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Alfredo’s Brief: “Ich danke euch, Genossen, für eure Liebe.”

Alfredo Cospito

Mein Kampf gegen das 41bis Regime ist der individuelle Kampf eines Anarchisten, ich gebe oder empfange keine Anweisungen. Ich kann einfach nicht unter einem unmenschlichen Regime leben, wie es 41bis bedeutet, wo ich nicht frei lesen kann, was ich will, Bücher, Zeitungen, anarchistische Zeitschriften, Magazine für Kunst und Wissenschaft sowie Literatur und Geschichte. Die einzige Möglichkeit, dem Regime zu entkommen, besteht darin, meine Identität als Anarchist aufzugeben und sie an jemanden anderen zu verkaufen, der meinen Platz einnimmt.

Ein Regime, in dem ich keinen menschlichen Kontakt haben kann, in dem ich keine Handvoll Kräuter pflücken oder einen geliebten Menschen umarmen kann. Ein Regime, in dem die Fotos unserer Eltern geraubt werden. Lebendig begraben in einer Gruft, an einem Ort des Todes.

Ich werde meinen Kampf bis zum Äußersten fortsetzen, nicht wegen einer “Anklage”, sondern weil dies kein Leben ist.

Wenn es das Ziel des italienischen Staates ist, dass ich mich von den Aktionen der Anarchisten außerhalb der Gefängnisse “distanziere”, dann soll er wissen, dass ich als guter Anarchist keine Anweisungen akzeptiere. Ich glaube, dass jeder Mensch für sein eigenes Handeln verantwortlich ist, und als Anhänger einer Strömung der informellen Organisierung bin ich bei niemandem “angegliedert” und kann mich daher von niemandem “distanzieren”. Affinität ist eine andere Sache. Ein kohärenter Anarchist distanziert sich nicht aus Opportunismus oder Bequemlichkeit von anderen Anarchisten. Ich beanspruche meine Taten immer mit Stolz (auch vor Gericht, deshalb bin ich hier) und ich kritisiere niemals die Taten anderer Genossen, schon gar nicht in einer Situation wie der, in der ich mich befinde.

Die größte Beleidigung für einen Anarchisten ist es, wenn man ihm vorwirft, Befehle zu erteilen oder entgegenzunehmen. Als ich unter dem Regime der Hochsicherheitsüberwachung einsaß, herrschte Zensur in jeder Hinsicht, und doch habe ich nie einen “Pizzini” (Papierzettelchen die von der Cosa Nostra zu Kommunikation benutzt wurden, d.Ü.) geschickt, sondern Artikel an anarchistische Zeitungen und Zeitschriften. Vor allem, weil ich frei war, Bücher und Zeitschriften zu erhalten, frei, Bücher zu schreiben und zu lesen, was ich wollte… ich durfte leben.

Heute bin ich bereit zu sterben, um die Welt wissen zu lassen, was 41bis wirklich ist. 750 Menschen leiden darunter, ohne darüber zu sprechen, und werden von den Massenmedien ständig zu Monstern gemacht. Jetzt bin ich an der Reihe, sie haben nun mich in ein Monster verwandelt, den blutrünstigen Terroristen, dann haben sie mich geheiligt wie den anarchistischen Märtyrer, der sich für andere geopfert hat, und am Ende haben sie mich wieder in ein Monster verwandelt, in ein schreckliches Ungeheuer. Wenn alles vorbei ist, wird man mich zweifellos auf die Altäre des Märtyrertums heben. Nein, danke, dafür stehe ich nicht zur Verfügung, für ihre schmutzigen politischen Spiele bin ich nicht zu haben.

Das eigentliche Problem des italienischen Staates ist nämlich, dass er von all den Rechten weiß, die in diesem 41bis-Regime im Namen einer “Sicherheit”, für die alles geopfert wird, verletzt werden. Nun… sie werden noch einmal darüber nachdenken müssen, bevor sie einen Anarchisten hier reinstecken. Ich weiß nicht, welche wahren Beweggründe oder politischen Manöver dahinter stecken. Und aus welchem Grund jemand mich als “vergifteten Apfel” in diesem Regime benutzt hat. Es war ziemlich unmöglich, meine Reaktionen auf dieses “Nichtleben” nicht vorherzusehen. Der italienische Staat ist ein würdiger Vertreter der Heuchelei des Westens, der dem Rest der Welt ständig Lektionen in Sachen “Moral” erteilt. Der 41bis hat Lehrstunden erteilt, die von “demokratischen” Staaten wie der Türkei (wie unsere kurdischen Freunde wissen) und Polen sehr gut genutzt werden.

Ich bin überzeugt, dass mein Tod ein Hindernis für dieses Regime sein wird und dass die 750 Menschen, die jahrzehntelang unter ihm gelitten haben, ein lebenswertes Leben führen können, unabhängig davon, was sie getan haben.

Ich liebe das Leben, ich bin ein glücklicher Mensch, ich würde mein Leben mit niemandem tauschen wollen. Und gerade weil ich es liebe, kann ich dieses hoffnungslose Nicht-Leben nicht akzeptieren.

Ich danke euch, Genossen, für eure Liebe.

Immer für die Anarchie,

niemals gebeugt.

Alfredo Cospito

Der handgeschriebene Brief von Alfredo Cospito kursiert derzeit als Faksimile in den sozialen Netzwerken. Diese Übersetzung lehnt sich an eine digitale Niederschrift auf portugiesisch bei EDIÇÕES INSURRECTAS an sowie eine (leider unvollständige) Transkription, die uns von Radio Blackout aus Turin zur Verfügung gestellt wurde. Etwaige Ungenauigkeiten in der Übersetzung mögen verziehen werden, zu wichtig ist es, die Worte Alfredos möglichst schnell unter die Menschen zu bringen. 

Mit Stärke gewinnt man – “März 1973 – Rote Fahnen in Mirafiori”

Chicco Galmozzi

Wir veröffentlichen einen Auszug aus Chicco Galmozzi’s Buch Marzo ‘1973. Bandiere rosse a Mirafiori’, das kürzlich bei ‘DeriveApprodi’ erschienen ist, fünfzig Jahre nach der Besetzung von Fiat Mirafiori durch die so genannten “roten Halstücher”. Das Buch bietet eine historische Rekonstruktion der Ereignisse, die zur Besetzung des Werks führten, dem Höhepunkt des Zyklus der Arbeiterkämpfe, der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann. (Vorwort Machina)

Am 17. März reagierten die Arbeiter von der ersten Schicht an in allen Fiat-Abteilungen ablehnend und wütend auf die Nachricht über den Vertragsentwurf mit der Intersind (Branchenarbeitgebervereinigung, d.Ü.) , und der Versuch von Aktivisten der Gewerkschaft und der PCI, die in großer Zahl an den Werkstoren anwesend waren, ein Flugblatt zu verteilen, das zur Ruhe aufrief und darauf hinwies, dass es sich bei dem unterzeichneten Memo nur um einen Entwurf und nicht um den tatsächlichen Vertrag handelte, blieb erfolglos. So kam es in der ersten und zweiten Schicht zu einer Reihe von Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen in den Abteilungen. Im Mittelpunkt des Interesses und der Initiative der Arbeiter steht vor allem die Forderung, die Vorabentscheidung über betriebsbedingte Kündigungen (vier allein in der letzten Woche) in die Verhandlungen einzubeziehen. An dieser Frage scheiden sich die Geister und die Spaltung zwischen der simplen Forderungslinie der Gewerkschaftszentralen und dem Standpunkt der Arbeiterautonomie, der die Frage des Kampfes gegen die betriebliche Willkür zur zentralen und entscheidenden Frage für die Festlegung der Kräfteverhältnisse in den Betrieben und Abteilungen macht.

Es ist auch sehr bezeichnend, dass die Kritik der Arbeiter an dem Vertragsentwurf nicht so sehr am Lohnteil geübt wird, sondern eher an der Rückständigkeit der Einstufung und dem fehlenden Automatismus bei den Kategorienübergängen. Hier geht es nicht nur um eine allgemeine Gleichmacherei, auch wenn sie in der Arbeiterklasse stark verwurzelt ist, sondern um eine radikale Kritik an der tayloristischen Arbeitsorganisation und der Fabrikdespotie, die sie erzwingt.

Im Namen des Egalitarismus wird die Fragmentierung der Arbeiter in definierte und starre Kategorien in Frage gestellt. Die Gewerkschaften propagieren das Schlagwort der Neuzusammensetzung der Aufgaben als Überwindung der tayloristischen Arbeitsorganisation, die auf einer wissenschaftlichen Verteilung des Arbeitspensums beruht, die es durch die Parzellierung von Führungsaufgaben ermöglicht, jedem Arbeiter elementare Aufgaben zuzuweisen, die Lernzeit der Arbeiter zu reduzieren und ihre Fähigkeit zu erhöhen, den jedem zugewiesenen Mikroteil des Produktionsprozesses auszuführen, der auf einige wenige sich wiederholende Gesten und Bewegungen heruntergebrochen ist.

Die Arbeitnehmerautonomie stand der Frage der Neuzusammensetzung der Aufgaben nicht grundsätzlich feindlich gegenüber, sondern konzentrierte sich vielmehr auf die starre Aufteilung, die durch das Spektrum der Qualifikationen als Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse gewährleistet wurde. Vor allem aber ließ der fehlende Automatismus bei den Übergängen von einer Kategorie in die andere der Unternehmenshierarchie weite Ermessensspielräume, die diese Übergänge mit einer belohnenden und damit erpresserischen Logik steuerte.

Wenn Entlassungen und Disziplinarmaßnahmen die Peitsche waren, so war die Versetzung in eine andere Kategorie das Zuckerbrot, das an die Verdienten verteilt wurde. Ab dem 22. März 1973 dehnte sich der Kampf auf das gesamte Gebiet von Turin aus und wurde von Tag zu Tag intensiver. Am 28. März wurde ein 8-stündiger autonomer Streik gegen die Entlassungen durchgeführt, am nächsten Tag gelang es einer internen Prozession von 10.000 Arbeitern, die die Ein- und Ausfahrt der LKWs blockierten, die Produktion vollständig zu stoppen. Am 29. wurde Fiat Mirafiori für drei Tage besetzt, am nächsten Tag weitete sich die Blockade auf Lingotto, Bertone, Pininfarina, Spa Stura, Carello, Fonderie di Carmagnola, Sicam di Grugliasco aus.

Am 30. März sind alle Fabriken in Turin in der Hand der Arbeiter: rote Fahnen bei Mirafiori, Tausende von Arbeitern streiken vor den Toren. Mirafiori war den ganzen Vormittag über blockiert und vollständig in der Hand der Arbeiter. In der Karosserieabteilung hatten die Gewerkschaften einen zweistündigen Streik ab Schichtbeginn ausgerufen, aber die Logik, mit der die Arbeiter in diesen Tagen ihren Kampf beschließen, ist nun eine ganz andere: Niemand griff zur Arbeit, nach einem Umzug von 10.000 Menschen verteilten sich die Arbeiter in Gruppen von Hunderten an den verschiedenen Toren.

Alle 12 Tore hatten jeweils eine eigene Streikpostenkette: Von innen verhinderten die Genossen den Ein- und Ausgang von Waren.

Die Besetzung wurde auch auf die Gebäude der Beschäftigten ausgedehnt. Die an den Toren versammelten Arbeiter haben die schwierigen organisatorischen Probleme, die die Blockade einer Fabrik wie Mirafiori mit sich bringt, in Ermangelung jeglicher Initiative der Gewerkschaft, die an den Rand des Kampfes gedrängt wurde, glänzend gelöst.

Zwischen allen Toren wurden durchgehende Verbindungen mit Fahrradstaffeln eingerichtet. Die Arbeiter füllten die Tore mit roten Fahnen und Transparenten. “Die Entlassenen in die Fabrik mit uns”, und ein anderes: “Garantierte Löhne”. Auf einem roten Transparent standen die Namen aller aus dem Fiat-Werk entlassenen Avantgardisten. An Tor 9 war die Attrappe eines Erhängten angebracht, darunter die Worte “Das ist das Ende der Feinde der Arbeiter”.

Die ‘Carrozzerie’ ist das Zentrum der Arbeitermacht, der Streik wird bis zum Ende der Schicht fortgesetzt. Niemand kam auf die Idee, zur Arbeit zu gehen. In der Mechanik legten die Arbeiter um 9.20 Uhr, dem Beginn der von der Gewerkschaft ausgerufenen drei Stunden, die Arbeit nieder. Riesige Märsche zogen durch die Meccanica 2, kamen aus der Via Plava heraus und kehrten, nachdem sie das gesamte Werk von außen umrundet hatten, zurück, indem sie das Tor 15 durchbrachen und in die Blechbearbeitungsabteilung eindrangen. Während die Mehrheit der Arbeiter an der Prozession teilnahm, blieben die anderen drinnen und bildeten Blockaden zwischen den verschiedenen Werkstätten. Hunderte und Aberhunderte von Arbeitern versammelten sich vor den Toren, um über die Formen des Kampfes in den kommenden Tagen zu diskutieren, alle entschlossen, den ganzen Weg zu gehen. Gewerkschafter und PCI-Bürokraten versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, da sie von der Arbeiterschaft isoliert sind. Wo sie können, agieren sie als Feuerwehrmänner, in den meisten Fällen schweigen sie.

Gegen Mittag berät eine Versammlung von etwa tausend Arbeitern, wie es weitergehen soll: Es wird beschlossen, die Warenblockade morgen fortzusetzen. Und falls die Verhandlungen lange andauern oder die Bosse sie gar scheitern lassen sollten, beschlossen die Arbeiter per Akklamation und unter lautem Gebrüll, dass sie zum Corso Marconi gehen sollten. In der ‘Carrozzerie’ stehen derweil weiterhin Streikposten an allen Türen und warten auf die zweite Schicht. Den ganzen Vormittag ist kaum jemand herausgekommen. Die wenigen, die hinausgingen, mussten sich der Überwachung durch Dutzende von Arbeitern entziehen, über Mauern und Tore klettern. In ‘Meccaniche’ endete der Streik um 12.30 Uhr.

Beim Schichtwechsel entfernten die Tausenden von Arbeitern, die die Tore blockierten, die Streikposten nicht, bis alle Genossen der zweiten Schicht kamen, um sie abzulösen. Diejenigen, die ankamen, wurden jedoch sorgfältig kontrolliert: Die Bosse und alle bekannten Streikbrecher und Faschisten wurden ferngehalten. Es handelte sich um einen Massenprozess, bei dem die Freunde und Feinde der Arbeiter einer nach dem anderen gefiltert, beurteilt und ausgewählt wurden.

Die Chronik jener Tage im Bericht eines Arbeiters

Die Arbeiter erkannten, dass sie Formen des Kampfes finden mussten, um ihre Stärke zu demonstrieren. Es begann mit der Gliederung, die die Prozessionen und die Werkstätten trennte, alle gingen spazieren und das war’s dann. Dann begannen wir, eine “Säuberung” der Delegierten vorzuschlagen und diejenigen zu beseitigen, die nicht dazugehören. Wir haben fünf Monate lang gekämpft, wir kennen sie alle, und es gab so viele Delegierte, die ich noch nie gesehen habe, außer wenn es einen Antrag gegen die Extremisten gab. Wir haben eine Reihe von Kontakten mit den Mechanikern aufgenommen, damit sie zu uns kommen. Am Montag, nach der Prozession, kamen wir am Tor 11 an, dem wichtigsten Tor, wo die Lastwagen, die Container und der Zoll eintreffen. Und dort fanden wir die Autos. Wir fragten die Wachen nach den Schlüsseln. Der Chef telefonierte mit der Direktion, aber die Autos warteten nicht. Wir fuhren sie ein Stück zurück, die Wachen riefen: “Fertig, Ende”, und so sie fuhren los. Dann öffnete sich das Tor, und das Teano-Meeting fand mit Küssen und Umarmungen statt. Es herrschte ein ziemliches Gedränge, weil wir nicht wussten, wohin wir gehen sollten, einige der Delegierten und der Arbeiter wollten zu den Mechanikern gehen, weil es eine Schlange gab, die sich in Bewegung setzte. Also ging ich zu einem Grashügel, auf dem ein kleiner Baum steht, den Fiat pflegt, um zu zeigen, dass ihnen die Ökologie am Herzen liegt, es sind Grasbüschel inmitten des Betons.

Ich sagte, dass wir jetzt, wenn die beiden Abschnitte vereint sind, weitermachen und die Tore blockieren sollten, zumindest die Einfahrtstore. Und ich sagte noch einmal, dass diejenigen, die die Bedürfnisse der Massen nicht berücksichtigen, ausgeschaltet werden müssen, und ich sagte ihnen, dass sie nicht mit der Geschichte von den 8 Ebenen weitermachen sollen, weil wir für die 5 Ebenen mit den automatischen Aufnahmen kämpfen, und das machte zwei oder drei Delegierte der Mechanik wütend. Die Genossen nahmen die Anweisungen an und teilten die Tore auf, dort machten wir die Blockade für ein paar Stunden und wir begriffen sofort an der Anzahl der Lastwagen, die sich vor den Toren stauten, die Wirksamkeit unseres Kampfes.

Am Ende des gewerkschaftlichen Streiks gingen wir wieder hinein und ‘fegten’ dort, wo kleine Minderheiten arbeiteten, und erklärten denjenigen, die drinnen geblieben waren, die neue Form des Kampfes und unsere Erfolge. Am Mittwoch streikte die erste Schicht für die üblichen drei Stunden, die zweite Schicht begann bei der Versammlung um 14.30 Uhr nicht einmal mit der Arbeit, sondern machte eine interne Prozession, und um 15.30 Uhr schickte Fiat die gesamte Lackiererei nach Hause. Die Lackiererei machte dann auch eine Prozession, und dann kam die Zeit des Gewerkschaftsstreiks. Der Hinweis am Vortag war, direkt um 16.00 Uhr am Tor 11 zu sein, es war ein Hinweis, den ich am Vortag gegeben hatte, ich war nicht so überzeugt, dass es so gut klappen würde. Als ich um 16 Uhr aus der Werkstatt kam, war bereits ein Tor von den Containern blockiert, Arbeiter blockierten die Lastwagen mit den aufgeladenen Fahrzeugen, es gab Diskussionen mit den Fahrern, tausend kleine Gruppen, Menschen, die auf den berühmten kleinen Rasenflächen lagen, kurzum, es herrschte reges Treiben. Wir

blockieren an der Einmündung der internen Alleen, die zum Tor 11 führen. Ein anderer Teil der Autokolonne, der sich im Inneren befunden hatte, kam an. Wir teilten die Aufgaben auf, und es wurde beschlossen, dass auch die Lastroferratura den Streik bis 11.00 Uhr verlängern würde. Ein Delegierter der Gewerkschaftslinken beschloss dies. Auffallend war die Abwesenheit der PCI-Kader.

Die Fahrräder tauchten auf, wir wussten nicht so recht, wem sie gehörten, dann stellten wir fest, dass es sich bei ihnen nicht um Streikbrecher handelte, die Arbeiter hatten nichts weiter getan, als sie vom Ständer zu nehmen. Wir organisierten Staffeln. Ich ging mit einigen Genossen in die Mensen, um den Essenden die neue Form des Kampfes zu erklären. Es war eine sehr junge und kämpferische Gruppe von Genossinnen und Genossen. Wir gingen durch die Mensen, Tisch für Tisch, um die Leute zu sammeln, und sie sagten: “Es wird Zeit! Hat es fünf Monate gedauert, das zu realisieren?”

Dann haben wir das Delegiertengespräch geführt, das heißt, wir haben uns mit unseren Köpfen organisiert, von den Delegierten haben wir die guten behalten, die, die de facto Delegierte waren, die anderen haben sich selbst an den Rand gedrängt, die, die Befehle von den verschiedenen Zentralen entgegennahmen.

Dort sahen wir Delegierte, die Karten spielten, die Arbeiter präsentierten sie uns: “Hier ist unser Delegierter”. Um 9 Uhr morgens kamen die Arbeiter aus den Gießereien, um Informationen zu erfragen. Also benutzten wir die Telefone der Wachleute und trafen uns am Ende der Schicht vor dem Tor O, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Einige Gewerkschaftsbonzen trafen an den Toren ein, und die Arbeiter sagten ihnen, sie sollten gehen und ihre Brandbekämpfung woanders durchführen. 

Ein Gewerkschafter von der PCI sagte, dass die Behörden bereits eingeladen worden seien, die PCI, die PSI, Donat Cattin, für die symbolische Besetzung am 3. April; und wie es aussehen würde, wenn sie die Fabrik nicht symbolisch besetzt fänden. Die Versammlung: der Delegierte der Linken, der von vorhin, sagte, dass dieser Kampf gut läuft, hoffen wir, dass wir die Kraft haben, ihn fortzusetzen, usw. Ich ergreife danach das Wort und sage noch etwas, ich spreche auch über die andere Schicht, dass ich sicher bin, dass sie mitgehen wird und dass die andere Schicht auch organisiert werden sollte, weil sie die gleichen Bedürfnisse hat. Um 9.00 Uhr am Donnerstag schlief ich, ein Genosse rief mich an und sagte, dass das ganze Mirafiori Werk besetzt sei, alle Tore seien bemannt. Um 10.30 Uhr kam ich mit meiner Frau und meinem Kind an, denn auch sie wollte wissen, was eine Besetzung ist, denn zu Hause erzähle ich immer von den Kämpfen, die stattfinden. Mein Sohn ist 6 Jahre alt, wir sind bis vor die Türen gegangen. Da wurde die ganze Zeit die Fahne geschwenkt. Er fragte mich: “Aber wer sind die auf den Dächern mit den Fahnen?” und ich sagte: “Das sind die Arbeiter, sie wollen den Chef schlagen”.

Und er sagte: “Aber der Chef ist nicht da”, und ich sagte: “Sieh mal, der Chef ist nie in den Fabriken, er ist vielleicht gerade in seinem persönlichen Hubschrauber und schaut auf seine Fabrik hinunter, die ihm aus den Händen gleitet”. So trafen wir einen anderen Genossen mit seinem Sohn. Der Moment, in dem der Kampf zu dem euren wird, ist ein Moment der proletarischen Feier, in dem es jedem gelingt, seine eigene Identität zu erlangen, er ist nicht länger ein Rad, er ist eine Reihe von Gehirnen, die sich selbst und andere koordinieren und leiten. Welchen Sinn hätte es sonst, eine Fabrik zu besetzen? Es gab die Streikbrecher, die so sehr von den Fabeln des Meisters durchdrungen waren, dass sie kamen und fragten, ob sie eine schriftliche Erlaubnis bräuchten, um die Fabrik zu verlassen oder wieder einzutreten. Ich habe ihnen gesagt: “Schaut, wir sind hier nicht die Vorarbeiter”, ich habe ihnen erklärt, dass wir die Klassenfeinde direkt treffen, dass wir nicht alle unsere Werkzeuge benutzen, wie es der Chef tut, dass wir aber diejenigen, die in der Fabrik gegen uns sind, sogar ausschließen. 

Beim Schichtwechsel gab es die vielleicht schönste Episode. An den Toren der ‘Carrozzerie’ haben sie beschlossen, den Torblockierern den Wechsel zu überlassen, damit die Blockade während der gesamten Schicht kompakt bleibt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Arbeiter kamen an und sahen all die roten Fahnen, die Arbeiter in Overalls an den Toren und überall auf der Mauer. Kurzum, etwas, das ein bisschen anders ist als sonst. Aber das Aufregendste und das, was einen Eindruck von der Stärke und dem Gewissen der Arbeiter vermittelt, war das ‘Filtern’. Es wurde beschlossen, dass nur die Arbeiter und nicht die Bosse hinein dürfen. Jeder an den Toren sagte: “Heute nur Genossen rein, Kaninchen raus” und so wurde die Blockade auch für die Streikbrecher gemacht. Ihr hättet es sehen sollen: Am Eingang standen überall Genossen, die die Ausweise kontrollierten, und das Tor war angelehnt. So ging einer nach dem anderen hinein und mussten alle das Urteil der kämpfenden Arbeiter über sich ergehen lassen. Die Nachricht verbreitete sich auf dem ganzen Hof, während diejenigen, die an den Toren und auf der Mauer standen, den Toren die Ankunft der Arbeiter, der Bosse oder der bekannteren Kaninchen signalisierten. Es gab keinen Grund zur Gewalt. Wenn der Chef kam, riefen ihm alle im Chor zu: “Raus, raus, wir haben hier heute das Sagen, nur Genossen Arbeiter kommen rein”. Sie lächelten knapp und gingen kopfschüttelnd weg. Es gab einige, die sich lautstark zu Wort melden wollten und losstürmten. Bei den Streikbrechern war das anders, da gab es auch die ‘Volksverhandlung’, und sie erinnerten sie an alles, was sie in fünf Monaten zu unserem Nachteil getan hatten.

Die Hartgesottenen gingen weg, die, die zum Beispiel einmal gestreikt haben und einmal nicht, wurden umgepolt. Es gab all die Kollegen, die sie an all die Vorfälle erinnerten, denn Arbeiter haben ein langes Gedächtnis, manchmal erinnerten sie sie auf grobe Weise. Dann fragten sie ihn, ob er seine Meinung geändert habe, und wenn ja, gaben sie ihm eine Ohrfeige und ließen ihn wieder rein. Daraufhin applaudierten alle auf den Mauern und schwenkten die Fahnen. Ein paar Delegierte murrten und sagten, das sei nicht demokratisch, aber sie wurden übertönt. Und das andere Tolle war, dass alle, die reinkamen, wussten, dass sie zu den Toren gehen mussten und dann zu den Toren kamen, sie kamen bewusst und glücklich mit dem, was sie taten. Es bestand wirklich kein Bedarf an Gewerkschaftern, und ich kann Ihnen versichern, dass niemand sie vermisste.

Dann kam am Nachmittag manchmal einer, aber nicht allzu oft, um herablassende Reden zu halten, dass das Unternehmen größer ist als wir, dass wir vorsichtig sein müssen. Und die Arbeiter sagten zu ihm, indem sie mit den Händen winkten: ‘Aber du hast genau die einzig richtige Einstellung für unseren Kopf’, und lachten.

Am späten Montagabend, dem 2. April, erzielten die Gewerkschaft FLM und Federmeccanica raggiungevano eine Einigung, deren wichtigste Punkte waren: Abschaffung der Kategorien und Qualifikationen durch eine einheitliche Einstufung; Erhöhung des allgemeinen Lohns um 16.000 Lire pro Monat; Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden durch Gewährung eines freien Tages alle acht Arbeitswochen; eine zusätzliche Urlaubswoche; Anerkennung des Rechts auf ein Studium durch eine Vergütung von 150 Stunden.

Obwohl es einige gab, die diesen Vertrag als “Blindgänger” bezeichneten, war es ein guter Vertrag. Der letzte große Sieg der Arbeiter. Mit Gewalt errungen.

Was im Frühjahr 1973 endete, war nicht nur ein Zyklus von Arbeiterkämpfen: Fünf Jahre lang, von 1968 bis 1973, war das Fabrikproletariat nicht nur eine Klasse für sich, sondern eine allgemeine Klasse, die in der Lage war, eine Annäherung breiter sozialer Schichten – von den Studenten bis zu den kleinen und mittleren Angestellten – herbeizuführen und ihre soziale Macht zum Ausdruck zu bringen. In den Städten des Turiner Gürtels oder in den Tälern von Bergamo zählte der Delegierte von Mirafiori oder Breda oder Falck genauso viel und vielleicht mehr als der Bürgermeister, der Pfarrer und der Apotheker.

Angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit, die Arbeiterklasse wieder in die Ordnung und den herrischen Despotismus zu zwingen, bestand die Antwort darin, auf die Arbeiterklasse zu verzichten, indem man gigantische Umstrukturierungsprozesse und Produktionsverlagerungen in Gang setzte.

Heute stehen dort, wo die Fabriken standen, Einkaufszentren, die spöttisch ihre alten Namen beibehalten: Lingotto oder Vulcano in dem Gebiet, in dem einst die gleichnamige Falck-Fabrik in Sesto San Giovanni stand.

Was bleibt von all dem? Vielleicht das Vermächtnis, dass man mit Stärke gewinnt.

Chicco Galmozzi war ein Arbeiter und Militanter bei Lotta Continua. Im Jahr 1974 beteiligte er sich an der Gründung der ‘Kommunistischen Komitees für die Arbeitermacht’ (Comitati comunisti per il potere operaio ), die mit der Zeitung “Senza tregua” (Kein Waffenstillstand) verbunden waren, und 1976 gehörte er zu den Gründern von ‘Prima linea’. Im Mai ’77 verhaftet, erwarb er während seiner zwölfjährigen Haft ein Abitur und einen Universitätsabschluss. Er ist ein faszinierender Erzähler, und ‘DeriveApprodi’ hat auch sein Werk: ‘Figli dell’officina. Da Lotta continua a Prima linea: le origini e la nascita (1973-1976)’ veröffentlicht. 

Der italienische Originaltext der Übersetzung findet sich bei Machina

IST ALLES ALFREDO’S SCHULD?

Sie sagen, es sei unsere Schuld, dass wieder einmal unsere Kinder auf dem Meer gestorben sind, wir hätten sie nicht an Bord des Schiffes lassen und eine lange Reise unter unsicheren Bedingungen riskieren sollen. Wen kümmert es schon, ob sie in Mali, Guinea, Palästina, Afghanistan, Irak, Pakistan, Sri Lanka oder anderswo an Elend, Krankheit oder Krieg gestorben wären?

Es ist unsere Schuld, dass dreizehn von uns im Gefängnis gestorben sind, weil wir uns während eines durch den Schrecken der Covid-Epidemie verursachten Aufstands im März 2020 mit Methadon vollgestopft haben. Was soll’s, wenn die Leichen zerbrochene Zähne und gebrochene Knochen hatten, in aller Eile eingeäschert wurden, weil sie möglicherweise ansteckend waren, und die Untersuchung sofort eingestellt wurde.

Es ist unsere Schuld, dass wir unseren Körper als Waffe benutzt haben, und nach vier Monaten Hungern können wir jetzt nur noch sterben. Aber ist es nicht auch ein langsamer Tod, in einem Zellenblock mit 41bis zu leben, völlig isoliert von der Außenwelt? Müssen wir um jeden Preis leben, vielleicht zwangsbehandelt und zwangsernährt, sediert und ans Bett gefesselt, während in den Gefängnissen andere gerade wegen mangelnder Hygiene, unzureichender medizinischer Versorgung, durch Schläge und Gleichgültigkeit getötet werden?

Es ist unsere Schuld, dass wir nicht geglaubt haben, dass alles gut wird, wenn wir uns drei oder vier Dosen ‘Impfstoff’ spritzen lassen, nur damit wir mit einem ‘Gesundheitspass’ zur Arbeit gehen können. In der Zwischenzeit sind wir in Altersheimen und Krankenhäusern gestorben, und zwar in öffentlichen und nicht in privaten, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, isoliert von unseren Nächsten und Liebsten. Nein, es ist nicht alles gut gegangen, und es ist noch lange nicht vorbei, denn die Produktion von gentechnisch veränderten Seren schreitet unaufhaltsam voran.

Wir sind immer noch schuld daran, dass wir seit fünf Monaten kein Gehalt mehr erhalten haben, weil wir die Abfindungszahlungen abgelehnt und die Fabrik besetzt haben, um die Wiederaufnahme der Produktion für uns und die Region, in der wir leben, zu fordern. Hätten wir stattdessen den Lügen glauben sollen, die sie uns erzählt haben, und einen Rückzieher machen sollen?

Es war unsere Schuld, dass wir von einem Lkw zu Tode gequetscht wurden, wir hätten nicht versuchen sollen, ihn an den Toren des Lagers zu blockieren. Aber hätten wir die zermürbenden Schichten, die Unfälle, die einmonatigen Arbeitsverträge, die ständigen Räubereien bei ohnehin knappen Gehältern weiter hinnehmen sollen?

Auch sind wir schuld an den Schlägen, den Geldstrafen, den Anklagen, den Gerichtsverfahren und dem Gefängnis, weil wir den Nutzen großer Werke wie des TAV nicht verstehen, der in Nullkommanichts eine Orange auf unseren Tisch bringt, nachdem er drei Kontinente bereist und benachbarte Gebiete und ihre Volkswirtschaften unwiederbringlich zerstört und vergiftet hat.

Es ist auch unsere Schuld, wenn wir uns bei all der Propaganda nicht davon überzeugen lassen wollen, dass die Gründe für Kriege in der Bedrohung durch den “Bösewicht” des Tages (Saddam, Bin Laden, Milosevic, Gaddafi, Assad und jetzt Putin) zu suchen sind und dass die Zugehörigkeit zur NATO oder zu den USA unzweifelhaft bedeutet, auf der Seite der “Guten” zu stehen. Genauso wenig können wir glauben, dass jahrzehntelange Sicherheitspolitiken, die eine zunehmend militarisierte und privatisierte Gesellschaft aus der Not der Stunde (Mafia, islamischer Terrorismus, schwarzer Block, Ultras, Einwanderung, Leugner und Raver) aufgebaut haben, unser Leben besser und sicherer gemacht haben.

Wir empfinden diese Fehler nicht, aber es ist sicherlich unsere Verantwortung, die Kräfte aufzubauen, um dem Krieg zu begegnen, den dieser korrupte und mörderische Staat gegen uns führt, um ein System von Privilegien und Elend zu verteidigen, das uns alle rapide in die Katastrophe führt.

Wir haben in den letzten Jahren so viel getan, um Widerstand zu leisten, indem wir den Kampf und die Klassensolidarität am Leben erhalten haben, aber es bedarf noch viel größerer Anstrengungen, um ein so zersplittertes Panorama von Kämpfen zu einer potenziell revolutionären Perspektive zusammenzufügen. Diese Einheit der Kämpfe muss gesucht, aufgebaut und verteidigt werden, Tag für Tag.

Es wird nicht heute sein, und vielleicht nicht einmal morgen, aber mit diesem Geist werden wir an den nächsten Ereignissen des Kampfes teilnehmen, die, um relevant zu sein, die Anwesenheit, das Engagement, die Intelligenz und den Mut eines jeden Einzelnen benötigen.

Am Samstag, den 4. März, werden wir in Turin sein (Piazza Solferino, 16 Uhr), um den Kampf von Alfredo Cospito zu unterstützen, um die äußerst schwierige Arbeit fortzusetzen, das Folterregime von 41 bis und lebenslänglicher Haft und damit die Legitimität eines zunehmend militarisierten und kriegstreiberischen Staates zu zerstören. Ein Weg, der auch bei der Mobilisierung am Sonntag, den 12. März in Modena (Piazza 1 Maggio, 14 Uhr), drei Jahre nach dem Massaker im Sant’Anna-Gefängnis, eine weitere unumgängliche Etappe erfahren wird.

Versammlung der Mailänder Mitbürger gegen das Gefängnis, 41bis, die lebenslängliche Freiheitsstrafe

Der Text wurde im Original am 2. März 2023 auf Il Rovescio veröffentlicht. 

Das “Verhängnis” des Krieges und die Möglichkeiten der Politik

Valerio Romitelli 

Ein Entwurf zu Carl von Clausewitz gestern und heute

1. Was könnte zwei so weit voneinander entfernte Persönlichkeiten wie einen strengen, reaktionären deutschen Juristen, der zwischen den 1920er und 1960er Jahren wirkte und zudem voll in das verheerende nationalsozialistische Unheil verwickelt war, und einen französischen Philosophen miteinander verbinden? Letzterer ein Strukturalist (im Herzen der 1960er Jahre), dann auch ein Poststrukturalist, stolz schwul, aktiv bis zu seinem Tod (1984), mehr oder weniger im Einklang mit den verschiedenen Bewegungen des sozialen Kampfes, die damals in Frankreich, Italien, aber auch anderswo, wie im Iran der antischiitischen Revolution, existierten?

Ich spiele hier auf Carl Schmitt und Michel Foucault an, die nicht nur zu den meistgelesenen und meistkommentierten Autoren von politischer Relevanz seit den 1970er Jahren gehören, vor allem in Italien und vor allem auf der Linken, sondern die sich überraschenderweise in einer entscheidenden strategischen Idee bezüglich der Beziehung zwischen Krieg und Politik einig sind. Beide berufen sich in ihren jeweiligen Werken von gelinde gesagt monumentalen Ausmaß und Nachhall nämlich zufällig auf das archaische Axiom von Carl von Clausewitz:  “Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln” [1] Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass beide bei dieser Gelegenheit, ohne Wissen des anderen, die These aufstellten, dass dieser Ausspruch nur dann gültig bleibt, wenn man ihn umkehrt. Die gemeinsame Schlussfolgerung lautet also, dass die Politik eine Fortsetzung des Krieges ist und nicht umgekehrt [2].

Weit davon entfernt, auf eine rein terminologische Frage oder eine akademische Kuriosität reduziert werden zu können, kann diese Umkehrung der Perspektive stattdessen als ein sehr bedeutsamer problematischer Knotenpunkt vieler Auseinandersetzungen akzeptiert werden, die innerhalb der vielfältigen Galaxie der antikapitalistischen Militanz noch immer im Gange sind; und insbesondere angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen, die um die wachsende Gefahr eines Konflikts in der Dritten Welt entstanden sind, der nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine und der von der NATO im Übermaß gewährten Kriegsunterstützung zu Gunsten der Ukraine an Brisanz gewonnen hat. Die Überlegungen zur Frage der “Fatalität des Krieges”, wie Freud sie nannte, die der Autor in dem in “Machina” veröffentlichten Artikel Per un pacifismo disincantato begonnen hat, werden daher hier fortgesetzt.

Fragen wir uns also, was es bedeutet, im Einklang mit Schmitt und Foucault zu glauben, dass am Ursprung der Politik der Krieg steht und nicht umgekehrt. Um sich im Labyrinth der enormen Literatur zu diesem Thema nicht zu verirren, wollen wir versuchen, einige Punkte zu umreißen. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Umkehrung des alten und legendären Ausspruchs des preußischen Generals, der ein Feind Napoleons war und von den Marxisten so geliebt wird, hat eine ganz klare Absicht: die Infragestellung und Ablehnung jeder positiven und konstruktiven Vision von Politik als einer verbindenden und vereinigenden Tätigkeit. Die von Schmitt und Foucault gepredigte Umkehrung (wenn auch in einem ganz anderen Sinne, wie wir gleich sehen werden) stimmt also zumindest in einem Punkt überein: dass man nichts mehr von einer Politik wissen will, die als eine möglicherweise schöpferische, glückliche, erfinderische Erfahrung verstanden wird, die im Wesentlichen eine Erfahrung des Teilens ist, d.h. mit einer Begrifflichkeit wie Pόlis (Πόλις) aus dem antiken Griechenland übereinstimmt. Sowohl der deutsche Jurist als auch der französische Philosoph betrachten die Politik aber vor allem als einen Schauplatz, der eher verbirgt und mystifiziert als offenbart oder enthüllt. Vor, hinter und in ihr. Diese beiden Autoren sind davon überzeugt, dass es immer einen fundamentalen Gegensatz gibt, der in erster Linie zerstörerische Folgen hat: einen fundamentalen und irreduziblen Gegensatz, wie er im Altgriechischen mit dem Begriff Pólemos (Πόλεμος) ausgedrückt wird. So gesehen wäre alles, was sich als eine auf Vereinigung, Zusammenführung oder kollektive Konvergenz abzielende Erfahrung darstellt, nur eine Art von Nebenerscheinungsform, deren tatsächliche Triebkräfte nichts anderes als Zwistigkeiten, Konflikte, mehr oder weniger latente Kriege wären. Pol/itica leitet sich also nicht so sehr von Pόl/is, sondern von Pól/emos ab.

2. Dennoch bleibt der gravierende Unterschied zwischen Schmitts und Foucaults unterschiedlichem Verständnis von Krieg bzw. Politik zu betonen.

Für den Ersteren machen beide Dimensionen nur Sinn, solange sie auf eine Sphäre der rechtlichen und staatlichen Souveränität zurückgeführt werden können. In der Tat verstand sich der Nationalsozialismus – für den dieser immerhin große Anhänger des Jus Publicum Europaeum (wie er sich selbst nannte) als Soldat endete – stets als der eifrigste Hüter der öffentlichen Institutionen, die er im Namen des Führerprinzips radikal umgestaltete. Und so sehr der Nationalsozialismus gerade als Kriegspartei funktionierte, die sich gegen die ganze Welt erhob, um die perverse Phantasie eines tausendjährigen, von der arischen Rasse beherrschten Reiches zu verfolgen, so sehr war dies möglich, weil die Armee zusammen mit allen Spitzenkräften des deutschen Staates und der Wirtschaft an ihm festhielt. Dementsprechend ist der Krieg im Sinne Schmitts, d.h. als der eigentliche Motor der Politik, als ein mehr oder weniger latenter oder offener Krieg zu verstehen, bei dem es um die Macht geht, über die staatliche Souveränität zu entscheiden. 

Unter den vielen Begriffen, die für Foucault unverdaulich sind, ragt jedoch der der Souveränität heraus. Was ihn an der Macht (d.h. der Macht das Zusammenleben einer Bevölkerung zu kontrollieren) und ihrer Geschichte am meisten interessiert, sind nicht ihre Zentren oder Gipfel, sondern vielmehr ihre allgegenwärtige, sozusagen horizontale und verstreute Diffusion innerhalb der Gesellschaft. Ihr privilegiertes Konzept ist daher dasjenige, das mit dem Neologismus “Gouvernementalität” vorgeschlagen wird. Es handelt sich dabei um einen völlig singulären Begriff, der jedoch eine beträchtliche akademische Anhängerschaft hatte und hat und mit dem man auf die Strategien und Techniken anspielt, die von den modernen westlichen Regierungen entwickelt wurden, um das Alltagsleben der von ihnen kontrollierten Gebiete von innen heraus bis hin zu den offensichtlichsten Sitten und Gewohnheiten zu überwachen und zu verändern. Der Krieg als ein Blickwinkel, als Handlungsrealität oder zumindestens die militärische Disziplinierung in ihren verschiedenen Ausprägungen gehören daher in Foucaults Studien zu den privilegierten Quellen für die Ausarbeitung und Umsetzung dieser “staatlichen” Techniken und Strategien. Techniken und Strategien, die für die Konditionierung von Subjekten und schließlich von Bürgern funktional sind und sich im Laufe der Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein entwickelt haben. Daher ist auch für den französischen Philosophen, wie für Schmitt, jede politische Entscheidung immer offenkundig oder latent durch Kriegsbedingungen determiniert, aber nicht von Führern oder souveränen Zentren vorbereitet (wie für den deutschen Juristen), sondern von Experten im Dienste der herrschenden Mächte ausgearbeitet, die stets darauf bedacht sind, die Vielzahl der ihrem Einfluss unterworfenen Subjekte zu reglementieren. Die Analyse, die Entschlüsselung, das Wissen und die Bekanntmachung dieser Kombination von Macht und Wissen “staatlicher” Art wurde in der Tat zu einem der ersten Ziele der von Foucault durchgeführten Forschungen, die darauf abzielten, die Kämpfe und sozialen Bewegungen, die zwischen den 1960er und 1980er Jahren im Westen existierten, darüber aufzuklären, welches die wirklichen Feinde waren, die es zu bekämpfen galt.

3. Aber bedeutete die Tatsache, dass die vorherrschende Dimension der Macht kriegerischer Natur war, dass auch die Kämpfe, der Widerstand und die sozialen Bewegungen gezwungen waren, das Terrain des Krieges zu akzeptieren und sich somit zu militarisieren? Foucault selbst vermied es, sich ganz explizit zu diesem Thema zu äußern [3], aber es ist bemerkenswert, dass seine größte Aufmerksamkeit für das Thema Krieg 1976 endete, als terroristische Gruppen begannen, in die antikapitalistischen Bewegungen in Italien, aber auch in gewissem Maße in Frankreich Einzug zu halten.

Es ist nicht zu übersehen, dass auch die Wiederentdeckung Schmitts in Italien, aber auch anderswo, in diesen Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Doch während Foucault zu einem Autor wurde, der nicht nur in Universitätskreisen, sondern vor allem in den antikapitalistischen Bewegungen gelesen und diskutiert wurde, war Schmitt wiederum Gegenstand von Reflexionen (und zwar nicht nur im akademischen Bereich) vor allem auch bei den Politikern, die die öffentliche Gewalt ausüben. Dies ging so weit, dass Neologismen wie “Dezisionismus” verwendet wurden, um von einem Staatsstil zu sprechen, der zu Notstandsregelungen, insbesondere gegen den Terrorismus, neigt. Wenn Schmitt in Italien, vor allem dank Trontis berühmtem Autonomia del politico [4], wie nie zuvor zu einer unumgänglichen Referenz auch für die Linke wurde, so ist es vor allem Toni Negri zu verdanken, dass Foucault als privilegierter Autor der antikapitalistischen Bewegungen [5] gefördert wurde.

Diese sehr kurzen Anmerkungen erheben natürlich nicht den Anspruch, einen tieferen Einblick in das Denken von Schmitt und Foucault zu geben, die gleichwohl bedeutende Autoren bleiben. Ihr Werk ist es wert, viel umfassender und komplexer betrachtet zu werden, auch wenn es nur um das hier behandelte Thema geht, das mit diesem simplen Hendiadyoin symbolisiert wird: Politik und Krieg. Das, was über Schmitt und Foucault gesagt wurde, kann jedoch von einigem Nutzen sein, wenn man es mit der Ausgangshypothese vergleicht, die allem zugrunde liegt, was wir hier erörtern: die Annahme von Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik ist und nicht umgekehrt.

Greifen wir also diese Annahme auf und versuchen wir, die Nachteile ihrer Umkehrung zu begreifen.

4. Die offensichtlichste betrifft das Unrecht, das dem “Genie”, wie Marx es ausdrückte, von Clausewitz’ eigenem Werk “Vom Krieg” angetan wird. Ein Werk, das, obwohl es unvollendet bleibt und sich auf der Ebene von nicht immer kohärenten Notizen bewegt, sicherlich ein seltenes Verdienst bewahrt. Das Verdienst, den Krieg als eine ganz spezifische Modalität identifiziert zu haben, die ihn von allen anderen Formen der Gewaltausübung unterscheidet: spontan, individuell oder kollektiv, wie im Fall von sozialen Kämpfen, Klassenkämpfen oder Revolten. Was einen Krieg zu einem solchen macht, ist nach Ansicht des preußischen Generals die Tatsache, dass er organisiert ist: organisiert auf eine besondere Art und Weise, mittels kollektiver Ad-hoc-Figuren, bei denen es sich um mehr oder weniger reguläre Armeen handeln kann, wenn sie von Staaten oder souveränen Institutionen, die mehr oder weniger als solche anerkannt sind, unterstützt werden, oder um offen irreguläre Banden, wie im Fall des spanischen oder südtiroler Guerillakriegs zur Zeit Napoleons, oder auch im Fall der Partisanen in Italien und anderen Ländern, die während des Zweiten Weltkriegs Schauplatz des bewaffneten antifaschistischen Widerstands waren. Die alte Annahme von Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, besagt genau das, was auch heute noch relevant ist: dass der Krieg niemals ein Schicksal ist, das von gegensätzlichen Gefühlen oder Interessen diktiert wird, sondern immer und in jedem Fall ein Phänomen der Gestaltung, eines spezifischen Organisationstyps ist, der durch die politischen Strategien, die von dazu fähigen kollektiven Subjekten beschlossen, gefördert, mobilisiert oder umgekehrt depotisiert, demobilisiert wird.

Diejenigen, die am Ansatz von Schmitt oder Foucault festhalten, sehen in dieser politischen und organisatorischen Dimension des Krieges nichts besonders Relevantes. Und sie werden sagen, dass, sofern es möglich ist, einen Krieg zu organisieren, dieser auf einer grundlegenden Feindseligkeit zwischen zwei oder mehreren Bevölkerungen beruht, die aufgrund ihrer Natur und/oder ihrer Geschichte viel eher dazu neigen, sich gegenseitig zu bekämpfen, als politische Lösungen zu suchen. Ähnliche Argumente tauchen auch heute noch im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf. So argumentieren die Befürworter des von der Zelenski-Regierung organisierten “Widerstands” gegen die russische Invasion immer noch so, als sei die von der Regierung Zelenski geförderte Politik (die in Wirklichkeit der NATO absolut hörig ist) nichts anderes als die unvermeidliche Folge der angeblich angestammten Feindseligkeit des ukrainischen Volkes, das seit jeher als Opfer der traditionellen kolonialen und imperialistischen Gelüste des Kremls betrachtet wird.

Der springende Punkt liegt hier in der dialektischen Beobachtung, die Clausewitz’ Argumentation stets zugrunde lag, dass nämlich die Politik eint, wo der Krieg trennt. Das bedeutet nicht, dass Politik immer gut ist, während der Krieg immer schlecht ist. Es bedeutet vielmehr, dass es ohne eine Politik, die eine organisierte Gruppe von Kämpfern eint, gar nicht möglich ist, sich an einer wirklichen Kriegsführung zu beteiligen, die mit der Waffe in der Hand durchgeführt wird. Ein offensichtliches Beispiel dafür liefern die Geschichten unseres italienischen Widerstands, wenn sie davon berichten, dass das bewaffnete und kampfbereite Überleben der Partisanen immer oder fast immer von ihrem organisierten und politisch kohärenten Zusammenschluss abhing, während isolierte Antifaschisten, egal wie mutig sie im bewaffneten Kampf waren, in der Regel eine leichte Beute für die Republikaner und die Nazis waren (mit der Ausnahme, um es einmal so auszudrücken, der heroischen Figur des von Fenoglio erdachten Partisanen Johnny).

Wenn die Politik dort eint, wo der Krieg trennt, liegt das daran, dass die Feindseligkeit gegenüber dem Feind nur eine von vielen strategischen Möglichkeiten ist, um eine oder mehrere Völker zusammenzuschließen, während für die zweite Option der Hass und die Feindseligkeit gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden die einzige und unvermeidliche Notwendigkeit sind. So wird verständlich, warum der Gedanke, das Clausewitzsche Diktum umzustoßen, wie bei Schmitt und Foucault, ein Symptom für einen ebenso pessimistischen und fatalistischen wie deterministischen Ansatz ist, der die politische Suche nach Alternativen zum Kriegskonflikt vorschnell verachtet und das Wort lieber den Waffen überlässt.

Dies ist ein Symptom, das bereits Ende der 70er Jahre zu beobachten war, als die revolutionären politischen Experimente, die vor und während des schicksalhaften Jahres 1968 ausgelöst worden waren, zu versiegen begannen, während die Versuchungen, sie in vergebliche terroristische Gesten zu verwandeln, zunahmen, und gleichzeitig auf der anderen Seite die Regierungen, vor allem in Italien, aber auch anderswo, eine außerordentlich reaktionäre Politik intensivierten. Es ist kein Zufall, dass gerade in einem solchen historischen Kontext die Idee, das Clausewitz’sche Diktum umzukehren, also den Krieg über die Politik zu stellen, am erfolgreichsten war und auch den Erfolg der Werke von Schmitt und Foucault begünstigte. Natürlich markierte all dies auch die allmähliche Sackgasse jener marxistischen und kommunistischen Position, die in Clausewitz, wörtlich gelesen, ohne Umkehrung, eine entscheidende Inspirationsquelle gesehen hatte.

Zwischen damals und heute ist Zeit vergangen, aber man weiß nicht, wie fruchtbar. Ein Zweifel, der aufkommt, wenn man beobachtet, wie auf der Meinungsebene, sogar auf der Linken, die NATO-Propaganda gute Karten hat, wonach es bei einem Invasionskrieg, wie dem russischen in der Ukraine, keine andere politische Option gibt, als den Krieg zu eskalieren, ohne Rücksicht auf die Aussicht auf eine immense globale Katastrophe, die dadurch offengelegt wird.

Wer sich wie der Autor nie über die Sackgasse gefreut hat, in die die marxistische und kommunistische Tradition geraten ist, muss genau hier wieder ansetzen: indem er Clausewitz wieder auf die Beine stellt, aber auch indem er zugibt, dass sich auch in dieser Tradition die Kämpfe und Politiken der Emanzipation gerade deshalb erschöpft haben, weil auch sie zumeist in den kriegerischen Begriffen der militärischen Konfrontation konzipiert und organisiert wurden.

Doch davon bei anderer Gelegenheit.

Anmerkungen

[1] C. von Clausewitz, Della guerra (Vom Kriege, 1832), übersetzt. A. Bollati – E. Canevari, Mondadori, Mailand 1997.

[2] C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (Erstausgabe 1927), in: Le categorie del politico, hrsg. von G. Miglio – P. Schiera, Il Mulino, Bologna 1973: “Der Krieg ist also nicht Ziel und Zweck oder auch nur Inhalt der Politik, sondern ihre allgegenwärtige Voraussetzung als reale Möglichkeit, die das Denken und Handeln des Menschen in besonderer Weise bestimmt und so ein spezifisches politisches Verhalten hervorruft” (S. 117). M. Foucault, Bisogna difendere la società (Il faut défendre la société, 1997), herausgegeben von M. Bertani – A. Fontana, Feltrinelli, Mailand 2009, das die 1976 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen enthält: “Die Macht ist der Krieg, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Dies ist die Umkehrung der These von Clausewitz und besagt, dass Politik ein mit anderen Mitteln fortgesetzter Krieg ist […]. Politik als Krieg zu definieren, der mit anderen Mitteln fortgesetzt wird, bedeutet, dass Politik die Sanktionierung und Aufrechterhaltung des Ungleichgewichts der Kräfte ist, das sich im Krieg manifestiert” (S. 22-23).

[3] Dabei geht er sogar so weit, kämpferische Anspielungen zu machen wie: “Die Umkehrung des Clausewitz’schen Aphorismus würde bedeuten, dass die endgültige Entscheidung nur im Krieg fallen kann, d.h. in einem Kräftemessen, in dem am Ende nur noch die Waffen zu entscheiden haben. Die letzte Schlacht wäre das Ende des Politischen, das heißt, nur die letzte Schlacht würde die Machtausübung als ständigen Krieg endgültig aufheben” (Foucault, Man muss sich verteidigen, a.a.O., S. 23). Und weiter: “Es genügt nicht, den Krieg als Erklärungsprinzip wiederzuentdecken, sondern es ist notwendig, ihn zu aktivieren. Man muss ihn dazu bringen, die latenten und tauben Formen aufzugeben, in denen er fortbesteht, ohne dass wir uns dessen voll bewusst sind, um ihn zu einer entscheidenden Schlacht zu führen, auf die wir uns vorbereiten müssen, wenn wir siegreich sein wollen” (ebd., S. 231).

[4] M. Tronti, Sull’autonomia del politico, Feltrinelli, Mailand 1977.

[5] Siehe das Interview von E.C. Sànchez, Toni Negri: Marx und Foucault, Dezember 2017, www.euronomade.info.

Der Beitrag wurde auf italienisch am 28. Februar 2023 auf Machina veröffentlicht. Wie häufiger, kochen sofort Widersprüche und Einwürfe bei Übersetzer und Blog hoch, was wiederum die Nützlichkeit der Übersetzung und Veröffentlichung mehr als belegt. Vor allem wenn man sich die erbärmlichen (linken und ‘anarchistischen’) Diskurse hierzulande zu dem Thema anschaut, die sich letztendlich, in Ermangelung jeglicher eigenen Fähigkeit zur materialistischen Analyse, an dem Manifest und der Kundgebung von Schwarzer, Wagenknecht und Co abarbeiten. 

SAMSTAG 4. MÄRZ, TURIN – LANDESWEITE DEMONSTRATION

An der Seite von Alfredo, an der Seite derer, die kämpfen.

16.30 Uhr, Piazza Solferino, Turin.

Das Urteil des Kassationsgerichtshofs vom vergangenen Freitag ist ein Todesurteil: Alfredo Cospito muss im 41bis bleiben und dort sterben. Damit ist wohl das letzte (juristische) Kapitel in dieser berüchtigten und tragischen Angelegenheit abgeschlossen und ein Vorher und ein Nachher zeichnet sich ab. Die Rache des Staates, in ihrer brutalsten und hinterhältigsten Form, ist vollzogen. Mehr als 130 Tage Hungerstreik von Alfredo Cospito, der mit Großherzigkeit und Würde sein ganzes Leben aufs Spiel gesetzt hat, um sich einer repressiven Abscheulichkeit wie dem 41bis und der menschenfeindlichen lebenslangen Haft zu widersetzen. Ein Kampf, der von seinem Körper ausgeht, sich aber auf den gesamten repressiven Kontext Italiens ausdehnt, die Spitze eines Eisbergs, der zu groß geworden ist und aus repressiven Operationen, Zwangsräumungen, Anträgen auf Sonderüberwachung, Massakern in den Gefängnissen und CPR (Abschiebezentren) besteht. Ein frontaler und lang anhaltender Angriff des Staates und seiner Apparate nicht nur gegen die anarchistische Konfliktualität, sondern gegen jede kritische Subjektivität gegenüber der aktuellen Situation und der auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden kapitalistischen Gesellschaft. Eine Kriegserklärung, ohne Wenn und Aber.

Aber auch wenn der Staat einen Krieg führt, haben wir eine Menge hinter und ebenso vor uns: eine einzigartige, monatelange Mobilisierung, die in der Lage ist, die absolute Dringlichkeit einer Kritik an dem 41bis und lebenslanger Haft wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu stellen. Eine Kampagne, die die Grenzen sowohl der anarchistischen Bewegung als auch der allgemeineren Antifa-Bewegung überschritten hat, die in der Lage war, verschiedene Subjektivitäten und politische Praktiken in diesem Land zu verknüpfen, und die uns ein Erbe hinterlässt, das mit Radikalität und Intelligenz weitergeführt werden sollte. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird substanziell über 41bis gesprochen oder zumindest der Versuch unternommen, dies zu tun, über seine totale Unmenschlichkeit und Unsinnigkeit und über die Willkür der Repressionsstrategie des Staates durch sein Strafrecht. Das Vermächtnis dieses Kampfes hängt von uns ab, von unserer Fähigkeit, diese Repressionsspirale zu durchbrechen und die Gelegenheiten für Konfrontationen, Aufstände und Kämpfe zu nutzen, die mit Alfredos Hungerstreik begonnen haben.

Dafür müssen wir bei der nationalen Demonstration am Samstag, den 4. März in Turin dabei sein, wir alle, niemand ist ausgeschlossen. Der Kampf ist hier nicht zu Ende. Für Alfredo, für uns alle.

Übersetzt vom Blog von Radio Blackout.

Verflucht seid ihr

Am Freitag, den 24. Februar, hat der Kassationsgerichtshof das letzte Wort über das Leben von Alfredo Cospito gesprochen. Der Genosse wird nicht aus der 41bis-Haft entlassen, und wenn er nicht einen unwahrscheinlichen Sinneswandel vollzieht, wird er von Feinden umgeben in den Kerkern des Staates sterben. Es wäre heuchlerisch, nicht zuzugeben, dass dies Stunden der Verzweiflung, des stechenden Schmerzes und der unstillbaren Wut sind. Wir würden gerne an deiner Seite sein, Alfredo, mit dir reden, dich berühren, aber wir können dir nicht einmal schreiben. Das ist die Grausamkeit von 41 bis. Das ist die Abscheulichkeit, mit der die erklärten Feinde dieses Staates vernichtet werden, eine Abscheulichkeit, die durch deinen Kampf der ganzen Welt bekannt geworden ist.

Wir haben nie an die Justiz und ihre Rituale geglaubt, weil wir wissen, dass der wahre Kampf bis zum letzten Atemzug auf ganz anderem Boden ausgetragen wurde und wird. Welches Urteil auch immer aus dem Barockpalast, der den Lungotevere überragt, gekommen wäre, es wäre ein politisches gewesen. Das ist keine rhetorische Feststellung, sondern eine banale Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass 41bis die einzige Maßnahme der repressiven Kriegsmaschinerie ist, die direkt vom Justizminister angeordnet wird. Es besteht also kein Zweifel an der Verantwortung für diese Entscheidung: beantragt von der Nationalen Direktion für Mafia- und Terrorismusbekämpfung, angeordnet vom Justizminister der vorherigen Regierung Draghi, Marta Cartabia, bestätigt vom derzeitigen Minister der Regierung Meloni, Carlo Nordio, liegt die Verantwortung für die Maßnahme 41bis gegen Alfredo Cospito beim italienischen Staat in seiner Gesamtheit. Wir weisen daher jeden Versuch zurück, die Verantwortung auf die “faschistische” Regierung zu beschränken, wir weisen jede präventive Absolution, jede Distanzierung, jeden mildernden Umstand zurück. Diese Maßnahme war ein Akt des internen Krieges, der von der vorherigen Regierung der nationalen Einheit ergriffen wurde, während der Staat für den Krieg in der Ukraine mobilisierte. Diese Maßnahme wurde von der jetzigen rechten Regierung bestätigt, die nicht nur in dieser Frage, sondern in allen wesentlichen Fragen in vollständiger Kontinuität mit der sozialen – und Kriegsschlächterpolitik der Vorgängerregierung steht.

Wenn es etwas gibt, was die Mobilisierung dieser Monate erreicht hat, dann war es die reale und nicht fiktive Niederlage der Nationalen Einheit – jenseits von parlamentarischen Possen und Wahlritualen -, die den sozialen Frieden, der das Land zu lange lähmte, durchbrochen und Risse in der öffentlichen Ordnung der bürgerlichen Ruhe hinterlassen hat. Wer heute hofft, sich vor der Wut der Anarchisten schützen zu können, der irrt gewaltig. Ihr seid alle verantwortlich, verdammt noch mal!

Damit soll keineswegs gesagt werden, dass der italienische Staat in dieser Angelegenheit einträchtig und einmütig war. Wir müssen vielmehr etwas über den Verlauf des Prozesses vor dem Kassationsgericht sagen. Die Entscheidung der Scharfrichter von der Piazza Cavour erfolgte unter Umgehung des Antrags des Generalstaatsanwalts, der nach den Riten der bürgerlichen Justiz die Staatsanwaltschaft vertreten sollte und der sich für eine Aufhebung des Urteils vom 19. Dezember, dass die 41bis-Maßnahme bestätigt hatte, ausgesprochen hatte. Dies ist im Allgemeinen ein sehr seltenes Paradoxon, aber im Fall von Alfredo Cospito ist es bereits das zweite Mal in weniger als einem Jahr. Im Juni 2022 erließ der Kassationsgerichtshof nämlich ebenfalls ein Urteil gegen Alfredo und die anderen Genossen, gegen die im Rahmen der so genannten Sibilla-Operation ermittelt wurde, und stellte sich schon damals gegen die Meinung der Generalstaatsanwaltschaft, die sich “zugunsten” der Verdächtigen ausgesprochen hatte. Ein Urteil, das entscheidend dazu beigetragen hat, die 41bis-Regelung selbst zu untermauern, wie immer wieder betont wird.

Ein Paradoxon, das nur offensichtlich ist und das zeigt, wie stark der Druck war, um das heutige Ergebnis zu erreichen, ein Druck, der von der am meisten kriegstreiberischen und der “Manettara“-Philosophie anhängenden Fraktion der Macht ausgeübt wurde. Ein Paradoxon, das uns jedoch mit einer Gewissheit konfrontiert: Ihr seid viel schwächer als ihr denkt. Die Ermordung von Alfredo Cospito wird in diesem Kontext stattfinden. Die herrschende Klasse des Landes hat mit dieser Entscheidung gezeigt, dass sie keine Weitsicht besitzt und nicht in der Lage ist, die Folgen dessen, was sie tut, nicht nur in der unmittelbaren Zukunft, sondern auch in den kommenden Jahren vorauszusehen. Das Klicken der Handschellen, das man im Hintergrund zu hören beginnt, erschreckt uns nicht und zeigt auch die Unfähigkeit der Bürokraten der Unterdrückung, eine langfristige Perspektive einzunehmen.

“Bald werde ich sterben, ich hoffe, dass jemand nach mir den Kampf fortsetzen wird”, soll Alfredo gesagt haben, als er von der Entscheidung der Richter erfuhr. Es besteht kein Zweifel, dass dies geschehen wird. Sie wollten den Genossen zum Schweigen bringen, aber seine Worte, seine Beiträge, seine Geschichte waren noch nie so weit verbreitet. Eine Aussaat, die noch lange Zeit Früchte tragen wird.

Eine Übersetzung des Textes, der am 27. Februar 2023 auf La Nemisi erschien. 

Über die Anarchie der Gegenwart

Giorgio Agamben

Wenn die Anarchie für diejenigen, die über Politik nachdenken wollen, deren wichtigster Fokus oder Fluchtpunkt sie ist, nie an Aktualität verloren hat, so ist sie es heute auch angesichts der ungerechten und grausamen Verfolgung, der ein Anarchist in italienischen Gefängnissen ausgesetzt ist. Von Anarchie auf der Ebene des Rechts zu sprechen, wie man es tun müsste, impliziert jedoch notwendigerweise ein Paradoxon, denn es ist zumindest widersprüchlich zu fordern, dass der Staat das Recht, den Staat zu verweigern, anerkennt, genauso wie man, wenn man das Widerstandsrecht bis zu seinen letzten Konsequenzen durchsetzen will, nicht vernünftigerweise fordern kann, dass die Möglichkeit des Bürgerkriegs rechtlich geschützt wird.

Um die Anarchie heute zu betrachten, muss man sich daher von einer ganz anderen Perspektive aus betrachten und vielmehr die Art und Weise hinterfragen, wie Engels sie sich vorstellte, als er den Anarchisten vorwarf, die Administration durch den Staat abschaffen zu wollen.

In diesem Vorwurf liegt in der Tat ein entscheidendes politisches Problem, das weder die Marxisten noch vielleicht die Anarchisten selbst richtig formuliert haben. Ein Problem, das umso dringlicher ist, als wir heute den Versuch erleben, in parodistischer Weise das zu verwirklichen, was für Engels das erklärte Ziel der Anarchie war, nämlich nicht so sehr die einfache Ablösung des Staates durch die Administration, sondern vielmehr die Identifizierung von Staat und Administration in einer Art Leviathan, der die gutmütige Maske des Administrators annimmt. Das ist es, was Sunstein und Vermeule in einem Buch (Law and Leviathan, Redeeming the Administrative State) theoretisieren, in dem das Regieren, die Ausübung der Regierung, die traditionellen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) überwindet und kontaminiert, indem es im Namen der Administration und nach eigenem Ermessen die Funktionen und Befugnisse ausübt, die ursprünglich die ihren waren.

Was ist Administration? Der Minister, von dem der Begriff abgeleitet ist, ist der Diener oder Helfer im Gegensatz zum Magister, dem Herrn, dem Inhaber der Macht. Das Wort leitet sich von der Wurzel *men ab, was Verkleinerung und Geringfügigkeit bedeutet. Der Minister steht zum Magister wie das minus zum magis, das Weniger zum Mehr, das Kleine zum Großen, das Verkleinerte zum Größeren. Die Idee der Anarchie bestünde, zumindest nach Engels, in dem Versuch, sich einen Minister ohne Magister, einen Diener ohne Herrn vorzustellen. Sicherlich ein interessanter Versuch, denn es kann taktisch vorteilhaft sein, den Diener gegen den Herrn, den Kleinen gegen den Großen auszuspielen und sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der alle Diener sind und niemand ein Magister oder Führer.

Genau das hat Hegel in gewisser Weise getan, indem er in seiner berüchtigten Dialektik aufzeigte, dass der Diener den Herrn letztlich beherrscht. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die beiden Schlüsselfiguren der westlichen Politik auf diese Weise in einer unablässigen Beziehung zueinander stehen, der man unmöglich ein für alle Mal auf den Grund gehen kann.

Eine radikale Idee der Anarchie kann daher nicht anders, als sich aus der unaufhörlichen Dialektik von Diener und Sklave, von Minister und Magister zu lösen, um sich entschlossen in die Bresche zu werfen, die sie trennt. Das Tertium, das in dieser Lücke auftaucht, wird weder Administration noch Staat, weder Minus noch Magis sein: Es wird vielmehr als eine Restgröße zwischen ihnen stehen und ihre Unmöglichkeit ausdrücken, zusammenzukommen.

Anarchie ist also in erster Linie die radikale Verleugnung nicht so sehr des Staates und auch nicht nur der Administration, sondern vielmehr des Anspruchs der Macht, Staat und Administration in der Regierung der Menschen zur Überlappung zu bringen. Gegen diesen Anspruch kämpft der Anarchist, letztlich im Namen des Unregierbaren, das der Fluchtpunkt jeder Gemeinschaft unter den Menschen ist.

Dieser Text erschien im italienischen Original am 27. Februar 2023 auf Quodlibet.

DER GESCHICHTE IN DEN NACKEN BEISSEN!

Einige Überlegungen zur Bewegung gegen die Rentenreform

Über die Bewegung gegen die Rentenreform ist bereits viel gesagt worden. Eine Woche vor dem Schlüsseldatum 7. März in Paris nimmt sich dieser Text vor, von der Situation und nur von der Situation zu sprechen, von ihren Unwägbarkeiten und politischen blinden Flecken aus, bevor er eine Reihe strategischer Ansätze ableitet. Die Traurigkeit, der Feind, unsere Zeit, die Arbeit, die Revolution. Einen Schritt zurücktreten, nur um genügend Schwung zu bekommen. Und wenn die Kluft zwischen dem, was die Bewegung ist, und dem, was sie sein sollte, auf die kollektive Schwierigkeit zurückzuführen ist, in sie das zu projizieren, was heute politisch am dringendsten ist? Können wir noch länger warten, bevor wir die Fragen stellen, die unsere sind?

Die einzig vernünftige Idee ist die Revolution. Die oberste Priorität besteht heute darin, wieder von Revolution sprechen zu können, sie hörbar, sprechbar und durchführbar zu machen. Warum gelingt uns das nicht?

DIE GRENZEN DES FADO

Die Bewegung rund um die Renten kreist um den heißen Brei, weil eine ganze politische Generation um den heißen Brei kreist, an sich selbst vorüberzieht. Wir drehen uns im Kreis, trampeln im infra-politischen Bereich und verpassen ganz nebenbei unsere Schicksale. Wir kennen noch Freude und Rausch, aber dass sie der vergangenen Welt zuzuschreiben sind, löst sie sofort in Melancholie auf. Im Gegensatz dazu ist die Freude in ihrem lebendigsten Zustand wie eine Anzahlung, die von der Zukunft geleistet wird. UND ENTGEGEN ALLER ERWARTUNGEN HAT MAN EINE ZUKUNFT: WENN MAN DIESE WELT, DIE KEINE ZUKUNFT HAT, ABLEHNT. In der schwer ergründlichen Melancholie des Westens, im zeitgenössischen Soundtrack, vibriert das, was Fernando Pessoa im Fado hörte: “Es ist die Müdigkeit der kraftvollen Seele, der verächtliche Blick auf den Gott, an den wir geglaubt haben und der auch uns verlassen hat.” Dieser Gott ist im enttäuschten Portugal von damals wie im enttäuschten Frankreich von heute die Zivilisation. Und unsere große Müdigkeit, selbst wenn sie ihrer selbst überdrüssig ist, ist immer nur die späteste Form der Hingabe, die man ihr entgegenbringt. Es ist höchste Zeit, der Religion der Konquistadoren den Wind aus den Segeln zu nehmen.

DIE IDEE DER REVOLUTION HAT SICH VERÄNDERT

Es ist nicht mehr die Revolution der Arbeit und der Arbeiter, die seinerzeit die bürgerliche Revolution stürzte. Der Feind ist immer noch da, aber es ist nicht mehr derselbe: Den Kapitalismus zu verunglimpfen klingt hohl, es fehlt das Wesentliche. “Der Kapitalismus und seine Welt”? Das ist immer noch verschwommen, vage, nebulös. Die Welt des Kapitalismus, aller Herrschaft, der Zerstörung der Natur, die sehr zeitgenössische, die sehr uralte Welt der Arbeit, der Identifikation, des Funktionierens, der Verwertung und der Kontrolle ist die ZIVILISATION. Im Gegensatz zu der Erfolgsgeschichte, die jedem kleinen Zivilisierten zum Einschlafen erzählt wird, ist die Zivilisation weder eine besondere Kultur noch eine historische Periode, die anderen überlegen ist, sondern nur die politische Logik, die sich durchgesetzt hat. Von daher bezeichnet Revolution nicht die Produktion einer besseren Gesellschaft, sondern das, was die hartnäckige Bewegung, sich der Produktion von Gesellschaft zu entziehen, freisetzt. Es geht nicht mehr darum, eine bestimmte Institution abzuschaffen. Es geht darum, die Logik der Institution selbst zu bekämpfen, die Umwandlung eines beliebigen Themas in einen Sektor der Gesellschaft und die damit einhergehende Steuerung: das Regieren, und zwar in einem stärkeren und zugleich erweiterten Sinn als dem gewöhnlichen.

Die Regierung bezieht sich weder auf die Amtszeit von soundso, noch auf die Nummerierung der Republik, noch auf einen Verwaltungsrat. Als eine Art strategischer Block mit variabler Geometrie ist sie nicht mehr und nicht weniger als die Verwaltung des institutionellen Portfolios in Echtzeit. Das Zentrum ist weder einzigartig noch starr (es gibt keinen “tiefen Staat”), und die Verzweigungen sind unendlich, zu denen auch die gewöhnliche Denunziation und die Wachsamkeit der Bürger zählen. Das Regieren hat die entfremdeten Sektoren als Grundlage und Ziel und besteht darin, die Ordnung, die Verteilung der Lasten, die Personalverteilung und die Logistik zu regeln. Auch wenn es durchaus Entscheidungen gibt – die Politik der massenhaften Einperrrungen im Lockdown ist das beste Beispiel dafür -, impliziert dies keineswegs einen einheitlichen, geordneten und kohärenten Regierungsapparat, sondern vielmehr ein permanentes Kräfteverhältnis zwischen den Akteuren (Staaten, Großkonzernen, technologischen Dispositiven …), zwischen Kampf um die Vormachtstellung und interessierter Verständigung.

Nein, die Revolution hat nicht das Ziel, das Leben zu regieren, sondern jede Regierung zu zerstören. Genau in diesem Geist, mit den Mitteln, die sie für sich entdeckt (und nicht nur irgendwelche), muss man überall das demokratische Monopol angreifen, das nichts anderes als die moderne Regierungspolitik ist. Um es ganz klar zu sagen: Wir müssen es aufgeben, den Umkehrpunkt in einer Neuinterpretation der demokratischen Idee zu suchen, so wie wir es eines Tages aufgeben mussten, ihn aus der Heiligen Schrift zu ziehen. Die Demokratie ist zwar ein Vorwand für alle möglichen Hybridisierungen (heilige Kühe und vernetzte Städte in Indien, Neoliberalismus und Islam in der Türkei, Selbstverherrlichung und Polarisierung in Frankreich), aber sie ist kein inkonsistentes Modell. Vielmehr bezieht sie ihre einzige Kohärenz aus ihrer konterrevolutionären Bestimmung – die genau die heute so massive Überschneidung von Liberalismus und Autoritarismus ist. Sowohl das iranische als auch das französische Regime wollen das Scheitern der iranischen Revolution, sie unterscheiden sich nur in den Mitteln, mit denen sie dieses Ziel erreichen wollen. Die demokratische Hegemonie, ihre Beschlagnahmung der Politik, fasst allein die revolutionäre Sackgasse unserer Zeit zusammen. Denn sie begnügt sich nicht damit, jede einigermaßen konsequente radikale Opposition von außen anzugreifen (Repression), sondern greift sie auch von innen an, indem sie ihre spiegelbildlichen Entscheidungen aufzwingt. Sie verurteilt sie entweder dazu, die demokratische Logik zu überbieten, royalistischer als der König zu sein (indem sie die “wahre” der “falschen” Demokratie gegenüberstellt), oder sich einer autoritären Logik hinzugeben (vom Dschihadismus bis zur strafenden Ökologie und den tausend und einer Variante der “Stal” Organisation). Ein Aufstand muss die ständige Erpressung, die psychologische Kriegsführung, ignorieren, die der Feind ihm gegenüber betreibt. Aber wie kann er den Leerlauf vermeiden? Sein politischer Sieg liegt in der Art und Weise, wie sein Antidemokratismus sich um jeden Preis in der Verneinung jeglicher Regierung verankert.

UNSERE ZEIT

Wie ist die allgemeine Lage? Was sind die neuen Bedingungen für politisches Handeln? Wo stehen wir?

1. Wenn die revolutionäre Option ins Stocken geraten zu sein scheint, liegt das daran, dass wir uns am Schnittpunkt zweier narrativer Bögen befinden, die sich beide in einem Moment niedriger Intensität befinden, der eine durch Niedergang, der andere durch Unreife. Der ältere entspricht grob dem marxistischen Zeitalter, der neugeborene der destituierenden Möglichkeit. Wenn Letzterer ein erstes Wort spricht, wird er von bösen Feen als “Avantgarde” bezeichnet.

2. Die Epoche an sich führt nicht zur Revolution. Aber wenn ihrer Möglichkeit nichts Automatisches anhaftet, gibt es keine Fatalität, die sie verbietet, weder in der “politischen Sequenz” (welche genau?) noch bei den “Menschen”. Es ist immer gut, sich daran zu erinnern. Es ist erstaunlich, wie alle, die kapitulieren, es nicht versäumen, sich auf die Tatsache zu berufen, dass “die Menschen sich nicht bewegen, weich, amorph, gefügig, in Bequemlichkeit verfallen sind”. Es geht nicht darum, zu hoffen, sondern eine Möglichkeit zu erkennen und sie nicht aufzugeben. Wie man sie erkennt, aufspürt, denkt, übersetzt, in Bewegung setzt, wie man sie lebt: Das ist die Frage.

3. Fast überall auf dem Globus wird die Möglichkeit des Aufstandes durch Tatsachen bewiesen. Und was ist letztlich eine Revolution anderes als der Aufstand, den man will? Dennoch ist die Schwelle, die es zu überschreiten gilt, gewaltig: Keine faktische Beweisführung reicht aus, sondern es muss eine neue Politisierung bewaffnet werden. Daran mangelt es im Allgemeinen (Gelbwesten, BLM, Hongkong, Iran…).

4. Es stimmt zwar, dass die feindliche Welt wie der Frosch in der Fabel ständig Anstrengungen unternimmt, um sich extrem auszudehnen, aber sie ist nicht die ganze Welt. Es ist immer gut, sich daran zu erinnern. Sie ist vielleicht massereicher, als man sich vorstellen konnte, aber sie ist keine konturlose Ansammlung von Nebelschwaden. In jeder Situation manifestiert sich die Regierung (in Taten, Worten, Offensichtlichkeit, Gewalt), und jedes Mal kann man ihrem Vormarsch entgegenwirken, fühlen, wollen, etwas anderes tun – oder sich für die Kapitulation entscheiden.

5. Die Regierung behauptet sich als eine Kraft der Besatzung, der Unterwerfung und der Kolonisierung. Analog zu den Beispielen, die uns die Geschichte liefert, ist sie nicht mit ihnen identisch und wird nicht immer auf die gleiche Weise bekämpft. Es geht darum, wieder zu lernen, die politischen Hebel in der Situation zu erkennen. Aber nur weil der Feind überall ist, heißt das nicht, dass wir nirgendwo anfangen müssen. Vielmehr befreit es von der Möglichkeit, überall anzufangen, während es die Versuchung der Selbstgenügsamkeit, des Rückzugs auf ein separates Territorium, eine Hypothese oder ein Gemeinsames vergeblich macht.

6. Der Feind ist anonym, weil dies das Merkmal jeder politischen Position ist, und nicht, weil er unantastbar wäre. Einerseits übertrifft die Position des Feindes die Positionen sämtlicher seiner menschlichen und materiellen Agenten, andererseits würde sie sich auf eine reine Hypothese reduzieren ohne Entscheidungen und Parteinahmen, die diese aktivieren, stützen und reaktivieren. Wir müssen unsere Einstellungen ändern, mehr noch als unsere Lebensweise. Die Bewegung um die Rente als Teil des auslaufenden Zyklus zeugt von einer offensichtlichen Schwäche, die bereits eine Ermutigung darstellt, den Tisch umzudrehen.

7. Der Niedergang der marxistischen Hypothese ist auch der Niedergang jedes revolutionären Subjekts, dieser unglücklichen Mischung aus Messianismus und Soziologie. Beginnen wir also mit der Feststellung: Es gibt kein verfügbares Wir, das den Zweck erfüllt. Nur aus dieser Wiedereröffnung heraus kann wieder etwas entstehen.

8. Alle Aufstände richten sich gegen die zentralen Institutionen, die ihnen gegenüberstehen. Ein Schritt weiter und man entdeckt eine gemeinsame Sollbruchstelle: den Hass auf die Institution. Überall durch die Mechanismen der sozialen Anpassung verdrängt, ist dieser Affekt eine Bombe. Der Hass auf die Institution muss entfesselt werden. Aber wie soll das gehen? Zunächst einmal ist es schwierig, den Kern der Bewegung in Ruhe zu lassen, der sie dazu bestimmt, nur ein Instrument der sozialen Reproduktion zu sein.

DEN WIDERSPRUCH AUSTRAGEN

Die Bewegung rund um die Renten hat einen zentralen – und sogar entscheidenden – Widerspruch, auf den einige bereits zu Recht hingewiesen haben: Sie ist labouristisch. Labourismus ist die soziale Unmöglichkeit, aus dem Kontext der Arbeit auszubrechen, die Dominanz ihres unpolitischen Ansatzes. Durch ein gewohntes Paradoxon wird das wirklich Politische an der Arbeit in ihrem offensichtlichen, allgegenwärtigen, kurz: hegemonialen Charakter verborgen. Die “emanzipatorischste” Verteidigung der Arbeit ist von vornherein durch die Tatsache verdorben, dass wir alle mehr oder weniger korrupte Angestellte dieses Modells sind! Der Interessenkonflikt ist planetarisch, anthropologisch! Die sozialen (seinen Platz finden) und wirtschaftlichen (gegen eine Entschädigung an der gemeinsamen Anstrengung teilnehmen) Definitionen lenken von der grundlegenden Operation ab: die Versklavung zu garantieren. Es ist nicht nötig, weiter nach der politischen Bedeutung von Arbeit und Produktion zu suchen. Eine Übertreibung der Partisanen?

Wenn es stimmt, dass moderne Arbeit keine Sklaverei ist, bleibt das Paradigma in beiden Fällen unverändert. Unsere moderne Erziehung bringt uns lediglich dazu, ihrer Andersartigkeit mehr Bedeutung beizumessen als ihrer Identität (eine Tendenz, die sich beim ersten Aufkeimen einer Revolte umkehrt). Alles scheint von einer vorhandenen Fähigkeit abzuhängen, die eigene Lage zu politisieren oder zu entpolitisieren. Wenn ich von einem Tag auf den anderen versklavt werde, werde ich mich nicht darauf beschränken, zu sagen: Das ist mein Platz in der Gesellschaft (“Dieser oder ein anderer…”), das ist mein Beitrag zu den kollektiven Anstrengungen (“Man muss doch seinen Teil als kleiner Kolibri leisten”). Wo in der Sklaverei (rückblickend betrachtet) das Machtverhältnis sofort sichtbar wird, schreibt sich die moderne Arbeit in goldenen Lettern in die große Erzählung der fortschreitenden Menschheit ein. Sie ist eine universelle Notwendigkeit. Man wagt es nicht, sie zu denken, sich die Welt ohne sie vorzustellen, und die Zwänge, die sie mit sich bringt, werden durch eine materielle, symbolische und psychologische Entschädigung, durch einen Gewinn an Sozialisierung ausgeglichen. In der freiesten und demokratischsten Gesellschaft ist er jedoch ein seltsames Bollwerk der Autorität (wagen Sie es, über die Linie des Managements zu diskutieren). Über das Klassenverhältnis hinaus ist Arbeit ein Pflichtverhältnis, nicht mehr und nicht weniger. Man kann nicht wählen, ob man arbeitet, da man gesellschaftlich nicht die Wahl hat, nicht zu arbeiten.

Versklavung garantieren, das Leben regieren, (bis hin zu unserer Wahrnehmung) einfangen, um Wert abzuschöpfen… Sobald man den Denkrahmen erweitert, erscheint die Arbeit nicht mehr als bloßes Überleben, als Anomalie, sondern als Beweis dafür, dass sich nichts grundlegend geändert hat, seit die Geschichte Geschichte ist. Sie ist kein Anachronismus, sondern Kontinuität. Sie ist keine unerklärliche Insel, sondern eine Erklärung der Gesellschaft, der gegenwärtigen Vergangenheit oder der Zukunft. Arbeit ist die Produktion von Gesellschaft, Social Engineering. Wenn die Künstliche Intelligenz einen immer größeren Anteil daran hat, dann deshalb, weil sie in gewisser Weise von Anfang an vorhanden war. Wir müssen nicht erst einen Roboter als Offizier sehen, um uns bewusst zu werden, dass wir das alles nicht verstehen. Wenn Lewis Mumford die Erfindung der Maschine auf den Bau der Pyramiden datiert, stellt er fest, dass die ersten Zahnräder menschlich waren. Man kann es nicht oft genug sagen: Was auf dem Spiel steht, ist ein politisches Verhältnis, und nur wenn man es angreift, kann man die materiellen Konfigurationen, die es vorgibt, auflösen. Es ist im Übrigen nicht besonders mysteriös.

Das Mantra von der Notwendigkeit der Arbeit – “Man muss arbeiten / man muss leben” -, die klebrige Symbiose von Leben und Arbeit, verhüllt die instrumentelle Beziehung zur Natur wie ein heiliger Schleier. Das gesamte Produktionssystem beruht auf der Autonomisierung der menschlichen Sphäre, die alles andere so behandelt, wie es ihr gefällt. Wir leben heute mitten in den Folgen dieser Reduzierung des Nichtmenschlichen auf “alles andere”. Letztendlich findet sich der Mensch in einer doppelten historischen Mission gefesselt. Auf der einen Seite die instrumentelle Beziehung als politische Grundlage aufrechtzuerhalten, als Produzent zu leben, an einer abwegigen Form der Subjektivität teilzuhaben, nämlich der des Zahnrads, des Subjekt-Objekts. Auf der anderen Seite soll die menschliche Vorherrschaft gesichert werden: den “Menschen” produzieren. James Baldwin: “Ich traf [meine Freunde], (…) verloren und unfähig zu sagen, was sie unterdrückte, außer dass sie wussten, dass es “der Mann” war, der weiße Mann. Und es gab scheinbar keinen Weg auf der Welt, diese Wolke zu vertreiben, die zwischen ihnen und der Sonne, zwischen ihnen und der Liebe und dem Leben und der Stärke, zwischen ihnen und dem, was sie wollten, was auch immer das war, platziert war.” [2].

Um den Menschen zu produzieren, diesen zunächst leeren, Angst einflößenden Signifikanten, um ihn zur Achse der Welt zu machen, muss man ein ganzes, wohlbekanntes Spiel von Oppositionen durchlaufen: Man produziert/trennt seine Gegenfiguren, seine Nutznießer, seine Untergebenen, seine Repoussoirs – Schwarze, Frauen, Arme, Kinder, Barbaren, Homosexuelle, Transgender, Behinderte – schließlich all jene, die man sich anschickt, für seine alleinige Erhöhung unterwerfen zu wollen. Die Herstellung des Menschen läuft auf die Erfindung der Herrschaft hinaus. Das ist die Religion der Aufklärung mit ihrem Versprechen der Emanzipation. Die Revolution ist nicht mehr die des Humanismus.

Im Gegensatz zum veralteten Begriff der “Konsumgesellschaft” gibt die Gleichung Gesellschaft = Produktion endlich einen vollständigen Überblick über das, was es zu zerstören gilt. Man will sich nicht länger weder zum Komplizen noch zum Opfer des Zivilisationswerks machen. Der Produzent ist gleichzeitig der universelle Aneigner, der Vektor der Herrschaft, der Zerstörer von Bedeutungen und der Objekt-Mensch (der Extraktivismus untergräbt in erster Linie den Menschen). In den unendlich vielen Sphären sozialer Aktivität ist der Arbeitsplatz jedes Mal derselbe: die Institution, mit anderen Worten, überall dort, wo der Rahmen der Praxis aufgezwungen wird, wo die Bedeutung dessen, was man tut, konfisziert wird. Die Logik der Institution verschmutzt jede noch so kleine Frage, die sich im Leben, im Einzelnen wie im Kollektiv, stellen kann. Ihre Ablehnung wirft uns mit einem Schlag in eine explosive Vorstellung von Politik. Es ist ein bisschen spät, von der Abschaffung der Unternehmerschaft zu sprechen, wenn jeder zur N+1 von jedem wird. Wir wollen nicht, dass eine Klasse eine andere stürzt, sondern die Klassenherrschaft und mit ihr alle anderen zerstören. Wir wollen nicht, dass die Welt ihre Basis verändert, wir wollen die Pyramide zerstören. Wir wollen nicht nur aus der kleinen, undankbaren Rolle, die uns heute zufällt, herauskommen, wir wollen auf einen Schlag alle Posten verlassen und nennen das richtige Tempo für ihre Zerstörung Strategie!

STRATEGISCHER MERKZETTEL 

“Nein, aber haben Sie gesehen, wie teuer ein Molotowcocktail ist?” So weit die Bewegung um die Renten auch vom Ziel entfernt ist, ein Aufstand bleibt auf der Tagesordnung. Was unterscheidet ihn von einer sozialen Bewegung? Der Wille, gefährlich zu werden. Die Fähigkeit zu nehmen statt zu betteln. Zu wissen, was man will, anstatt darauf zu warten, dass man es gelehrt bekommt. Wenn man sich mit der Bewegung in ihrem Zustand, mit der am besten passenden Tagesordnung arrangiert, ist man bereits bereit, um Erlaubnis zu bitten. Im Grunde geht es heute wieder und wieder um die Gelbwesten, die Gründe für das Scheitern, die Erinnerung an die Stärke, die Lektionen, über die man nachgedacht hat und die man sich eingeprägt hat. Hier die allgemeinste: Man sollte nicht von dem ausgehen, was da ist, sondern von dem, was fehlt. Man könnte genauso gut die Liste der Grundzutaten für einen Aufstand vor Augen haben, die verschiedenen Möglichkeiten, den Wolf wieder in den Schafstall zu bringen.

1. “Frankreich zum Stillstand bringen”. Alles ist eine Frage der Definition. Wenn der Streik ein Mittel zum Zählen von Vieh ist, nein. [3]

Wenn das Projekt darin besteht, die Produktion Frankreichs einzustellen, dann ist das etwas anderes. Das ist der Anfang und das ultimative Ziel! Im Zentrum stehen nicht mehr die Arbeiter, sondern der Wille, das Spiel nicht mehr mitzuspielen. Eine gewaltige Frage, die niemandem gehört, unendliche Dynamik: Wie und in welchem Tempo soll alles gestoppt werden? Wie man sich auf der Grundlage der Abschaffung der Gesellschaftsordnung organisieren kann.

2. Einsatz von politischer Gewalt. Die Generation an der Macht weiß, dass sie die letzte in einer langen Reihe von Petrodemokraten ist, und will dies bis zum Ende ausnutzen. Selbst große Reformisten sind sich einig, dass sich die Dinge nicht mit pazifistischen Mitteln bewegen werden (beim nächsten Tsunami wird man sich an das “vor allem keine Wellen” einiger Leute erinnern). Welches Kräfteverhältnis auf der Straße? Wie kann man die Initiative behalten? Wie kann man die gewerkschaftlich-polizeilichen Techniken zur Eindämmung der praktischen Wut entkräften? Diese Fragen stellen sich seit 2016, seit 2006 und so weiter. Hat das Lager der Krawallmacher ein kurzes Gedächtnis? Es ist so, dass eine Praxis nicht ausreicht, um ein Lager zu bilden. Zweitens spielt es keine Rolle, wie jung jemand ist: Das Gedächtnis gehört denjenigen, die sich zum Handeln bereit erklären. Sie entwickeln Reflexe, die aus einer Geschichte stammen, die sie nicht kennen. Wenn man die Möglichkeit einer neuen revolutionären Generation ernst nimmt, erhält der Kampf auf der Straße die Bedeutung, die ihm zukommt: nie ausreichend, immer notwendig. Wir wissen, dass ein guter Zug zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich war, dass er sogar zur Gewohnheit wurde, und die revisionistischen Diskurse rutschen an uns ab. Im Allgemeinen sollten wir uns weiterhin von vergangenen Ereignissen erzählen, denn sie verstärken das, was uns am meisten interessiert und anspornt: die gegenwärtige Gelegenheit. Vielleicht finden wir darin die Energie, uns das zurückzuholen, was uns jeden Tag genommen wird: unsere Erfahrung, die Fähigkeit, eine Geschichte zu haben. Was am meisten zählt, ist beim cortège de tête und seinem Auftauchen im Jahr 2016 die Kontinuität zwischen dem grundlegenden Impuls und der wiederholten Praxis. Aus einer Mischung aus Langeweile, Stolz, Abscheu vor dem allgemeinen Gewerkschaftsmodus und Kribbeln in den Beinen überkam uns die Lust, nach vorne zu gehen – die Lust, die Bullen anzugreifen, natürlich. Seitdem ist einiges passiert, darunter unbestreitbare Rückschläge, aber wir glauben nicht an irgendeine unabänderliche Linearität. Wir wollen nur sagen, dass sich alles wieder vereinfacht, wenn der Schwung wieder da ist, wenn die Entschlossenheit einiger weniger und einiger anderer da ist. Um auf die aktuelle Situation zurückzukommen: Wie kann man politisch einen Demonstrationszug gegen die Arbeit vergrößern? Wie kann die Repression, die auf alle Besetzungsversuche niederprasselt, endlich angemessen bekämpft werden?

3. Hauptquartiere für die Bewegung. Wenn es noch eines Beweises für die strategische Notwendigkeit bedürfte, würde ihre systematische Unterdrückung ausreichen (Condorcet und Tolbiac in Paris, Maison du peuple in Rennes…). Politik ist eine Sache der Präsenz. Das ist die Lektion der Kreisverkehre und auch die des Einschließens während des Lockdowns. Wenn das Herz der Bewegung zur einen oder anderen E-Mail-Plattform wird, verwandelt sie sich in eine Tele-Bewegung. Umgekehrt, wenn man irgendwo drei Tage lang besetzt, können entscheidende Verbindungen geknüpft, unaufhaltsame Dynamiken in Gang gesetzt und gefährliche Ideen verbreitet werden. Es kommt also zu einer ersten großen Schlacht um einen zentralen Ort. Die Spaltung, insbesondere zwischen “Arbeitern und Studenten”, muss um jeden Preis durchbrochen werden. Das geht nicht über die Konvergenz der Kämpfe, sondern über die Abkopplung der einen und der anderen: Geschmack an der Überraschung, Parteinahme für das Ereignis, Weigerung, sich am Zugang einschüchtern zu lassen (ein Vorteil der besetzten Plätze: niemand am Eingang). Es ist keine Selbstverleugnung, wenn man über seine soziale Identität lacht, da man sich über alle lustig macht. Im Gegenteil, der Aktivist, der den Aktivisten spielt, wird schnell von Selbsthass befallen und beklagt öffentlich, dass er jeden Tag die gleichen Gesichter sieht.

4. Kunst der Entscheidungsfindung. Gemeinsam die Situation bewältigen. Nichts ist kollektiv galvanisierender als die Praxis der Entscheidung. Nichts ist schwächender, als daran gehindert oder davon abgelenkt zu werden. Ein Motto: Bedeutung vor allem anderen. Während der GJ spielte die Versammlung der Versammlungen eine aufstandsbekämpfende Rolle. Man hätte den ursprünglichen Geist, seine Entschlossenheit ohne Phrasen, nicht besser verraten können. Es muss gesagt werden, dass der Hass auf die Politik gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche der GJ ist. Auf der Grundlage der Überschreitungen in den ersten Wochen hätte sich eine andere Idee von Politik einen Platz erobern können. Stattdessen kam es zu einer Rückkehr der linken Protokolle. Heute sind die alten Politiker überall anzutreffen und verleihen allem den Anschein einer Restauration. Die Studentengewerkschaft, die Studentengewerkschaft der Redewendungen, der Tribünen, der ungenierten Manipulation, des “nur die Versammlung ist souverän”. (Ja, man kann auch ohne Rednerpult sprechen: Es ist weder ein Bordell noch ein Jahrmarkt der Großmäuler, und man hört sich selbst umso besser zu.) Von nun an ist keine Schlichtung mehr möglich: Wir müssen mit jeder autoritären oder antiautoritären Verhaltenssteuerung, jeder Institutionalisierung des Sprechens, und sei sie noch so trendy, brechen. Der Griff nach der Form der Diskussion selbst beeinträchtigt zu offensichtlich den Inhalt. Wenn sich Langeweile in der Versammlung breit macht, ist das nicht in erster Linie ein existenzielles Problem (aufgrund einer vagen situativen Moral), sondern ein politisches Symptom: Das Thema fehlt, und mit ihm jede Aufregung, weil einige es sich zum Beruf gemacht haben, es zu verschleiern. Zum Beispiel, indem sie den entscheidenden Punkt an das Ende der Debatte verlagern. Oder indem sie jede Sprachkraft unter der Frage begraben, wer spricht und wie man ihn identitär verorten kann.

5. Das aufständische Wir fällt nicht vom Himmel. Es wird nicht fantasiert: Es entsteht durch die gemeinsame Prüfung des Widerspruchs. Wenn es manchmal etwas zu entscheiden gibt, dann ist es vielleicht eine Kurve, die wir jetzt nehmen müssen. “Es ist gut, dass wir debattieren und uns streiten, aber wir müssen uns daran erinnern, dass der Feind nicht hier ist”, war auf einer Vollversammlung in Paris 8 zu hören. In einer Bewegung, die auf die Linie der CFDT eingeschworen ist, darf man das bezweifeln. Der Satz war als Ermutigung gedacht, aber er entmutigte etwas. Es entsteht kein aufständisches Wir, solange man nicht mit den Anhängern der Verhandlungen, des Abwartens, des Unionismus oder der dummen Abgrenzung brechen kann. Jüngste Figuren: der mitbestimmte Autonome, der flankierende Ultralinke, der reformistische Radikale.

6. Ein Wort, welches die Macht hat. Auch Wörter sind politische Mächte. “Durch ein Wort ist alles verloren. Durch ein Wort wird alles gerettet”, sagte André Breton. “Die Anrechnung von Studienjahren bei der Rentenberechnung” wird abgelehnt. “Die Rente mit sechzig” ist ein Schiffbruch. Verstehen Sie, das setzt voraus, dass man allem anderen zustimmen muss. Jedes Kalkulations-Wort, jedes Forderungs-Wort stürzt mit dem ganzen Gewicht der Institution auf uns herab. Alles, was dazu berufen ist, das bereits Dagewesene zu verdoppeln, ermüdet nicht nur jeden, sondern ist, wenn man darüber nachdenkt, sogar noch viel heftiger als das. Indem der muffige Slogan im Grundrauschen der Epoche untergeht, trägt er mit dazu bei, etwas zu verschweigen: das, was man jetzt sagen könnte, was man jetzt sagen sollte: WIE MAN DIE ARBEIT NIEDERLEGEN KANN. Die Parolen müssen etwas eröffnen, sich vor uns stellen, das ist das Spiel. Sie sind in der Form der Ablehnung zu formulieren. Es steht uns frei, sie zu verraten, indem wir sie ritualisieren, oder im Gegenteil, sie wortwörtlich nehmen. Die Affirmation ist die Geduld der Ablehnung, nicht ihre Überwindung.

7. Destitution überall. Überall, wo die Bewegung vorankommt, muss sie die institutionelle Logik zerstören, unaufhaltsam werden. Aber wie soll man weiter Boden gewinnen, wenn man keine Ahnung von dem grundlegenden Gegenmittel hat, von dem, was mit dem Rückzug der Arbeitswelt wächst? Wie soll man sonst den Ingenieuren der Politik widerstehen, all den Spezialisten und ihren schlüsselfertigen Gefängnisprojekten? Ein unlösbares Rätsel? Das Gegenteil von Arbeit ist nicht Faulheit, sondern eine andere Art, die Frage nach allem, was man im Leben tut, zu stellen. In jeder Praxis die Probe aufs Exempel machen zu können, was uns antreibt, den irreduziblen Sinn, den wir darin verfolgen, das ist es, was wir wollen. Es gibt keine Versicherungen oder Garantien, nur die Kraft, Probleme anzugehen, die unsere eigenen sind, und die Weigerung, darin einen Luxus zu sehen. Das Institutionelle besteht darin, uns davon abzulenken, indem es alles auf Überlegungen des Funktionierens, der Bewertung, der Kontrolle und der Identifikation zurückführt. Diese Bruchlinie verläuft durch jedes Wesen. “Wenn du die Quelle vergisst, die Gründe, warum du versuchst, Dinge zu tun, wirst du dich auf dem Weg durch das Labyrinth verlieren”, vertraute Nikos Aliagas den Journalisten von France Info am 21. Februar dieses Jahres an. Im nächsten Moment spuckte er die Elemente des gewöhnlichen Katechismus wieder aus: “Der Kult der Arbeit, ja.”

Eine ähnliche Bruchlinie verläuft, so könnte man sagen, bereits durch die Demonstration am 7. März in Paris.

Astronaut at riseup.net

Anmerkungen: 

[1] (fehlt im Text) Siehe dazu im Vorwort der Lundi Matin Redaktion einige bereits in den letzten Wochen veröffentlichte Beiträge, 2 davon sind schon übersetzt auf bonustracks erschienen. 

[2] James Baldwin, Das nächste Mal Feuer.

[3] Im Dezember 2018, in einem Moment, in dem das Zählen von Schafen unbestreitbar keine leichte Aufgabe war, entschied sich die CGT dafür, Frankreich nicht zum Stillstand zu bringen.

Der Beitrag erschien am 27. Februar 2023 auf Lundi Matin

Félix Guattari & die “Molekulare Revolution”: Italien, Deutschland, Frankreich

François Dosse 

1976 war das Baskenland unruhig – zumindest auf der spanischen Seite der Grenze, wo die baskische Separatistenbewegung ETA einen bewaffneten Kampf gegen die Madrider Machthaber führte. Félix Guattari träumte vom Aufbau einer Föderation regionaler Protestbewegungen, die Nebenfronten eröffnen und den Nationalstaat schwächen könnten. Trotz seiner weitreichenden Kontakte gelang es ihm nie, dieses gefährliche Projekt zu verwirklichen, das sich an der Schwelle zwischen demokratischem Kampf und terroristischer Aktion befand. 

Der italienische Mai ’68: 1977

Guattari und seine Freunde badeten jedoch in einem wahren Jungbrunnen unter der italienischen Sonne. Ungefähr ein Jahrzehnt, nachdem sie im Zentrum der Bewegung des Mai ’68 gestanden hatten, standen sie in den Straßen von Bologna und sahen fassungslos zu, wie sich die von ihnen ersehnte molekulare Revolution entwickelte. Es handelte sich um eine Bewegung gegen alle möglichen Apparate, die sich in einer völlig neuen Sprache und mit bis dahin unbekannten Methoden ausdrückte. Im Jahr 1977, als Guattaris Essay Molekulare Revolution erschien, erlebte Italien die Geburt einer Bewegung, die so radikal und gewalttätig war, dass der französische Mai ’68 im Vergleich dazu wie ein isoliertes Ereignis unter Studenten erschien.

Italien befand sich 1977 in einer noch nie dagewesenen Krise. Die wirtschaftlichen Indikatoren waren hoffnungslos. Jeden Monat kollabierte das Land ein bisschen mehr. Zwei Millionen Menschen waren arbeitslos, und die Prognosen der Politiker waren nicht gerade ermutigend. Im Januar 1977 verkündete der Industrieminister selbst als Neujahrswunsch, dass die Arbeitslosigkeit im Februar nur um 600.000 steigen würde. Eine Inflationsrate von 25 Prozent pro Jahr ließ die Lira abstürzen; innerhalb von drei Jahren verlor sie 38,9 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar. Paradoxerweise forderte die breite Protestbewegung, die in einem Land, das die Orientierung und die Arbeitsplätze verlor, ausbrach, keine bessere Verteilung der Arbeitsplätze, Arbeit für alle oder an die steigenden Preise gekoppelte Löhne. Vielmehr wollten die Demonstranten – weit weniger traditionell – die Grundlagen des Systems schwächen, indem sie die Werte Arbeit, Eigentum, Delegation von Macht und Vertretung frontal angriffen.

Die wirtschaftliche und soziale Krise war weit verbreitet, aber die politische Maschinerie selbst war lahmgelegt. Der Regierung Andreotti fehlte jegliche Orientierung. Die große und sehr einflussreiche alternative Kraft, die Kommunistische Partei Italiens (PCI) unter Berlinguer, forderte lediglich einen nationalen Sanierungsplan, eine zivile Ordnung und die Akzeptanz von Sparmaßnahmen. Im Namen eines notwendigen “historischen Kompromisses” wurde die PCI zu einer Pro-Regierungspartei. Die italienischen Kommunisten hatten sich damals vom großen sowjetischen Bruder abgewandt und einen marktwirtschaftlichen Flügel gebildet, der eine Art “Euro-Kommunismus” favorisierte. Gleichzeitig hatten ihre Ausrichtung auf die italienischen Machthaber und die Suche nach einem Bündnis mit einer so gefährdeten Partei wie den Christdemokraten dramatische Auswirkungen. Die große Masse der Randgruppen, die von der Krise hart getroffen und aller Hoffnungen beraubt waren, hatte keinen Ausweg mehr vor Augen.

Dieser Stillstand nährte radikale Reaktionen, spontane Ausbrüche und gewalttätige Auseinandersetzungen. Während die Mai 68-Bewegung letztlich in der alten marxistisch-leninistischen Sprache sprach, sei es in ihrem trotzkistischen oder maoistischen Dialekt, suchte der italienische Dissens ein Jahrzehnt später nach neuer Inspiration. Eine ganze Reihe linksextremer italienischer Strömungen fand in den Thesen von Deleuze und Guattari eine neue Sprache, insbesondere in der italienischen Übersetzung von Anti-Ödipus von 1975 und dem Begriff der “Wunschmaschinen”. Die Jahrzehnte der wirtschaftlichen Prosperität der Nachkriegszeit waren nur noch eine blasse Erinnerung, und die Studenten hatten nicht die geringste Hoffnung, dass ihre Abschlüsse etwas wert sein würden. Weil es keine Zukunft gab, entwickelten alternative und autonome Strömungen die Idee, das Leben selbst zu verändern. Sie wollten an Ort und Stelle neue, selbstverwaltete Räume und Gemeinschaften erfinden, die dazu neigen, das Individuum in offenen, kollektiven Milieus zu befreien. Im Vergleich zu 1968 schien sich ein Generationswechsel anzubahnen.

Die Radikalität der Konflikte wurde durch ein weiteres Element der italienischen Situation verstärkt: das Fortbestehen einer faschistischen Partei, des MSI, der sich nicht nur auf aktive Truppen stützen konnte, sondern auch über ein gleichgesinntes Netzwerk auf der höchsten Ebene des Staatsapparats verfügte, das in der Lage war, Hilfstruppen einzusetzen, um jeden Hauch von sozialem Dissens zu unterdrücken. Zu dieser ohnehin schon explosiven Situation kam noch die Strategie der verzweifelten Christdemokraten hinzu, die hofften, diese faschistische Gewalt zu manipulieren, um die soziale Bewegung einzuschüchtern und eine umfassende Unterdrückung der linksradikalen Bewegungen zu rechtfertigen. Die Faschisten würden wiederholt Bombenanschläge verüben; die Polizei würde die Aktivisten der extremen Linken dafür verantwortlich machen und dann öffentliche Anklagen und Verurteilungen durchführen. Die KPI, die dieser Entwicklung wohlwollend zusah, freute sich über die Unterdrückung ihrer Rivalen.

Am 12. Dezember 1969 explodierte auf der Piazza Fontana in Mailand eine Bombe, die sechzehn Menschen tötete und achtzig verletzte. Für Isabelle Sommier war dies ein “Urtrauma”. Am nächsten Tag verhaftete die Polizei siebenundzwanzig Aktivisten der extremen Linken. Es folgten weitere Terroranschläge: am 22. Juli 1970 entgleiste ein Zug (sechs Tote und fünfzig Verletzte), in Brescia detonierte eine Bombe während einer antifaschistischen Demonstration (acht Tote und vierundneunzig Verletzte), und am 4. August 1974 explodierte eine Bombe in einem Zug (zwölf Tote und 105 Verletzte). Diese “Strategie der Spannung” nahm in den 1970er Jahren weiter zu – und damit auch die Zahl der Opfer. Der Skandal um die P2-Loge wird aufgedeckt und offenbart der Öffentlichkeit den hohen Grad der faschistischen Unterwanderung in den Schaltstellen der Macht. Die italienischen Staats- und Regierungschefs gingen Kompromisse mit den schlimmsten Feinden der Demokratie ein, und die PCI setzte sich für den “historischen Kompromiss” gegen alle Interessen der Randständigen und Dissidenten aller Couleur, ein. Es blieb nur der Weg der radikalen Opposition. Als Luciano Lama, der Generalsekretär der großen italienischen Gewerkschaftsgruppe CGIL, an der Universität von Rom auftauchte, wurde er kurzerhand hinausgeworfen, was zu Zusammenstößen zwischen Studenten, Polizeikräften und dem PCI-Sicherheitsdienst führte.

Die italienische extreme Linke machte jedoch zwischen 1968 und 1977 eine regelrechte Mutation durch, die sich für einige in einer kreativen Suche und für andere in einem Rückgriff auf den Terrorismus äußerte. Die aus dem Jahr 1968 hervorgegangenen leninistischen Organisationen waren größtenteils aus der politischen Landschaft verschwunden. Aus ihren Trümmern entstand eine Bewegung, die sich für die Autonomie der Arbeitnehmer einsetzte und viele kollektive Bewegungen umfasste, insbesondere einige besonders mächtige aus einigen der größten italienischen Unternehmen – Fiat, Pirelli, Alfa Romeo und Policlinico. Diese Bewegung lehnte die traditionellen Formen der Machtdelegation und des Meinungsbildes ab. Viele Aktivisten aus der aufgelösten Gruppe Potere Operaio nahmen daran teil. Die “Großstadtindianer”, der kreativste Zweig der Bewegung, betonten 1977 die Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den Individuen zu verändern, und griffen das System an, wobei sie Spott und Ironie als ihre Hauptwaffen einsetzten. Sie trafen sich und zogen in Stämmen von “Rothäuten” durch die Großstädte Italiens, kämpften für die Liberalisierung des Drogenhandels und “die Beschlagnahmung leer stehender Gebäude, die Einführung familienfeindlicher Razzien zur Entführung von Minderjährigen, die von ihren Eltern einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, einen Quadratkilometer Grünfläche für jeden Einwohner und die Rückführung aller in Zoos gefangen gehaltenen Tiere in ihre Herkunftsländer”.

Wie schon 1968 brauchten diese Dissidentenbewegungen die Notwendigkeit von Bündnissen zwischen Studenten und Arbeitern nicht zu verkünden. Solche Bündnisse bestanden bereits zwischen Studenten, jungen Arbeitern und den zahlreichen Subproletariern und Arbeitslosen, die sich mit der Entstehung einer Bewegung identifizierten, die ihre Autonomie gegen jede Art von Manipulation in den Vordergrund stellte. Die Aktionen der Arbeiterautonomie vervielfachten sich bis 1977, und viele von ihnen richteten sich in ihren Taten gegen das Gesetz und in ihren Absichten gegen das politische System: Es gab Hausbesetzungen, selbsternannte Kürzungen der Gebühren für öffentliche Dienstleistungen, Enteignungen und Banküberfälle. Das Jahr 1977 erlebte eine Hochkonjunktur für diese Unruhen, mit einem “Anstieg der Eigentumsdelikte um 77,62 % im Vergleich zu 1976”. Jugendliche, Studenten, Arbeiter und Außenseiter bildeten ein junges Proletariat, das das System erschütterte, indem es sofortige Maßnahmen zur Veränderung des Lebens der Ausgestoßenen forderte. Die Spannungen zwischen dieser unkontrollierbaren Bewegung und den verzweifelten Machthabern nahmen weiter zu.

Diese Situation wird durch eine weitere, im Mai ’68 und im Frankreich nach 1968 nicht vorhandene Tatsache verschärft: den Terrorismus, der zunehmend von einigen italienischen ultralinken Organisationen ausgeübt wird. Die 1970 gegründeten Roten Brigaden (BR) profitieren von ihrer Präsenz in den Fabriken, insbesondere im Fiat-Werk von Agnelli in Turin. Im Jahr 1972 spielten sie eine zentrale Rolle bei improvisierten Streiks, die diesen Industriekonzern verunsicherten; anschließend verbreiteten sie Panik unter den Vorarbeitern und nicht streikenden Arbeitern, indem sie die Bewegung des “roten Schals” ins Leben riefen. Später wandte sich die BR dem Terrorismus zu, und ihre Entführungen richteten sich vor allem gegen Richter und Politiker. Außerhalb der BR gehörte zu diesem terroristischen Zweig auch eine 1974 gegründete Organisation, der Proletarischen Bewaffneten Kerne (NAP), in dem sich linksradikale Aktivisten und ehemalige Anhänger des ‘konventionellen’ Kommunismus zusammenschlossen. Diese beiden Organisationen boten den klandestinen bewaffneten Kampf und Terrorismus an. Im Jahr 1977 verging kein Monat ohne Entführungen, Bombenanschläge und Attentate.

Andere wählten den Weg der Kommunikation und des Dialogs und nicht den Weg der Walther P38. Das Ende des Radiomonopols der RAI im Jahr 1976 wurde von einer Vielzahl freier Radiosender genutzt, die den Äther für gegenkulturelle Ausdrucksmöglichkeiten öffneten. Unter den vielen Orten kultureller Agitation sendete Radio Popolare aus Mailand vor einem beeindruckenden Publikum und mit der Fähigkeit, die Menschen auf die Straße zu bringen. Im Dezember 1976 übertrug es live die Unruhen bei der Eröffnung der Mailänder Scala und meldete im März 1977 “den Tod einer Frau, der eine Abtreibung aus medizinischen Gründen verweigert worden war. In den darauffolgenden Minuten gingen fünftausend Frauen auf die Straße.”

Von all diesen gegenkulturellen Radiosendern war Radio Alice, das vom ehemaligen Kopf von Potere Operaio, Franco “Bifo” Berardi, mitgegründet wurde, einer der wichtigsten. Radio Alice wurde von Bologna aus ausgestrahlt, einer Universitätsstadt, die in der Vergangenheit als Vorzeigeobjekt für Kompromisse mit der kommunistischen Gemeinde bekannt war, und hatte eine große, treue und lebhafte Zuhörerschaft. Bifo leistete im Alter von dreiundzwanzig Jahren seinen Militärdienst ab, als er Psychoanalyse und Transversalität entdeckte. Guattaris Überlegungen über die Psychoanalyse und die Art und Weise, wie sie unser Verhältnis zur politischen Sphäre verändern kann, entfachten sein aktivistisches Feuer. Im Vorwort zu einem Buch über den Sender schreibt Guattari: “Radio Alice begibt sich in das Auge des kulturellen Zyklons – es untergräbt die Sprache, veröffentlicht die Zeitschrift A/Traverso – und es stürzt sich auch direkt in die politische Aktivität, die es ‘transversalisieren’ möchte.” 1976 wurde Bifo wegen “Anstiftung zur Rebellion” verhaftet. Radio Alice, so Bifo, “hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Viele Menschen hörten es. In den Fabriken gingen Gruppen von Arbeitern mit Radios in ihre Werkstätten und schalteten Radio Alice ein.” 1977 spitzte sich die Lage jedoch zu.

Am 8. Februar 1977 besetzten Studenten, die gegen die ‘Universitätsreformen’ protestierten, die meisten großen italienischen Universitäten, und Ende des Monats fand in Rom eine nationale Versammlung der Studentenbewegung statt, die zu gewaltsamen Zusammenstößen führte. Am 11. März 1977 wurde ein Aktivist von Lotta Continua, Francesco Lorusso, in Bologna von den Carabinieri ermordet; am nächsten Tag demonstrierten mehr als hunderttausend Menschen auf den Straßen von Rom. Es fielen Schüsse. Die Stadt befand sich im Belagerungszustand. Auch in Bologna war die Situation sehr angespannt. “Im März 1977 gingen wir von der Besetzung zur Schaffung von ‘befreien Zonen’ über. Wir beschlossen, dass ein Teil der Stadt für Polizisten und Faschisten unzugänglich sein sollte, und wir errichteten Barrikaden. Die Polizei schoss und tötete einen Studenten. Die Nachricht vom Tod des Studenten wurde sofort von Radio Alice in Bologna ausgestrahlt, was zu einer Versammlung von einhunderttausend Menschen führte”.

Am 12. März “übernahm die Polizei um 22:25 Uhr die Straße, in der sich Radio Alice befand, eine Gegend, in der bis dahin nichts passiert war. Sie schlossen Bars und Restaurants, feuerten Tränengas ab und stellten sich mit vorgehaltenen Pistolen und kugelsicheren Westen vor ‘diesen gefährlichen Unterschlupf’.” Der Radiosender wurde geschlossen, und die Carabinieri nahmen acht Personen wegen Anstiftung zur Kriminalität und staatsfeindlicher Vereinigung fest, konnten Bifo aber nicht finden. Am nächsten Tag, dem 13. März, wurde Bologna belagert. Dreitausend Carabinieri und Polizisten, die von Panzern unterstützt wurden, besetzten auf Befehl des christdemokratischen Präfekten das Universitätsviertel. Zangheri, der kommunistische Bürgermeister der Stadt, forderte die Ordnungskräfte auf, ein Höchstmaß an Repression auszuüben. “Zwischen dem 11. und 16. März brach in Bologna eine Art Aufstand aus. Das gesamte Stadtzentrum war verbarrikadiert, einige Viertel wurden von Studenten, aber auch von einer großen Anzahl junger Arbeiter besetzt. Eine Waffenkammer wurde geplündert.” Die Beerdigung des ermordeten Studenten führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am 16. März organisierten die Christdemokraten und die PCI gemeinsam einen Protestmarsch von 150.000 Menschen ‘gegen Gewalt’, während 15.000 Studenten durch die Straßen von Bologna zogen. Bei einer Polizeirazzia wurden dreihundert Personen verhaftet. Am 13. Mai erließ der Innenminister die Antiterrorgesetze, nach denen die Hintermänner von Bombenanschlägen zu lebenslanger Haft verurteilt werden sollten.

Bifo flüchtet nach Mailand, dann nach Turin, überquert die französische Grenze und kommt am 30. Mai in Paris an, mit dem brennenden Wunsch, Guattari zu treffen, dessen Texte er so sehr geschätzt hatte. Der Maler Gianmarco Montesano, ein Freund von Bifo, und der Philosoph Toni Negri machen ihn mit Guattari bekannt. Gianmarco Montesano war ein ehemaliger Aktivist von Potere Operaio und hatte von deren Leitung den Auftrag erhalten, die italienische Bewegung zu erweitern und zu europäisieren, indem er Kontakte herstellte, um ein alternatives linkes Netzwerk zu entwickeln. Er war eine Zeit lang in Paris gewesen und hatte während seines Studiums an der ENS Yann Moulier-Boutang kennengelernt, der gerade an seinem Diplom in Sozialwissenschaften arbeitete. Gemeinsam gründeten sie die Gruppe Camarades, die eine Informations- und Analysebroschüre mit dem Titel Matériaux pour l’intervention (Materialien für die Intervention) veröffentlichte. In dieser Gruppe lernte Montesano die Soziologin Danièle Guillerm kennen: “Als ich vorschlug, dass ‘Camarades’ Dinge über die Bewegung in Italien und über Radio Alice übersetzen sollte … schlugen sie mir vor, mit Félix darüber zu sprechen”. Das Ergebnis dieses Treffens war ein Buch über Radio Alice mit einem Vorwort von Félix Guattari.

Zunächst wusste Guattari recht wenig über die italienische Situation, abgesehen von der antipsychiatrischen Bewegung, mit der er eng verbunden war. Auf politischer Ebene war Montesano sein erster Informant. “Meine ersten Begegnungen mit Félix waren völlig eigennützig”. Abgesehen von der primären Motivation, ein effizientes, internationales Aktivistennetzwerk zu schaffen, entwickelte sich zwischen ihnen schnell ein freundschaftliches Verhältnis, und Guattari interessierte sich zunehmend für die italienische Situation. Er empfing Montesano in seinem Haus in der Rue de Condé, einer Adresse, die für Dissidenten und Ausgestoßene jeder Art offen war. Als Bifo, der Montesano gut kannte, in Paris auf der Flucht war, hatte er wenig Mühe, Guattari zu treffen.

Bifo sieht Guattari ab Juni 1977 mehrmals und wird schnell sein Freund. Als er am 7. Juli in Paris das Haus eines Freundes aufsuchte, erwartete ihn die Polizei bereits an der Tür. Er wurde verhaftet und erst im Gefängnis Santé und dann in Fresnes inhaftiert. Guattari und einige Freunde organisierten schnell ein Unterstützungsnetzwerk, um seine Freilassung zu erwirken, und gründeten das ‘Zentrum für Initiativen für neue Freiräume’ (Centre d’Initiatives pour de Nouveaux Espaces Libres, CINEL), dessen Hauptziel es war, die Verteidigung von verfolgten Aktivisten sicherzustellen. Dieses Kollektiv gab eine Zeitschrift heraus, richtete einen Sitz in der Rue de Vaugirard ein und sammelte sofort seine Kräfte, um Bifo zu befreien.

Der Prozess, dessen Ausgang vom Antrag der italienischen Justizbehörden auf Auslieferung Bifos abhing, fand nur wenige Tage nach seiner Verhaftung statt. Obwohl er als Moderator eines freien Radiosenders angeklagt war, wurde er im Auslieferungsantrag als Kopf einer Bande identifiziert, die für eine Entführung in Bologna verantwortlich war. Das Verteidigungsteam aus französischen Anwälten, zu dem auch Kiejman gehörte, konnte die Absurdität der offiziellen Begründung der Anklage leicht aufdecken. Am 11. Juli wurde Bifo als nicht auslieferungsfähig eingestuft und in Frankreich als politischer Flüchtling aufgenommen. “Am Nachmittag meiner Entlassung aus dem Gefängnis verfassten wir einen Appell gegen die Repression in Italien, der von französischen Intellektuellen unterzeichnet werden sollte”. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zog Bifo in Guattaris Wohnung in der Rue de Condé. Er hatte ihn gerade erst kennengelernt, betrachtete ihn aber bereits als “älteren Bruder”. Die beiden Freunde verfassen den Appell, in dem sie die Repression gegen die Bewegung in Italien verurteilen und die Schuld offen den Christdemokraten und der Politik des historischen Kompromisses der PCI zuschieben. Diese Initiative löste in Italien einen fahnenschwenkenden nationalen Wutanfall aus. Intellektuelle und Politiker warfen den Franzosen vor, sich in Angelegenheiten einzumischen, von denen sie nichts wussten, und argumentierten, dass die Franzosen kein Recht hätten, den Italienern irgendwelche Lektionen zu erteilen. 

Bologna antwortet

Um dieser repressiven Politik entgegenzutreten und die Initiative zurückzuerobern, versammelte sich die gesamte italienische Linke vom 22. bis 24. September 1977 zu einem großen Treffen und einer Konferenz in Bologna. Die PCI, die die Stadt regiert, verurteilt diese Versammlung als Provokation und ihr Generalsekretär Enrico Berlinguer bezeichnet sie als “Seuchenträger”. In Erwartung von Raubtieren erlebten sie stattdessen eine dreitägige Versammlung, die für eine mittelgroße Stadt wie Bologna danteske Ausmaße hatte: Achtzigtausend Menschen besetzten die Stadt in aller Ruhe und ohne die geringste Gewalt. Angesichts der Spannung, die in der Luft lag, und der Größe der Menschenmassen war dies ein echtes Kunststück. Bifo verbrachte diese drei Tage damit, sich per Telefon über die Geschehnisse in der Stadt zu informieren. Aber die ganze ‘Guattari-Bande’ war auf den Straßen Bolognas und staunte. Alle Gruppen der italienischen extremen Linken waren da, vom terroristischen Flügel bis zur Gruppe der Arbeiterautonomen, ganz zu schweigen von den “Großstadtindianern”, Feministinnen, Homosexuellen und “roten Lesben”. Die PCI-Aktivisten verhielten sich in ihrer Heimatstadt, einem Symbol des umstrittenen historischen Kompromisses, diskret und sorgten dafür, dass Zehntausende junger Menschen während dieser drei Tage mit Essen und Unterkunft versorgt wurden. Mit den BR war eine stillschweigende Vereinbarung getroffen worden, dass sie auf keinen Fall zu Gewalt greifen würde. Die BR hielt sich geschickt an den Pakt, nutzten aber die einmalige Gelegenheit, ungestraft öffentlich zu marschieren, um massiv neue Mitglieder zu rekrutieren. “Das alles geschah offensichtlich ohne unser Wissen. Wir hatten uns diese Möglichkeit nicht vorgestellt”. In diesen drei Tagen marschierten die Menschen Tag und Nacht durch die Straßen von Bologna und debattierten überall, vor allem in der Sportarena, wo Tausende zum “ständigen Forum” kamen, um über Taktiken, Strategien und die Abschaffung der Arbeit zu diskutieren. Aus den Fenstern des Rathauses von Bologna beobachteten die machtlosen PCI-Bonzen den regenbogenfarbenen Strom der Menschheit. “Es war das erste Mal, dass wir eine Demonstration von zwanzigtausend jungen Frauen sahen, die schrien und mit ihren Händen das ‘Pussy’-Zeichen machten. Es war so schön! Das war das erste Mal, dass wir sahen, dass es möglich war! Frauenpower!”, erinnert sich ein begeisterter Gérard Fromanger.

Guattari wurde in Bologna zu einer Art Heldenfigur. Er galt als eine der wichtigsten Inspirationsquellen für die italienische Linke und verfolgte die Aufmärsche mit größter Freude, da er sah, wie seine Gedanken in einer sozialen und politischen Kraft Gestalt annahmen. Am Tag nach der Versammlung prangte sein Foto auf den Titelseiten der Tages- und Wochenzeitungen, die ihn als Gründer und Schöpfer dieser Mobilisierung präsentierten. Guattari war plötzlich der Daniel Cohn-Bendit Italiens geworden. “Wenn er durch die Straßen von Bologna ging, stürzten sich alle auf ihn, um ihn zu begrüßen, zu berühren, zu küssen. Es war verrückt. Unerhört. Er war wie Jesus, der auf dem Wasser geht. Ich habe mich sehr gefreut, weil ich ein paar Spritzer abbekommen habe.” In diesen drei Tagen war auch Hervé Maury in Bologna, im selben Hotel wie Guattari, Christian Bourgois und Maria Antonietta Macciocchi: “Ich war bei François Pain wie Fabrice bei Waterloo, ich habe nichts verstanden. Es war ein riesiges Fest, bei dem die Befriedung der linksextremen Bewegungen gefeiert wurde, und gleichzeitig marschierten wir zum Gefängnis, um die Genossen zu befreien, und plötzlich sehe ich ein paar junge Leute, die Pistolen ziehen.”

Der Verleger Christian Bourgois, wütend über die italienische Kampagne gegen die französischen Intellektuellen, beschließt zusammen mit Yann Moulier-Boutang, nach Bologna zu fahren, um die Sache auszutragen. Er nimmt an der Seite von Henri Weber, dem Führer der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR), an den Demonstrationen teil.

“Wir fanden uns in Bologna mit Zehntausenden von Menschen wieder und sagten uns, dass wir das alles provoziert hatten, mit einem Gefühl der Angst, nicht um uns selbst, sondern dass die Dinge ausarten könnten und die Menschen völlig verantwortungslos werden würden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich eine wichtige Lektion über die italienische Politik gelernt, denn die Kommunisten waren nirgends zu sehen. Sie befanden sich in den Fluren der Gebäude entlang der Strecke und in den Innenhöfen. Die Polizei patrouillierte zwar in der Stadt, blieb aber draußen.”

Yann Moulier-Boutang war Mitglied der französischen Delegation in Bologna. Er war ein wichtiger Akteur bei der Schaffung der französisch-italienischen Solidarität, da er schon früh Kontakte zu den Italienern der Autonomiebewegung geknüpft hatte, mit denen er sich politisch identifizierte. Er war seit 1968 in den Kollektiven von Censier aktiv und bot den italienischen Genossen seit 1970 seine Unterkunft an. Als eher libertärer Kommunist orientierte er sich eher an den Cahiers de Mai, einer Wochenzeitschrift, die aus der Bewegung des Mai ’68 hervorging und bis 1974 erschien. Im Jahr 1972 organisierte er in Jussieu ein Treffen mit Vertretern von Lotta Continua und Potere Operaio. In den Jahren 1973 und 1974 mobilisierte er mit den Immigrantenkollektiven, wobei er auf der Autonomie ihrer Bewegung bestand: “Er hatte die Idee der Autonomie von den Italienern übernommen, und sie bedeutete, dass die Besonderheit jeder Gruppe berücksichtigt wurde. Diese politische Geste bedeutete auch, dass jede Gruppe ihre eigenen Ziele definieren sollte. Ausgehend von diesem Konzept wurde die soziale Bewegung nicht um eine formale Einheit herum konzipiert, sondern im Sinne einer Verbindung von Vielfältigkeiten.” 

Bei der Arbeit an dieser Aneignung der italienischen Bewegung in Frankreich und in Zusammenarbeit mit Montesano lernt Yann Moulier-Boutang 1977 Guattari kennen und beteiligt sich bald an der Gründung des CINEL zur Befreiung von Bifo. Im September findet er sich ganz natürlich in Bologna wieder. “Ich traf Félix zum ersten Mal in der Wohnung in der Rue de Condé, als es um den Aufruf ging, nach Bologna zu gehen”. Er reiste mit Gérard Fromanger nach Italien.

Nicht alle Teilnehmer der Demonstration hatten die gleichen guten Absichten. Mehrere Tausend Mitglieder der BR hatten sich Skimasken aufgesetzt und trugen Waffen. Diese Machtdemonstration trug zweifellos dazu bei, dass die Roten Brigaden einen großen Teil der Bewegung an sich rissen. Die Feier artete zwar nicht in Gewalt aus, aber letztlich war die Herausforderung von Bologna ein Misserfolg, weil sie über die Euphorie des Augenblicks hinaus keine klare Perspektive für eine Bewegung bot, die in sich selbst implodierte und nun mit Repression und Isolation konfrontiert war. 

Die Mauer des Schweigens in Deutschland

Die dissidente Bewegung in Europa wird rigoros unterdrückt. Die verschiedenen Regierungen rüsten sich mit einem ausreichenden juristischen Arsenal, um ihre Repressionspolitik so effizient wie möglich zu gestalten: In Frankreich wird am 8. Juni 1970 das ‘Gesetz zur Bekämpfung von Ausschreitungen’ verabschiedet; in Italien erlässt der Präsident der Italienischen Republik im August 1977 ein Gesetz, das neue “Verfügungen über die öffentliche Ordnung” enthält und das wichtigste juristische Instrument der italienischen Repression schärft. Das ‘Reale-Gesetz’ von 1975 hatte es der Polizei bereits ermöglicht, jemanden auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam zu nehmen. Die Organisationen mussten wachsam sein, wenn es um die Verletzung der persönlichen Freiheiten ging, und das CINEL, dass die Intellektuellen jederzeit alarmieren konnte, beobachtete den aufziehenden Sturm.

Kaum zwei Monate nach den Ereignissen von Bologna trafen zwei Deutsche in der Zentrale des CINEL ein, wo sie von Guattari und Fromanger begrüßt wurden. “Sie sagten uns: ‘Wir möchten, dass ihr für uns das tut, was ihr für die Italiener in Bologna getan habt, denn wir werden verrückt’.” Sie suchten internationale Unterstützung für die Tausenden von alternativen Gemeinschaften in Berlin, die unbehaglich mit einer Staatsmacht lebten, die jeden Außenstehenden verdächtigte, Teil der Baader-Bande zu sein. Guattari hatte sich bereits zu einer Reise nach Brasilien verpflichtet, um Lula, den Führer der Arbeiterpartei, zu treffen. Er wandte sich an seinen Freund Gérard Fromanger, um der Bitte der Deutschen nachzukommen.

Fromanger sprach kein Deutsch und fühlte sich für eine solche Mission schlecht vorbereitet. Er hält den Vorschlag von Félix für “verrückt”, fliegt aber trotzdem mit Gilles Herviaux, einem seiner CINEL-Kameraden, nach Berlin. Während der Zwischenlandung in Frankfurt bekamen sie einen Eindruck von dem in Deutschland herrschenden Klima des Terrors – überall hingen Fotos von gesuchten Terroristen. “Wir kamen zum Berliner Flughafen. Niemand war da. Wir fragten uns, was wir dort zu suchen hatten. Wir wären fast zurückgegangen, als wir einige Stunden später im hinteren Teil des Flughafens einen Mann mit einem Schal sahen, der um seinen Hals gebunden war und bis zu seinen Füßen herabhing, und ein Mädchen mit hübschen goldenen Haaren.” Das waren ihre Kontaktpersonen, die sie zu einem Treffen mit etwa sechzig Personen ins Zentrum Berlins brachten, wo sie die Grundlagen für eine große Versammlung in Frankfurt skizzierten, zu der sie hunderttausend Menschen erwarteten. Um die Dinge in Gang zu bringen und den Würgegriff um die Berliner Kommunen zu lockern, müssten sie zwei Monate später mehrere tausend Menschen in Berlin zusammenbringen. “Tatsächlich kamen siebenundzwanzigtausend Menschen für drei Tage und drei Nächte nach Berlin und erfanden einen Code namens ‘Tunix’ (Nichts tun, nicht bewegen).” Mitglieder alternativer Berliner Gruppen, die ständig verdächtigt wurden, mit der Roten Armee Fraktion (RAF) in Verbindung zu stehen, konnten sich nicht einmal mehr in ihren eigenen Vierteln bewegen. Ihre Frauen wurden beschimpft und als ‘dreckige Huren’ bezeichnet. Wenn drei oder mehr von ihnen auf der Straße waren, zückte die Polizei ihre Maschinenpistolen, durchsuchte sie und schleppte die Frauen auf die Wache. Während dieser drei Tage verschwand die Polizei plötzlich und auf wundersame Weise – ein frischer Wind in der Berliner Bewegung. “Als Maler hatte ich mir eine kleine Farbstrategie ausgedacht. Zehntausend kleine Farbbomben, heiß und kalt. Jeder hatte zwei oder drei davon bei sich, und jedes Mal, wenn wir an einem Radpanzer vorbeikamen, platsch! Vor der Mauer, platsch! Bald waren die Radpanzer mit allen Farben des Regenbogens bedeckt. Depardon macht Fotos. Félix war da, ebenso wie Foucault und Deleuze”. Wie in Bologna organisierte Berlin ein ständiges Forum im riesigen Hörsaal der Technischen Universität, wo sich bis zu fünftausend Menschen versammeln konnten.

1977 setzte sich das CINEL auch an vorderster Front für die Befreiung des Anwalts von Ulrike Meinhof, Klaus Croissant, ein, der während seines Besuchs in Paris im Gefängnis Santé inhaftiert worden war. Das CINEL hatte zusammen mit der Liga für Menschenrechte beschlossen, eine Versammlung in der Mutalité zu seiner Verteidigung zu organisieren. Sechstausend Menschen füllten den Saal. Doch die Mobilisierung konnte die Auslieferung von Croissant durch die deutschen Behörden nicht verhindern.

“Wir waren ab dem frühen Nachmittag in einem engen Gang des Pariser Gerichts vor der Tür zum Gerichtssaal eingepfercht, die sorgfältig mit Polizisten in Zivil besetzt war. Hier musste das Gericht ‘öffentlich’ über den Antrag des Flüchtlings Klaus Croissant auf Auslieferung nach Deutschland entscheiden. Es war unmöglich, hineinzukommen, warum also warten? Viele Geschlagene haben sich diskret aus dem Staub gemacht. Aber für Félix mit seinem zerzausten Haar, seinem frechen Humor und seiner Brille, die ihm gleich aus dem Gesicht fliegen würde, kommt das nicht in Frage. Ein paar Dutzend von uns hielten durch, wie er es viele Stunden lang tat. Wir haben nicht aufgegeben, wir haben Zeugnis abgelegt und am Ende erfahren, dass der Einspruch abgelehnt worden war. So war Félix. Er war immer bereit, sein Bestes zu geben.”

In der Nacht der Auslieferung kam eine kleine Gruppe zum Sitz der Liga für Menschenrechte, um vor dem Santé-Gefängnis zu protestieren. Zahlreiche Anwälte, darunter Jean-Jacques de Félice und Michel Tubiana, sowie Foucault gehören zu dieser Gruppe.

Während der CINEL-Versammlungen in der Rue de Vaugirard begannen zahlreiche Dissidenten der Mobilisierung gegen die Auslieferung von Croissant, die ‘terroristischen Haltungen’ der italienischen Roten Brigaden und der Baader-Gruppe in Deutschland zu übernehmen. Der Rechtsexperte Gérard Soulier beklagte dies und sprach Guattari offen auf diesen Wandel an, den er als problematisch empfand, indem er ihm anvertraute, dass er dem unter keinen Umständen folgen könne und wolle, und drohte, dass er bereit sei, aus dem CINEL auszutreten. “Félix sagte mir: ‘Mach das nicht, auf keinen Fall! Es ist sehr wichtig, dass du bleibst.’ Da habe ich verstanden, dass er eine kollektive Psychotherapie durchführte. Und wenn es keine Fehler italienisch-deutscher Art gab, dann deshalb. Weil es ein Ort der Katharsis war.”

Éric Alliez bestätigt Guattaris sehr entschiedene Haltung in der Frage dieser ‘terroristischen Verschiebung’, trotz des Vorwurfs von Bernard-Henri Lévy, er habe mehr als nur eine Schwäche für die Positionen ‘der Terroristen’: “In jenen italienischen ‘bleiernen’ Jahren’ musste man zum Beispiel, wie ich es tat, an die Universitäten von Rom oder Bologna gehen, vor Ort sein und mit potenziellen Anhängern der Roten Brigaden sprechen, um sie davon abzubringen, den Sprung zu wagen. Aber direkt mit BR-Mitgliedern sprechen und mit den Attentätern selbst debattieren, wie es jemand wie Guattari damals tat?” Es stimmt, dass Guattari weder die italienischen Roten Brigaden noch die RAF in Deutschland in den Jahren 1977 und 1978 öffentlich verurteilt hat. Sein Schweigen könnte durch die Untergrundarbeit erklärt werden, die er leistete, um diejenigen, die versucht waren, den terroristischen Weg einzuschlagen, eher abzuschrecken als zu verurteilen, indem er ihnen erklärte, dass eine solche Entscheidung für andere Menschen schrecklich wäre und zur Selbstvergiftung führen würde. Guattari spielte auf dieser Ebene eine wichtige Rolle, vor allem in seiner Wohnung in der Rue de Condé, die in jenen Jahren eine Anlaufstelle für Außenstehende war. “Die Art und Weise, wie Félix diese Leute empfing und beherbergte! Félix sagte: ‘Ihre Spionage kotzt mich an’. Er nahm Leute auf, die wie Tiere verfolgt und vom bewaffneten Kampf in Versuchung geführt wurden. Er fügte hinzu: ‘Wir sollten eine Rückerstattung vom staatlichen Gesundheitssystem bekommen.'” Jean Chesneaux, ein weiterer Freund Guattaris bei den CINEL-Mobilisierungen, meint: “Wenn Frankreich von bewaffneten Aktionen im Stil der Roten Brigaden oder der Roten Armee Fraktion verschont blieb, so lag das vor allem an seinen therapeutischen Kontakten mit Außenseitern und Autonomen, die zur direkten Gewalt verleitet wurden. Félix erzählte mir, dass er sich mit diesen Leuten traf, weil er sie davon abhalten konnte, ihre Molotow-Cocktails zu basteln, und sie stattdessen auf die Couch seines Psychoanalytikers legte.” 

Die “bleiernen Jahre” in Italien

Die Hinrichtung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden im Jahr 1978 führte zu einer Verschärfung der Repressionen in Italien und zu einer erneuten Einleitung von Gerichtsverfahren. Das CINEL war wieder an vorderster Front dabei, als die italienischen Justizbehörden die Auslieferung von Franco Piperno forderten, der am 18. September 1978 zusammen mit Lanfranco Pace in Paris verhaftet worden war, weil sie im Verdacht standen, mit der Ermordung Moros in Verbindung zu stehen. Da dieser Haftbefehl ins Leere lief, wurde ein letztes Auslieferungsersuchen auf der Grundlage von Straftaten des gemeinen Rechts begründet. In den Akten war nichts zu finden. Diese italienischen Aktivisten waren nie mit terroristischen Gruppen in Verbindung gebracht worden. In Italien wandten sich viele bekannte Persönlichkeiten, darunter Leonardo Sciascia, Alberto Moravia und Umberto Eco, mit einer Petition an die italienischen Staatsanwälte. In Frankreich sammelte das CINEL Unterschriften gegen die Auslieferung. Piperno, ein ehemaliger Potere Operaio-Aktivist, wäre ins Gefängnis gegangen, anstatt das zu werden, was er heute ist: Professor an der Universität Catania und Nobelpreisträger für Physik.

Die bekannteste Affäre der späten 1970er Jahre war jedoch die Verhaftung von Toni Negri, einem weiteren ehemaligen Potere Operaio-Aktivisten, der ebenfalls nicht mit dem Terrornetzwerk der Roten Brigaden in Verbindung stand. Negri, ein Freund von Gianmarco Montesano, war wie sein Freund ein Anhänger der Arbeiterautonomie. Als Philosoph, Autor und Professor für Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität von Padua hatte Toni Negri den Status eines großen politischen Führers. Er kam 1977 nach Paris und lernte dank Montesano Guattari kennen, der damals das Treffen in Bologna vorbereitete. In seinen Schriften verteidigte er weder die Roten Brigaden noch lobte er die Waffengewalt.

Als Anführer der Gruppe Autonomia und insbesondere der Gruppe Milan Rosso wurde Toni Negri in einem Haftbefehl genannt und floh, um seiner Verhaftung zu entgehen, zunächst in die Schweiz, wo er drei Monate blieb, und dann im September 1977 nach Paris. Er fand Zuflucht in Guattaris Haus. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft, und in der Folgezeit verbrachte er oft die Wochenenden in Dhuizon, in der Nähe von La Borde.

Yann Moulier-Boutang veranlasste Louis Althusser, Toni Negri an die ENS einzuladen, um ein Seminar über Marx’ Grundrisse zu halten; das Seminar wurde 1979 veröffentlicht. Toni Negri besuchte auch die Vorlesungen von Deleuze in Vincennes. “Gilles Deleuze zuzuhören war eine Art Reinigung von dem, was in meinem Gehirn vorbestimmt war. . . Nach diesen Kursen wurde ich Spinozist”. In den Jahren 1978 und 1979 pendelte Negri zwischen Frankreich und Italien, wo er am 7. April 1979 zusammen mit Oreste Scalzone, einem anderen PO-Anführer, von den italienischen Behörden verhaftet wurde. Beide wurden beschuldigt, legale Strohmänner der Roten Brigaden zu sein und in die Ermordung von Aldo Moro verwickelt zu sein. Sie wurden sofort in ein “Sondergefängnis”, das italienische Äquivalent zu einem Hochsicherheitsgefängnis, eingewiesen, wo Negri über vier Jahre lang inhaftiert blieb. Am Ende seines Prozesses im Jahr 1983 verurteilte das Oberste Gericht in Rom Negri zu dreißig Jahren Haft und Scalzone zu zwanzig Jahren Haft wegen subversiver Aktivitäten und der Bildung bewaffneter Gruppen. Das CINEL, mit Guattari an der Spitze, machte natürlich sofort mobil. “Die Idee, dass Negri der Chef der BR sein könnte, war genauso lächerlich, wie wenn jemand 1937 gesagt hätte, dass Trotzki der Chef des KGB sei”.

Das CINEL schickte Aktivisten, um Toni Negri und Oreste Scalzone im Gefängnis zu besuchen. Es war eine sehr aktive Zeit für den CINEL, der mit immer mehr Auslieferungs- und Haftanträgen konfrontiert war. “Wir haben Rechtsexperten und Anwälte in den CINEL aufgenommen, wie Jean-Pierre Mignard, Georges Kiejman, Jean-Denis Bredin, den Richter Yves Lemoine, François Loncle von der Sozialistischen Partei und Senator Parmentier. Wir haben mobilisiert und Petitionen unterzeichnet. Wir haben bekannte Persönlichkeiten herausgefordert und die Verantwortlichen für die Anklageerhebung entlarvt.”

Unmittelbar nach der Inhaftierung Negris, aber noch vor Beginn seines Prozesses, verteidigte Deleuze in einem Brief, der am 10. Mai 1979 in La Repubblica abgedruckt wurde, vor den Richtern die Unschuld Toni Negris. Er war fassungslos darüber, dass jemand ohne die geringsten handfesten Beweise angeklagt und inhaftiert werden konnte, und er zog die Analogie, die Carlo Ginzburg später im Prozess gegen seinen Freund Adriano Sofri verwendete, indem er die Verhöre mit der Inquisition verglich. Deleuze stellt einige Grundsätze auf: “Erstens sollten sich die Gerichte an ein gewisses Prinzip der Identifizierung halten”. In diesem Fall hatte die Staatsanwaltschaft jedoch keine greifbaren Beweise zur Verfügung, um ihre Anklage zu untermauern. “Zweitens müssen die Ermittlungen und die Vorbereitung des Falles mit einem Mindestmaß an Kohärenz durchgeführt werden, nach dem Prinzip der Disjunktion oder des Ausschlusses, während die Anklage nach dem Prinzip der Inklusion vorging, indem sie widersprüchliche Begriffe anhäufte“. Die italienische Presse behauptete offenbar, Toni Negri besitze die Macht der Allgegenwärtigkeit, da er angeblich gleichzeitig in Rom, Paris und Mailand gewesen sei. Schließlich reagiert Deleuze auf die heftige italienische Kritik an den französischen Intellektuellen bezüglich des Aufrufs nach Bologna und des Vorwurfs, sie würden sich in die Angelegenheiten anderer einmischen, die sie nichts angingen: “Negri ist sowohl in Frankreich als auch in Italien ein bedeutender Theoretiker und Intellektueller”. Kurz darauf, als Bourgois 1979 Toni Negris ‘Marx Beyond Marx’ veröffentlichte, griff Deleuze für Le Matin de Paris zur Feder, um an Negris Unschuld zu erinnern. Er lädt die Richter, die Negris Absichten und den Grad seiner Verwicklung in die Moro-Affäre untersuchen, dazu ein, sein Werk zu lesen, das “buchstäblich ein Beweis für seine Unschuld ist”, denn die von ihm vertretenen Auffassungen bestätigen, dass er einem solchen Attentat nur feindlich gegenüberstehen kann.

Guattari reiste mehrmals nach Italien, um Toni Negri im Gefängnis zu besuchen, und die beiden Männer korrespondierten mehr als vier Jahre lang miteinander. Vor allem dieser Briefkontakt war ein großer Trost für Negri, der immer ungeduldiger wurde und zu verzweifeln begann. Im Mai 1980 besuchte Guattari das Gefängnis erneut und bot einen regelmäßigeren Briefwechsel an. Zwei Monate später beschrieb Toni Negri seine Erschöpfung. “Es ging mir ziemlich schlecht und ich begann, eine Gefängnismüdigkeit zu spüren und mich in einem psychologischen Zustand zu befinden, der oft in Faulheit umschlägt.” Ende der 1980er Jahre wurde Toni Negri in das Rebibbia-Gefängnis in Rom verlegt, um sich nach siebzehn Monaten Haft den ersten Verhören seit seiner Verhaftung zu unterziehen. Er hatte gerade das neueste Buch von Deleuze und Guattari gelesen. “Ich habe ‘Mille Plateaus’ fast vollständig gelesen. Es ist ein wichtiges Buch. Vielleicht das wichtigste, das ich in den letzten zwanzig Jahren gelesen habe. “

Um seinem Freund zu helfen, weiterzumachen, schlug Guattari 1983 vor, ein gemeinsames Buch auf der Grundlage ihrer Korrespondenz zu schreiben. Toni Negri nahm das Angebot gerne an, da es ihm helfen würde, die Morbidität des Gefängnislebens zu ertragen. Außerdem hofft er, von der gemeinsamen Schreiberfahrung zu profitieren, die Guattari bereits mit Deleuze gesammelt hat. “Ihr habt mehr Erfahrung als ich, wenn ihr zu zweit arbeitet, und ich denke, ihr solltet die Endmontage übernehmen”.

Im Juni 1983 wurde Toni Negri vor seiner formellen Verurteilung freigelassen, da er gerade zum Europaabgeordneten der italienischen Radikalen Partei gewählt worden war. Als er das Gefängnis verließ, machte die politische Klasse mobil, um seine parlamentarische Immunität aufzuheben. In der Überzeugung, dass er wieder ins Gefängnis kommen würde, wendet sich Toni Negri an Guattari. Im September 1983 hob eine Mehrheit von vier Stimmen (300 zu 296) im italienischen Parlament seine parlamentarische Immunität auf. “Ich fuhr mit einem Boot nach Korsika, das mit Sicherheit von Félix bezahlt wurde”, erinnert er sich. Mit Hilfe von Gérard Soulier und Guattari kam er heimlich in Paris an.

Dort setzten er und Guattari die bereits fortgeschrittene Arbeit an ihrem Buch fort. “Von 1983 bis 1987 war mein Name Antoine Guattari. Er hat für alles bezahlt. Ich zog von der Place d’Italie zum Boulevard Pasteur und dann in die Rue Monsieur-le-Prince” in Wohnungen, die Guattari für ihn fand. “Félix kümmerte sich um mich wie ein Bruder. Er hat mir überall geholfen.” Die Rue de Condé ist weiterhin ein Zentrum der Bewegung. Dort lernt Toni Negri Daniel Vernet, einen Journalisten von Le Monde, Serge July und Régis Debray kennen. “Dort wurde die ‘Mitterrand-Doktrin’ entwickelt. Es handelte sich nicht um eine externe Position gegenüber Italien. Sie war eine innere Konstruktion.”

‘New Spaces for Freedom’ wurde 1985 veröffentlicht. Es begann mit einer Verteidigung des “Kommunismus”, eines mit Schimpf und Schande behafteten Begriffs, und stellte klar, dass “wir ihn als einen Weg zur Befreiung individueller und kollektiver Singularitäten verstanden haben”. Dieser Bruch mit dem traditionellen marxistischen Schema behauptete, dass “Gemeinschaft und Singularität keine Gegensätze sind.” In diesem Aufsatz wurde bekräftigt, dass das Geschehen tief in der Erfahrung von 1968 verwurzelt war, was zum Titel des zweiten Kapitels führte: “Die Revolution begann 1968”. Bei der Bewegung des Mai 68 ging es nicht nur um politische Emanzipation. Sie war auch Ausdruck eines echten Willens zur Befreiung, der sowohl radikal als auch pluralistisch war.

Was manche als den Tod des Politischen bezeichnen würden, ist nur die Geburt einer neuen Welt und einer neuen Politik: der Erfolg der Reaktion der 1970er Jahre und das Aufkommen einer “No Future”-Tendenz, die mit der Schaffung eines integrierten Weltkapitalismus (IWC) verbunden ist, der den Planeten fein säuberlich aufteilt. Durch den ‘IWC’ sind die Individuen umso mehr unterworfen, als sie die Macht nicht lokalisieren können. Der Weltmarkt wird als ein effizientes Instrument dargestellt, um die Armut in ein “Netz” einzubinden und die Marginalisierung zu “verstricken”. Trotz des globalen Netzes, das das soziale Universum überlagert, gehören die Revolution und damit die Hoffnung nicht der Vergangenheit an.

Das Buch schließt mit zwei persönlichen Beiträgen: einem von Guattari über “Freiheiten in Europa” und einem von Negri, “Archäologischer Brief”. Abgesehen von ihrem gemeinsamen Kampf können wir hier noch einmal ermessen, was Guattaris offene Herangehensweise an tiefgreifende Fragestellungen und Negris Entschlossenheit, um jeden Preis an der klassischen revolutionären Tradition festzuhalten, unterscheidet. Guattari erklärt, dass sein Kampf für die Rechte von Bifo, Croissant, Piperno, Pace und Negri ihn dazu gebracht hat, sein Urteil zu überdenken “über die Bedeutung, die jenen vermeintlich formalen Freiheiten zukommt, die mir heute völlig untrennbar von anderen Freiheiten ‘vor Ort’ erscheinen”. Und Guattari konnte sich über die positive Rolle freuen, die Organisationen wie Amnesty International, die Liga für Menschenrechte, France Terre d’Asile und die Cimade in Frankreich spielen. Er schlug vor, von “Freiheitsgraden oder besser noch von differenziellen Freiheitskoeffizienten” zu sprechen. Diese Pluralisierung unseres Freiheitsbegriffs ist mit dem Anliegen verbunden, den Staat nicht als ein Monster außerhalb der Gesellschaft darzustellen. Wie Foucault es skizziert hatte, ist die Macht überall und vor allem in uns. Wir müssen “mit ihr auskommen”. In seinem Beitrag lässt Negri jedoch seine unauslöschliche Verbundenheit mit dem Leninismus durchscheinen.

Wenn in Frankreich Repression und Verschärfung nicht im gleichen Maße wie in Deutschland und Italien angewandt wurden, so lag das nicht an einer stärkeren demokratischen Tradition. Abgesehen von einigen marginalen Vorfällen hatte Frankreich die terroristischen Bewegungen einfach nicht miterlebt. Dennoch trugen das Bestreben, die linke Bedrohung auszulöschen, das Antiterrorgesetz vom Juni 1970 und das harte Durchgreifen bei einigen Demonstrationen in Frankreich dazu bei, dem internationalen Klima der 1970er Jahre das Gewicht jener “bleiernen Jahre” zu verleihen.

Am 19. September 1979 wurde einer von Guattaris besten Freunden, der Filmemacher François Pain, verhaftet, eingesperrt und strafrechtlich verfolgt, weil er mehr als sechs Monate zuvor an einer Metallarbeiterdemonstration am 23. März 1979 teilgenommen hatte, die in Zusammenstößen und Ausschreitungen gipfelte. François Pain war zwischen République und Opéra auf dem Boulevard gelandet, der gerade von den Autonomen verwüstet wurde, die Schaufenster einschlugen und Luxusboutiquen plünderten. François Pain ging auf dem Bürgersteig vor einem Lancel-Geschäft, als er von einem Sack im Gesicht getroffen wurde. Er wurde inmitten einer Gruppe von Demonstranten mit Skimasken fotografiert, als er sich ansah, was ihn getroffen hatte, und das Foto erschien in der rechtsextremen Wochenzeitung Minute. Pain, der der Polizei wegen seiner Verbindungen zur italienischen Linken und seines Engagements für die freien Radiosender bereits gut bekannt war, wurde sofort identifiziert und wegen des Diebstahls einer Tasche, die die Polizei nie fand, eingesperrt. Dies war jedoch eine wunderbare Gelegenheit, um Guattari durch seinen Stellvertreter François Pain für seine Unterstützung der Italiener büßen zu lassen.

Während seines Verhörs wurde François Pain davon überzeugt, dass er verhaftet wurde, weil er gerade aus Rom zurückgekehrt war, wo er mehreren gesuchten Aktivisten geholfen hatte, eine Unterkunft zu finden. “Als sie mir das Foto mit dem Sack zeigten, war das eine große Erleichterung! Ich musste lachen!” Das CINEL trat sofort in Aktion, und Jean-Pierre Mignard und einer der Assistenten von George Kiejman übernahmen die Verteidigung von Pain. Während einer der CINEL-Sitzungen machte ein aufgeheiztes Publikum absurde Vorschläge, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Einmal rief jemand im hinteren Teil des Raumes: “Etwas Kohle für Mr. Pain [Brot]”. Guattari antwortete: “Das ist großartig! Das ist genau die Kampagne, die wir führen werden.” François Aubral erinnert sich, dass in diesem Moment “der Typ neben mir sagte: ‘Hör mal, wenn sie so weitermachen, bleibt er für den Rest seines Lebens im Gefängnis. Ich bin Henri Leclerc. Ich verteidige ihn.’” Pain wurde zum ersten Mal nach dem Anti-Aufruhr-Gesetz angeklagt. Seine Inhaftierung dauerte über vier Monate. Sein Freund Guattari besucht ihn häufig im Santé-Gefängnis und beschließt, zusammen mit der Kampagne für Pains Befreiung einen Kampf gegen die Präventivhaft zu führen, die es dem Richter erlaubt, Pain sechs Monate lang in Haft zu halten, bevor ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wird. Das Nationale Audiovisuelle Institut, Pains Arbeitgeber, setzte sich für seine Verteidigung ein, und das CINEL sammelte Leumundszeugnisse. Pain erinnert sich: “Sie brachten mich sehr zum Lachen, als sie mir erzählten, dass Jean-Luc Godard mit einem aus einem Café gestohlenen Zuckerstück in den Zeugenstand treten und es nach dem Richter werfen wollte. Der Richter hätte ihn aufgefangen, und Godard hätte gesagt: ‘Er hantiert mit Diebesgut! Dieser Zucker war gestohlen!’” Die Meinungskampagne funktionierte gut, und es verging kein Tag, an dem nicht ein Artikel in der Presse über diese Affäre erschien. In der Überzeugung, dass er das eigentliche Ziel der Operation war, schenkte Guattari Pain und seiner Freundin Marion “einen vierzehntägigen Urlaub in Südmarokko, um ihn glücklich zu machen”.

Ende 1979 gerät Guattari ins Visier der Polizei, die im Rahmen der Ermittlungen zur Entführung des Milliardärs Henri Lelièvre durch Jacques Mesrine, damals Staatsfeind Nr. 1, einen Durchsuchungsbefehl in La Borde erwirkt. Die Polizei fand nichts, aber die Tageszeitung L’Aurore veröffentlichte dennoch einen von Pierre Dumas unterzeichneten Artikel mit dem Titel “Der Weg der Linken”, der angeblich die Verbindungen zwischen bestimmten Gaunern und dem linken Milieu aufdeckte. In dieser Zeitschrift wird auch der Fall eines gewissen Charles Bauer aufgebauscht, den Guattari auf Geheiß seines Freundes Pierre Goldman in die normale Gesellschaft zurückgeführt haben soll und der inzwischen zum Komplizen von Mesrine geworden ist. 

Vom Hofnarren zum Freien Radio

Im März 1980 schlug die Wochenzeitung Charlie Hebdo vor, den Komiker Coluche als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Doch was als Gag begann, nahm im Oktober 1980 eine andere Wendung. Die ersten Umfragen ergaben, dass etwa 17 Prozent der Bevölkerung Coluche wählen wollten. Um die Kandidatur durchzusetzen, müssten fünfhundert gewählte Vertreter eine Petition für seine Kandidatur unterzeichnen. Was für die großen politischen Parteien eine einfache Formalität ist, kann für Kandidaten, die von keiner Partei unterstützt werden, eine große Hürde darstellen. Im Oktober 1980 erhielt der Rechtsanwalt Gérard Soulier einen Anruf von seinem Freund Guattari. “’Du wirst es nicht glauben’, sagte er. Tatsächlich konnte Guattari es auch nicht glauben. ‘Ich habe gerade einen Anruf von Gilles Deleuze erhalten. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Er unterstützt die Kandidatur von Coluche!’” Gérard Soulier war begeistert. Er schätzte nicht nur Coluches Humor, wie viele andere auch, sondern hatte insgeheim seit mindestens sechs Monaten auf diese Kandidatur gehofft. So begann die berühmte Petition für den “Kandidaten der Schwachköpfe”.

Eine ganze Reihe von Intellektuellen, insbesondere das Netzwerk CINEL mit Jean-Pierre Faye, stellte sich hinter Deleuze und Guattari und verpflichtete sich, Coluche zu unterstützen. “Félix rief mich an und sagte: ‘Mit Gilles haben wir beschlossen, Coluches Recht auf seine Kandidatur zu unterstützen.’ Die Rechten sagten, dass Coluche in Frankreich verlieren würde; die Linken sagten, dass er die Stimmen der Linken verschwenden würde, und dass er noch seine fünfhundert Unterschriften bräuchte. Ich antwortete: ‘Coluche? Wer ist das?’ Und er antwortete: ‘Das ist Père Duchesne.’” Jean-Pierre Faye, der eine Studie über Père Duchesne verfasst hatte, erkannte ganz klar, wie zermürbend eine solche Figur für das französische politische System sein konnte. Er stimmte zu und nahm aktiv an den Treffen mit Coluche teil.

Um dieses Engagement und seine starke Dynamik zu verstehen, muss man sich die verwirrende politische Situation im Herbst 1980 vor Augen führen, als die Wiederwahl von Valéry Giscard d’Estaing für eine weitere siebenjährige Amtszeit so gut wie sicher war. Man glaubte, dass François Mitterrand sich anschickte, seinen Misserfolg von 1974 zu wiederholen, da er angeblich nicht in der Lage war, das Schicksal der Linken zu ändern. Einigen Aktivisten blieb nicht viel mehr als das Lachen, und die Kandidatur von Coluche vermittelte das Gefühl einer flüchtigen Energie. “Coluche kam also, und er war ein ziemlicher Hofnarr, denn er hatte Talent”, so Paul Virilio, der Guattari zu diesem Zeitpunkt kennenlernte und sein Verleger wurde.

Ende der 1970er Jahre war der nicht staatlich zugelassene Rundfunk (d. h. einige private Radiosender wie Europe 1, Radio Luxemburg und RMC) an und für sich eine Straftat mit schwerwiegenden rechtlichen Folgen. François Pain, ein Spezialist für diese Art von Technologie, war zusammen mit seinem Freund Guattari an der Einrichtung eines alternativen Radionetzes beteiligt, das ohne das Wissen der Polizei sendete. “Ich schuf ein Versorgungsnetz für Sender, die wir aus Italien einschmuggelten”. Das italienische Netz war mit Radio Alice in Bologna verbunden, wo ein besonders effizienter Techniker hervorragende Sender herstellte, die Pain regelmäßig am Gare de Lyon abholte.

Sobald die freien Radiosendungen entdeckt wurden, wurden sie von der Polizei gestoppt. Aber sie werden immer zahlreicher, ein Beweis für den Wunsch, sich zehn Jahre nach dem Mai ’68 zu äußern. Guattari freundet sich mit einem Fachmann an, der sich sehr für den Kampf der freien Radios einsetzt und im September 1977 die Association for Free Airwaves (ALO) gründet. Die Vereinigung verbreitet einen Aufruf zur Liberalisierung des Rundfunks, der von achtzehn Persönlichkeiten unterzeichnet wird, darunter Deleuze, Guattari und Foucault. François Pain gelang es seinerseits, im Anschluss an ein großes Treffen von Radiomachern im Jahr 1978 kleine assoziative Radiosender in einem Netzwerk zu organisieren. Aus diesem Treffen ging die Vereinigung ALFREDO hervor, die eine Vielzahl kleiner Netzwerke zusammenbrachte. Eine Mehrheit der Freien Radios, die mit Guattaris Positionen sympathisierte, gründete daraufhin die Nationale Föderation der nichtkommerziellen Freien Radios.

Einer von Guattaris Söhnen, Bruno, der 1978 zwanzig Jahre alt war, beteiligte sich an diesem Unternehmen. 1979, als jeder Versuch eines freien Radios auf Repression stieß, nutzte Bruno die Neutralität der Universität Jussieu, um einen lokalen Radiosender ins Leben zu rufen. Ausgehend von diesem kleinen Erfolg weitet er seine Ambitionen mit Radio Paris 80 aus, für das er das Material liefert. Als Félix Guattari und François Pain Radio Libre Paris gründen, das im Dezember 1980 zu Radio Tomato wird, übernimmt Bruno Guattari die Programmgestaltung.

Die Repressionen wurden immer stärker. Das Gesetz vom Juli 1978 sah Geldstrafen von zehntausend bis hunderttausend Francs für jede Zuwiderhandlung und Gefängnisstrafen von einem Monat bis zu einem Jahr vor. Diese Maßnahmen konnten die Entschlossenheit derjenigen, die den Äther befreien wollten, kaum bremsen, und ihre Energie kulminierte während des großen No-Jamming-Festivals im Sommer 1978 im Park von Hyères. Das Publikum wurde mit achtundvierzig Stunden kostenloser Musik ohne Unterbrechung von den besten Sängern der Zeit verwöhnt, darunter Jacques Higelin und Telephone. Für viele kleine Sender waren die Risiken jedoch zu groß, und sie mussten im Herbst 1978 aufgeben oder in den Untergrund gehen. Was Persönlichkeiten wie Guattari anbelangt, so würden sich die Machthaber lächerlich machen, wenn sie sie ins Gefängnis stecken würden, aber sie landeten dennoch vor Gericht. Ein mit Gérard Soulier befreundeter Anwalt, Michel Tubiana, der spätere Präsident der Liga für Menschenrechte, vertrat die meisten Angelegenheiten der freien Radiosender.

Die Repression wurde oft verspottet. “Mehr als einmal ließen wir uns beim Verlassen des Gerichts in einem Auto mit Sendern interviewen. Ich werde mich immer daran erinnern, was im siebzehnten Gerichtssaal geschah. Wir hatten etwa vierzig Zeugen in den Zeugenstand gebracht, und die Sitzung, die um 13.30 Uhr begann, musste bis 23.00 Uhr beendet sein. Die Anwältin von TDF, die eine Zivilklage führte, beendete ihr Plädoyer mit der Forderung nach dem symbolischen einen Franc als Schadensersatz. Der siebzehnte Gerichtssaal war ein ziemlich langer Raum, der mit Menschen gefüllt war. Jemand im hinteren Teil des Saals ließ eine Ein-Franken-Münze rollen, die der Anwältin vor die Füße fiel. Das war ein sehr lustiger Moment.”

Radio Tomato wurde Ende 1980, mitten im Präsidentschaftswahlkampf, gegründet und brachte die CINEL-Aktivisten zusammen. “Zuerst sendeten wir aus der Küche von Félix, dann fanden wir eine Art Keller im Keller der Fondation France in der Rue Lacépède”. Das Radio sendete vierundzwanzig Stunden am Tag und bot neben den eher gesellschaftspolitischen Sendungen am Montagnachmittag auch kulturelle Programme zu Film, Musik und Theater. Es gab auch Berichte über Hausbesetzer, und ein afrikanischer Mann präsentierte nachts “The Argument Tree”. Die Nachrichten nahmen viel Zeit in Anspruch, und Gisèle Donnard, eine engagierte CINEL-Aktivistin, leitete diesen Bereich, in dem regelmäßig Debatten über Polen, den Krieg im Libanon oder die israelisch-palästinensische Frage stattfanden. Aber die Qualität der Geräte war nicht gut genug, um einen guten Empfang zu ermöglichen, und die Berichterstattung blieb schwach. Radio Tomato erreichte nie die Hörerschaft, die es hätte erreichen können.

Dieses Luftwellenexperiment entspricht einer praktischen Erweiterung der Ideen von Deleuze und Guattari. Es ist ein Modell für ein transversales rhizomatisches System, das mit den vertikalen Logiken des Staates und des Marktes bricht. Wie bei jedem Rhizom können an jedem Punkt Verbindungen hergestellt werden, was zu verblüffenden und stets originellen Kartografien führt, wie derjenigen, die Radio Bastille mit seinem Nachbarn Radio Onz’Débrouille verbindet, das mit Radio Fil Rose zusammenarbeitet. “Dank dieser rhizomatischen Organisation von Sendern und Einzelpersonen entwickelte sich die Bewegung der freien Radios zu einer echten Kriegsmaschine auf dem Gebiet der Rundfunkmedien.”

Als François Mitterrand am 10. Mai 1981 zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt wird, beschließt er, den Äther zu öffnen. Diejenigen, die bisher im Verborgenen gesprochen hatten, konnten nun endlich die Vorteile dieses Mediums voll ausschöpfen. Doch es tauchen auch andere Probleme auf. Um den Sendebetrieb aufrechtzuerhalten, mussten Konsolidierungen vorgenommen werden. Doch wer würde sich mit Radio Tomato zusammenschließen? Ursprünglich wurde Radio J (jüdisch) vorgeschlagen, aber bei Radio Tomato gab es zu viele Pro-Palästinenser, um eine reibungslose Verbindung zustande zu bringen. Tomato entschied sich schließlich für Radio Solidarnosc, “aber dort gab es Antisemiten, und das endete mit Schlägereien. Am Ende haben wir einen Platz für uns allein gefunden.”

Ein schwerwiegenderes Problem belastete die assoziative Gründung freier Radiosender, als eine Vielzahl kommerzieller Radiosender mit ihren größeren Ressourcen auftauchten. Guattari drückt es so aus: “An der Oberfläche des Aquariums gibt es radioliebende kleine Fische, aber darunter befinden sich fette Werbehaie”. Um seine Vorstellung von sozial experimentellen Radiosendern zu verteidigen, lud Guattari Jack Lang, den Kulturminister, mit dem er ein gutes Verhältnis hatte, zu einer Live-Debatte auf Radio Tomato mit ihm, Jean-Pierre Faye und François Pain ein. La Quinzaine Littéraire veröffentlicht einen Teil der Debatte. Ende 1981 liegt der Standpunkt des Ministers nahe bei dem von Guattari: “Die Freiheit darf nicht der Fuchs im Hühnerstall sein…Ja zur Freiheit, aber unter der Bedingung, dass sie nicht den Mächtigen zugutekommt, und dass sie eine Freiheit für diejenigen ist, die etwas schaffen und etwas zu sagen haben.”

Die Eroberung neuer Freiheiten übersprang auch die Mauer, die die kommunistische Welt von Westeuropa trennte. In den späten 1970er Jahren fanden eine Reihe sowjetischer und osteuropäischer Dissidenten Zuflucht in Frankreich. CINEL und CERFI haben die Geschichte ihrer Gefängnisaufenthalte verbreitet. Recherches widmete ihnen eine Ausgabe, die von Natalia Gorbanevsikaia, einer 1936 in Moskau geborenen Sowjetin, organisiert wurde.

Für Guattari stellt das CINEL die Möglichkeit dar, die Effizienz einer Mikropolitik zu demonstrieren, die mit minimalen organisatorischen Mitteln ausgestattet und einfach mit der Aktion verbunden ist und so mit den traditionellen Schemata bricht. Es wäre der politische Zweig des CERFI gewesen, dessen Tätigkeit sich mit den Geisteswissenschaften befasste. Ähnlich wie bei der Bewegung des 22. März ging es bei CINEL darum, Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Hintergrund um ein gemeinsames Ziel zu versammeln und so dem Zirkelschluss in jenen “bleiernen Jahren” vorzubeugen. Ohne wirkliche Organisation oder Programm, aber mit einem regelmäßigen Treffpunkt, gelang es der CINEL-“Maschine”, zu mobilisieren und das Bewusstsein zu schärfen, und sie bewies auch ihre politische Effizienz in bestimmten Krisenzeiten.

Wie häufig teilen der Übersetzer und der Blog nicht alle Ansichten und Zuordnungen (in Fall dieses Artikels sogar ziemlich zahlreich) des übersetzten Artikels, finden ihn aber der Mühe wert ins Deutsche übertragen und hier veröffentlicht zu werden. Auch wenn er des weiteren offensichtlich historische “Ungenauigkeiten” enthält. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Francois Dosse “Gilles Deleuze und Felix Guattari” und wurde in der englischen Übersetzung von Deborah Glassmann auf Blackout veröffentlicht. Die zahlreichen Fußnoten wurden aus Gründen der Übersichtlichkeit weggelassen, finden sich aber im verlinkten Originalartikel. 

An die Genossinnen und Genossen


Nichts wird je wieder so sein wie vorher

Mit der Kaltblütigkeit von Henkern haben sie beschlossen, Alfredo zu töten. Demokratie ist einfach das: Ermittlungen, Medienspektakel, Todesurteile.

Wäre all dies in aller Stille oder in der rücksichtslosen und unmenschlichen Inszenierung der diensthabenden Medienvertreter über die Bühne gegangen, wäre es schlimm und unverzeihlich gewesen. Aber so war es nicht. In all diesen Monaten, und schon lange vorher, sind die Moleküle dieses heterogenen anarchischen Gebildes nicht zum Stillstand gekommen, trotz der Last, die auf vielen von ihnen lastet. Aber so soll es sein.

Diese Sekunden und Minuten nach dem Todesurteil, das der Kassationsgerichtshof gegen Alfredo verhängt hat, sind unendlich lang. Aber Schmerz ist etwas anderes als Überraschung. Wir erleben jetzt einen Schmerz, einen sehr starken Schmerz. Aber es ist keine Überraschung. Und der Schmerz, der durch jede unserer Zellen geht, ist stechend, total.

Totaler Schmerz.
Wer kann heute schon wahrnehmen, dass der morgige Tag ein Tag sein wird, den er sich bereits vorstellen konnte? Monatelang haben wir Hypothesen, Szenarien, Möglichkeiten ausgelotet, aber wer war sich wirklich klar darüber, was er hören würde?


Nichts wird je wieder so sein wie früher.
Angesichts all dessen vernebelt die Stille, die durch diese brutale Eindringlichkeit entsteht, fast den Verstand, nimmt alles in sich auf. Es ist richtig, dass wir Tränen vergießen, es ist menschlich, dass wir uns gegenseitig in den Arm nehmen und uns die Zeit nehmen, die Spannung abzulegen, die sich seit Monaten aufgebaut hat.


Wir brauchen Zeit, um zu trauern, denn wenn nichts mehr so sein soll wie früher, dann muss die Klarheit von morgen umso deutlicher sein als die von gestern.

Im Original am 24. Februar 2023 auf il rovescio info.