt, die auf die gleiche Weise wie die Objekte des Bewusstseins erfasst werden kann. “Dieses Unaussprechliche”, so Minkowski, “ist nicht auf die Unzulänglichkeit unserer Ausdrucksmittel zurückzuführen, sondern scheint das Ganze zu bergen, aus dem der Rest nur hervorgeht. Daher empfinden wir sie keineswegs als eine Unzulänglichkeit, die es zu überwinden gilt; im Gegenteil, unsere Intuition sagt uns, dass unser Leben in seiner unerschöpflichen Bewegung nur dank dieses unendlich beweglichen Grundes des Unaussprechlichen, auf dem es ruht, das ist, was es ist” (Eugène Minkowski, Traité de psychopathologie). So sind Freuds Arbeiten trotz ihres scheinbaren Bruchs mit dem Primat des Bewusstseins, das von der psychophilosophischen Tradition Cartes’ errichtet wurde, in Wirklichkeit von einem wissenschaftlichen Naturalismus geprägt, der ebenso verdinglichend ist wie Descartes’ Res Cogitans. Der psychoanalytische Ansatz ist kein Ausweg angesichts der Subjekt-Objekt-Spaltung, sondern eine Verinnerlichung der objektiven Realität. Die Introspektion wird so zum Korrelat einer Entfremdung von der Welt, und die Zivilisationskrankheit schlägt Wurzeln. Die Säkularisierung der Wahrnehmungsebene der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – jener Wahrnehmungsebene, auf der das Unbewusste beruht – hat es dem Kapital darüber hinaus ermöglicht, seine Lebensform zu konsolidieren.
Das relationale Leben auf Objektbeziehungen zu reduzieren, bedeutet, sich in einem Deutungsraster zu verfangen, das die Zerstörung jeder Möglichkeit der Begegnung vollendet. Denn das Leben geht über die Gesetze der Psychologie hinaus. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen auf die psychoanalytische Erforschung des Unbewussten zu stützen, ist keineswegs eine Berücksichtigung der Intimität; es handelt sich im Gegenteil um ihre Verneinung. Denn das Unbewusste, von dem dann die Rede ist, hat nichts von der Tiefe der Innerlichkeit; es dehnt lediglich die objektive und raumbildende Äußerlichkeit auf die Innerlichkeit aus und bleibt in diesem Sinne oberflächlich, wodurch es dann jede wahre Tiefe durch seinen Anspruch, das einzige Mittel zu sein, um zu ihr zu gelangen, verdeckt.
Die Psychoanalyse macht dieses Unbewusste zum neuen hegemonialen Primat des Verständnisses des Subjekts außerhalb der Welt. Es ist eine Sache, die libidinösen Prozesse zu beschreiben, die der modernen Zivilisation eigen sind – wie Freud es getan hat -, aber es ist eine andere Sache, diese libidinösen Prozesse als Ausgangspunkt und Horizont aller politischen und therapeutischen Überlegungen zu nehmen, und sie trägt alle Züge eines morbiden Rationalismus (Minkowski). Eine solche Lebensauffassung zu vertreten, bedeutet, die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu naturalisieren und damit die Anthropomorphose des Kapitals zu bestätigen (Cesarano). So wie der Wissenschaftler nicht mehr die Welt, sondern ein in Gleichungen erschöpfbares physikalisches Universum sieht, so sieht auch der Anhänger eines psychologisierenden Deutungsrasters des Lebens nicht mehr die Tiefe unseres Seins und der Welt, sondern eine Topik mit einem verdinglichten und statischen Unbewussten, das es zu sezieren gilt.
Es gibt natürlich Psychoanalytiker, die interessanter sind als andere – darunter D. W. Winnicott, dessen Konzepte des Übergangsobjekts und des Übergangsraums (Spiel und Realität) (die es ihm ermöglichen, aus dem Freudschen psychoanalytischen Korsett auszubrechen), keine trieborientierte, sondern eine existentielle Bedeutung haben – und die Sackgassen der Psychoanalyse aufzuzeigen, bedeutet nicht, zu leugnen, was beispielsweise das Setting einer psychoanalytischen Psychotherapie ermöglichen kann. Was in der heutigen Zeit Fragen aufwirft, ist vor allem der Aktivismus, der versucht, diese aus der Psychoanalyse stammenden Konzepte auf die Organisation des kollektiven Lebens auszudehnen, auf die Gefahr hin, die gleiche institutionelle Gewalt zu reproduzieren, die die Psychiatrie mit der Aufforderung zur ständigen Selbstanalyse erlebt hat, unaufhörlich zu versuchen, die psychologischen Triebfedern zu identifizieren, die uns bewegen, und sich somit letztlich als ein “Ich” zu begreifen, das von psychologisierenden Gesetzen regiert wird und grundsätzlich von der Welt und den anderen abgeschnitten ist – und sich nicht mehr anders auf sie beziehen kann als durch Projektion und Übertragung oder, was die Realität betrifft, indem man sich an ihr reibt, ohne sie jemals zu erreichen. Diese Anrufung psychologisierender Theorien als Paradigma eines wünschenswerten Zusammenlebens – sowohl von Seiten der Institutionen als auch von Seiten der Aktivisten – nimmt insofern biopolitische Züge an, als sie es dem kybernetischen sozialen Geflecht ermöglicht, sich sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch des Subjekts zu etablieren. Das Sinnliche und Ethische wird durch die Etablierung neuer Normen und Moralvorstellungen der linken Militanz ausgelöscht, die sich damit, wenig überraschend, der Richtung anschließt, die das Kapital und die Verhaltenswissenschaften eingeschlagen haben.
Der Versuch, aus der kybernetischen Ökonomie und Gouvernementalität, in der wir uns subjektivieren, auszubrechen und einen authentischen Zugang zu anderen, zur Welt und zu uns selbst anzustreben – die alle im Grunde ein und dasselbe sind, wie der japanische Psychiater Bin Kimura in Aida sagt -, kann keinesfalls durch das Hinzufügen einer psychologischen Schicht zu diesem bereits erdrückenden Gedankengebäude erfolgen. Die Fortsetzung der Geste Cesaranos, der 1974 schrieb: “Das Ende des Ichs wird die Genesis der Präsenz sein”, bedeutet, die Kritik am Ego fortzusetzen und die libidinöse und ökonomische Ökonomie zu zerschlagen. Eine der Komponenten des Desasters unserer Zeit ist zweifellos diese Pflege des “Ichs” und seine ständige Aufwertung sowohl auf politischer als auch auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Mit diesem “Ich” der Anthropomorphose des Kapitals Schluss zu machen bedeutet einen Wechsel der Wahrnehmungsebene, eine “Umkehr”, wie Martin Buber in “Ich und Du” sagt, und deren Bedeutung keineswegs psychologisch, sondern ethisch ist.
Die intime Erfahrung der Innerlichkeit – das heißt, so wie sie wirklich gelebt wird – öffnet uns die Welt nicht nur in ihrer Äußerlichkeit, sondern auch und vor allem in ihrer Innerlichkeit, die Rilke als Weltinnenraum bezeichnet, der laut Blanchot “nicht weniger die Intimität der Dinge ist als die unsrige und die freie Kommunikation des einen und des anderen, eine mächtige und uneingeschränkte Freiheit, in der sich die reine Kraft des Unbestimmten behauptet” (M. Blanchot, Der literarische Raum). Das Begehren ist nicht libidinös, sondern existenziell, es richtet uns auf die Welt aus (wie R. Barbaras in Le désir et le monde [Das Begehren und die Welt] entwickelt) und impliziert, mit dem Ego abzuschließen. “Die Welt ist alles, was stattfindet”, sagte Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus). Wenn es etwas gibt, das die Psychologie und jede wissenschaftliche Reduktion des Lebens niemals erfassen können, dann ist es die Idee, dass tief in unser Sein zu gehen gleichzeitig bedeutet, in die Welt zu gehen.
Erschienen im französischen Original im April 2023 auf Entêtement, übersetzt von Bonustracks.
Was jetzt auf dem Spiel steht, ist unser Schicksal als Menschen.
In einer gnadenlosen Konfrontation stehen sich die staatlichen und globalistischen Instanzen des Profits und ein Volk gegenüber, dessen Leben unter dem Druck der herrschenden Gier auf ein Minimum reduziert wird.
Der Staat hat ein Interesse daran, diesen Konflikt in die Länge zu ziehen, denn Unterdrückung ist die letzte Funktion, die es ihm ermöglicht, zu existieren. Gleichzeitig ahnen immer mehr von uns mit einer Mischung aus Begeisterung und Besorgnis, dass wir in Jahre eintreten, deren Verlauf uns eine entscheidende Wahl abverlangt. Wir stehen vor einer Option, die unser Schicksal bestimmen wird. Sie ist simpel.
Entweder haben wir uns damit abgefunden, den Planeten zu veröden, und arbeiten an unserer eigenen Zerstörung.
Oder wir engagieren uns in einem Kampf für die Souveränität des Lebens und der menschlichen Werte.
Wollen wir uns engagieren? Nein! Schluss mit humanitären Predigten und Ermahnungen! Die Zeit ist nicht länger eine Zeit des guten Willens. Sie ist die Zeit der vollendeten Tatsachen.
Die Gelbwesten haben eine festliche Besetzung der Straßen und der Herzen initiiert. Sie berührten Millionen von Menschen, die aus einem halben Jahrhundert der Lethargie erwachen und ihre Menschlichkeit wiederentdecken, die ihnen die Herrschaft der Ware immer wieder genommen hat. Ein Volk erhob sich, angetrieben von einer leidenschaftlichen Anziehungskraft. Seine Intelligenz des Lebendigen hat die Aufklärung wiederbelebt, die das revolutionäre Frankreich in die Welt hinausgetragen hatte und die ein Obskurantismus aus heruntergekommenen Schwachköpfen zu verdunkeln suchte.
Soziologen werden tausend Erklärungen für diese psychosoziale Galvanisierung finden, die unerwarteter und überraschender war als der Mai 1968, dessen Vorboten bekannt sind. Man wird mit dem Finger auf die steigenden Kosten des Überlebens, die Rezession und die steigenden Steuern zeigen. Man wird auf die zersetzende Langeweile verweisen, die Ressentiments und Aggressionen ausstrahlt, um im “Phänomen” der Gelbwesten letztlich nur ein kurzlebiges Jubelfieber zu erkennen, das die schäbige Mittelmäßigkeit der Umgebung für die Dauer von ein oder zwei schnell niedergeschlagenen Krawallen durchbricht.
Genau das ist nicht passiert. Nicht nur, dass sich das traditionelle Szenario des besiegten Aufstands nicht wiederholte, sondern die Eintagsfliege erlebte eine ebenso ungewöhnliche wie bemerkenswerte Eklipse. Ein breiter Strom von Unruhen festigte sein Fundament. Er entwickelte sich unter dem verächtlichen Blick des Konservatismus und des Progressivismus. Die extreme Rechte, die gehofft hatte, sie zu verschlingen, hat sich daran die Zähne ausgebissen. Die Linke machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung darüber, dass sie in dieser ungleichen Horde keine Spuren des Proletariats finden konnte, das durch ihre Politik in den Bankrott getrieben worden war.
Was kam bei dem Tumult heraus? Ein paar wütende Ausbrüche. Kein Programm, außer einer einleitenden und rudimentären Warnung, die seltsamerweise kein noch so radikaler Aufstand in der Vergangenheit vorsichtshalber übernommen hatte. Es war eine klare, unmissverständliche und folgenschwere Warnung: “Keine Führer, keine selbsternannten Delegierten, keine Vertreter von politischen und gewerkschaftlichen Apparaten. Der Mensch an erster Stelle!”
Dass sich die Resolution keinen Zentimeter verändert hat, ist weniger Ausdruck moralischer Standhaftigkeit als vielmehr ein Indiz für eine tiefere Verankerung. Irgendwann wird man sich darauf einigen müssen: Die Substanz der Aufstände, die überall auf der Welt aufflammen, erlöschen und wieder aufflammen, ist das Leben und sein Bewusstsein.
Die Mobilisierungen zur Verbesserung der Überlebensbedingungen sind nicht verschwunden, aber sie reichen schlicht und einfach nicht mehr aus. Sie sind einfach überholt. Deshalb hat sich das Gefühl des “Da-Seins” wie eine Musik des Lebendigen auf der Suche nach Harmonie unwiderstehlich ausgebreitet. Ausgehend von einer Handvoll “akkulturativer Rüpel” hat es die Dimension eines universellen Volkes erreicht, das keine Westen, Farben oder Parolen mehr braucht, um seine Entschlossenheit zu bekräftigen und zu schärfen.
Dieses Volk ist mit keiner Mission ausgestattet und hat keine eschatologischen Ansprüche. Es ist sich plötzlich bewusst, dass es die massive Präsenz von Menschen zu tragen hat, deren Leben geraubt wurde, für die Autonomie ein Trugbild und Menschlichkeit ein bedeutungsloses Wort war. Eine immer wieder neu entstehende Welle befreite es von der Unwürdigkeit, zu der es verurteilt worden war. Er machte sich daran, eine natürliche Freiheit wiederzuerlangen, die nichts anderes ist als der Lebenstrieb, der in allen Menschen vorhanden ist.
Der Klassenkampf war die historische Form, die der Wille zur Emanzipation, den die Sklaven immer gegen ihre Herren erhoben haben, im Zeitalter des industrialisierten Kapitalismus annahm.
Der Klassenkampf ist untrennbar mit dem Klassenbewusstsein verbunden, das dem Proletarier die Waffen verleiht, die er braucht, um sich aus der Proletarisierung zu befreien. Die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung und die konsumistische Kolonialisierung haben nur scheinbar zur Liquidierung des Proletariats und seines Projekts einer Gesellschaft ohne Klassen geführt.
In den Aufständen des täglichen Lebens verkörpern sich heute die egalitären Freiheiten, die den Sklaven nie vergönnt waren.
Doch das Joch der Herren, das ihnen die Lenden brach, zerfällt. Es hält der Implosion des Marktsystems, dem Zerfall der Macht, dem Verfall der Autorität und der Entfesselung des verrückten Geldes nicht mehr stand. Eine Welt bricht zusammen, die dem Tod geweiht war. Es liegt an uns, sie durch die Ausrottung des Aaskults zu evakuieren.
Die Schaffung und Vermehrung unserer Oasen überall wird zur einzigen Wahl, da die Verarmung voranschreitet und mit kleinen Schritten die Plünderung von Supermärkten, die Sabotage von Zahlungsautomaten, das Niederbrennen von Steuerzentren und das Verbrennen von Rechnungen ankündigt. Die Macht der Besitzenden soll die Verantwortung für das Feuer übernehmen, das sie entfacht hat. Wir, die wir uns nur nach den Feuern des Lebens sehnen, nehmen mit ruhigem Realismus eine Feststellung zu unseren Gunsten auf: Die Quantität des Habens, die das Überleben definiert, wird durch die Qualität des Seins ersetzt, die das Leben begründet. Mit anderen Worten: Die Warengesellschaft bricht zusammen und überlässt es der menschlichen Gesellschaft, die Trümmer wegzuräumen.
Es sei denn, die Partei des Todes überzeugt uns davon, sie bei ihrem Sturz zu begleiten! Sind 10.000 Jahre Selbstzerstörung in einem Tropfen vollen Lebens lösbar? Bezweifeln Sie das? Aber was ist das? Zum ersten Mal in der Geschichte fällt sogar die Selbstzerstörung vor Überdruss in sich zusammen. Der Tod ist eher lästig als beängstigend geworden. Das Leben, das voranschreitet, ignoriert die Angst. Es öffnet sich einer Gegenwart, in der alles möglich ist.
Der Frühjahrsputz zeigt, dass der Frühling zu allen Jahreszeiten gehört. Wie kann man das bestreiten, wenn man sieht, wie die Kämpfe für die Befreiung der Erde und für das Recht, auf ihr zu leben, ideologische und religiöse Überzeugungen, von denen nur noch ausgeweidete Kadaver übrig geblieben sind, wie Strohhalme wegfegen. Wenn die Macht sich noch die Mühe macht, mit ihnen zu hantieren und sie gegeneinander auszuspielen, dann deshalb, weil sie gezwungen ist, zu teilen, um zu herrschen, und weil sie ihnen genug Glaubwürdigkeit verleihen muss, um sie für ihre Sündenbockstrategie einzuspannen.
Der Klientelismus hat Konservatismus und Progressivität zu austauschbaren Waren gemacht. Noch gestern machte ihr Antagonismus sie plausibel. Wenn die öffentliche Meinung hört, dass der faschistische Populismus die gemeinsame Freiheit fordert, sich nicht impfen zu lassen und Migranten zu ertränken, während der linke Populismus für eine Impfpflicht plädiert, als ob er nicht wüsste, dass er damit den Weg zu einem Sozialkredit nach chinesischem Vorbild ebnet, dann muss man sich schon fragen, was bei den bevorstehenden Wahlen auf dem Spiel steht.
Ist es nicht das gleiche verwirrende Gedankengut, wenn die Ökologie bei Behörden, die sie ausrotten, um Artenschutz bettelt? Das Gejammer, das die Polizeigewalt hervorruft, ist süß in den Ohren der Elenden, die sie erregen. Was erhoffen Sie sich von Regierungen, die im Sold von Finanzmafias stehen, die entschlossen sind, die Schubladen des Gemeinwohls zu leeren, die die Arbeiterkämpfe der Vergangenheit gefüllt hatten?
Paradoxerweise wird uns, während wir durch ein Niemandsland aus Nacht und Nebel waten, alles klar. Wir sind die Ausgeburt des Lebens und beanspruchen dies auch für uns. Unsere Feinde sind die Partei des Todes. Egal, wie furchterregend ihr Kriegsarsenal ist, es genügt ein Rest von Lebendigem, der in ihr mechanisches Verhalten eingedrungen ist, um sie zu destabilisieren und in die Irre zu führen.
Sie verfügen über Waffen, die sie langsam vergehen lassen, wenn sie schießen. Wir haben keine anderen Waffen als das Leben. Sie besitzen die Unentgeltlichkeit des Unerschöpflichen. Ihre Macht ist unerschöpflich, denn es sind nicht die Waffen, die töten.
Es ist niemandem entgangen, dass der Atem der großen sozialen Kämpfe die abscheulichsten Vorurteile zerstreut. Der Wille zur Emanzipation geht über das Alte, das uns durchdrungen hat, hinaus; er löscht es nicht aus, sondern löst es auf.
Im politischen Landerneau ist man besorgt über die ungesunden Ausdünstungen einer Neonazi-Folklore. Der faschistische Populismus ist zum bevorzugten Ziel von linken Aperos geworden, bei denen man Berneris Aussage vergessen hat: “Nur der antikapitalistische Kampf kann sich dem Faschismus entgegenstellen. Die Antifaschismusfalle bedeutet die Aufgabe der Prinzipien der sozialen Revolution. Die Revolution muss auf sozialem und nicht auf militärischem Gebiet gewonnen werden”. Wo man im gleichen Atemzug vergisst, wie viele dieser tapferen Aktivisten empfahlen, für einen frühreifen, knüppelfummelnden Verwöhner zu stimmen, um den Weg für eine heruntergekommene Obersturmführerin zu versperren, die den Konkurrenzladen nebenan betreibt.
Die Macht hat in uns immer eine existentielle Hölle geschürt, in der sich die Unterdrückung der Lebensimpulse in Todesreflexen entlud. Kriege, Aufstände, Religionen und Ideologien boten dem Selbsthass und dem Hass auf andere ausreichend Ventile, um das Leben nutzlos, wertlos und inexistent erscheinen zu lassen.
Das Fehlen großer Konflikte, die Befriedung durch den Konsum, die zunehmende Kleinlichkeit des Profits, die bürokratische Einäscherung von Revolutionen, der knochenlose Müll, auf den sich mafiöse Ideologien und Religionen reduzieren, haben den Tod sozusagen aus seiner maßlosen Fresslust gerissen, aus dem übermäßigen Verzehr, der ihm bis zu den hitlerisch-stalinistischen Hekatomben zugestanden wurde. Nachdem die Majestät des Großen Sensenmanns auf dem Markt etwas entthront und entwertet worden war, sprach man vom Leben wie von einem ungewöhnlichen Gegenstand, der von einem Archäologen ans Tageslicht gebracht worden war.
Die totalitäre Demokratie, die die Diktatur des Freihandels errichtet hat, war gezwungen, die Angst zu retten, auf die keine hierarchische Macht verzichten kann. Nach dem Abklingen einer Panik, die durch den tragikomischen Umgang mit dem Coronavirus ausgelöst wurde, nach dem Flop des aus der Ukraine importierten Atomterrors, nach einer zu unsicheren Invasion von Außerirdischen hätte man gerne auf die rechtsextreme Eiterbeule zurückgegriffen, die Mitterrand zur Sanierung seiner petainistischen Fistel gedient hatte, aber die Eiterbeule war längst geplatzt. Die staatlichen und überstaatlichen Ordnungskräfte greifen nunmehr auf einen Terror ohne Ideologie, auf blinde Repression, auf eine kollektive Vergewaltigung, auf einen Horror ohne kontrollierte Bezeichnung zurück.
Wir sind die Beute eines Faschismus mit Stiefeln, Helmen, Motorrädern, Vergewaltigern, Knüppeln, Messern und Killern. Er gehört nicht zur rechtsextremen Partei, auch wenn diese seine Taten beklatscht. Seine Barbarei trägt das Siegel der Legalität. Sie ist die Ausdrucksform der Regierungs- und Globalisierungsmilizen. Der Faschismus ist der bewaffnete Arm der Partei des Todes. Er ist der Kult des Aas’ schlechthin. Er kassiert den Zehnten davon.
Die Polizei, die von Ressentiments und Frustrationen geplagt ist und sich dafür rächt, indem sie alles verprügelt und massakriert, was in ihre Reichweite kommt, hat einigen Grund, sich über unsere Empörung, unsere humanitären Proteste, unsere Petitionen und unsere Beschwerdehefte lustig zu machen. Warum sollten sie nicht kichern, wenn sie sehen, wie wir um Gnade für mechanisierte Marionetten betteln, die sie insgeheim als hässliche Wischmops empfinden?
Sie warten fieberhaft nicht darauf, dass wir sie lieben, sondern dass wir sie hassen. Ihr Selbsthass und ihr Hass auf das Leben werden von der Angst genährt, die sie empfinden und die sie verbreiten. Die Konflikte der Vergangenheit ließen es nicht an Klarheit fehlen. Der Feind machte Sinn, er war der Nazi, der Kommunist, der Invasor, der Barbar aus einem anderen Land. Aber welchen Grund wird der Schlagstock anführen, um auf eine Menge von Spaziergängern einzuschlagen, wenn er durch den unwahrscheinlichsten aller Zufälle zum Denken kommt?
Diese Abwesenheit eines Grundes ist an sich schon eine Frage. Sie nicht zu beantworten, wirft sie auf den Fragesteller zurück. Es kann sein, dass sie sich in ihm dreht und wendet, dass sie ihn mit ihrer Absurdität quält. Aber wie lange wird es dauern, bis sie die Truppe dazu bringt, ihre Stöcke in die Luft zu strecken?
Die andere Möglichkeit ist, zu antworten, aber nicht die erwartete Antwort zu geben. Was ist die erhoffte Antwort? Verachtung, Ablehnung, Verachtung, Kampfanzug, Abstieg in die Arena. Ein Verhalten, bei dem wir unsere Menschlichkeit verlieren würden, um uns im Überhang vorwärts zu bewegen und in die Barbarei einzutreten.
Da die erwartete Reaktion lautet: “Wir werden euch die Existenz unmöglich machen”, sollten wir umgekehrt erklären: “Wir werden euch das Leben möglich machen”. Nicht, weil wir provozieren wollen, sondern weil wir unserem humanen Projekt treu bleiben.
Es wäre illusorisch, ja sogar lächerlich, auf eine Dissoziationsarbeit des Polizisten zu setzen, die ihm eine Chance gibt, seine Menschlichkeit wiederzuerlangen, indem er die Maschine zur Zerschlagung des Lebens, deren Opfer er selbst ist, im Stich lässt. Aber was riskieren wir, wenn wir ihm – aus der Ferne und geschützt vor seinen sadomasochistischen Reflexen – mitteilen, dass wir weder Vergebung noch Vergeltung wollen? Dass wir nur wollen, dass das Leben allen und jedem gehört, ohne Ausgrenzung.
Wir haben keine Botschaft zu adressieren, wir haben ein Experiment, das wir ohne Unterbrechung durchführen müssen. Es liegt an uns, die Besetzung unseres Landes fortzusetzen, unser Wasser selbst zu verwalten, überall auf der Welt Mikrogesellschaften zu gründen, in denen die Versammlungen jedem die freie Äußerung seiner Wünsche, ihre Verfeinerung und ihre Harmonisierung ermöglichen (die Erfahrung der Zapatisten zeigt, dass dies möglich ist).
Wagen Sie es, von Utopien und Hirngespinsten zu sprechen, während Frankreich den Schwung wiederfindet, der es vom Ancien Régime befreite. Während sich vor unseren Augen Gemeinschaften herausbilden, in denen die Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, die ihrer Substanz beraubt worden waren, in gelebter Authentizität verkörpert werden?
Unsere Revolution wird die Revolution des Genießens gegen die Aneignung, der gegenseitigen Hilfe gegen die Räuberei, der Schöpfung gegen die Arbeit sein.
Die Unveränderlichkeit unseres menschlichen Projekts nicht aufzugeben, schafft einen existenziellen und sozialen Zusammenhalt, der die Mittel und den Einfallsreichtum hat, einen entmilitarisierten Guerillakrieg zu führen, der den verrottenden staatlichen Totalitarismus ständig belästigt.
Diejenigen, die auf unsere Atemlosigkeit setzen, wissen nicht, dass der Atem des Lebens unerschöpflich ist. Wenn sie stattdessen überall hinrennen, wo ihre Maschinen zerstört werden, wie sollten die Unterdrücker dann nicht an ihrer Atemlosigkeit ersticken?
Wir treten in das Zeitalter der Selbstverwaltung und der Umkehrung der Perspektive ein.
Wir haben kein Leben gekannt, außer unter dem eisigen Schatten des Todes. Wir haben nichts unternommen, ohne zu bedenken, dass unser Vorhaben vergeblich und sinnlos war.
Indem sich Frankreich erhebt, eröffnet es der Welt radikal neue Wege. Die poetische Kreativität des “Volkes der Schüsseln” ist Teil einer Bewegung zur Selbstverteidigung des Lebendigen, die dazu berufen ist, zu wachsen, sich zusammenzuschließen und sich zu vermehren, nicht aus Voluntarismus, sondern weil es das ist oder in einer Umgebung ohne Insekten und Vögel zu mumifizieren.
Wir sind weder Sisyphos noch Prometheus, wir lehnen Opfer ab, angefangen mit dem Opfer unserer eigenen Existenz. Wir sind Individuen, die sich bewusst sind, dass ihnen das Leben und die Erde mit einer Gebrauchsanweisung gegeben wurden, deren alleinige Besitzer sie als Menschen sind.
Das Leben auf der Suche nach Menschlichkeit hat alle Rechte, aber keine Pflichten. Das ist die Umkehrung der Perspektive, die uns vom Himmel der Götter und Ideen befreit und uns wieder aufrecht und fest auf der Erde verankert stehen lässt.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir mit einer Vergangenheit brechen, die uns mechanisiert hat (militärisches Verhalten ist ein Teil davon). Wir sind der Ausgangspunkt für eine Gegenwart, die sich nicht mehr zurückentwickeln wird. Wir sind die Wiedergeburt eines Lebens, das durch nichts erstickt werden konnte und das nun seine Souveränität beansprucht. Seht her! Wir waren eine Handvoll Gammler, die Oberschicht der Nichtsnutze. Wir sind Millionen, die eine Intelligenz des Lebendigen entdecken, die uns die tote Intelligenz, die uns wie Dinge verwaltet hat, in Schach hält. Wir sind keine Ware mehr. Es bedarf keiner Prahlerei, um dies deutlich zu machen. Beginnen wir an der Basis: keine dem Markt unterworfenen Schulen mehr, keine denaturierte Landwirtschaft, keine Befehle mehr, die man geben oder nehmen kann!
Wir müssen aufhören, in Begriffen von Sieg und Niederlage zu argumentieren, wie die Eingekesselten. Die Militarisierung der Körper und des Bewusstseins ist genug!
Was der Macht Angst macht, ist weniger die große Zahl der Gegner als vielmehr die Lebensqualität, die sie fordern. Bei den alten Streiks fürchteten die Arbeitgeber weniger die zahlenmäßige Größe der Bewegung als die tiefe Freude, die die Aufständischen beseelte. Sie hatten die Mittel, sie durch die übliche Erpressung “keine Arbeit, kein Lohn” zu beenden.
Wenn der Kapitalismus heute unumwunden verkündet, dass steigende Lebensmittelpreise und sinkende Löhne unausweichlich sind, dann möge mir bitte jemand erklären, wie die traditionelle Erpressung auch nur die geringste Chance hat, eine allgemeine Wiederaufnahme der Arbeit zu erreichen! Andererseits ist es verständlich, dass der Staat, der verpflichtet ist, seine Versorger zu bereichern, nichts anderes mehr zu tun hat, als das Volk zu verprügeln, dessen Anwesenheit ihn terrorisiert, um seinen sozialen Bankrott zu verschleiern. Aber wie lange noch?
Man soll uns nicht vorwerfen, wir wollten den Staat abschaffen. Er schießt sich selbst ab, und er schießt sich an uns ab.
Seine verheerende Nutzlosigkeit fordert uns auf, durch die Schaffung von Selbstverteidigungszonen der Lebenden das programmierte Verschwinden der Güter zu verhindern, mit denen er uns einst versorgt hat, als er sich um eine Bürgergemeinschaft kümmerte. Es ist nicht genug zu sterben, man muss auch leben!
Nichts widersteht der Selbstverteidigung des Lebendigen.
Es gibt keine einzige Regierungsform, die die Völker, die von ihren Segnungen profitieren sollten, nicht ins Unglück gestürzt hat. Kaum haben wir die schlimmsten Diktaturen hinter uns gelassen, haben wir die beste geerbt, wenn man einen wirtschaftlichen Totalitarismus so bezeichnen kann, bei dem die Politik den Boden unter den Füßen verliert, weil sich die Exkremente dessen, was den Ruhm der Vergangenheit ausmachte, in diesem Endstadium so sehr ergießen und anhäufen: Aristokratie, Demokratie, Oligarchie, Imperialismus, Monarchie, Autokratie und tutti quanti.
Unsere Feinde behaupten, dass sie aus diesem Abwasserkanal, in dem sie stecken geblieben sind, einen Krieg bis zum Äußersten gegen uns führen? Voire! Wir sind in der Lage, zuzuschlagen, zu verschwinden und dort wieder aufzutauchen, wo man uns am wenigsten erwartet. Wir haben von den traditionellen Guerillas gelernt, dass ihr Scheitern weniger auf repressive Gewalt als auf ihre eigene interne Organisation zurückzuführen war, in der sich die hierarchische Struktur der herrschenden Welt fortsetzte. Erinnern Sie sich an das Entsetzen der französischen Eliten angesichts der Gelbwesten: “Wo sind denn die Chefs, die Verantwortlichen, mit denen man diskutieren kann?” Eh nein! Es gab keine. Sorgen wir dafür, dass es nie welche gibt!
Die Selbstverwaltung ist ein Experiment, das sich im revolutionären Spanien des Jahres 1936 als praktikabel erwiesen hat, bevor es von der Kommunistischen Partei zerschlagen wurde. Sie ist die Organisation der Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, aus denen sie bestehen, durch das Volk. Ihre theoretischen Grundsätze entstehen in den Erfahrungen der Gemeinschaften, in denen das Zusammenleben eine Kunst der Akkorde und Disharmonien lehrt, die den musikalischen Resonanzen des individuellen Daseins und der Natur nicht fremd ist. Überall dort, wo Selbstverteidigungszonen des Lebens entstehen, siegt die Intelligenz des Herzens über die Intelligenz des Kopfes und lehrt, alles neu zu erfinden.
Das Radikalste, was uns der Mai 1968 hinterlassen hat, war das Projekt der Besetzung von Fabriken, in denen die Proletarier anfingen, darüber nachzudenken, sie zum Nutzen aller zu betreiben (eventuell durch Umschulung). Die Kommunistische Partei widersetzte sich dem gewaltsam; es war ihr letzter Sieg vor dem endgültigen Zusammenbruch.
Parasitäre Arbeit und Börsenspekulationen haben die gesellschaftlich nützlichen Produktionsstätten verschwinden lassen, aber der Wille, Orte zu besetzen, an denen unsere Wurzeln die Wurzeln der Welt sind, ist ungebrochen. Die Rückgewinnung von Straßen, Plätzen und Gemeinden ist ein Kampf, der an der Basis ausgetragen wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass die von der Agrarindustrie vergifteten Nahrungsmittel die Umgebungsluft verpesten und in unsere Küchen gelangen, wo wir das Glück haben, gesunde und schmackhafte Gerichte zu zaubern.
Die Erde ist ein Ort des menschlichen Genusses, kein Dschungel, in dem Raubbau und Aneignung herrschen. Unsere Freiheiten sind fruchtbar. Wir erleben die Wiedergeburt eines Lebens, das nur Anfänge hat und nicht weiß, dass es ein Ende gibt.
Wir haben nur eine bessere Welt zu bieten.
Raoul Vaneigem
Von hier und anderswo, 5. April 2023.
Veröffentlicht am 20. April auf französisch auf A Contretemps, übersetzt von Bonustracks.
Am 30. Mai 1939 wurde auf dem Pariser Friedhof Thiais ein Mann beigesetzt, dessen Beerdigung von einem katholischen Priester gesegnet wurde, obwohl er nie getauft worden war. Er war Jude, aber seine jüdischen Freunde verzichteten darauf, das Kaddisch zu rezitieren. Er war wahrscheinlich an einem Delirium tremens gestorben, aber die Ärzte diagnostizierten eine Hirnblutung. Er war Bürger der österreichischen Republik, bezeichnete sich aber als Untertan der Habsburger.
Dieser Mann – einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – hieß Joseph Roth. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt, aber er glaubte, der Tod käme ohnehin zu spät. Er hatte – so sagte er – niemanden hinter sich, weder ein Volk noch einen Staat. Nur die Sprache, in der er schrieb – aber auch das war nicht gewiss, denn man konnte in seinem Deutsch die Stimme des Jiddischen und den Atem des Russischen hören. Doch vielleicht hatte niemand so klar wie er den Verfall der Welt um ihn herum gesehen und mit so unerhörter Lebendigkeit und freudiger Präzision die Straßen, Cafés und Hotels der Städte beschrieben, in denen er sich aufhielt. Vielleicht war noch niemand so unverschämt glücklich in all dem, was er verlor, was er bereits unwiderruflich verloren hatte. Deshalb ist uns kein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts so nahe wie er. Auch wir können uns nicht als Bürger des Staates betrachten, in dem zu leben uns zugefallen ist. Wir sind zwar getauft, aber wir gehören in keiner Weise zur Kirche.
Wie er haben wir niemanden mehr hinter uns, nicht ein Volk, geschweige denn eine Nation. Aber das nimmt uns nicht die Fähigkeit, glücklich zu sein und zu versuchen, in einer Sprache zu schreiben und zu sprechen, die wir nicht mit dem beleidigenden Geschwätz verwechseln wollen, das die Medien und die Schulen unermüdlich verbreiten und entwerten. Ohne an irgendwelche Werte und Gesetze zu glauben, die uns auferlegt werden, haben wir uns wie er einen unberührten und intakten Glauben an das Gras, den Sternenhimmel, die Stille und die Schönheit der Gesichter bewahrt.
Eine Text von Gefährten, der derzeit in Italien kursiert.
Am Mittwoch, den 19. April 2023, beendete der Anarchist Alfredo Cospito den Hungerstreik, den er 181 Tage zuvor, am 20. Oktober 2022, im Gefängnis von Bancali auf Sardinien begonnen hatte. Der Genosse, der derzeit in der Abteilung für Gefängnismedizin des San Paolo Krankenhauses in Mailand inhaftiert ist, befand sich sechs Monate lang im Hungerstreik gegen das durch Artikel 41bis der Gefängnisordnung festgelegte Haftregime (in das er am 5. Mai 2022 verlegt worden war) und gegen die lebenslange Freiheitsstrafe, die am Ende des Scripta Manent Prozesses die endgültige Strafe für den Genossen zu sein drohte.
Die Unterbrechung des Hungerstreiks erfolgt im Anschluss an die Anhörung vom 18. April in Rom vor dem Verfassungsgericht, in der anerkannt wurde, dass bei allen Verurteilungen für Straftaten, die mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet werden, strafmildernde Umstände gegen einen erneuten Straftatbestand vorliegen. Dies ist der Fall bei Alfredo, denn mit der Umqualifizierung (durch den Kassationsgerichtshof am Ende des Scripta-Manent-Prozesses) der Anklage bezüglich des doppelten Sprengstoffanschlags auf die Kadettenkaserne der Carabinieri in Fossano am 2. Juni 2006 von “gewöhnliches Massaker” (Art. 422 c. p.) in “politisches Massaker” (d.h. “Massaker zum Zwecke des Angriffs auf die Sicherheit des Staates”, Art. 285 des italienischen Strafgesetzbuches), droht den Genossen Alfredo Cospito und Anna Beniamino eine lebenslange bzw. 27-jährige Haftstrafe, wie von der Turiner Staatsanwaltschaft beantragt.
Was in den letzten Tagen geschehen ist, ist sicherlich kein “Sieg” für den Rechtsstaat oder eine “Rückkehr” zu den Prinzipien der Verfassung, sondern ein Ergebnis des Hungerstreiks und der internationalen Solidaritätsbewegung, die sich in den letzten 11 Monaten entwickelt hat.
Mit der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und der Verhängung von 41bis wollte der Staat Alfredo Cospito lebenslang ins Gefängnis stecken. Diese Absicht haben der Staat und seine Repressionsapparate nun vorerst nicht erreicht, auch wenn der Genosse weiterhin unter 41bis inhaftiert ist.
In den letzten Monaten hat der Genosse sein Leben riskiert und riskiert es auch weiterhin in dieser neuen und heiklen Phase der langsamen Erholung seiner Fähigkeit, sich selbst zu ernähren. Der Genosse hat bereits vermutlich bleibende neurologische Schäden erlitten, die insbesondere im peripheren Nervensystem lokalisiert sind (er hat die volle Sensibilität in einem Fuß verloren, der andere Fuß hat eine verringerte Sensibilität und eine Hand hat begonnen, ähnliche Symptome zu zeigen). Die Fortsetzung des Hungerstreiks in der Art und Weise, wie er über viele Monate hinweg geführt wurde, brachte ihn objektiv in die Gefahr eines fortschreitenden und dauerhaften körperlichen Verfalls mit mehr oder weniger schwerwiegenden Folgen, die primär in einer weiteren Beeinträchtigung des Nervensystems bestehen, und nicht in der unmittelbare Gefahr eines plötzlichen Todes, der durch die Überwachung im Krankenhaus wahrscheinlich vermieden worden wäre.
In diesem Hungerstreik hat Alfredo immer betont, dass er nicht nur für sich selbst, sondern für alle Gefangenen unter 41bis gekämpft hat und darüber hinaus, um Solidarität mit den in der ganzen Welt inhaftierten Anarchisten, Kommunisten und Revolutionären zu entwickeln. Und in diesen sechs Monaten des Streiks wurde die Solidarität mit Alfredo in den Gefängnissen auf der ganzen Welt zum Ausdruck gebracht, vor allem durch anarchistische und revolutionäre Mitgefangene, die sich in Italien, Frankreich, Chile, Griechenland, Großbritannien, Spanien und Deutschland solidarisiert und gekämpft haben, indem sie ihrerseits in den Hungerstreik getreten sind, Solidaritäts-Initiativen-und-Fasten durchgeführt und Erklärungen und Analysen veröffentlicht haben. Eine Solidarität schließlich, die insbesondere in Italien auch von anderen Gefangenen – nicht nur von inhaftierten Anarchisten und Revolutionären – in vielfältiger Form zum Ausdruck gebracht wurde.
Die autoritäre Wende, ein Ausdruck des Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung, der sich derzeit in der Krise befindet, hat zu einer massiven Repression gegen Anarchisten geführt und wird dies auch weiterhin tun; eine Repression, die – wie wir in den letzten Jahren beobachten konnten – auf die ausgebeuteten sozialen Schichten übergegriffen hat, die am meisten unter der sozialen und ökologischen Krise leiden. Aber die Warnung, die der italienische Staat der anarchistischen Bewegung zukommen lassen wollte, wurde mit Entschlossenheit und Konsequenz an den Absender zurückgesendet. Diese sechs Monate des Hungerstreiks haben die Isolation von Alfredo und allen inhaftierten Genossen verhindert. In diesen langen Monaten ist eine Bewegung der internationalen revolutionären Solidarität entstanden, die – schon vor dem 20. Oktober und, da sind wir sicher, auch nach diesem 19. April – in der Lage war und sein wird, den Sinn und die Perspektive unserer Ideen und Praktiken zu bekräftigen. Eine Bewegung, die seit dem Beginn des Hungerstreiks bis zum bitteren Ende konsequent gewachsen ist und dabei alle Hypothesen von Kompromissen zurückgewiesen hat, wird das Bewusstsein der Solidarität weiterentwickeln.
DIE GEFANGENEN DES SOZIALEN KRIEGES ZU VERGESSEN BEDEUTET, DEN KRIEG SELBST ZU VERGESSEN: REVOLUTIONÄRE SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO UND ALLEN INHAFTIERTEN ANARCHISTEN UND REVOLUTIONÄREN.
Kaum in Straßburg angekommen, zieht schon eine Gruppe junger Menschen auf der Straße vorbei. Lautstark geht es Richtung Place Broglie. An den Ecken zum Platz stehen die Bullen bereits behelmt und haben Teile der abgehenden Straßen und Gassen entweder mit Gittern versehen oder mit Wannen und Einsatzkräften ganz dichtgemacht. Vor dem Hôtel de Ville stehen bereits mehrere Orchesterteilnehmer.
20 Uhr. Die Menge lärmt sich in die hereinbrechende Nacht. Circa eine Stunde wird sich angefeuert. Eine Polonaise startet durch, tanzt Schlangenlinien auf den S-Bahn-Gleisen und läuft 50 Personen stark auf eine Bulleneinheit zu, nur um kurz vor ihnen abzubiegen. In der Menge läuft ein kleiner Junge mit Gehörschutz neben seinem Vater und beide hämmern auf ihre Töpfe ein, als gäbe es kein Morgen. Mit der Zeit übernehmen Parolen die Oberhand. Es wird dunkler und immer mehr Personen knien sich im Getümmel hin und packen aus ihren Rucksäcken ihre schwarzen Balzklamotten aus. Auf „Tout le monde detéste la police“ folgt schließlich „On y va“ und die Meute setzt sich in Bewegung Richtung Place de la Republic.
Dort soll es am Wasser entlang Richtung Westen gehen. Doch kurz nachdem die Demonstration auf den Dock Jacques-Sturm einbiegt, rasen die ersten Bullen heran und plustern sich am oberen Ende der Baustelle auf. Die erste Barrikade des Abends wird errichtet. Als sich von hinten eine Einheit der BAC nähert, geht es über die Grünanlage des Platzes Richtung Avenue de la Liberté. Nach den ersten Metern versuchen dort mehrere Fahrzeuge sich der Demo in den Weg zu stellen, doch diese ist schneller und zieht vorbei. Die Cops steigen wieder in ihre Wagen und kommen auf die glorreiche Idee, rechts an der Demo vorbeizufahren. Bereits dem ersten Wagen, der sich auf die Straße der Freiheit wagt, wird sich in den Weg gestellt und mit Steinen, Tritten und Fäusten klar gemacht, dass er hier eindeutig fehl am Platz ist. Den folgenden Fahrzeugen geht es genauso. Kurz darauf fliegt das erste Tränengas.
Über kleinere Umwege gelangt der wilde Umzug schließlich auf den Boulevard de la Victoire. Auch hier Barrikadenbau, dann zum Campus. An der Haltestelle Esplanade regnet es wieder Tränengas. Also wieder zurück aufs Unigelände. Hier folgen die Cops nicht. Tun sie nie. Spricht für sich. Wenig später brennt auf der Rue de Rome eine weitere Barrikade meterhoch in die Nacht. Die dunklen Gestalten ziehen in die naheliegenden Platten davon. Eine Einheit der BAC marschiert auf die Kreuzung, erspäht einen Verdächtigen und sprintet los. Sofort warnen umherstreifende Personen das Ziel. Dieses setzt sofort zum Sprint an und kann entkommen. Die Bullen bleiben geschlagen zurück. Anwohner und Passanten jubeln. So geht es noch eine Stunde weiter. Die Flics verwandeln wenig später noch den Platz vor dem Cineplex in Niemandsland. Wenig später löst sich die Demonstration in Neudorf auf.