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Exkurs über den Zbeul

Freddy Gomez

Er sagt: “Es geht darum, die Erinnerung an die alten Revolten wiederzufinden, sich mit ihnen zu beschäftigen und die ausgetretenen Pfade des programmierten Scheiterns zu verlassen. Wir werden nur gewinnen, wenn wir die Ressourcen dafür bereitstellen, und dafür müssen wir viel von uns selbst investieren”. Der Genosse hat klare Vorstellungen. Er kommt aus Marseille, ist in der CGT organisiert, ein echter Basistyp und ein “Rotkehlchen”. Die gewerkschaftsübergreifende Demo ist ein Muss, aber er weiß, dass es anderswo um die Sache geht. In einer Vielzahl von illegalen, sorgfältig geplanten und gewagten Aktionen. Er spricht von “grévilla” (1), und das Wort begeistert ihn. Er ist ein sportlicher Mittvierziger, hat eine stolze Haltung, einen erobernden Blick und eine schwarze Baskenmütze im Stil eines Black Panthers. Auf dem breiten Bürgersteig läuft eine gut genährte, junge und kämpferische Gruppe der “Révolution permanente” vorbei, die skandiert: “Generalstreik! Generalstreik!” Als ob man ihn nur ausrufen müsste. “Die Avantgarden von heute sind die Nachhut von morgen. Einmal Bolchos, immer Bolchos (2). Aber was zum Teufel hat Lordon in diesem Spiel verloren”, sagte er. Und er antwortet sich selbst: “Als organischer Intellektueller existieren? Das ist ja mal eine Perspektive.” Dieser Typ hat alles, um mir zu gefallen.

Mathias’ Ding – wir werden ihn so nennen – ist der Zbeul (3) als Theorie, als Ausdruck der Spontaneität der Massen, als methodische Organisation der Unordnung, als Vervielfachung der Bruchstellen. La Grande Java (4), kurz gesagt. Mathias definiert sich nicht als Aktivist und schert sich einen Dreck um den Großen Abend ebenso wenig wie um seine Erstkommunion – die er übrigens nicht empfangen hat. Er kennt seine Klassiker. Er sagt: “Ein Fremdkörper, der an der richtigen Stelle in einem Computer platziert wird, kann wundersame Auswirkungen auf die Arbeitsgeschwindigkeit haben.” Und genauso, wie man mit einem Trennschleifer Rohre beschädigen, 5G-Antennen abfackeln, Stromkabel durchtrennen und mit der Kneifzange hantieren kann, bedeutet dies, das Betriebssystem zu entwaffnen. Er sagt “entwaffnen”, Mathias, nicht “sabotieren”. Ich frage ihn, warum. “Weil man schlau sein muss”, sagt er, weil der Begriff Sabotage einen schlechten Ruf hat und weil es zweifellos erfolgversprechender ist, wie es die “Soulments de la terre” tun, also alte Praktiken wie die Arbeiterbewegung zu reaktualisieren, ohne deren Stigmatisierung Vorschub zu leisten. Um ehrlich zu sein, überzeugt mich das Argument nicht wirklich, ebenso wenig wie der strategische Wille, die Praxis zu dekonfliktualisieren, indem man sie akzeptabler macht. Mathias hört meine Kritik, lässt sich aber nicht davon abbringen. “Wenn man nur in der Defensive zugrunde geht, ist es nicht verboten, die Offensive auf strategische Weise zu denken. Und zuzugeben, dass schräge Wege manchmal die direktesten sind.” Mathias hat einen langen Atem.

Um ehrlich zu sein, ist der Zbeul für ihn wie ein Ruf aus der Ferne, eine Reaktivierung der alten Erinnerung an die wilden Kämpfe vor ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Domestizierung. Die aktuelle Bewegung, davon ist er überzeugt, hat zunächst einmal gezeigt, dass die zahlenmäßige Stärke und die Einheit von nun an nicht mehr hinreichende Bedingungen sind, um eine Macht zu besiegen, die nicht nachgeben will. In diesem Sinne markiert das Ereignis durch die Verschiebung der Vorstellungswelt, die es induziert, bereits ein historisches Datum, das unweigerlich zu einer Neukonfiguration der Konfrontation führen wird, die auf archaische Formen des Widerstands zurückgreift und neue erfindet. Der Zbeul fördert die Verbreitung von Ausdrucksformen. Jeder muss seine eigene Ausdrucksweise finden, die seinen Möglichkeiten entspricht. Alles, was rund um diese Bewegung passiert ist – auf den Streikposten, in den Blockaden, Besetzungen, an einigen Kreisverkehren – hat sich um diese alte Idee der Unregierbarkeit der Revolte, ihrer ständigen Neuerfindung und der Fantasie, die sie nährt und anstachelt, gedreht. Es gibt keine andere Notwendigkeit als die, eine Bewegung, eine Linie oder eine Spur zu hinterlassen. Das geht so weit, dass außer bei einigen tugendhaften linken Avantgarden der alten Welt niemand es für angebracht hielt, allzu viel Zeit auf die nutzlose Kritik an den alten Zwischengliederungen zu verwenden, die von der Macht törichterweise verachtet werden, wenn sie per Definition und Natur ihr letztes Reserverad sind. Mathias ist einer von ihnen. Er argumentiert eher, als dass er ideologisiert: “Die Gewerkschaften haben mobilisiert”, sagt er, “und zwar ziemlich massiv. Das ist schon etwas, und für viele ist es ihnen zu verdanken, dass in den Demonstrationszügen verschiedene Bekanntschaften geknüpft wurden, dass Begegnungen entstanden sind, dass Emotionen geweckt wurden. Wenn man nicht, wie in diesem Falle, um den Laden oder den Apparat konkurriert, ist man mit seiner Klasse eins. Selbst auf die Gefahr hin, sich von der gewerkschaftlich organisierten Menge zu emanzipieren, sobald der Wunsch nach einem wilden Ausbruch aufkommt.” Und das war nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie groß die cortèges de tête waren.

Der Ruf des Zbeul hätte also etwas mit der Vorahnung einer fast existenziellen Sackgasse zu tun, die den Gewerkschaftsdemonstranten unweigerlich in einen Akteur einer Sache verwandelt, die nur teilweise die seine ist. Es ist bequem und beruhigend, zwischen Transparenten und Spruchbändern zu demonstrieren, aber es füllt die Seele nicht aus. Und da die fast schon militärische Disziplin, die die Stärke dieser Kohorten ausmachte, glücklicherweise schon lange nicht mehr gegeben ist, gibt es nur noch kleine Soldaten – sehr kleine -, die lediglich für einen mageren Ordnungsdienst sorgen, der im Übrigen völlig wirkungslos ist, um dem geringsten Polizeiangriff standzuhalten. Ansonsten neigt man dazu, sich dort zu langweilen. Auch wenn die Masse da ist und man manchmal spürt, dass sie überkocht.

Um endgültig unfassbar zu werden, und aus dem Rahmen zu fallen, sieht Mathias keine andere theoretisch zulässige Perspektive als in der angenommenen Desidentifikation. Im Klartext: in der Tatsache, dass man in den Dispositiven, die das System für uns definiert, nie an seinem Platz ist. “Ich habe das während der Gelbwesten-Bewegung verstanden. Die Weste war ein Zeichen der Anerkennung, kein Anspruch auf Identität. Und dann wurde sie zu einem Beschwerdeheft: Auf der Rückseite notierte man die Botschaft, die man übermitteln wollte, und zeigte an, wie sehr man sich am Bürgeraufstand beteiligte. Aber sie wurde auch zur Zielscheibe. Heute gibt es bei den Zbeuls in Frankreich und Navarra jede Menge Gelbwesten, aber viele sind ohne Weste unterwegs. Und das ist der Beweis für die politische Intelligenz dieser Bewegung, denn es gibt sie, aber sie achten darauf, die Spuren zu verwischen, sich zu verbergen, sich zu bewegen, Schritte zur Seite zu machen, sich zu maskieren oder zu offenbaren, je nachdem.”

Der Zbeul ist gleichzeitig eine Strategie des randalierenden Herumstreunens, einer Allergie gegen Fangnetze, eine gewisse Fähigkeit, ein Bordel zu organisieren, und eine Entschlossenheit, sich den von der Ware kolonisierten Raum wieder anzueignen, einer Taktik zur Erschöpfung der behelmten Ordnungskräfte und eines Großen Spiels der fröhlichen Leidenschaften, in dem es zunächst nicht darum geht, das Kapital und den Staat zu besiegen, sondern mit Fantasie und an verschiedenen Orten die legitime Kraft unseres unendlichen Willens, ihm zu schaden, indem wir uns von ihm emanzipieren, wiederherzustellen. Diese “Streiks” des Zbeul, von denen Mathias spricht, und die abseits der markierten Wege den Querweg und den Echo-Effekt suchen, gehen über die einfache Taktik hinaus. Sie stellt in der Spontaneität ihrer Taten eine nicht parasitäre Beziehung zu der Bewegung her, die sie hervorgebracht hat. Denn es geht nicht darum, Recht zu haben, sondern darum, das eigene Recht als Teil eines Ganzen, aber immer als einzigartig zu erleben. “Alle Formen sind überholt”, sagt Mathias, “die Gewerkschaften ebenso wie die Parteien, aber sie haben noch ihren Nutzen, um eine große Anzahl zu stellen und in dieser Anzahl Affinitäten zu koalieren, die zur Überschreitung und zum Abdriften neigen.” Und weiter: “Auch hier haben die Gelbwesten den Weg für eine neue Vorstellungswelt des Offensiven geebnet. Und von sich aus, durch sich selbst, haben sie sich Verbündete gesucht. Es stimmt, dass angesichts der geringen Unterstützung, die sie von den Gewerkschaften, den Nerds und dem kulturellen Kleinbürgertum erhalten haben, die einzigen, die sie zur Hand hatten, die Black Blocks waren. Erstaunlich ist, wie schnell sie das verstanden haben, indem sie den Medien- und Polizeidiskurs, mit dem sie, wie alle anderen auch, vollgestopft worden waren, wie ein Nichts abstreiften. Wenn du dir heute ansiehst, was auf allen Demonstrationen passiert, dann ist kein Lager wirklich festgefahren. Es gibt viele Brücken. Du kannst in einer Gewerkschaftskolonne demonstrieren, indem du dich durch sie schleppst, aber du kannst sie auch zu deiner Rückzugsbasis machen, bevor du wieder ein Schaufenster stürmst. Das geht so weit, dass man daraus schließen kann, dass es zumindest in den Großstädten und insbesondere in Paris eine neue Geografie der Demonstrationszüge gibt. Man sieht dort jede Menge Archipele, die von scheinbar gegensätzlichen Gezeiten angetrieben werden, wo aber niemand, außer den letzten Avantgarden, behauptet, die Wahrheit über das Ganze zu besitzen.”

Sie sagt: “Was mich an dieser Bewegung fasziniert, ist ihr Echo auf die überbordenden Volksinitiativen, die die Pariser Vorstädte in den Monaten vor dem Sturm auf die Bastille zeigten.” Mathilde – wir werden sie so nennen -, eine emeritierte Geschichtsprofessorin an der Sorbonne und Spezialistin für die Große Revolution, ist der rote Faden in der Geschichte. Im Feuer des Wiedersehens hatte ich Mathias verloren, der es nicht mehr ausgehalten hatte und in die vorderste Front der Konfrontation hatte aufsteigen wollen. Mathilde erklärt mir: “Noch faszinierender ist, dass sich die Sozialgeschichte immer nach demselben Muster abspielt, nämlich dem der Ansteckung. So geht alles auf eine Provokation von Jean-Baptiste Réveillon, dem Besitzer der Königlichen Tapetenmanufaktur, zurück, der am 23. April 1789 beschloss, die Löhne mit der Begründung zu senken, dass die Arbeiter zwar mit zwanzig Soles pro Tag leben könnten, es aber keinen Hinweis darauf gebe, dass sie es nicht auch mit fünf weniger könnten. Das war wenige Tage vor der Eröffnung der Generalstände. Henriot, ein Salpeterfabrikant, fand Réveillons Idee gut und übernahm sie für seine kleine Belegschaft. Es rumorte, es wurde unruhig, es regte sich unter dem Gesindel. Und dann, mit einem Mal, stieg es auf. Auf einen Schlag: Am 27. April wurden zwei Schaufensterpuppen mit dem Bildnis von Réveillon und Henriot auf dem Place de Grève verbrannt und die hasserfüllte Menge zog in die Rue de la Cotte zu Henriot, wo alles zerstört wurde; am 28.April war “la folie Titon”, Réveillons Wohnsitz, an der Reihe, verwüstet zu werden. Die Grands Crus von Château-Margault, die dort gelagert waren, wurden in der “régalade” heruntergeholt. So begann die Große Revolution. Wie ein Mülltonnenfeuer, das sich ausbreitet und das niemand löschen kann, weil seine Lichter die Zukunft blenden.”

Mathilde hatte in einem fort gesprochen, wie vom Atem ihrer Erzählung getragen.

– Ein großer Zbeul”, sagte ich.

– Ein was?

– Ein Zbeul, eine Ansteckung mit Unordnung, ein Überschreiten von Schwellen, ein Vorwärtsmarsch bis zum Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt?

– Ja, so etwas in der Art. Eine Dynamik, bei der die einzige Frage, die es zu entscheiden gilt, ist, wie weit man geht. Dieser vorrevolutionäre 28. April war, so heißt es, mit Ausnahme des 10. August 1792, der tödlichste Tag in einem langen Prozess, der zum Sturz des Ancien Régime führte.

– Und wie werden in deinem scharfen Verstand die heutigen Ausschreitungen mit denen von gestern in Verbindung gebracht?

– Um die Wahrheit zu sagen, die wahren Ausschreitungen von heute müssen noch kommen, aber alles deutet darauf hin, dass Macron aufgrund seiner Person und der Substanz seiner Arroganz das Feuer schüren wird. Die Geschichte könnte ihm eine große Hilfe sein, aber das ist Macron egal. Als alles in Scherben von seiner Macht fiel, beruhigte Brienne, der Premierminister Ludwigs des Sechzehnten, ihn: “Ich habe alles geplant, Sire, sogar den Bürgerkrieg.” Und der König ging auf die Jagd. Bevor er selbst von einem Volk gejagt wurde, das sich seiner Stärke bewusst wurde und schließlich die Angst verlor. Das ging am Ende schnell, denn sobald man sich von der Angst vor der Autorität emanzipiert hat, ist es die Angst, die die Seiten wechselt. Macron ist ein kleiner, unscheinbarer Despot. Das darf man nie vergessen. Diese hundert Tage zur Beruhigung haben gerade erst begonnen und das Land lärmt von tausend Wutausbrüchen. Von nun an ist kein Winkel des Landes mehr ein Schutzraum für ihn und seine Minister. Wenn der Zbeul, wie du sagst, anhält, sich ausweitet, sich ausbreitet und man nicht sehen kann, was ihn stoppen könnte, wird man nicht hundert Tage warten, um die Carmagnole zu tanzen. So ist dieses Land, was McKinsey entgangen ist.

Anmerkungen Übersetzung

  1. Eine Grévilla ist teils ein Streik (grève), teils ein ‘Guerillakampf’. Darunter werden z.B. die gezielten Stromabschaltungen durch Beschäftigte der E-Werke verstanden, bei denen bestimmten Institutionen oder prominenten Politikern der Strom abgedreht wird. Angedroht wurde des Weiteren auch dem Filmfestival in Cannes nächsten Monat das Licht auszuschalten, sowie den Großen Preis von Monaco, das französische Tennisturnier in Roland-Garros und das Theaterfestival in Avignon zu stören.
  2. Abfällige Bezeichnung für jene, die man hierzulande als Salonkommunisten bezeichnen würde.
  3. Das Wort kommt vom Arabischen “زبل, zebl’ ” und bedeutet eigentlich Gestank oder Dung. In den Banlieues wird zbeul oder sbeul als Begriff für Chaos, Unordnung, Krawall verwendet und hat mittlerweile den Weg aus den Vororten gefunden. 
  4. Anspielung auf einen populären französischen Film über eine Handvoll Rugbyspieler. 

Erschienen auf französisch am 25. April 2023 auf A contretemps, übersetzt von Bonustracks.

Vom “Unbewussten” zur Welt

Zibodandez & Alii

“Kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass der Mensch noch eine Seele haben wird, wenn die Biologie und die Psychologie ihn gelehrt haben werden, sie zu verstehen, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu behandeln?”

Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften

Gruppen werden gebildet und zerfallen. Eine Gruppe ist nur eine Form, deren Existenzdauer durch die Notwendigkeit ihres Entstehens bestimmt wird – unermesslich, zum Glück! Denn die Dauer der Existenz einer Gruppe ist immer eine Singularität und hängt von ihrer eigenen Erfahrung ab. Auf unseren verschiedenen Wanderschaften – ob politisch oder nicht – sind Gruppen das Nest der furchtbaren Gemeinschaften (Tiqqun). Sich in einer Gruppe einzukapseln bedeutet, sich festzulegen und zu beobachten, wie die Identität es sich bequem macht. Diese furchtbaren Erfahrungen führen zu einer militanten Besessenheit, sich um die Mitstreiter und die Gruppe – und sogar um andere Gruppen – zu kümmern. Die Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge verschwindet zugunsten eines medizinalistischen Blicks, in dem jedes Phänomen potenziell krank ist. Alles tendiert so dazu, analysierbar und analysiert zu werden, einschließlich des Intimsten, dessen verschiedene Konflikte durch die Sprache offengelegt werden müssen, um sie abzuwenden. Das Unbewusste als angebliches Herz der Intimität wird zu einem Objekt, das es einzufangen und in seiner ganzen Tiefe zu sezieren gilt. Den anderen mit einem psychologisierenden Blick zu erfassen, bedeutet jedoch, ihn beherrschen zu wollen, nicht ihm zu begegnen. Wenn man außerdem bedenkt, dass eine der Komponenten der zeitgenössischen Entfremdung tatsächlich in einem Mangel an Welt, in einer Trennung von der Welt, in einer Maskierung der tatsächlichen Verbindung zwischen Innerlichkeit und Welt besteht, ist jedes psychologisierende Verständnis von Gemeinschaft nicht nur vergeblich, sondern hält diese Trennung aufrecht und festigt eine furchtbare Gemeinschaft.

Seit ihren Anfängen und bis heute besteht das gesamte Unterfangen der Psychologie darin, das Subjekt von seiner Welt zu isolieren und eine klare Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu ziehen. Dieses Postulat betrifft sowohl die neurowissenschaftlichen Ansätze als auch die Psychoanalyse. Denn die Erforschung des Unbewussten durch Letztere zielt darauf ab, die Tiefe des Lebens für den Verstand und die Vernunft transparent zu machen und sie vom Logos abhängig zu machen. Die Innerlichkeit und ihr unsagbarer Teil werden zu einem metapsychologischen Gegenstand, der wissenschaftlich erforscht werden muss, ein Ansatz, der die Idee einer Innerlichkeit vermittelt, die auf die gleiche Weise wie die Objekte des Bewusstseins erfasst werden kann. “Dieses Unaussprechliche”, so Minkowski, “ist nicht auf die Unzulänglichkeit unserer Ausdrucksmittel zurückzuführen, sondern scheint das Ganze zu bergen, aus dem der Rest nur hervorgeht. Daher empfinden wir sie keineswegs als eine Unzulänglichkeit, die es zu überwinden gilt; im Gegenteil, unsere Intuition sagt uns, dass unser Leben in seiner unerschöpflichen Bewegung nur dank dieses unendlich beweglichen Grundes des Unaussprechlichen, auf dem es ruht, das ist, was es ist” (Eugène Minkowski, Traité de psychopathologie). So sind Freuds Arbeiten trotz ihres scheinbaren Bruchs mit dem Primat des Bewusstseins, das von der psychophilosophischen Tradition Cartes’ errichtet wurde, in Wirklichkeit von einem wissenschaftlichen Naturalismus geprägt, der ebenso verdinglichend ist wie Descartes’ Res Cogitans. Der psychoanalytische Ansatz ist kein Ausweg angesichts der Subjekt-Objekt-Spaltung, sondern eine Verinnerlichung der objektiven Realität. Die Introspektion wird so zum Korrelat einer Entfremdung von der Welt, und die Zivilisationskrankheit schlägt Wurzeln. Die Säkularisierung der Wahrnehmungsebene der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – jener Wahrnehmungsebene, auf der das Unbewusste beruht – hat es dem Kapital darüber hinaus ermöglicht, seine Lebensform zu konsolidieren.

Das relationale Leben auf Objektbeziehungen zu reduzieren, bedeutet, sich in einem Deutungsraster zu verfangen, das die Zerstörung jeder Möglichkeit der Begegnung vollendet. Denn das Leben geht über die Gesetze der Psychologie hinaus. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen auf die psychoanalytische Erforschung des Unbewussten zu stützen, ist keineswegs eine Berücksichtigung der Intimität; es handelt sich im Gegenteil um ihre Verneinung. Denn das Unbewusste, von dem dann die Rede ist, hat nichts von der Tiefe der Innerlichkeit; es dehnt lediglich die objektive und raumbildende Äußerlichkeit auf die Innerlichkeit aus und bleibt in diesem Sinne oberflächlich, wodurch es dann jede wahre Tiefe durch seinen Anspruch, das einzige Mittel zu sein, um zu ihr zu gelangen, verdeckt.

Die Psychoanalyse macht dieses Unbewusste zum neuen hegemonialen Primat des Verständnisses des Subjekts außerhalb der Welt. Es ist eine Sache, die libidinösen Prozesse zu beschreiben, die der modernen Zivilisation eigen sind – wie Freud es getan hat -, aber es ist eine andere Sache, diese libidinösen Prozesse als Ausgangspunkt und Horizont aller politischen und therapeutischen Überlegungen zu nehmen, und sie trägt alle Züge eines morbiden Rationalismus (Minkowski). Eine solche Lebensauffassung zu vertreten, bedeutet, die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu naturalisieren und damit die Anthropomorphose des Kapitals zu bestätigen (Cesarano). So wie der Wissenschaftler nicht mehr die Welt, sondern ein in Gleichungen erschöpfbares physikalisches Universum sieht, so sieht auch der Anhänger eines psychologisierenden Deutungsrasters des Lebens nicht mehr die Tiefe unseres Seins und der Welt, sondern eine Topik mit einem verdinglichten und statischen Unbewussten, das es zu sezieren gilt.

Es gibt natürlich Psychoanalytiker, die interessanter sind als andere – darunter D. W. Winnicott, dessen Konzepte des Übergangsobjekts und des Übergangsraums (Spiel und Realität) (die es ihm ermöglichen, aus dem Freudschen psychoanalytischen Korsett auszubrechen), keine trieborientierte, sondern eine existentielle Bedeutung haben – und die Sackgassen der Psychoanalyse aufzuzeigen, bedeutet nicht, zu leugnen, was beispielsweise das Setting einer psychoanalytischen Psychotherapie ermöglichen kann. Was in der heutigen Zeit Fragen aufwirft, ist vor allem der Aktivismus, der versucht, diese aus der Psychoanalyse stammenden Konzepte auf die Organisation des kollektiven Lebens auszudehnen, auf die Gefahr hin, die gleiche institutionelle Gewalt zu reproduzieren, die die Psychiatrie mit der Aufforderung zur ständigen Selbstanalyse erlebt hat, unaufhörlich zu versuchen, die psychologischen Triebfedern zu identifizieren, die uns bewegen, und sich somit letztlich als ein “Ich” zu begreifen, das von psychologisierenden Gesetzen regiert wird und grundsätzlich von der Welt und den anderen abgeschnitten ist – und sich nicht mehr anders auf sie beziehen kann als durch Projektion und Übertragung oder, was die Realität betrifft, indem man sich an ihr reibt, ohne sie jemals zu erreichen. Diese Anrufung psychologisierender Theorien als Paradigma eines wünschenswerten Zusammenlebens – sowohl von Seiten der Institutionen als auch von Seiten der Aktivisten – nimmt insofern biopolitische Züge an, als sie es dem kybernetischen sozialen Geflecht ermöglicht, sich sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch des Subjekts zu etablieren. Das Sinnliche und Ethische wird durch die Etablierung neuer Normen und Moralvorstellungen der linken Militanz ausgelöscht, die sich damit, wenig überraschend, der Richtung anschließt, die das Kapital und die Verhaltenswissenschaften eingeschlagen haben.

Der Versuch, aus der kybernetischen Ökonomie und Gouvernementalität, in der wir uns subjektivieren, auszubrechen und einen authentischen Zugang zu anderen, zur Welt und zu uns selbst anzustreben – die alle im Grunde ein und dasselbe sind, wie der japanische Psychiater Bin Kimura in Aida sagt -, kann keinesfalls durch das Hinzufügen einer psychologischen Schicht zu diesem bereits erdrückenden Gedankengebäude erfolgen. Die Fortsetzung der Geste Cesaranos, der 1974 schrieb: “Das Ende des Ichs wird die Genesis der Präsenz sein”, bedeutet, die Kritik am Ego fortzusetzen und die libidinöse und ökonomische Ökonomie zu zerschlagen. Eine der Komponenten des Desasters unserer Zeit ist zweifellos diese Pflege des “Ichs” und seine ständige Aufwertung sowohl auf politischer als auch auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Mit diesem “Ich” der Anthropomorphose des Kapitals Schluss zu machen bedeutet einen Wechsel der Wahrnehmungsebene, eine “Umkehr”, wie Martin Buber in “Ich und Du” sagt, und deren Bedeutung keineswegs psychologisch, sondern ethisch ist. 

Die intime Erfahrung der Innerlichkeit – das heißt, so wie sie wirklich gelebt wird – öffnet uns die Welt nicht nur in ihrer Äußerlichkeit, sondern auch und vor allem in ihrer Innerlichkeit, die Rilke als Weltinnenraum bezeichnet, der laut Blanchot “nicht weniger die Intimität der Dinge ist als die unsrige und die freie Kommunikation des einen und des anderen, eine mächtige und uneingeschränkte Freiheit, in der sich die reine Kraft des Unbestimmten behauptet” (M. Blanchot, Der literarische Raum). Das Begehren ist nicht libidinös, sondern existenziell, es richtet uns auf die Welt aus (wie R. Barbaras in Le désir et le monde [Das Begehren und die Welt] entwickelt) und impliziert, mit dem Ego abzuschließen. “Die Welt ist alles, was stattfindet”, sagte Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus). Wenn es etwas gibt, das die Psychologie und jede wissenschaftliche Reduktion des Lebens niemals erfassen können, dann ist es die Idee, dass tief in unser Sein zu gehen gleichzeitig bedeutet, in die Welt zu gehen.

Erschienen im französischen Original im April 2023 auf Entêtement, übersetzt von Bonustracks. 

Gegen die Partei des Todes

Raoul Vaneigem

Befreien wir das Leben, befreien wir die Erde!

Was jetzt auf dem Spiel steht, ist unser Schicksal als Menschen.

In einer gnadenlosen Konfrontation stehen sich die staatlichen und globalistischen Instanzen des Profits und ein Volk gegenüber, dessen Leben unter dem Druck der herrschenden Gier auf ein Minimum reduziert wird.

Der Staat hat ein Interesse daran, diesen Konflikt in die Länge zu ziehen, denn Unterdrückung ist die letzte Funktion, die es ihm ermöglicht, zu existieren. Gleichzeitig ahnen immer mehr von uns mit einer Mischung aus Begeisterung und Besorgnis, dass wir in Jahre eintreten, deren Verlauf uns eine entscheidende Wahl abverlangt. Wir stehen vor einer Option, die unser Schicksal bestimmen wird. Sie ist simpel.

Entweder haben wir uns damit abgefunden, den Planeten zu veröden, und arbeiten an unserer eigenen Zerstörung.

Oder wir engagieren uns in einem Kampf für die Souveränität des Lebens und der menschlichen Werte.

Wollen wir uns engagieren? Nein! Schluss mit humanitären Predigten und Ermahnungen! Die Zeit ist nicht länger eine Zeit des guten Willens. Sie ist die Zeit der vollendeten Tatsachen.

Die Gelbwesten haben eine festliche Besetzung der Straßen und der Herzen initiiert. Sie berührten Millionen von Menschen, die aus einem halben Jahrhundert der Lethargie erwachen und ihre Menschlichkeit wiederentdecken, die ihnen die Herrschaft der Ware immer wieder genommen hat. Ein Volk erhob sich, angetrieben von einer leidenschaftlichen Anziehungskraft. Seine Intelligenz des Lebendigen hat die Aufklärung wiederbelebt, die das revolutionäre Frankreich in die Welt hinausgetragen hatte und die ein Obskurantismus aus heruntergekommenen Schwachköpfen zu verdunkeln suchte.

Soziologen werden tausend Erklärungen für diese psychosoziale Galvanisierung finden, die unerwarteter und überraschender war als der Mai 1968, dessen Vorboten bekannt sind. Man wird mit dem Finger auf die steigenden Kosten des Überlebens, die Rezession und die steigenden Steuern zeigen. Man wird auf die zersetzende Langeweile verweisen, die Ressentiments und Aggressionen ausstrahlt, um im “Phänomen” der Gelbwesten letztlich nur ein kurzlebiges Jubelfieber zu erkennen, das die schäbige Mittelmäßigkeit der Umgebung für die Dauer von ein oder zwei schnell niedergeschlagenen Krawallen durchbricht.

Genau das ist nicht passiert. Nicht nur, dass sich das traditionelle Szenario des besiegten Aufstands nicht wiederholte, sondern die Eintagsfliege erlebte eine ebenso ungewöhnliche wie bemerkenswerte Eklipse. Ein breiter Strom von Unruhen festigte sein Fundament. Er entwickelte sich unter dem verächtlichen Blick des Konservatismus und des Progressivismus. Die extreme Rechte, die gehofft hatte, sie zu verschlingen, hat sich daran die Zähne ausgebissen. Die Linke machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung darüber, dass sie in dieser ungleichen Horde keine Spuren des Proletariats finden konnte, das durch ihre Politik in den Bankrott getrieben worden war.

Was kam bei dem Tumult heraus? Ein paar wütende Ausbrüche. Kein Programm, außer einer einleitenden und rudimentären Warnung, die seltsamerweise kein noch so radikaler Aufstand in der Vergangenheit vorsichtshalber übernommen hatte. Es war eine klare, unmissverständliche und folgenschwere Warnung: “Keine Führer, keine selbsternannten Delegierten, keine Vertreter von politischen und gewerkschaftlichen Apparaten. Der Mensch an erster Stelle!”

Dass sich die Resolution keinen Zentimeter verändert hat, ist weniger Ausdruck moralischer Standhaftigkeit als vielmehr ein Indiz für eine tiefere Verankerung. Irgendwann wird man sich darauf einigen müssen: Die Substanz der Aufstände, die überall auf der Welt aufflammen, erlöschen und wieder aufflammen, ist das Leben und sein Bewusstsein.

Die Mobilisierungen zur Verbesserung der Überlebensbedingungen sind nicht verschwunden, aber sie reichen schlicht und einfach nicht mehr aus. Sie sind einfach überholt. Deshalb hat sich das Gefühl des “Da-Seins” wie eine Musik des Lebendigen auf der Suche nach Harmonie unwiderstehlich ausgebreitet. Ausgehend von einer Handvoll “akkulturativer Rüpel” hat es die Dimension eines universellen Volkes erreicht, das keine Westen, Farben oder Parolen mehr braucht, um seine Entschlossenheit zu bekräftigen und zu schärfen.

Dieses Volk ist mit keiner Mission ausgestattet und hat keine eschatologischen Ansprüche. Es ist sich plötzlich bewusst, dass es die massive Präsenz von Menschen zu tragen hat, deren Leben geraubt wurde, für die Autonomie ein Trugbild und Menschlichkeit ein bedeutungsloses Wort war. Eine immer wieder neu entstehende Welle befreite es von der Unwürdigkeit, zu der es verurteilt worden war. Er machte sich daran, eine natürliche Freiheit wiederzuerlangen, die nichts anderes ist als der Lebenstrieb, der in allen Menschen vorhanden ist.

Der Klassenkampf war die historische Form, die der Wille zur Emanzipation, den die Sklaven immer gegen ihre Herren erhoben haben, im Zeitalter des industrialisierten Kapitalismus annahm.

Der Klassenkampf ist untrennbar mit dem Klassenbewusstsein verbunden, das dem Proletarier die Waffen verleiht, die er braucht, um sich aus der Proletarisierung zu befreien. Die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung und die konsumistische Kolonialisierung haben nur scheinbar zur Liquidierung des Proletariats und seines Projekts einer Gesellschaft ohne Klassen geführt.

In den Aufständen des täglichen Lebens verkörpern sich heute die egalitären Freiheiten, die den Sklaven nie vergönnt waren.

Doch das Joch der Herren, das ihnen die Lenden brach, zerfällt. Es hält der Implosion des Marktsystems, dem Zerfall der Macht, dem Verfall der Autorität und der Entfesselung des verrückten Geldes nicht mehr stand. Eine Welt bricht zusammen, die dem Tod geweiht war. Es liegt an uns, sie durch die Ausrottung des Aaskults zu evakuieren.

Die Schaffung und Vermehrung unserer Oasen überall wird zur einzigen Wahl, da die Verarmung voranschreitet und mit kleinen Schritten die Plünderung von Supermärkten, die Sabotage von Zahlungsautomaten, das Niederbrennen von Steuerzentren und das Verbrennen von Rechnungen ankündigt. Die Macht der Besitzenden soll die Verantwortung für das Feuer übernehmen, das sie entfacht hat. Wir, die wir uns nur nach den Feuern des Lebens sehnen, nehmen mit ruhigem Realismus eine Feststellung zu unseren Gunsten auf: Die Quantität des Habens, die das Überleben definiert, wird durch die Qualität des Seins ersetzt, die das Leben begründet. Mit anderen Worten: Die Warengesellschaft bricht zusammen und überlässt es der menschlichen Gesellschaft, die Trümmer wegzuräumen.

Es sei denn, die Partei des Todes überzeugt uns davon, sie bei ihrem Sturz zu begleiten! Sind 10.000 Jahre Selbstzerstörung in einem Tropfen vollen Lebens lösbar? Bezweifeln Sie das? Aber was ist das? Zum ersten Mal in der Geschichte fällt sogar die Selbstzerstörung vor Überdruss in sich zusammen. Der Tod ist eher lästig als beängstigend geworden. Das Leben, das voranschreitet, ignoriert die Angst. Es öffnet sich einer Gegenwart, in der alles möglich ist.

Der Frühjahrsputz zeigt, dass der Frühling zu allen Jahreszeiten gehört. Wie kann man das bestreiten, wenn man sieht, wie die Kämpfe für die Befreiung der Erde und für das Recht, auf ihr zu leben, ideologische und religiöse Überzeugungen, von denen nur noch ausgeweidete Kadaver übrig geblieben sind, wie Strohhalme wegfegen. Wenn die Macht sich noch die Mühe macht, mit ihnen zu hantieren und sie gegeneinander auszuspielen, dann deshalb, weil sie gezwungen ist, zu teilen, um zu herrschen, und weil sie ihnen genug Glaubwürdigkeit verleihen muss, um sie für ihre Sündenbockstrategie einzuspannen.

Der Klientelismus hat Konservatismus und Progressivität zu austauschbaren Waren gemacht. Noch gestern machte ihr Antagonismus sie plausibel. Wenn die öffentliche Meinung hört, dass der faschistische Populismus die gemeinsame Freiheit fordert, sich nicht impfen zu lassen und Migranten zu ertränken, während der linke Populismus für eine Impfpflicht plädiert, als ob er nicht wüsste, dass er damit den Weg zu einem Sozialkredit nach chinesischem Vorbild ebnet, dann muss man sich schon fragen, was bei den bevorstehenden Wahlen auf dem Spiel steht.

Ist es nicht das gleiche verwirrende Gedankengut, wenn die Ökologie bei Behörden, die sie ausrotten, um Artenschutz bettelt? Das Gejammer, das die Polizeigewalt hervorruft, ist süß in den Ohren der Elenden, die sie erregen. Was erhoffen Sie sich von Regierungen, die im Sold von Finanzmafias stehen, die entschlossen sind, die Schubladen des Gemeinwohls zu leeren, die die Arbeiterkämpfe der Vergangenheit gefüllt hatten?

Paradoxerweise wird uns, während wir durch ein Niemandsland aus Nacht und Nebel waten, alles klar. Wir sind die Ausgeburt des Lebens und beanspruchen dies auch für uns. Unsere Feinde sind die Partei des Todes. Egal, wie furchterregend ihr Kriegsarsenal ist, es genügt ein Rest von Lebendigem, der in ihr mechanisches Verhalten eingedrungen ist, um sie zu destabilisieren und in die Irre zu führen.

Sie verfügen über Waffen, die sie langsam vergehen lassen, wenn sie schießen. Wir haben keine anderen Waffen als das Leben. Sie besitzen die Unentgeltlichkeit des Unerschöpflichen. Ihre Macht ist unerschöpflich, denn es sind nicht die Waffen, die töten.

Es ist niemandem entgangen, dass der Atem der großen sozialen Kämpfe die abscheulichsten Vorurteile zerstreut. Der Wille zur Emanzipation geht über das Alte, das uns durchdrungen hat, hinaus; er löscht es nicht aus, sondern löst es auf.

Im politischen Landerneau ist man besorgt über die ungesunden Ausdünstungen einer Neonazi-Folklore. Der faschistische Populismus ist zum bevorzugten Ziel von linken Aperos geworden, bei denen man Berneris Aussage vergessen hat: “Nur der antikapitalistische Kampf kann sich dem Faschismus entgegenstellen. Die Antifaschismusfalle bedeutet die Aufgabe der Prinzipien der sozialen Revolution. Die Revolution muss auf sozialem und nicht auf militärischem Gebiet gewonnen werden”. Wo man im gleichen Atemzug vergisst, wie viele dieser tapferen Aktivisten empfahlen, für einen frühreifen, knüppelfummelnden Verwöhner zu stimmen, um den Weg für eine heruntergekommene Obersturmführerin zu versperren, die den Konkurrenzladen nebenan betreibt.

Die Macht hat in uns immer eine existentielle Hölle geschürt, in der sich die Unterdrückung der Lebensimpulse in Todesreflexen entlud. Kriege, Aufstände, Religionen und Ideologien boten dem Selbsthass und dem Hass auf andere ausreichend Ventile, um das Leben nutzlos, wertlos und inexistent erscheinen zu lassen.

Das Fehlen großer Konflikte, die Befriedung durch den Konsum, die zunehmende Kleinlichkeit des Profits, die bürokratische Einäscherung von Revolutionen, der knochenlose Müll, auf den sich mafiöse Ideologien und Religionen reduzieren, haben den Tod sozusagen aus seiner maßlosen Fresslust gerissen, aus dem übermäßigen Verzehr, der ihm bis zu den hitlerisch-stalinistischen Hekatomben zugestanden wurde. Nachdem die Majestät des Großen Sensenmanns auf dem Markt etwas entthront und entwertet worden war, sprach man vom Leben wie von einem ungewöhnlichen Gegenstand, der von einem Archäologen ans Tageslicht gebracht worden war.

Die totalitäre Demokratie, die die Diktatur des Freihandels errichtet hat, war gezwungen, die Angst zu retten, auf die keine hierarchische Macht verzichten kann. Nach dem Abklingen einer Panik, die durch den tragikomischen Umgang mit dem Coronavirus ausgelöst wurde, nach dem Flop des aus der Ukraine importierten Atomterrors, nach einer zu unsicheren Invasion von Außerirdischen hätte man gerne auf die rechtsextreme Eiterbeule zurückgegriffen, die Mitterrand zur Sanierung seiner petainistischen Fistel gedient hatte, aber die Eiterbeule war längst geplatzt. Die staatlichen und überstaatlichen Ordnungskräfte greifen nunmehr auf einen Terror ohne Ideologie, auf blinde Repression, auf eine kollektive Vergewaltigung, auf einen Horror ohne kontrollierte Bezeichnung zurück.

Wir sind die Beute eines Faschismus mit Stiefeln, Helmen, Motorrädern, Vergewaltigern, Knüppeln, Messern und Killern. Er gehört nicht zur rechtsextremen Partei, auch wenn diese seine Taten beklatscht. Seine Barbarei trägt das Siegel der Legalität. Sie ist die Ausdrucksform der Regierungs- und Globalisierungsmilizen. Der Faschismus ist der bewaffnete Arm der Partei des Todes. Er ist der Kult des Aas’ schlechthin. Er kassiert den Zehnten davon.

Die Polizei, die von Ressentiments und Frustrationen geplagt ist und sich dafür rächt, indem sie alles verprügelt und massakriert, was in ihre Reichweite kommt, hat einigen Grund, sich über unsere Empörung, unsere humanitären Proteste, unsere Petitionen und unsere Beschwerdehefte lustig zu machen. Warum sollten sie nicht kichern, wenn sie sehen, wie wir um Gnade für mechanisierte Marionetten betteln, die sie insgeheim als hässliche Wischmops empfinden?

Sie warten fieberhaft nicht darauf, dass wir sie lieben, sondern dass wir sie hassen. Ihr Selbsthass und ihr Hass auf das Leben werden von der Angst genährt, die sie empfinden und die sie verbreiten. Die Konflikte der Vergangenheit ließen es nicht an Klarheit fehlen. Der Feind machte Sinn, er war der Nazi, der Kommunist, der Invasor, der Barbar aus einem anderen Land. Aber welchen Grund wird der Schlagstock anführen, um auf eine Menge von Spaziergängern einzuschlagen, wenn er durch den unwahrscheinlichsten aller Zufälle zum Denken kommt?

Diese Abwesenheit eines Grundes ist an sich schon eine Frage. Sie nicht zu beantworten, wirft sie auf den Fragesteller zurück. Es kann sein, dass sie sich in ihm dreht und wendet, dass sie ihn mit ihrer Absurdität quält. Aber wie lange wird es dauern, bis sie die Truppe dazu bringt, ihre Stöcke in die Luft zu strecken?

Die andere Möglichkeit ist, zu antworten, aber nicht die erwartete Antwort zu geben. Was ist die erhoffte Antwort? Verachtung, Ablehnung, Verachtung, Kampfanzug, Abstieg in die Arena. Ein Verhalten, bei dem wir unsere Menschlichkeit verlieren würden, um uns im Überhang vorwärts zu bewegen und in die Barbarei einzutreten.

Da die erwartete Reaktion lautet: “Wir werden euch die Existenz unmöglich machen”, sollten wir umgekehrt erklären: “Wir werden euch das Leben möglich machen”. Nicht, weil wir provozieren wollen, sondern weil wir unserem humanen Projekt treu bleiben.

Es wäre illusorisch, ja sogar lächerlich, auf eine Dissoziationsarbeit des Polizisten zu setzen, die ihm eine Chance gibt, seine Menschlichkeit wiederzuerlangen, indem er die Maschine zur Zerschlagung des Lebens, deren Opfer er selbst ist, im Stich lässt. Aber was riskieren wir, wenn wir ihm – aus der Ferne und geschützt vor seinen sadomasochistischen Reflexen – mitteilen, dass wir weder Vergebung noch Vergeltung wollen? Dass wir nur wollen, dass das Leben allen und jedem gehört, ohne Ausgrenzung.

Wir haben keine Botschaft zu adressieren, wir haben ein Experiment, das wir ohne Unterbrechung durchführen müssen. Es liegt an uns, die Besetzung unseres Landes fortzusetzen, unser Wasser selbst zu verwalten, überall auf der Welt Mikrogesellschaften zu gründen, in denen die Versammlungen jedem die freie Äußerung seiner Wünsche, ihre Verfeinerung und ihre Harmonisierung ermöglichen (die Erfahrung der Zapatisten zeigt, dass dies möglich ist).

Wagen Sie es, von Utopien und Hirngespinsten zu sprechen, während Frankreich den Schwung wiederfindet, der es vom Ancien Régime befreite. Während sich vor unseren Augen Gemeinschaften herausbilden, in denen die Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, die ihrer Substanz beraubt worden waren, in gelebter Authentizität verkörpert werden?

Unsere Revolution wird die Revolution des Genießens gegen die Aneignung, der gegenseitigen Hilfe gegen die Räuberei, der Schöpfung gegen die Arbeit sein.

Die Unveränderlichkeit unseres menschlichen Projekts nicht aufzugeben, schafft einen existenziellen und sozialen Zusammenhalt, der die Mittel und den Einfallsreichtum hat, einen entmilitarisierten Guerillakrieg zu führen, der den verrottenden staatlichen Totalitarismus ständig belästigt.

Diejenigen, die auf unsere Atemlosigkeit setzen, wissen nicht, dass der Atem des Lebens unerschöpflich ist. Wenn sie stattdessen überall hinrennen, wo ihre Maschinen zerstört werden, wie sollten die Unterdrücker dann nicht an ihrer Atemlosigkeit ersticken?

Wir treten in das Zeitalter der Selbstverwaltung und der Umkehrung der Perspektive ein.

Wir haben kein Leben gekannt, außer unter dem eisigen Schatten des Todes. Wir haben nichts unternommen, ohne zu bedenken, dass unser Vorhaben vergeblich und sinnlos war.

Indem sich Frankreich erhebt, eröffnet es der Welt radikal neue Wege. Die poetische Kreativität des “Volkes der Schüsseln” ist Teil einer Bewegung zur Selbstverteidigung des Lebendigen, die dazu berufen ist, zu wachsen, sich zusammenzuschließen und sich zu vermehren, nicht aus Voluntarismus, sondern weil es das ist oder in einer Umgebung ohne Insekten und Vögel zu mumifizieren.

Wir sind weder Sisyphos noch Prometheus, wir lehnen Opfer ab, angefangen mit dem Opfer unserer eigenen Existenz. Wir sind Individuen, die sich bewusst sind, dass ihnen das Leben und die Erde mit einer Gebrauchsanweisung gegeben wurden, deren alleinige Besitzer sie als Menschen sind.

Das Leben auf der Suche nach Menschlichkeit hat alle Rechte, aber keine Pflichten. Das ist die Umkehrung der Perspektive, die uns vom Himmel der Götter und Ideen befreit und uns wieder aufrecht und fest auf der Erde verankert stehen lässt.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir mit einer Vergangenheit brechen, die uns mechanisiert hat (militärisches Verhalten ist ein Teil davon). Wir sind der Ausgangspunkt für eine Gegenwart, die sich nicht mehr zurückentwickeln wird. Wir sind die Wiedergeburt eines Lebens, das durch nichts erstickt werden konnte und das nun seine Souveränität beansprucht. Seht her! Wir waren eine Handvoll Gammler, die Oberschicht der Nichtsnutze. Wir sind Millionen, die eine Intelligenz des Lebendigen entdecken, die uns die tote Intelligenz, die uns wie Dinge verwaltet hat, in Schach hält. Wir sind keine Ware mehr. Es bedarf keiner Prahlerei, um dies deutlich zu machen. Beginnen wir an der Basis: keine dem Markt unterworfenen Schulen mehr, keine denaturierte Landwirtschaft, keine Befehle mehr, die man geben oder nehmen kann!

Wir müssen aufhören, in Begriffen von Sieg und Niederlage zu argumentieren, wie die Eingekesselten. Die Militarisierung der Körper und des Bewusstseins ist genug!

Was der Macht Angst macht, ist weniger die große Zahl der Gegner als vielmehr die Lebensqualität, die sie fordern. Bei den alten Streiks fürchteten die Arbeitgeber weniger die zahlenmäßige Größe der Bewegung als die tiefe Freude, die die Aufständischen beseelte. Sie hatten die Mittel, sie durch die übliche Erpressung “keine Arbeit, kein Lohn” zu beenden.

Wenn der Kapitalismus heute unumwunden verkündet, dass steigende Lebensmittelpreise und sinkende Löhne unausweichlich sind, dann möge mir bitte jemand erklären, wie die traditionelle Erpressung auch nur die geringste Chance hat, eine allgemeine Wiederaufnahme der Arbeit zu erreichen! Andererseits ist es verständlich, dass der Staat, der verpflichtet ist, seine Versorger zu bereichern, nichts anderes mehr zu tun hat, als das Volk zu verprügeln, dessen Anwesenheit ihn terrorisiert, um seinen sozialen Bankrott zu verschleiern. Aber wie lange noch?

Man soll uns nicht vorwerfen, wir wollten den Staat abschaffen. Er schießt sich selbst ab, und er schießt sich an uns ab.

Seine verheerende Nutzlosigkeit fordert uns auf, durch die Schaffung von Selbstverteidigungszonen der Lebenden das programmierte Verschwinden der Güter zu verhindern, mit denen er uns einst versorgt hat, als er sich um eine Bürgergemeinschaft kümmerte. Es ist nicht genug zu sterben, man muss auch leben!

Nichts widersteht der Selbstverteidigung des Lebendigen.

Es gibt keine einzige Regierungsform, die die Völker, die von ihren Segnungen profitieren sollten, nicht ins Unglück gestürzt hat. Kaum haben wir die schlimmsten Diktaturen hinter uns gelassen, haben wir die beste geerbt, wenn man einen wirtschaftlichen Totalitarismus so bezeichnen kann, bei dem die Politik den Boden unter den Füßen verliert, weil sich die Exkremente dessen, was den Ruhm der Vergangenheit ausmachte, in diesem Endstadium so sehr ergießen und anhäufen: Aristokratie, Demokratie, Oligarchie, Imperialismus, Monarchie, Autokratie und tutti quanti.

Unsere Feinde behaupten, dass sie aus diesem Abwasserkanal, in dem sie stecken geblieben sind, einen Krieg bis zum Äußersten gegen uns führen? Voire! Wir sind in der Lage, zuzuschlagen, zu verschwinden und dort wieder aufzutauchen, wo man uns am wenigsten erwartet. Wir haben von den traditionellen Guerillas gelernt, dass ihr Scheitern weniger auf repressive Gewalt als auf ihre eigene interne Organisation zurückzuführen war, in der sich die hierarchische Struktur der herrschenden Welt fortsetzte. Erinnern Sie sich an das Entsetzen der französischen Eliten angesichts der Gelbwesten: “Wo sind denn die Chefs, die Verantwortlichen, mit denen man diskutieren kann?” Eh nein! Es gab keine. Sorgen wir dafür, dass es nie welche gibt!

Die Selbstverwaltung ist ein Experiment, das sich im revolutionären Spanien des Jahres 1936 als praktikabel erwiesen hat, bevor es von der Kommunistischen Partei zerschlagen wurde. Sie ist die Organisation der Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, aus denen sie bestehen, durch das Volk. Ihre theoretischen Grundsätze entstehen in den Erfahrungen der Gemeinschaften, in denen das Zusammenleben eine Kunst der Akkorde und Disharmonien lehrt, die den musikalischen Resonanzen des individuellen Daseins und der Natur nicht fremd ist. Überall dort, wo Selbstverteidigungszonen des Lebens entstehen, siegt die Intelligenz des Herzens über die Intelligenz des Kopfes und lehrt, alles neu zu erfinden.

Das Radikalste, was uns der Mai 1968 hinterlassen hat, war das Projekt der Besetzung von Fabriken, in denen die Proletarier anfingen, darüber nachzudenken, sie zum Nutzen aller zu betreiben (eventuell durch Umschulung). Die Kommunistische Partei widersetzte sich dem gewaltsam; es war ihr letzter Sieg vor dem endgültigen Zusammenbruch.

Parasitäre Arbeit und Börsenspekulationen haben die gesellschaftlich nützlichen Produktionsstätten verschwinden lassen, aber der Wille, Orte zu besetzen, an denen unsere Wurzeln die Wurzeln der Welt sind, ist ungebrochen. Die Rückgewinnung von Straßen, Plätzen und Gemeinden ist ein Kampf, der an der Basis ausgetragen wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass die von der Agrarindustrie vergifteten Nahrungsmittel die Umgebungsluft verpesten und in unsere Küchen gelangen, wo wir das Glück haben, gesunde und schmackhafte Gerichte zu zaubern.

Die Erde ist ein Ort des menschlichen Genusses, kein Dschungel, in dem Raubbau und Aneignung herrschen. Unsere Freiheiten sind fruchtbar. Wir erleben die Wiedergeburt eines Lebens, das nur Anfänge hat und nicht weiß, dass es ein Ende gibt.

Wir haben nur eine bessere Welt zu bieten.

Raoul Vaneigem 

Von hier und anderswo, 5. April 2023.

Veröffentlicht am 20. April auf französisch auf A Contretemps, übersetzt von Bonustracks. 

Lobrede auf einen Schriftsteller

Giorgio Agamben

Am 30. Mai 1939 wurde auf dem Pariser Friedhof Thiais ein Mann beigesetzt, dessen Beerdigung von einem katholischen Priester gesegnet wurde, obwohl er nie getauft worden war. Er war Jude, aber seine jüdischen Freunde verzichteten darauf, das Kaddisch zu rezitieren. Er war wahrscheinlich an einem Delirium tremens gestorben, aber die Ärzte diagnostizierten eine Hirnblutung. Er war Bürger der österreichischen Republik, bezeichnete sich aber als Untertan der Habsburger.

Dieser Mann – einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – hieß Joseph Roth. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt, aber er glaubte, der Tod käme ohnehin zu spät. Er hatte – so sagte er – niemanden hinter sich, weder ein Volk noch einen Staat. Nur die Sprache, in der er schrieb – aber auch das war nicht gewiss, denn man konnte in seinem Deutsch die Stimme des Jiddischen und den Atem des Russischen hören. Doch vielleicht hatte niemand so klar wie er den Verfall der Welt um ihn herum gesehen und mit so unerhörter Lebendigkeit und freudiger Präzision die Straßen, Cafés und Hotels der Städte beschrieben, in denen er sich aufhielt. Vielleicht war noch niemand so unverschämt glücklich in all dem, was er verlor, was er bereits unwiderruflich verloren hatte.
Deshalb ist uns kein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts so nahe wie er. Auch wir können uns nicht als Bürger des Staates betrachten, in dem zu leben uns zugefallen ist. Wir sind zwar getauft, aber wir gehören in keiner Weise zur Kirche.

Wie er haben wir niemanden mehr hinter uns, nicht ein Volk, geschweige denn eine Nation. Aber das nimmt uns nicht die Fähigkeit, glücklich zu sein und zu versuchen, in einer Sprache zu schreiben und zu sprechen, die wir nicht mit dem beleidigenden Geschwätz verwechseln wollen, das die Medien und die Schulen unermüdlich verbreiten und entwerten. Ohne an irgendwelche Werte und Gesetze zu glauben, die uns auferlegt werden, haben wir uns wie er einen unberührten und intakten Glauben an das Gras, den Sternenhimmel, die Stille und die Schönheit der Gesichter bewahrt.

Übersetzt aus dem Italienischen.

Alfredo Cospito hat seinen seit dem 20. Oktober geführten Hungerstreik beendet

Eine Text von Gefährten, der derzeit in Italien kursiert. 

Am Mittwoch, den 19. April 2023, beendete der Anarchist Alfredo Cospito den Hungerstreik, den er 181 Tage zuvor, am 20. Oktober 2022, im Gefängnis von Bancali auf Sardinien begonnen hatte. Der Genosse, der derzeit in der Abteilung für Gefängnismedizin des San Paolo Krankenhauses in Mailand inhaftiert ist, befand sich sechs Monate lang im Hungerstreik gegen das durch Artikel 41bis der Gefängnisordnung festgelegte Haftregime (in das er am 5. Mai 2022 verlegt worden war) und gegen die lebenslange Freiheitsstrafe, die am Ende des Scripta Manent Prozesses die endgültige Strafe für den Genossen zu sein drohte.

Die Unterbrechung des Hungerstreiks erfolgt im Anschluss an die Anhörung vom 18. April in Rom vor dem Verfassungsgericht, in der anerkannt wurde, dass bei allen Verurteilungen für Straftaten, die mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet werden, strafmildernde Umstände gegen einen erneuten Straftatbestand vorliegen. Dies ist der Fall bei Alfredo, denn mit der Umqualifizierung (durch den Kassationsgerichtshof am Ende des Scripta-Manent-Prozesses) der Anklage bezüglich des doppelten Sprengstoffanschlags auf die Kadettenkaserne der Carabinieri in Fossano am 2. Juni 2006 von “gewöhnliches Massaker” (Art. 422 c. p.) in “politisches Massaker” (d.h. “Massaker zum Zwecke des Angriffs auf die Sicherheit des Staates”, Art. 285 des italienischen Strafgesetzbuches), droht den Genossen Alfredo Cospito und Anna Beniamino eine lebenslange bzw. 27-jährige Haftstrafe, wie von der Turiner Staatsanwaltschaft beantragt.

Was in den letzten Tagen geschehen ist, ist sicherlich kein “Sieg” für den Rechtsstaat oder eine “Rückkehr” zu den Prinzipien der Verfassung, sondern ein Ergebnis des Hungerstreiks und der internationalen Solidaritätsbewegung, die sich in den letzten 11 Monaten entwickelt hat.

Mit der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und der Verhängung von 41bis wollte der Staat Alfredo Cospito lebenslang ins Gefängnis stecken. Diese Absicht haben der Staat und seine Repressionsapparate nun vorerst nicht erreicht, auch wenn der Genosse weiterhin unter 41bis inhaftiert ist.

In den letzten Monaten hat der Genosse sein Leben riskiert und riskiert es auch weiterhin in dieser neuen und heiklen Phase der langsamen Erholung seiner Fähigkeit, sich selbst zu ernähren. Der Genosse hat bereits vermutlich bleibende neurologische Schäden erlitten, die insbesondere im peripheren Nervensystem lokalisiert sind (er hat die volle Sensibilität in einem Fuß verloren, der andere Fuß hat eine verringerte Sensibilität und eine Hand hat begonnen, ähnliche Symptome zu zeigen). Die Fortsetzung des Hungerstreiks in der Art und Weise, wie er über viele Monate hinweg geführt wurde, brachte ihn objektiv in die Gefahr eines fortschreitenden und dauerhaften körperlichen Verfalls mit mehr oder weniger schwerwiegenden Folgen, die primär in einer weiteren Beeinträchtigung des Nervensystems bestehen, und nicht in der unmittelbare Gefahr eines plötzlichen Todes, der durch die Überwachung im Krankenhaus wahrscheinlich vermieden worden wäre.

In diesem Hungerstreik hat Alfredo immer betont, dass er nicht nur für sich selbst, sondern für alle Gefangenen unter 41bis gekämpft hat und darüber hinaus, um Solidarität mit den in der ganzen Welt inhaftierten Anarchisten, Kommunisten und Revolutionären zu entwickeln. Und in diesen sechs Monaten des Streiks wurde die Solidarität mit Alfredo in den Gefängnissen auf der ganzen Welt zum Ausdruck gebracht, vor allem durch anarchistische und revolutionäre Mitgefangene, die sich in Italien, Frankreich, Chile, Griechenland, Großbritannien, Spanien und Deutschland solidarisiert und gekämpft haben, indem sie ihrerseits in den Hungerstreik getreten sind, Solidaritäts-Initiativen-und-Fasten durchgeführt und Erklärungen und Analysen veröffentlicht haben. Eine Solidarität schließlich, die insbesondere in Italien auch von anderen Gefangenen – nicht nur von inhaftierten Anarchisten und Revolutionären – in vielfältiger Form zum Ausdruck gebracht wurde.

Die autoritäre Wende, ein Ausdruck des Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung, der sich derzeit in der Krise befindet, hat zu einer massiven Repression gegen Anarchisten geführt und wird dies auch weiterhin tun; eine Repression, die – wie wir in den letzten Jahren beobachten konnten – auf die ausgebeuteten sozialen Schichten übergegriffen hat, die am meisten unter der sozialen und ökologischen Krise leiden. Aber die Warnung, die der italienische Staat der anarchistischen Bewegung zukommen lassen wollte, wurde mit Entschlossenheit und Konsequenz an den Absender zurückgesendet. Diese sechs Monate des Hungerstreiks haben die Isolation von Alfredo und allen inhaftierten Genossen verhindert. In diesen langen Monaten ist eine Bewegung der internationalen revolutionären Solidarität entstanden, die – schon vor dem 20. Oktober und, da sind wir sicher, auch nach diesem 19. April – in der Lage war und sein wird, den Sinn und die Perspektive unserer Ideen und Praktiken zu bekräftigen. Eine Bewegung, die seit dem Beginn des Hungerstreiks bis zum bitteren Ende konsequent gewachsen ist und dabei alle Hypothesen von Kompromissen zurückgewiesen hat, wird das Bewusstsein der Solidarität weiterentwickeln.

DIE GEFANGENEN DES SOZIALEN KRIEGES ZU VERGESSEN BEDEUTET, DEN KRIEG SELBST ZU VERGESSEN: REVOLUTIONÄRE SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO UND ALLEN INHAFTIERTEN ANARCHISTEN UND REVOLUTIONÄREN.

20. April 2023

Übersetzt aus dem Italienischen.

Strasbourg am Abend des 17. April – „On y va“

Kaum in Straßburg angekommen, zieht schon eine Gruppe junger Menschen auf der Straße vorbei. Lautstark geht es Richtung Place Broglie. An den Ecken zum Platz stehen die Bullen bereits behelmt und haben Teile der abgehenden Straßen und Gassen entweder mit Gittern versehen oder mit Wannen und Einsatzkräften ganz dichtgemacht. Vor dem Hôtel de Ville stehen bereits mehrere Orchesterteilnehmer. 

20 Uhr. Die Menge lärmt sich in die hereinbrechende Nacht. Circa eine Stunde wird sich angefeuert. Eine Polonaise startet durch, tanzt Schlangenlinien auf den S-Bahn-Gleisen und läuft 50 Personen stark auf eine Bulleneinheit zu, nur um kurz vor ihnen abzubiegen. In der Menge läuft ein kleiner Junge mit Gehörschutz neben seinem Vater und beide hämmern auf ihre Töpfe ein, als gäbe es kein Morgen. Mit der Zeit übernehmen Parolen die Oberhand. Es wird dunkler und immer mehr Personen knien sich im Getümmel hin und packen aus ihren Rucksäcken ihre schwarzen Balzklamotten aus. Auf „Tout le monde detéste la police“ folgt schließlich „On y va“ und die Meute setzt sich in Bewegung Richtung Place de la Republic. 

Dort soll es am Wasser entlang Richtung Westen gehen. Doch kurz nachdem die Demonstration auf den Dock Jacques-Sturm einbiegt, rasen die ersten Bullen heran und plustern sich am oberen Ende der Baustelle auf. Die erste Barrikade des Abends wird errichtet. Als sich von hinten eine Einheit der BAC nähert, geht es über die Grünanlage des Platzes Richtung Avenue de la Liberté. Nach den ersten Metern versuchen dort mehrere Fahrzeuge sich der Demo in den Weg zu stellen, doch diese ist schneller und zieht vorbei. Die Cops steigen wieder in ihre Wagen und kommen auf die glorreiche Idee, rechts an der Demo vorbeizufahren. Bereits dem ersten Wagen, der sich auf die Straße der Freiheit wagt, wird sich in den Weg gestellt und mit Steinen, Tritten und Fäusten klar gemacht, dass er hier eindeutig fehl am Platz ist. Den folgenden Fahrzeugen geht es genauso. Kurz darauf fliegt das erste Tränengas.

Über kleinere Umwege gelangt der wilde Umzug schließlich auf den Boulevard de la Victoire. Auch hier Barrikadenbau, dann zum Campus. An der Haltestelle Esplanade regnet es wieder Tränengas. Also wieder zurück aufs Unigelände. Hier folgen die Cops nicht. Tun sie nie. Spricht für sich. Wenig später brennt auf der Rue de Rome eine weitere Barrikade meterhoch in die Nacht. Die dunklen Gestalten ziehen in die naheliegenden Platten davon. Eine Einheit der BAC marschiert auf die Kreuzung, erspäht einen Verdächtigen und sprintet los. Sofort warnen umherstreifende Personen das Ziel. Dieses setzt sofort zum Sprint an und kann entkommen. Die Bullen bleiben geschlagen zurück. Anwohner und Passanten jubeln. So geht es noch eine Stunde weiter. Die Flics verwandeln wenig später noch den Platz vor dem Cineplex in Niemandsland. Wenig später löst sich die Demonstration in Neudorf auf. 

Dieser Bericht wurde Bonustracks zugespielt. 

Klassenkämpfe in Frankreich

Maurizio Lazzarato

Kommen wir gleich zum Kern der Sache: Nach den großen Demonstrationen gegen die Renten”reform” beschloss Präsident Macron, das Gesetz zur Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre “mit Gewalt” durchzusetzen, indem er das Parlament entmachtete und die souveräne Entscheidung durchsetzte. Auf den Demonstrationen lautete die unmittelbare Reaktion: “Auch wir setzen uns mit Gewalt durch”. Zwischen den entgegengesetzten Interessen, dem souveränen Willen des staatlich-kapitalistischen Apparats und dem Willen der Klasse, entscheidet die Gewalt. Der Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit ist seit den 1970er Jahren zusammengebrochen, aber die Finanzkrise und der Krieg haben die Bedingungen des Konflikts noch radikalisiert.

Versuchen wir nun, die beiden Pole dieses auf Gewalt basierenden Machtverhältnisses unter den politischen Bedingungen nach 2008 und 2022 zu analysieren.

Der französische März

Die Bewegung scheint den Wandel der politischen Rahmenbedingungen, der zunächst durch die Finanzkrise 2008 und dann durch den Krieg ausgelöst wurde, verstanden zu haben. Sie hat viele der Kampfformen, die das französische Proletariat in den letzten Jahren entwickelt hat, genutzt, um sie zusammenzuführen, dabei trotzdem ihre Unterschiede zu artikulieren und sogar zu legitimieren. Neben den gewerkschaftlichen Kämpfen mit ihren friedlichen Märschen, die sich allmählich veränderten und auch die Nicht-Lohnabhängigen mit einschlossen (am 23. März war die Präsenz von Jugendlichen, Universitätsstudenten und Gymnasiasten massiv), gab es die “wilden” Demonstrationen, die sich über mehrere Tage hinweg bei Einbruch der Dunkelheit in den Straßen der Hauptstadt und anderer Großstädte (wo sie noch intensiver waren) entwickelten.

Diese Strategie des Agierens von Gruppen, die sich ständig von einem Stadtteil zum anderen bewegen und Konflikte säen, ist ein klares Erbe der Kampfformen der Gilets Jaunes, die begannen, die Bourgeoisie zu “terrorisieren”, als sie, anstatt in aller Ruhe zwischen République und Nation umherzuziehen, “Feuer” in die Viertel der Reichen im Westen von Paris brachten. In der Nacht des 23. März wurden allein in Paris 923 “départs de feu” gezählt. Die Flics erklären, dass sich die “wilden” Nächte auf einem höheren Niveau eingependelt haben als die “Raubzüge” der Gilets Jaunes.  

Keine Gewerkschaft, nicht einmal die präsidentenfreundlichste (CFDT), hat die “wilden” Demonstrationen verurteilt. Die Medien, ausnahmslos im Besitz von Oligarchen, die nach den ersten “Gewalttaten” sehnsüchtig auf einen Umschwung der öffentlichen Meinung warteten, wurden enttäuscht: 2/3 der Franzosen unterstützten weiterhin den Aufstand. Der “Souverän” hatte sich geweigert, die Gewerkschaften zu empfangen und damit deutlich gemacht, dass er eine direkte Konfrontation ohne Vermittlung anstrebte. Daraus hatten alle gefolgert, dass es nur eine Strategie geben konnte, nämlich verschiedene Formen des Kampfes zu artikulieren, ohne sich durch die Unterscheidung “Gewalt/Pazifismus” in Verlegenheit zu bringen.

Die Massifizierung und Differenzierung der Komponenten der Demonstrationen findet sich auch an den Streikposten wieder, die ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sind als die Demonstrationen. Wahrscheinlich wurde Macrons Entscheidung auch durch die nicht gerade erfolgreichen Streikblockaden des Generalstreiks am 7. März veranlasst (am 8. März hatte sich die Situation fast normalisiert!). Was Macron jedoch nicht voraussah, war die Beschleunigung der Bewegung nach der Entscheidung, 49.3 anzuwenden.

Die einzige Bewegung, die nicht in den Kampf integriert wurde, war der Aufstand in den Banlieues. Die Verbindung zwischen den “petits blancs” (den ärmsten Teilen des weißen Proletariats) und den “barbares” (den französischen Kindern von Einwanderern, den “Eingeborenen der Republik”) fand auch diesmal nicht statt. Das ist nicht unbedeutend, wie wir später sehen werden, denn hier steht die mögliche Weltrevolution, die Nord-Süd-Konjunktion, auf dem Spiel.

De facto hat es eine allgemein akzeptierte Verbindung zwischen den Massenkämpfen und den Kämpfen einer Minderheit gegeben, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Konflikt in der Nacht zu verlängern, indem sie die poubelles (Mülltonnen), die sich wegen des Streiks der Kehrmaschinen an den Straßenrändern auftürmen, nutzt, um die Polizei zu blockieren und den zbeul (Unordnung, aus dem maghrebinischen Arabisch zebla, Müll) zu entsorgen. Nennen wir es vorläufig “Vorhut”, weil ich nicht weiß, wie ich es sonst nennen soll, in der Hoffnung, dass die üblichen Kretins nicht Leninismus schreien. Es geht nicht darum, dem Proletariat ein Gewissen zu geben, das es nicht hat, und auch nicht um die Funktion einer politischen Führung, sondern darum, den Kampf gegen die eiserne Hand der etablierten Macht zu artikulieren. Das Verhältnis Massen/aktive Minderheiten ist in allen revolutionären Bewegungen vorhanden. Es geht darum, es unter den neuen Bedingungen neu zu überdenken, nicht es zu eliminieren.

Vor den großen Mobilisierungen dieser Tage gab es Differenzen und Spaltungen, die das französische Proletariat durchzogen und seine Schlagkraft schwächten. Wir können sie hier nur umreißen: Die Gewerkschaften und die institutionellen Parteien der Linken (mit Ausnahme von France Insoumise) haben die Bewegung der Gilets Jaunes nie verstanden, ebenso wenig wie das Wesen und die Forderungen dieser Arbeiter, die nicht in die klassischen Normen der Lohnempfänger passen. Sie haben Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Feindseligkeit gegenüber ihren Kämpfen gezeigt. Offene Feindschaft hingegen haben sie gegenüber den “Barbaren” der Banlieues (mit Ausnahme von France Insoumise) zum Ausdruck gebracht (denen sich wiederum Teile der Frauenbewegung angeschlossen haben, als sie alle Opfer der rassistischen Kampagnen wurden, die von der Macht und den Medien gegen den “islamischen Schleier” gestartet wurden). Weder die ersteren noch die letzteren waren aber in der Lage, autonome und unabhängige Organisationsformen zu entwickeln, die in der Lage sind, ihren Standpunkt einzubringen, den weder die Gewerkschaften noch die in sich geschlossenen Parteien mit ihrer immer kleiner werdenden Basis auch nur in Betracht ziehen wollen. Innerhalb der “Barbaren” hat sich eine dekoloniale Theorie herausgebildet, deren Positionen man in weiten Teilen teilen kann, die es aber nie geschafft hat, in den Vierteln Fuß zu fassen und sich massenhaft zu organisieren. Die feministische Bewegung hingegen ist gut organisiert und hat klare und tiefgründige Analysen entwickelt, die radikale Positionen zum Ausdruck bringen, aber sie bringt keine politischen Brüche dieses Ausmaßes hervor. Sie führt keine politischen Kämpfe innerhalb der laufenden Kämpfe, obwohl die Frauen sicherlich am meisten von den “Reformen” betroffen sind. So wurde das französische Proletariat durch Rassismus, Sexismus und neue Formen der prekären Arbeit zersplittert.

Die gegenwärtige Bewegung hat also “bouger les lignes” veranstaltet, wie die Franzosen sagen, d.h. sie hat die Trennlinien verschoben und die Unterschiede teilweise wieder aufgehoben. Auch ökologische Aktionen haben in den Kämpfen Kraft und Ressourcen gefunden. Die Zusammenstöße in Sainte-Soline gegen den Bau von großen Wasserreservoirs für die Agrar- und Nahrungsmittelindustrie, bei denen die Polizei Kriegswaffen einsetzte, lösten in den folgenden Tagen Empörung und Mobilisierung aus und führten zu einer Wiederaufnahme der “wilden” Demonstrationen, wenn auch in kleinerem Rahmen.

Ein Sprung in der Neuzusammensetzung? Vielleicht ist es noch zu früh, um das zu sagen, auf jeden Fall haben die verschiedenen Bewegungen, die in den letzten Jahren durch Frankreich gezogen sind, die gewerkschaftliche Mobilisierung aufgefrischt und ihr nach und nach ein anderes Bild und einen anderen Inhalt gegeben: die Herausforderung der Macht und des Kapitals.  In nur zwei Monaten haben sie Macron ordentlich Feuer gemacht und seine Präsidentschaft in eine Sackgasse geführt.

Wenn das politische System der westlichen Länder oligarchisch wird und der Konsens nicht mehr durch Löhne, Einkommen und Konsum gesichert werden kann, die nun ständig verweigert oder gekürzt werden, wird die Polizei zur grundlegenden Achse der “Governance”. Macron hat die sozialen Kämpfe seiner Präsidentschaft nur mit Hilfe der Polizei bewältigt.

Die Brutalität der Interventionen steht heute im Mittelpunkt der französischen Strategie der öffentlichen Ordnung. Frankreich hat nicht nur eine große revolutionäre Tradition, sondern auch eine Tradition der Ausübung konterrevolutionärer Gewalt, die in den Kolonien unerreicht ist und im Gleichschritt mit der Gefährdung der Macht in der Metropole marschiert (wo es die Kolonialarmee, die Armée d’Afrique, die 1848 Algerien erobert hatte, zur Unterdrückung der Revolution eingreifen ließ). 

Inzwischen geht es in der Bewegung nicht mehr nur um die Arbeit und ihre Ablehnung, sondern um die Zukunft des Kapitalismus selbst und seines Staates, wie es immer der Fall ist, wenn Kriege zwischen Imperialismen ausbrechen! 

Die Lehre, die wir aus den zwei Monaten des Kampfes ziehen können, ist die Dringlichkeit, das Problem der Gewalt, ihrer Organisation und ihres Einsatzes zu überdenken und neu zu gestalten. Taktik und Strategie sind wieder zu politischen Notwendigkeiten geworden, um die sich die Bewegungen wenig gekümmert haben, indem sie sich fast ausschließlich auf die Spezifik ihrer Machtverhältnisse (sexistisch, rassistisch, ökologisch, Lohn) konzentrierten. Und doch haben sie das Niveau der Konfrontation angehoben, indem sie sich objektiv gemeinsam bewegten, ohne subjektive Koordination, und die konstituierte Macht dekonstruierten. Entweder wird das Problem des Bruchs mit dem Kapitalismus und allem, was er mit sich bringt, gelöst, oder wir werden weiterhin nur in der Defensive handeln. Wenn sich ein Krieg zwischen den Imperialismen aufdrängt, besteht historisch gesehen immer die Möglichkeit seines “Zusammenbruchs” (aus dem aber auch eine neue Aufteilung der Macht auf dem Weltmarkt und ein neuer Zyklus der Akkumulation hervorgehen kann). Die USA, China und Russland sind sich dessen voll bewusst, was auf dem Spiel steht. Ob sich der Klassenkampf auf diese Ebene der Konfrontation aufschwingen kann, ist noch fraglich.

Westliche Autokratie

Die französische Verfassung sieht immer die Möglichkeit vor, dass der “Souverän” innerhalb der so genannten demokratischen Institutionen entscheidet, daher die Erfindung von 49.3, der es erlaubt, Gesetze zu erlassen, ohne dass diese das Parlament passieren. Damit wird die Kontinuität der politischen Zentralisierungsprozesse, die lange vor der Entstehung des Kapitalismus begannen, in der Verfassung festgeschrieben. Die Zentralisierung der militärischen Gewalt (das legitime Monopol ihrer Ausübung), die ebenfalls dem Kapitalismus vorausgeht, stellt die andere unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung der kapitalistischen Staatsmaschinerie dar, die ihrerseits unmittelbar zur Zentralisierung der wirtschaftlichen Gewalt übergeht, indem sie Monopole und Oligopole bildet, die im Laufe der Geschichte des Kapitalismus nichts anderes getan haben, als an Größe und wirtschaftlichem und politischem Gewicht zuzunehmen.

Ein großer Teil des politischen Denkens hat den real existierenden Kapitalismus ignoriert, seine Prozesse der “souveränen” Zentralisierung ausgeklammert und so den Weg für die Konzepte der “Gouvernementalität” (Foucault), des “governo” (Agamben, der sich während der Pandemie sehr aufgeregt hat, aber mit dem Krieg zwischen den Imperialismen mit seiner Reduzierung auf Biopolitik verschwand), der “Governance” geebnet.

Foucaults diesbezügliche Aussagen sind bezeichnend für das theoretische Klima der Konterrevolution: “Die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Totalität, die Ökonomie ist eine Disziplin, die nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern die Unmöglichkeit eines souveränen Standpunkts zu manifestieren beginnt”. Die Monopole sind die “Souveräne” der Wirtschaft, die ihren Totalisierungswillen nur noch verstärken können, indem sie sich mit der “souveränen” Macht des politischen Systems und der “souveränen” Macht von Armee und Polizei verbinden.

Der Kapitalismus ist weder mit dem Liberalismus noch mit dem Neoliberalismus identisch. Beide sind grundverschieden, und es ist unsinnig, die Entwicklung der Staats-Kapital-Maschine als einen Übergang von souveränen Gesellschaften zu Disziplinar- und Kontrollgesellschaften zu beschreiben. Die drei Zentralisierungen ergänzen sich gegenseitig, indem sie immer Formen der Gouvernementalität (liberal oder neoliberal) befehlen, sie nutzen und sie aufgeben, wenn sich der Klassengegensatz radikalisiert.

Die enormen Ungleichgewichte und Polarisierungen zwischen den Staaten und zwischen den Klassen, die die Zentralisierung mit sich bringt, führen direkt zum Krieg, der einmal mehr die Realität des Kapitalismus zum Ausdruck bringt (der Kampf zwischen den Imperialismen), dessen politische Auswirkungen vor allem für die kleinen europäischen Staaten unmittelbar spürbar sind. Während der französische Präsident seine Souveränität gegen seinem “Volk” behauptet, hat er wie ein guter Vasall ein weiteres großes Stück davon an die USA verloren, die dank des Krieges gegen den “russischen Oligarchen” die deutsch-französische Achse durch die Achse USA, Großbritannien und die Länder des Ostens ersetzt haben, in deren Zentrum die Amerikaner das reaktionärste, sexistischste, klerikalste, homophobste, arbeiterfeindlichste und kriegstreiberischste Land Europas, Polen, installiert haben. Inzwischen ist nicht nur die föderale Hypothese eine Utopie, sondern auch das Europa der Nationen. Die Zukunft wird von Nationalismen und neuen Faschismen geprägt sein. Wer das europäische Projekt nach der weiteren Unterwerfung unter die Logik des Dollar-Imperialismus wieder aufleben lassen will, muss zunächst einen Befreiungskampf vom Yankee-Kolonialismus führen.

Auf dem internationalen Schachbrett zählt Frankreich noch weniger als vor dem Krieg, aber wie alle Randexistenzen schüttet Macron sein ganzes Leben und seine Ohnmacht über seine “Untertanen” aus, die er mit seiner Polizei bearbeitet. 

In der Financial Times vom 25. März 2023 heißt es: “Frankreich hat das Regime, das unter den am meisten entwickelten Ländern einer autokratischen Diktatur am nächsten kommt”. Es ist amüsant, in der internationalen Presse zu lesen, dass das Kapital beunruhigt ist (Wall Street Journal), weil “Macrons forcierter Marsch, die französische Wirtschaft in ein wirtschaftsfreundliches Umfeld zu verwandeln, auf Kosten des sozialen Zusammenhalts geht”. Ihre wirkliche Sorge gilt nicht den Lebensbedingungen von Millionen von Proletariern, sondern der “populistischen” Gefahr, die das Atlantische Bündnis, die globale NATO und damit die USA, die es regieren, bedrohen würde: Die “parlamentarische Rebellion” und das “Chaos, das sich im ganzen Land ausbreitet, stellen all diejenigen, die hoffen, dass Frankreich fest im liberalen, EU- und NATO-freundlichen Lager bleibt, vor bedrohliche Fragen für die Zukunft des Landes” (Politico). Die Financial Times befürchtet, dass Frankreich “den Amerikanern, den Briten und den Italienern folgen und sich für die Populisten entscheiden wird”. Es ist nicht klar, ob sie heuchlerisch oder unverantwortlich sind. Sie wollen zwei Dinge gleichzeitig: Finanz- und Monopoleinkommen und sozialen Zusammenhalt, Demokratie und Diktatur des Kapitals, steuerbefreite Unternehmen, die durch ein zu ihren Gunsten völlig verdrehtes Sozialsystem üppig finanziert werden, und sozialen Frieden. Der Spiegel spricht von einem “Demokratiedefizit”, von “der Demokratie selbst in Gefahr”, während es die Wirtschaftspolitik ist, die tagtäglich die Ursachen der westlichen Autokratie verteidigt, um die uns der Osten nicht, aber auch gar nicht, zu beneiden hat.

Der Zyklus der globalen Kämpfe nach 2011

Was in den Kämpfen in Frankreich, der Herausforderung gegenüber Macht und Kapital, nur ansatzweise zu erahnen ist, haben die Kämpfe im globalen Süden seit 2011 unmittelbar erreicht.

Der Globale Süden hat bereits im 20. Jahrhundert eine entscheidende strategische Funktion gehabt, mehr noch als die Kämpfe im Westen. Die internationale Dimension der Machtverhältnisse ist ein entscheidender Knotenpunkt für die Wiederaufnahme der Initiative. Die Krise von 2008 hat nicht nur die Möglichkeit eines Krieges eröffnet (der pünktlich eingetroffen ist), sondern auch die Möglichkeit revolutionärer Brüche (die Realität der Kämpfe bewegt sich, sie ist gezwungen, sich in diese Richtung zu bewegen, wenn sie nicht von der gemeinsamen Aktion von Krieg und neuen Faschismen hinweggefegt werden will). 

Die jüngste Globalisierung hat nicht nur Unterschiede herausgearbeitet, sondern auch den Norden im Süden und den Süden im Norden angesiedelt. Daraus lässt sich keineswegs eine Homogenität des politischen Verhaltens und der Subjektivierungsprozesse zwischen den beiden unterschiedlichen Fraktionen ableiten. Die Zentrum-Peripherie-Polarisierung ist dem Kapitalismus immanent und muss zwingend und kontinuierlich reproduziert werden. Ohne die Ausbeutung des “Südens”, ohne die Auferlegung einer “lumpigen” Entwicklung und eines “ungleichen Austauschs” (Samir Amin) wird die Profitrate unaufhaltsam sinken, trotz aller Innovationen, Technologien und Erfindungen, die der Norden unter der Kontrolle des größten technologisch-wissenschaftlichen Unternehmers, des amerikanischen Pentagons, hervorbringen kann.  Dies ist der eigentliche Grund für den derzeitigen Krieg. Der Große Süden will sich aus diesem Unterordnungsverhältnis befreien, er hat sich bereits teilweise daraus befreit, und es ist dieser politische Wille, der die finanzielle und monetäre Hegemonie der USA und ihre produktive und politische Vorherrschaft bedroht.

Zwischen dem Westen und dem Rest der Welt gibt es mindestens zwei große politische Unterschiede, die bestehen bleiben. Die Nicht-Integration der “Barbaren” der französischen Vorstädte in die aktuellen Kämpfe, obwohl sie eine der ärmsten und am meisten ausgebeuteten Schichten des französischen Proletariats darstellen, ist bereits ein internes Symptom der westlichen Länder für die Schwierigkeiten bei der Überwindung der “kolonialen Kluft”, von der die Weißen lange profitiert haben.

Im Rahmen des 2011 begonnenen Kampfzyklus hat sich eine ähnliche Differenzierung vollzogen wie im 20. Jahrhundert. Damals gab es sozialistische oder nationale Befreiungsrevolutionen (auf jeden Fall mit sozialistischen Untertönen) im gesamten großen Süden und Massenkämpfe, von denen einige sehr hart waren, aber nicht in der Lage, zu erfolgreichen revolutionären Prozessen im Westen zu führen. Heute haben wir große Streiks in Europa (Frankreich, Großbritannien, Spanien und sogar Deutschland) und stattdessen echte Revolten, Aufstände und die Eröffnung revolutionärer Prozesse im tiefen Süden. 

Betrachten wir nur einige Beispiele: Ägypten und Tunesien, die den Zyklus 2011 einleiteten, sowie Chile und den Iran in jüngerer Zeit, um die Unterschiede und möglichen Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen. 

Es ist schwierig, den Aufstand des Arabischen Frühlings mit “Occupy Wall Street” zu vergleichen, auch wenn es einen ähnlichen Ablauf des Kampfes gab: die Absetzung der etablierten Macht, die Mobilisierung von Millionen von Menschen, die Erschütterung der politischen Systeme in ihren Grundfesten, die Repression mit Hunderten von Toten, die Möglichkeit, einen echten revolutionären Prozess einzuleiten, der sofort abgebrochen wurde, weil, wie es auf einem Schild in Kairo während des Aufstandes hieß, “halbe Revolution, keine Revolution”. Occupy Wall Street hat nie Machtverhältnisse dieses Ausmaßes auf den Plan gerufen, noch hat sie, wenn auch nur für kurze Zeit, ein “Vakuum”, eine Destituierung, eine Delegitimierung der Machtapparate hervorgebracht, wie es die Aufstände im Süden periodisch bewirken. Und es ist immer noch der Süden, der neue Zyklen des Kampfes eröffnet und fördert (siehe auch südamerikanischer Feminismus), die im Norden mit weniger Intensität und Kraft reproduziert werden.

Chile, wo der “Neoliberalismus” geboren wurde, nachdem die Aktion der Staatskapitalmaschine die laufenden revolutionären Prozesse physisch zerstört und Hayek und Friedman dazu aufgerufen hatte, auf dem Massaker des Marktes, des Wettbewerbs und des Humankapitals aufzubauen (man darf den Neoliberalismus nicht mit dem Imperialismus und dem Kapitalismus verwechseln, man muss sie immer sorgfältig unterscheiden!), ist eine andere Art von Aufstand, aus dem andere Lehren gezogen werden können, auch wenn es sich, wie in Nordafrika, um politische Niederlagen handelt. 

Anders als in Ägypten drückten sich in Chile eine Vielzahl von Bewegungen (die Bedeutung der feministischen und indigenen Bewegungen ist signifikant) im Aufstand aus. Aber an einem bestimmten Punkt des Klassenkampfes sieht man sich mit einer Macht konfrontiert, die nicht mehr nur die patriarchale oder heterosexuelle Macht ist, nicht mehr nur die rassistische Macht, nicht mehr nur die Macht des Herrn, sondern die allgemeine Macht der Staats-Kapital-Maschine, die sie umfasst, sie neu organisiert und sie gleichzeitig überrollt. Der Feind ist nicht einmal nur die nationale Macht, die Souveränität eines Staates wie Chile. In diesen Situationen sind wir direkt mit der imperialistischen Politik konfrontiert, denn jeder politische Bruch, wie in Ägypten (mehr als in Tunesien) oder in Chile oder im Iran, birgt die Gefahr, die Kräfteverhältnisse auf dem Weltmarkt, die globale Organisation der Macht in Frage zu stellen: Sowohl die chilenischen als auch die ägyptischen Aufstände wurden von den Vereinigten Staaten sehr genau verfolgt, die nicht zögerten, mit ihrer “strategischen Einmischung” zu intervenieren. Eine ähnliche Situation gab es auch in Frankreich: die Entwicklung der Kämpfe sah sich, ausgehend von einem “gewerkschaftlichen” Kampf, mit der Gesamtheit der Staats-Kapital-Maschine konfrontiert.

In diesen Momenten des Kampfes gibt es für beide Kontrahenten einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, weil es nicht möglich ist, stabile Formen der Gegenmacht, der “befreiten” Räume oder Territorien zu konsolidieren, außer für kurze Zeiträume. Die zapatistische Lösung ist weder verallgemeinerbar noch reproduzierbar (was im Übrigen die Zapatistas selbst immer wieder beteuert haben). Es ist unklar, wie eine dauerhafte “Doppelmacht” unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kapitalismus etabliert werden kann. Gleichzeitig scheint die Machtergreifung seit 68 keine Priorität mehr zu sein. Die Situation ist ein Rätsel!

Trotz der politischen Unterschiede zwischen Nord und Süd tauchen transversale Probleme auf: Welches politische Subjekt ist zu konstruieren, das gleichzeitig in der Lage ist, die Vielfalt der Kampfformen und Standpunkte zu organisieren und die Frage des Dualismus von Macht und Gewaltorganisation zu stellen.

Revolten, Aufstände (aber auch, wenn auch auf andere Weise, die Kämpfe in Frankreich) bringen eine Reihe von Rätseln hervor: die Unmöglichkeit, Kämpfe zu totalisieren und zu synthetisieren, und die Unmöglichkeit, allein in der Dispersion und der Differenz zu verharren; die Unmöglichkeit, nicht durch die Dekonstruktion der Macht zu revoltieren, und die Unmöglichkeit, die Macht zu ergreifen; die Unmöglichkeit, den Übergang von der Vielfalt zu dem vom Feind aufgezwungenen Dualismus der Macht zu organisieren, und die Unmöglichkeit, allein in der Vielfalt und der Differenz zu verharren; die Unmöglichkeit der Zentralisierung und die Unmöglichkeit, dem Feind ohne Zentralisierung zu begegnen. Der Kampf gegen/um diese Rätsel ist die Bedingung, um die Möglichkeit der Revolution zu schaffen. Nur unter diesen Bedingungen, durch die Überwindung dieser Unmöglichkeiten, wird das Unmögliche möglich. 

Der zweite große Unterschied zwischen Nord und Süd betrifft den andauernden Krieg und den Imperialismus. Der Imperialismus bezeichnet den qualitativen Sprung im Prozess der Integration der drei Prozesse der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zentralisierung, die durch den Ersten Weltkrieg sanktioniert wurden und im “Neoliberalismus” ihren Höhepunkt erreichten – angesichts des freien Wettbewerbs, des freien Unternehmertums, des Kampfes gegen jede wettbewerbsverzerrende Machtkonzentration usw. – bis hin zur Auferlegung der gleichen Art von Macht, die dem Norden und dem Süden aufgezwungen wird, wie sie es jetzt tun. – bis hin zur Durchsetzung, wie sie es heute tun, einer Inflation der Profite (“pricing power”, die Macht, den Preis unter Missachtung des selbsternannten “Neoliberalismus” festzulegen), die sich nicht mit der von ihnen weltweit betriebenen Ausbeutung und der von ihnen zu ihren Gunsten durchgesetzten Neuordnung des Wohlstands zufrieden gibt.

Die französische Bewegung hat sich nicht zum Krieg zwischen den Imperialismen geäußert. Der Kampf gegen die Rentenreform findet in diesem Kontext statt, auch wenn das Thema nie angesprochen wurde. Die Tatsache, dass sich Europa im Krieg befindet und der Westen die Wohlfahrt in eine Kriegsführung umwandelt, verändert die politische Situation erheblich. Vielleicht ist das auch gut so, auch wenn es eine offensichtliche politische Einschränkung ist. Wäre dies der Fall gewesen, hätten sich wahrscheinlich unterschiedliche und sogar gegensätzliche politische Positionen herausgebildet. 

Im Globalen Süden hingegen ist das Urteil über den Krieg klar und einhellig: Es handelt sich um einen Krieg zwischen Imperialismen, dessen Ursprung jedoch der amerikanische Imperialismus ist, dem die selbstmörderischen europäischen politischen Klassen anhängen. Der Süden ist nur gespalten in Staaten, die für Neutralität sind, und andere, die auf der Seite Russlands stehen, aber alle lehnen Sanktionen und Waffenlieferungen ab [1].

Im Süden ist die Kategorie des Imperialismus selbst nie so in Frage gestellt worden wie im Westen. Der große Fehler, den Negri und Hardt mit dem “Empire” begangen haben, dessen supranationale Formation noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar ist, ist bezeichnend für eine Differenz in der Analyse und der politischen Sensibilität, die sie im letzten Band ihrer Trilogie zu der Behauptung veranlasst hat, das unmögliche Empire hätte sich nach einem Testkrieg für die finanzielle Lösung entschieden. Genau das Gegenteil von dem, was sie behaupten, ist eingetreten: Das amerikanische Finanzwesen, das immer wieder Krisen hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt – die den Kapitalismus immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs bringen, der ausschließlich durch die Intervention der Souveränität der Staaten, allen voran der USA, gerettet wird -, zwingt die USA zum Krieg. Der zeitgenössische Imperialismus, dessen Konzept man (stark vereinfachend) mit dem Dreieck Monopole/Währung/Krieg zusammenfassen könnte, wirft auch ein Licht auf die Grenzen der Theorien, die ihn ignoriert haben, und zwingt uns, den Standpunkt des Südens einzunehmen, der ihn nie aufgegeben hat, weil er Imperialismus immer noch im Nacken hat. So wie wir, aber wir ziehen es vor, das Gegenteil zu behaupten!

Wie entkommen wir der Konterrevolution?

Man bewundert zu Recht die Kämpfe des französischen Proletariats. Man ist begeistert, weil man Züge der Revolutionen des 19. Jahrhunderts (und sogar der großen Revolution) wiedererkennt, die der Konterrevolution mit einer Kontinuität und Intensität, die man in keinem anderen westlichen Land gesehen hat, immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Dennoch muss man wachsam bleiben. Wenn sich die französischen Proletarier mit beeindruckender Regelmäßigkeit gegen die “Reformen” erheben, gelingt es ihnen, zumindest bisher, nur, deren Umsetzung zu verzögern oder sie am Rand abzuschwächen, was wiederum beispiellose Subjektivierungsprozesse hervorruft und sedimentiert, die sich wie in den aktuellen Kämpfen (von den Kämpfen gegen das Arbeitsgesetz bis zu den Gilets jaunes über die ZADs) akkumulieren. Die Kämpfe waren jedoch alle, zumindest bis jetzt, defensiv, deren reaktiver Charakter sicherlich überwunden werden kann, aber es gibt immer noch ein erhebliches Starthandicap. 

Um zu erklären, was wir trotz des großen Widerstands als “Niederlagen” bezeichnen müssen, müssen wir vielleicht darauf zurückkommen, wie die lohnpolitischen, sozialen und politischen Siege durchgesetzt wurden. Wenn im 19. Jahrhundert die ersten Siege das Ergebnis der Kämpfe der europäischen Arbeiterklassen waren, so spielte der Süden im 20. Jahrhundert eine immer wichtigere strategische Rolle. Es waren die im Norden gefürchteten und im Süden siegreichen Revolutionen, die die Staats-Kapital-Maschine zum Erliegen brachten und ihn zu Zugeständnissen zwangen. Beeindruckend war die Autonomie und Unabhängigkeit des proletarischen Standpunkts, der dort zum Ausdruck kam. Die Verbindung der Bauernrevolutionen im Süden mit den Arbeiterkämpfen im Norden führte zu einer objektiven Front der Kämpfe über die “Colour Line” hinweg, die Lohnerhöhungen und Wohlfahrt im Norden erzwang und die Aufhebung der kolonialen Teilung, die vier Jahrhunderte lang im großen Süden geherrscht hatte. Dies ist die wichtigste Frucht der sowjetischen Revolution (Lenin war nie in London oder Detroit, sondern in Peking, Hanoi, Algier usw.), die von den “unterdrückten Völkern” nur noch “verlängert” werden musste.

So wie der Sozialismus in einem Land unmöglich ist, so ist es auch unmöglich, der kapitalistischen Staatsmaschinerie von einer Nation aus Bedingungen aufzuerlegen.

Die westlichen Arbeiterklassen waren mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs geschlagen, als die überwältigende Mehrheit der Arbeiterbewegung zugestimmt hatte, sie für den Ruhm ihrer jeweiligen nationalen Bourgeoisien zur Schlachtbank zu schicken. Zu dem Zeitpunkt, als sich sowohl die Klasse als auch die Arbeiterbewegung durch den Antifaschismus gerettet hatten, lag die Initiative bereits in den Händen der “bäuerlichen” Revolutionen, deren Kraft die Zentren des Kapitalismus nach Osten trieb. Zu diesem Zeitpunkt waren die westlichen Arbeiterklassen bereits in die Entwicklung integriert, und selbst wenn sie sich auflehnten, würden sie nie in der Lage sein, die kapitalistische Staatsmaschinerie wirklich zu bedrohen. Im gleichen Zeitraum wurden die Revolutionen des großen Südens in Produktionsverhältnisse oder Nationalstaaten umgewandelt.

Als die Bedrohung durch die Revolution im Norden und ihre reale Präsenz im Süden verschwanden, kehrte sich das Kräfteverhältnis radikal um: Wir begannen, Stück für Stück alles zu verlieren, was wir gewonnen hatten (die Heraufsetzung des Rentenalters von 60 auf 67 Jahre, sieben Lebensjahre, die das Kapital auf einen Schlag erobert hatte, ist vielleicht das deutlichste Zeichen der Niederlage). Bis zur Konterrevolution, die in den 1970er Jahren begann, kam man selbst bei politischen Niederlagen wirtschaftlich und sozial voran. Heute verliert man an beiden Fronten. Jetzt, nach der Krise von 2008, explodieren überall bedeutende Kämpfe (der französische März ist einer davon), aber solange die Verknotungen der Aufständen und Kämpfen auf globaler Ebene nicht aufgehoben werden, diesmal subjektiv, bezweifle ich, dass der Käfig der Konterrevolution durchbrochen werden kann.

Männer guten Willens schlagen vor, den Klassenkampf, der den Kriegen zwischen den Staaten zugrunde liegt, zu zivilisieren. Wir wünschen ihnen viel Glück. In einem einzigen Jahrhundert (1914-2022) haben die verschiedenen Imperialismen die Menschheit viermal an den Rand des Abgrunds gebracht: der Erste und der Zweite Weltkrieg mit dem Höhepunkt der Nazis, der Kalte Krieg, in dem die Möglichkeit des nuklearen Endes der Menschheit zum ersten Mal realisiert wurde. Der gegenwärtige Krieg, von dem die Ukraine nur eine Episode sein wird, könnte die letzte Möglichkeit wieder aufleben lassen.

Angesichts dieser tragischen, immer wiederkehrenden Kriege zwischen den Imperialismen (die anderen nicht mitgerechnet) geht es darum, die internationalen Kräfteverhältnisse neu zu ordnen und ein Konzept des Krieges (der Strategie) zu entwickeln, das dieser neuen Situation gerecht wird. Das “Manifest der Kommunistischen Partei” gab eine Definition, die immer noch sehr aktuell ist, auch wenn sie verschwunden oder in die Vergessenheit der Pazifizierung geraten ist: “Ununterbrochener Krieg, manchmal getarnt, manchmal offen. Ob getarnt oder offen, er erfordert immer und in jedem Fall eine Kenntnis der Kräfteverhältnisse sowie eine Strategie und eine Kunst des Bruchs, die an diese Verhältnisse angepasst sind. Der Krieg kann, historisch gesehen, aber auch heute noch, zu einer revolutionären Transformation” oder zu einer neuen Kapitalakkumulation im globalen Maßstab führen. Eine weitere Möglichkeit, die das Manifest von Marx und Engels in Betracht zog, steht auf der Tagesordnung, verschärft durch die fortschreitende ökologische Katastrophe, “die Zerstörung” nicht nur “der beiden kämpfenden Klassen”, sondern auch der Menschheit.

Anmerkungen

[1] Laura Richardson, Leiterin des US-Militärkommandos Süd (zu dem auch alle lateinamerikanischen Länder außer Mexiko gehören), schlug Kolumbien, dem historischen Verbündeten des Imperialismus vor dem Regierungswechsel, einen “Deal” vor. Wenn das Land zustimme, seine fünfzig alten sowjetischen Hubschrauber vom Typ Mi-8 und Mi-17 der ukrainischen Armee zur Verfügung zu stellen, würde Washington sie durch neues Material ersetzen. Die Antwort von Präsident Gustavo Petro war scharf und unterschied sich von der beschämenden und kontraproduktiven Unterwerfung der europäischen Eliten: “Wir werden diese Waffen behalten, selbst wenn wir sie zu Schrott machen müssen (…) Wir sind weder im einen noch im anderen Lager, wir sind im Lager des Friedens”.

Dieser Text erschien auf mehreren italienischen Seiten, u.a. auch auf Machina. Er wurde innerhalb kürzester Zeit in mehrere Sprachen übersetzt, Bonustracks fügt nun die deutsche Übersetzung dieses wichtigen Beitrags hinzu. Zum Autor: Maurizio Lazzarato gehörte zur autonomia, wie viele floh er vor der politischen Verfolgung Ende der 70er nach Paris, wo er noch heute lebt und politisch arbeitet. 

Aktuelle Informationen über den Hungerstreik und den Gesundheitszustand von Alfredo Cospito [15/4/23]

Zusätzlich zum Desinformationsregime, das systematisch Verleumdungen, Unwahrheiten und Totschweigen einsetzt, um die Sichtbarkeit von Alfredos Initiative zu verleumden und die Solidaritätsmobilisierung zu erschweren, zirkuliert die Falschmeldung über den Abbruch des Hungerstreiks auch in der Kommunikation zwischen den Genossen.

Alfredo hat den Streik nicht abgebrochen: Nach mehr als 170 Tagen seit Beginn des Protests versucht er nun, im Hinblick auf die Anhörung vor dem Verfassungsgericht am 18. April, den durch das Fasten verursachten Schaden zu begrenzen. Er hat eine Gemüsebrühe getrunken und nimmt Nahrungsergänzungsmittel ein.

Die Fortsetzung des Hungerstreiks in der Art und Weise, wie er ihn in den letzten Monaten geführt hat, würde ihn vor dem wichtigen Termin am 18. April nicht nur der Gefahr des Todes aussetzen (den die Ärzte und die medizinische Überwachung, der er sich unterzieht, wahrscheinlich abwenden können), sondern auch einer fortschreitenden und dauerhaften Verschlechterung seines körperlichen Zustands, mit mehr oder weniger schwerwiegenden Folgen, die in der weiteren Beeinträchtigung seines peripheren Nervensystems bestehen.

Alfredo hat durch das Fasten bereits eine neurologische Beeinträchtigung erlitten, die wahrscheinlich irreversibel ist: Er hat kein Gefühl mehr in einem Fuß und ein vermindertes Gefühl im anderen Fuß sowie einen beginnenden Verlust des Gefühls in einer Hand.

Es steht viel auf dem Spiel, und Alfredo geht, wie bisher, einen Schritt nach dem anderen. Momentan ist das Ziel der 18. April. Entscheidungen darüber, wie er weiter vorgehen wird, werden daher verschoben, bis das Ergebnis der Anhörung bekannt ist.

An der Seite von Alfredo, gegen alle Gefängnisse!

Veröffentlicht am 15. April auf italienisch auf Il Rovescio.

Strasbourg am 14. April – Mehr Wut, mehr Bullen

„Die Gemeinschaft gibt es nie als Einheit, 

sondern als Erfahrung.“

Das unsichtbare Komitee 

Die Stimmung auf dem Place Klebér ist aufgeladen. Dem am frühen Morgen veröffentlichten Aufruf, sich um 18 Uhr zu versammeln, sind Hunderte gefolgt. Gerade hat der Verfassungsrat die Kernpunkte der Rentenreform abgenickt. Empörung und Missmut wabern durch die Luft. Minütlich werden es mehr. An den Zugangsstraßen bringen die Bullen ihre Truppen in Stellung. Man muss nicht groß zählen, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Menge der Mannschaftswagen auf Grande Île an diesem Abend einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Zum ersten Mal werden vermehrt Vorabkontrollen an den Straßenecken durchgeführt. Eine Stunde lang wird sich gesammelt. Auf  mehr Menschen folgen mehr Bullen. Mehr Wut, mehr Bullen. Eine andere Antwort hat das Empire nicht parat. 

Schließlich setzt sich die Masse in Bewegung. Vor der Brücke, am unteren Ende der Rue du Vieux-Marché-aux-Poissons, hält sie an. Einzelne Rufen dazu auf, in die Nebenstraßen, tiefer in das Münsterviertel zu ziehen und sich nicht von den dort positionierten Behelmten abschrecken zu lassen. Als sich die Ersten aus der Menge zu lösen beginnen und in die Nebenstraße bewegen, deuten die Beamten Richtung Brücke. Den Menschen in den Restaurants in der Nähe scheint schon zu dämmern, dass sie gleich wohl ihren Platz räumen müssen. Die halbherzigen Aufforderung der Bullen, doch bitte über die Brücke zu ziehen, gehen im Gelächter unter. Tout le monde testet die Polizei. Diese sieht schließlich ein, dass die Verhandlungen per Megafon zu nichts führen und wirft ein paar Tränengasgranaten in die Menge. 

Dann eben doch die Brücke. Es gibt kein gemeinsames Ziel, außer sich gemeinsam im Zorn auf der Straße zu finden. Die Brücke Richtung Rivetoile wird abgeriegelt, interessiert aber niemanden. Nach einigem Hin und Her im Stadtteil Krutenau, geht es über den Place d’Austerlitz erneut Richtung Münsterviertel. An der Brücke Sainte Nicolas stehen schon etliche Fahrzeuge samt  Insassen und versperren den Weg. Nachdem die Bullen zuvor auf ihre nervliche Belastung geprüft wurden, müssen sie nun auch ihre Kondition unter Beweis stellen, denn als die Demo vor ihnen Richtung Westen am Ufer entlang abbiegt, fällt ihnen auf, dass sie die nächste Brücke gar nicht gesichert haben. Auf der einen Seite des Ufers joggen dunkle Sneaker, auf der anderen Seite hetzen leicht versetzt die Hunde des Kapitals. Das Rennen geht an die Jugend, doch zum Durchatmen bleibt keine Zeit. Die Luft beginnt in der Lunge zu brennen und aus den Augen fließen die Tränen, nachdem die schlechten Verlierer die Kreuzung und Brücke unter Beschuss nehmen. Die schwarze Masse fließt in die dunklen Gassen ab, leckt kurz ihre Wunden und zieht dann unbeirrt weiter. 

An der medizinischen Fakultät versuchen die Cops die Menge einzukesseln, diese weicht auf das angrenzende Gelände aus. Auf der anderen Seite eines Zaunes des nahegelegenen Krankenhauses steht ein junger Mann neben einem Rettungswagen. Als er die vorbeiziehenden Menschen bemerkt, lässt er die Sirene des Fahrzeugs erklingen, spendet Beifall und feuert sie an. Die Masse erwidert. Dann geht es Richtung Osten auf der Quai Louis Pasteur weiter. An einer kleinen Fußgängerbrücke sind zwei Bullen auf Motorrädern sich nicht zu schade, jungen Passanten, die gerade Versuchen dem Geschehen aus dem Weg zu gehen, Tränengas vor die Füße zu werfen. 

Mit dem Einbiegen auf den Krankenhausparkplatz beginnt sich der wilde Umzug aufzulösen. Innerhalb der nächsten halben Stunde ziehen sich immer mehr Gestalten in dunklen Ecken um und verschwinden in der heraufziehenden Nacht. 

Den sozialen Netzwerken ist zu entnehmen, dass gegen 21 Uhr, ungefähr 40 Personen in einem Kessel landen. Verhaftungen gibt es an diesem Abend keine. 

Der Beitrag wurde Bonustracks zugespielt.

Ein Exkurs über “legitime” Gewalt

Freddy Gomez

Für Serge D., seine Eltern und Genossen,

Und für alle Verstümmelten, Verletzten und Traumatisierten von Sainte-Soline.

Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass die politische Argumentation so vollständig zusammengebrochen ist, dass jeder Minister, Staatssekretär oder Abgeordnete heute seine Schandtaten zur Schau stellen kann, ohne vor Scham zu erröten, und sie zudem mit einer Vielzahl von Lügen untermauern kann. Die apokalyptische Sequenz, die wir gerade erleben – von den Renten bis zu den Mega-Bassins – zeigt, dass, um es mit den Worten eines “tonton flingueur” zu sagen, “die Arschlöcher alles wagen, man erkennt sie sogar daran”. Und man erkennt sie in der herrschenden Macronie so gut, dass ihr Anführer als deus ex machina eines verlängerten Nichts in die Geschichte eingehen wird.

In meinem politischen Gedächtnis – und meins ist ziemlich lang – wurde diese Hypothese nie so überzeugend bestätigt. Das geht so weit, dass die vom Innenminister am laufenden Band vorgetragenen Lügen zwar ebenso belehrend sind wie die Wahrheiten, doch stinken diese so sehr nach Fälschung, Übertreibung und Dummheit, dass sie neben dem Pinocchio-Effekt, den sie erzeugen, schließlich auf vulgäre Weise die Essenz dessen verkörpern, was diese Macronie auszeichnet: Ihre Einzigartigkeit, jeden zu beschmutzen, zu erniedrigen, auszugrenzen und zu misshandeln, der auch nur friedlich versuchen würde, ihr klarzumachen, dass ihre Welt eine Schweinerei ist.

Es wurde bereits alles oder fast alles über diese finstere Figur gesagt, die von Beauvau aus die Geschicke und die Entwicklung der Sicherheitskräfte des CAC 40 [franz. DAX, d.Ü.] und der Oligarchen leitet. Es wurde alles über seine Taten als “erster Polizist Frankreichs”, sein Verhalten als schäbiger Kleinkrimineller, sein Umdrehen der Jacke, seinen Sinn für Humor, der der  eines Panzerkommandanten ist und sein Charisma, das eines Gartenzwerges würdig ist, gesagt. Alles wurde so vollständig gesagt, dass man zwar seinen Rücktritt fordern sollte, aber dabei daran denken sollte, dass Pinocchio Castaner ersetzt hat, der seinerseits vor keiner Schurkerei zurückschreckte. Denn Innenminister in der Macronie zu sein bedeutet, sich – wer immer man auch ist und woher man auch kommt – in der “unendlichen Unendlichkeit”, wie Spinoza es nannte, der Niedertracht und der krummen Dinger zu suhlen. Selbst wenn er wie ein Notar aus der Provinz gekleidet ist, wie Colomb, ein ehemaliger sozialistischer Sekretär, der unter Macron zur Jagd auf Migranten und ZAD’isten übergegangen ist und ein würdiger Nachfolger des “Hollandisten” Cazeneuve ist, der als an erster Stelle und nie bereuender Verantwortlicher für den Tod von Rémi Fraisse in Sivens im Jahr 2014 benannt werden muss. Man könnte natürlich noch weiter zurückgehen, aber wir belassen es dabei und stellen fest, dass der Macronismus nichts anderes ist als die Verewigung des Schlimmsten in allen Dingen.

Die guten Seelen der Theorie, die die Gelbwesten-Bewegung radikal übersehen haben [1] ,werden mir wieder einmal sagen, dass keine Analyse der real existierenden kapitalistischen Ordnung sich damit begnügen kann, sich auf die konjunkturelle Lage zu beschränken und um dann zu präzisieren, dass der Macronismus letztlich nur ein Epiphänomen ist, das zwar monströs, aber logisch ist und vor allem die Krise des gesamten “Systems” der Ausbeutung und Herrschaft aufzeigt.

Abgesehen davon, dass man bezweifeln kann, dass diese Art von Verallgemeinerung uns in irgendeiner Weise helfen kann, regt alles im Gegenteil dazu an, über die Einzigartigkeit des Macronismus nachzudenken und darauf hinzuweisen, inwiefern und wie die krasse politische Armseligkeit der herrschenden Kaste in jeder Hinsicht zu der überwältigenden Epoche der Mittelmäßigkeit passt, die sie hervorgebracht hat. Im Klartext heißt das, dass man verstehen muss, was dieses Regime der radikalisierten extremen Mitte auszeichnet: die wahnsinnige Arroganz, mit der es sich aus freien Stücken dem ständigen “chamboule-tout” hingibt, und die Tatsache, dass seine Machtausübung notgedrungen vollständig auf seinen Polizeikräften beruht, die ihrerseits unter starkem Einfluss der extremen Rechten stehen.

Gibt es eine macronistische Besonderheit im Umgang mit der polizeilichen Ordnung? Die halbwegs seriöse Expertise stellt dies fest und illustriert es, die internationalen Institutionen geben ein irritiertes Echo, die letzten unabhängigen Journalisten bestätigen es. Von unten betrachtet ist das, was seit der Massenrepression gegen die Gelbwesten ins Auge springt, seitens der Machthaber der erklärte Wille, der jedes Mal noch deutlicher zum Ausdruck kommt, mit Schlagstöcken in unsere hohlen Köpfe hineinzuprügeln, dass die Gewalt, der sie uns aussetzen, “legitim” sei. Mit anderen Worten: Wir haben noch lange nicht genug, bis wir verstehen: 1) dass der Staat das “Monopol der legitimen Gewalt” besitzt; 2) dass jede Gegengewalt von Natur aus illegitim ist; 3) dass die Polizei, wenn es heiß hergeht, alle Rechte hat; 4) dass es so ist, weil Max Weber es so gesagt hat. Ansonsten gilt: Weitergehen, nichts zu sehen. Ansonsten: Fresse halten und richtig Gas geben. Und zwar völlig legitimiert.

Max Weber (1864-1920), ein ehrenwerter Soziologe aus vergangenen Zeiten, muss sich im Grabe umgedreht haben, als er von dem Faschisten Zemmour, dem finsteren Darmanin, dem vorgetäuschten sanften Präfekten Nuñez, dem behelmten Soziologen Dominique Reynié und anderen als Zeuge herangezogen wurde, um in seinem Namen zu behaupten, dass der Staat lediglich das “Monopol der legitimen Gewalt” ausüben würde, auf das er naturgemäß als einziger Anspruch hätte. Wenn das so “alt wie Max Weber” ist, wie diese Phalanx von falschen Zeugen trompetet, ist es vor allem dumm wie der Mond. Und es beweist, dass diese Schwachköpfe, die Max Weber nie gelesen haben, und ohne dass ihnen jemals ein Präfekturjournalist widerspricht, einen absoluten Widerspruch in sich selbst begehen. Denn Max Weber, meine Herren Fanatiker des Ordre éborgneur, hat nie geschrieben, dass staatliche Gewalt legitim sei, sondern dass jeder Staat für sich selbst dieses Monopol beansprucht und versucht, seine staatliche Legitimität durchzusetzen, was alles in allem etwas anderes ist. Bei Max Weber findet sich kein normatives Urteil, sondern eine Tatsachenfeststellung: Diese Gewalt, deren einziger Verwahrer der Staat ist, weil er es ist und sein will, ist nicht legitim in dem Sinne, dass sie gerecht wäre, im Gegensatz zu dem, was Zemmour, Darmanin, Nuñez oder Reynié induzieren, sondern sie wird vom Staat legitim durchgesetzt, wenn seine eigene Existenz ihm bedroht erscheint. Indem der französische Staat, wie es unter Macron offensichtlich geworden ist, systematisch eine völlig illegitime Gewaltanwendung vornimmt – alle Bilder der Repression belegen dies -, reiht er sich, natürlich könnte man sagen, in einen Prozess ein, der seit Pinochet und den Chicago Boys bekannt ist: der Prozess, der zur physischen Zerschlagung jedes sozialen oder politischen Protests führt, der sein Dogma gefährden könnte, und zwar mit allen Mitteln, über die der marktwirtschaftliche Staat verfügt und die er missbräuchlich anwendet. Daher wird das Mantra des “Monopols der legitimen Gewalt” verwendet, um den Fisch zu ertränken. Ein Mantra, das, wie die ausgezeichnete Catherine Colliot-Thélène – eine profunde Kennerin Max Webers und Übersetzerin seines berühmtesten Werkes, ‘Der Gelehrte und der Politiker’ – anmerkte, nur “das pseudogelehrte Kabarett von Politikern ist, die nach Argumenten suchen, um die repressiven Auswüchse der Republik zu rechtfertigen” [2].

In der heutigen Zeit dient dieser Verweis auf die “Legitimität” im Übrigen dazu, jede Art von Gewalt zu rechtfertigen: Die einer ohne Konsultation durchgesetzten Rentenkonterreform, die einer 49-3-Klinge, mit der jede Debatte beendet werden soll, die der BRAV-M und anderer Söldnerkorps, jene Gewalt, die missbräuchliche Polizeigewahrsamsmaßnahmen durchsetzt, jene der polizeilichen Reusen, obwohl diese verboten sind, die eines ungepflegten, dickbäuchigen Stadtpolizisten, der sich darauf stürzt, einen Jungen auf dem Schulhof eines Gymnasiums in Conflans-Sainte-Honorine zu ersticken. In der Macronie ist alles legitim, was Demonstranten terrorisiert oder verstümmelt. Dass keiner von Macrons Handlangern, Anhängern, Leitartiklern und Beratern den öffentlichen Mut oder die einfache Klarheit hat, sich von diesen abscheulichen Praktiken zu distanzieren, zeugt von der fortgeschrittenen Fäulnis der “neuen Welt”, die sie ihren erbärmlichen Wählern verkauft haben, ohne sie zu warnen, dass unter der Tugend ihres obersten TV-Evangelisten das Laster und die systematische Zerstörung jedes gemeinsamen Anstands und hinter seinem “en même temps” die Arroganz und der Ständer lauern.

Die Barbarei der Repression, die am 25. März in Sainte-Soline auf ausdrücklichen Befehl von Darmanin-la-Honte gegen eine Demonstration der “Soulments de la terre” (Aufstände der Erde) ausgeübt wurde, deren einziges Ziel symbolisch war, nämlich auf einen Hügel zu klettern und ein leeres Loch zu umzingeln, das als Mega-Becken für die Aneigner des Gemeinguts schlechthin, nämlich des Grundwassers, dienen sollte, ist unbestreitbar und wird von der unabhängigen Presse weitgehend belegt. Ja, ein leeres Loch, das den Monopolisten des Agrobusiness als Vorratskammer dienen sollte, denselben, die die Erde mit ihren Schweinereien verwüsten und sich an all den Übeln, die sie ihr zufügen, mästen, wurde militärisch von Gendarmen geschützt, von denen man annehmen kann – zumindest hofft man das -, dass einige sich fragten, was sie dort mit 3000 Mann machen. Gehorcht der Niedertracht, Panduren, da dies euer Beruf ist, schmutziger Beruf. Bis wohin, bis wann, das weiß niemand. Wer hat den Krieg in Sainte-Soline geführt? Wer hat in zwei Stunden 5.000 Granaten geworfen, tödliche Verletzungen in Kauf genommen, verstümmelt, zertrampelt, verwüstet? WER? Die Demonstranten oder die Polizei? Die Gegner dieser abwegigen, todbringenden Flucht nach vorn oder die Schurken, die dem Treiben nur ein Ende setzen werden, wenn sie dazu gezwungen werden. Die Antwort liegt in der Frage. Und die Frage stellt sich jeder, außer den zustimmenden Leitartiklern: Warum dieses staatliche Massaker?

Um ein Exempel zu statuieren, um zu terrorisieren, um von der erneuten Teilnahme abzuschrecken. Das ist einfach und “legitim”, denn nur der Staat hat das Gewaltmonopol und die Mittel, um seine Milizen entsprechend zu bewaffnen. Doch der Staat, und dieser im Besonderen, kann nie genug bekommen. Er will nicht nur unterdrücken, sondern auch beschmutzen, unterstellen, verleumden, beleidigen, diffamieren, Tatsachen verschleiern, sein Gift verspritzen und die Ehre derjenigen beflecken, die sich seinen Vorrechten widersetzen. Daher die Kinnhaken seines Ministers der niederen Werke, die Ordnungsaufrufe an seine Abgeordneten – die es nicht mehr wagen, ohne massiven Polizeischutz in ihre Wahlkreise zurückzukehren -, die Jagd seiner bezahlten journalistischen Sprecher auf die “fichés S”, als ob es in diesem Polizeistaat, in dem so wenig genügt, um in die umfangreiche Datei von “Big Macron” aufgenommen zu werden, ein Verbrechen wäre, ein solcher zu sein. So wie die Dinge in diesem Land der entlarvenden Lügen laufen, könnte die Liga für Menschenrechte, eine respektable Institution, letztendlich sogar wegen Gefährdung der Sicherheit des Staates aufgelöst werden, ihres Staates, des Staates, der durch sein Spiel mit dem Schändlichen den institutionellen Lepénismus schließlich fast süß macht. Und so, von Charybdis nach Skylla, wird der Macronismus seine Mission erfüllt haben: uns in eine endlose Nacht zu stürzen.

Allerdings haben die letzten Monate einige neue Wahrheiten zutage gefördert, von denen die wichtigste, vor allem seit dem 49.3, sicherlich das erstaunliche Engagement der Jugend in einer Bewegung ist, die sie scheinbar nicht so stark betreffen sollte. Diese massive, bunte, aktive, respektlose, festliche und entschlossene Beteiligung, die an sich schon bedeutsam ist, ist vielleicht ein Zeichen für einen Perspektivenwechsel, für eine Repolitisierung. Auch die anhaltenden Blockade- und Besetzungsaktionen, der physische Widerstand gegen Polizeieinsätze, die nicht angemeldeten und nächtlichen Demonstrationen, die verschiedenen Solidaritätsaktionen auf den Streikposten, die Verallgemeinerung der Streikkassen, die Dynamik, mit der sich konsequente Gewerkschaftsbasen der Lauheit ihrer Führungen entgegenstellen, sind allesamt Elemente, die auch hier eine deutliche Zunahme der durch die Gelbwesten erneuerten Praktiken der Autonomie und der direkten Aktion belegen.

Über das punktuelle Gefühl der Niedergeschlagenheit hinaus, das wir angesichts der Unverhältnismäßigkeit der Mittel zwischen dem Staat und uns empfinden können, sollten wir also davon ausgehen, dass die “legitim” ausgeübte Gewalt unsere offensiven Widerstände immer legitimieren wird.

Die schlechten Zeiten werden enden!

Freddy GOMEZ

Anmerkungen:

[1] Neugierige können zu dieser Thematik “Misère de la Théorie en temps d’émeute” (Elend der Theorie in Zeiten des Aufruhrs) konsultieren.

[2] Catherine Colliot-Thélène, “La violence n’est pas nécessairement “légitime” dès lors qu’elle est le fait de l’État”, Le Monde.fr, 19 février 2020.

Auf französisch erschienen am 13. April 2023 auf A contretemps.