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Himmel für alle oder Hölle für alle

Louisa Yousfì


[Postscriptum ‘Berlin grüsst Athena’]

Ein Auszug aus dem Buch ‘Die verbleibenden Barbaren’ von Louisa Yousfì, der auf Machina veröffentlicht wurde. Die Übersetzung ist den Geschwistern der Silvesternacht von Berlin gewidmet. S.L.

(…) Trockne deine Tränen. Barbaren sind keine Wilden, die weniger gepeitscht, weniger gedemütigt und mehr geknuddelt werden sollten; Wilde, die von der Zivilisation misshandelt werden. Beobachte, wie sie den Gipfel der Kritik erklimmen, wenn sie behaupten, dass wir nichts als die Summe unserer Frustrationen sind, dass wir nichts als das sind, was ihre Welt uns nicht geben wollte. Mit Falschheit und List geben sie vor, uns zu verteidigen, indem sie sich auf unsere Verletzlichkeit, unseren Wahnsinn, unsere Verantwortungslosigkeit, unsere Bestialität berufen. Schließlich beurteilen wir einen Menschen und ein Tier nicht auf dieselbe Weise, oder? Sie glauben, sie seien so schlau wie ein Anwalt, aber als Richter verurteilen sie uns dazu, Opfer zu bleiben, ihre Opfer, denen es an moralischer Raffinesse und psychologischer Tiefe fehlt. Das ist ihre große Entdeckung: Unsere “Barbarisierung” ist das Scheitern der Integration, sagen sie. Um uns vor unseren Dämonen zu retten, müssen wir besser integriert werden, um endlich an ihrem Tisch zu sitzen und mit besonderer Sorgfalt behandelt zu werden. Wie Kinder oder kranke Menschen. Kleine gebrochene Leben, Flüchtlinge. Schade um den Barbaren, der die Einladung ablehnt! Auf der anderen Seite, so warnen sie, stehen die wahren Feinde, diejenigen, die offen das Gegenteil behaupten: dass wir schuldig sind, ontologisch schuldig, dass wir die Schuld mit der Muttermilch aufsaugen. Wohin wir auch schauen, das Laster droht, uns zu verdorren oder zu entstellen. “Von Larven oder Ungeheuern” [1]: Es gibt keine treffendere Formel, um die Tragödie des barbarischen Zustands zu beschreiben. 

(…) Gefickt. Wir sind gefickt, gefickt, gefickt. Wenn wir denken, wir rebellieren, zerstören wir uns selbst. Wenn wir denken, wir behaupten uns, verleugnen wir uns (…) Es ist ein Geflecht aus Befreiung und Schrecken, aus Schönheit und Hässlichkeit. Versuchen Sie, es zu entwirren, und Sie werden sehen. Es ist unmöglich. Es ist ein unentwirrbares Geflecht, geballt wie eine Faust, und wie eine Faust versuchen wir manchmal, sie gegen die Wand zu schlagen. Wie sehen wir aus? Wie eine Bande von Verrückten. Bestenfalls wie verdächtige Individuen, die man genau beobachten sollte. Wie kann es gelingen, dass wir nicht an unsere Hässlichkeit glauben und uns ihr hingeben? Indem wir einfach den soziologischen Determinismus nacherzählen, der sich daraus ergibt? Und was sollen wir dann damit anfangen? Das Tragische daran ist, dass wir es bereits glauben. Wir sind sogar zutiefst davon überzeugt. Wenn wir miteinander über uns sprechen, geben wir es nur mit Mühe zu. Niemals vor Zeugen, versteht sich. Aber unter uns sagen wir es, als wollten wir sagen: Wir kennen uns. Wenn draußen etwas brennt, flüstern wir uns die übliche Vorhersage zu: ein anderer Araber, ganz sicher. Wir schämen uns ein wenig. Und es ist wahr, dass wir manchmal erleichtert sind, das soziologische Narrativ zu haben. Wir erzählen all unser Unglück als schlecht integrierte Menschen, all die Ungerechtigkeiten, denen wir zum Opfer gefallen sind. Der Hohn, die Ablehnung. Wir glauben es auch. Und es ist wahr. Irgendwo ist es wahr. Aber tief im Innern denken wir insgeheim immer: Mit uns stimmt etwas nicht, gerade mit uns. Wir sind nicht normal. Und die armen zivilisierten Menschen müssen sich mit uns abfinden. Das sagt auch meine Mutter. Sie schämt sich für den ganzen Mist, den die Araber in diesem Land verzapfen. Die Armen, sagt sie, und meint damit die echten Franzosen, die Armen, müssen sich mit uns abfinden. Und sie warten auf den Tag, an dem sie damit aufhören. Eines Tages werden wir dafür bezahlen, dass wir so hässlich sind, während sie so schön waren. Dann werden sie vielleicht auch ein bisschen hässlich, aber nur, um uns zu korrigieren, und sie können wieder schön sein, als wäre nichts geschehen. Das hat sie schon erlebt, als sie in Algerien geboren wurde. Jetzt tut sie so, als wäre nichts geschehen, aber sie erinnert sich daran, wie es war, schön zu sein. Wir alle erinnern uns daran. Aber die meiste Zeit vergessen wir es. Wir finden sie wieder schön. Der Trick der Zivilisation reproduziert ständig die Illusion. Ehrlich gesagt, wozu wollen Sie mit dem Westen konkurrieren? Sie haben die Unschuld erfunden. Sie haben ganze Völker abgeschlachtet und nebenbei Walt Disney gegründet. Und wir, nebenan, ganz erbärmlich, ganz ramponiert, wie können wir uns weiterhin lieben und respektieren? 

Wie versinken wir nicht in ‘Opfer-Ressentiments’ oder mörderischen Ausbrüchen, wie alle sagen? 

(…) Die Barbarei ist ein Prozess der Integration. Wie unterscheidet sich dieser Ausdruck radikal von den schlechten Argumenten, die die Gewalt der Barbaren auf die vom rassistischen System angerichteten Verwüstungen zurückführen? Sie werden sagen, dass wir wie jedes Mal, wenn wir versuchen, über unsere Würde zu sprechen, herumstochern. Aber der Unterschied ist wirklich erheblich. Es ist sogar ein Gegensätzlicher. Zu sagen, dass die Barbarei ein Integrationsprozess ist, bedeutet nicht, die Gründe für unsere inneren Monster zu soziologisieren und die Genealogie all unserer zivilisatorischen Unzulänglichkeiten nachzuzeichnen, sondern zu sagen: Unsere Monster werden nicht aus einem Mangel an euch geboren, sondern aus einem Übermaß an euch – zu viel Frankreich, zu viel Empire. Sie werden in eurem Kontakt geboren, und es ist immer euer Kontakt, in dem sie Gestalt annehmen und nach und nach ihre (selbst)zerstörerische Mission festlegen. Deshalb können weder Sie noch alles, was Sie als Erzählung über die Rettung der Eingeborenen durch Integration vorschlagen, uns wirklich retten. Nichts auf dieser Welt kann uns retten, nicht nur, weil eine Sache nicht gleichzeitig das Gift und das Heilmittel sein kann, sondern auch, weil wir nicht diejenigen sind, die gerettet werden sollen. Es ist die berühmte Geschichte von den Gesunden in einer Welt voller Verrückter. Wenn die Welt krank ist, sind diejenigen, die geführt werden müssen, nicht diejenigen, die sich ihren Gesetzen widersetzen, sondern alle anderen. Am Boden des Identitätsabgrunds, den die Zivilisation uns auferlegt, sind wir nicht mehr diejenigen, die zu bemitleiden sind. Wir sollten unsere Chancen besser einschätzen: Uns geht es gut, aber was ist mit ihnen? Stellen Sie sich vor, Sie wären an ihrer Stelle, die Erben des Imperiums… nur für ein paar Sekunden. Alle Dämonen der Geschichte würden auf einen Schlag über uns herfallen. Söhne der Nazis! Söhne der Kolonisten! Söhne von Sklavenhändlern! Kinder von Völkermördern. Kulturelle Studien über ihre Ethnie – weiße Studien – sprechen nur von ihrem Privileg. Das ist grundlegend ungerecht. Wir sprechen auch über alles, was ihnen fehlt. Angefangen bei den Werten, deren ursprüngliche Entstehung sie immer noch für sich beanspruchen: Humanismus, Universalismus, Demokratie, Brüderlichkeit, Meinungsfreiheit… Man kann fast verstehen, warum manche es vorziehen, das Verbrechen mit Stolz zu umarmen. Schließlich ist das Festhalten an den eigenen Fehlern auch eine Frage der Ehre. Sehen Sie sich an, was in ihren Köpfen vorgeht. Die Barbarisierung Europas ist nicht nur ein Märchen, erinnert uns Césaire. 

Ah, ich höre sie fortschreiten! Sie sagen: Wenn ihr hässlich seid, ist es ein Spiegelbild unserer eigenen Hässlichkeit, aber wenn ihr schön seid, ist es eure eigene Schönheit. Na und? 

Irgendwie haben sie Recht, und ich muss lächeln, wenn ich mir vorstelle, wie sie uns beim Wort nehmen und sich dafür erwärmen, ihre eigene Ehre zu verteidigen. Sie sind rührend in ihrer Beharrlichkeit. Denn auch sie sorgen sich um ihre Schönheit. Sie verstehen nicht, dass wir ein vitales Bedürfnis nach diesem dekolonialen Egotrip haben. Wir brauchen ihn, um uns an unserem Stolz zu berauschen, wir brauchen es, dass unsere Schönheit überhöht, überbewertet wird. Unser Bedürfnis, stolz zu sein, ist unmöglich zu stillen. Dieses Narrativ, das an den Rändern abgeschnitten ist, um das zu befriedigen, was man gemeinschaftliche Nachsicht nennt, ist eine Lüge, die die Wahrheit sagt. Wir müssen zulassen, dass sie sich in unseren Gehirnen festsetzt, denn sie ist die einzige, die es mit den erzählerischen Kräften des Imperiums aufnehmen kann. Die einzige, die eine Lichtquelle für unsere Kinder bietet, die eine Richtung, einen Horizont aufzeigt. Die einzige, der wir folgen müssen. Weder Larve noch Ungeheuer. “Oh, meine Lieben, hört mir zu. Dort drüben lieben sie euren Hals nicht, schön und gerade ohne Schlinge. Also liebt euren Hals, legt eure Hand darauf, behandelt ihn gut, streichelt ihn und haltet ihn gerade” [2].

Die Zivilisierten sollten es vermeiden, auf unser Schicksal zu pochen. Wir sind es, die um sie weinen sollten. Wir sind es, die sie retten können. Das Gegenteil ist noch nie passiert, auf keine Weise und zu keiner Zeit in der Geschichte. Gibt es Nuancen? Komm schon, seit wann interessieren sie sich für Nuancen? Offensichtlich, weil es zu ihren Gunsten ist. Im Buch Amatissimahat Paul D. eine Antwort für sie. Sethe, eine ehemalige Sklavin, erzählt ihm, dass ein weißes Mädchen ihr bei der Flucht “geholfen” hat. Paul D. unterbricht sie und hält sie zurück. Sagen Sie das nie, hebt er die Nuancen hervor, sie war diejenige, die gerettet wurde. Wenn die Zivilisierten ‘ihre Rasse’ zugunsten der Barbaren verraten, suchen sie ihre eigene Rettung, ihre eigene Schönheit. Und Gott weiß, wie schön ihre Schönheit ist, wenn sie zum Vorschein kommt; Gott weiß, wie wir sie erkennen und wie wir das Andenken an alle Fernand Iveton und Maurice Audin betrauern. Ja, es gibt eine Geschichte der weißen Würde, und gerade weil sie Würde ist, schreckt sie nicht vor dem barbarischen Narrativ der weißen Schuld zurück. Sie beleuchtet die Geschichte eines Herrn, der von seinem Diener die höchste Stufe der Dialektik erlernt hat: wenn es der Diener selbst ist, der dem Herrn die Bedeutung der Freiheit lehrt. Nicht nur die eigene, verleugnete und verachtete, sondern auch die des Meisters, entfremdet in einer Beziehung, die zur gegenseitigen Zerstörung bestimmt ist. Himmel für alle oder Hölle für alle.

(…)

Anmerkungen

[1] H. Bouteldja, Die Weißen, die Juden und wir. Auf dem Weg zu einer Politik der revolutionären Liebe, Sensibili alle foglie, Rom 2017, S. 83.

[2] Morrison, Beloved, a.a.O., S. 125.

“Ich weiß es, auf meiner Haut und auf der meines Vaters”

Ein Brief gegen den 41bis und in Solidarität mit Alfredo

Die erschütternde Geschichte von Alfredo Cospito, der den Hungertod riskiert, um auf die Abscheulichkeiten des 41bis und allgemein des menschenverachtenden Gefängnisses hinzuweisen, obwohl er niemanden getötet hat, findet meine volle Sympathie. Ich weiß am eigenen Leib und an dem meines Vaters, was das bedeuten kann. Auch mein Vater, Vincenzo Stranieri, hatte niemanden umgebracht, aber wegen kleinerer Vergehen, in seinem Fall im Zusammenhang mit der Sacra Corona Unita (1), verbrachte er 37 Jahre in feindseliger Gefangenschaft. 

Jahrelang konnte ich ihn nicht sehen, weil er mich aufgrund der psychischen Probleme, die durch dieses extreme Regime, das darauf abzielt, zu brechen, verursacht wurden, selbst nicht sehen wollte… aber es war seine Krankheit, die sprach, es war nicht mehr sein Wille. Mein Bruder bekam auch psychische Probleme, er war das Opfer der blindwütigen Niedertracht, auch gegenüber Kindern, jeden körperlichen Kontakt ab dem Alter von 12 Jahren mit einer perversen Trennwand aus Glas in voller Höhe zu verhindern… offiziell, um unerlaubte Nachrichten zu vermeiden, in Wirklichkeit völlig nutzlos und lästig, da man durchsucht wird und die Gespräche aufgezeichnet werden. 

Ich selbst war damals in den Hungerstreik getreten, um die Bedingungen meines Vaters anzuprangern, die mit der Anwendung des 41bis Haftregimes nicht in Einklang zu bringen waren, denn er war schwer krank: Wegen eines Tumors im Kehlkopf hatten sie ihm die Stimmbänder entfernt, er weigerte sich zu essen, er ließ sich sterben; eine Zeit lang hatten sie sogar einen Schlauch direkt an seinen Magen angeschlossen, um ihn zu ernähren. Er konnte weder schlucken noch sprechen, aber nicht einmal dann hörte die Verbissenheit auf, nicht einmal dann erliessen sie ihm seinen 41bis.

Mein Vater, der im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal ins Gefängnis kam, war ununterbrochen inhaftiert, vom Alter von 24 Jahren bis er über 60 Jahre alt war. Mein Vater war bereits seit 1984 im Gefängnis, als sie ab 1992 automatisch den 41bis anwandten, den er während seiner gesamten Haftzeit hatte und den sie auch auf ihn anwandten, als er in der geschützten Gesundheitseinrichtung “Santi Paolo e Carlo” war und auch als er, obwohl er seine Haftstrafe beendet hatte, in einem Bauernhaus interniert wurde, weil er, wir wissen nicht inwiefern, immer noch als gefährlich angesehen wurde und immer noch unter dem 41bis Regime stand. 

Diese Maßnahme, die Internierung, die auf den Code Rocco aus der Zeit des Faschismus zurückgeht und die sogar auf unbestimmte Zeit erfolgen kann, so dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese willkürliche Dauer einer Freiheitsbeschränkung, die einer Gefängnisstrafe zu ähnlich ist, verurteilt hat… Und die Anklage ‘des Massakers’, sogar ‘des versuchten Massakers’, die Alfredo Cospito zur Last gelegt wird, ist ebenfalls auf die Überreste des Rocco Code zurückzuführen, der in unserem Rechtssystem noch immer präsent ist… Dabei hatten die demonstrativen Handlungen, für die Alfredo Cospito verurteilt wurde, nicht einmal das Potenzial eines Massakers, da es sich um Sprengvorrichtungen mit geringem Potenzial handelte, an verlassenen Orten und bei Nacht. 

Ich habe befürchtet, meinen Vater für immer zu verlieren, denn selbst nach seiner Entlassung musste er lange Zeit in einem Pflegeheim bleiben, um rehabilitiert zu werden; erst seit kurzem kann ich einige seiner Fortschritte sehen. Mein Vater überlebte dieses Foltersystem, das ihn brechen sollte, nur knapp, ohne therapeutische Betreuung, ohne Resozialisierungsmaßnahmen. Aufgrund dieses größeren Bewusstseins unterstütze ich, die ich empört bin und aus familiären Gründen das extreme Leid dieses Regimes kenne, voll und ganz das Engagement für das Leben von Alfredo Cospito und gegen 41bis. 

Das Engagement von Alfredo Cospito für alle leidenden Häftlinge hat außerdem das abscheuliche Gesicht eines bestimmten Systems gezeigt, das nicht einmal mit der Wimper zuckt, wenn ein Mensch an Hunger zu sterben droht, nur um nicht auf ein Instrument der Obstruktion zu verzichten… eine Obstruktion, die bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und vom italienischen Verfassungsgerichtshof verurteilt wurde.

Deshalb ist mein Bekenntnis zu Alfredo Cospito ein absolutes Bekenntnis; Alfredos Sache ist jetzt eine Fahne für alle, die gegen diese extremen Formen der versuchten Vernichtung kämpfen.

Anna Stranieri

Der Artikel wurde am 24. Februar 2023 im italienischen Original auf il rovescio.info veröffentlicht. Die Sacra Corona Unita (1) ist eine Mafia-Organisation in der Region Apulien. 

Alfredo Cospito: Rom – 24. Februar, 11 Uhr. Kundgebung vor dem Kassationsgericht

In wenigen Stunden, in den Mittagsstunden des 24. Februar 2023, wird vor dem Gericht in Rom über das Leben von Alfredo Cospito verhandelt, der, geschwächt von seinem Hungerstreik, mittlerweile im Haftkrankenhaus inhaftiert ist. An dieser Stelle die Übersetzung des Aufrufs zur Solidaritätsversammlung vor dem Gericht in Rom.  

Alfredo raus aus 41bis! Kundgebung in Solidarität mit Alfredo Cospito anlässlich der Anhörung des Kassationsgericht am 24. Februar in Rom.

Alfredo Cospito befindet sich seit dem 20. Oktober im Hungerstreik gegen das 41bis, das Vernichtungs- und Folterhaftregime, in das er am 5. Mai verlegt wurde, und die feindselige Verurteilung zu lebenslanger Haft, die sein Begleiter nach dem Scripta-Manent-Prozess wahrscheinlich erhalten wird. Der Streik hat fast 130 Tage erreicht: lange Monate, in denen Alfredo seine Hartnäckigkeit als bewusster Revolutionär dem Vernichtungswillen des Staates und seiner Apparate entgegensetzte, in erster Linie der repressiven und juristischen Apparate, die in den ersten Wochen alles taten, um seinen Streik zu denunzieren, in den letzten Wochen aber buchstäblich alles taten, um seine Ideen, seine Konsequenz und seine Entschlossenheit zu verleumden.

Die Verlegung nach 41bis wurde erzwungen, um zu versuchen, den unbußfertigen Charakter zu untergraben, mit dem Alfredo die zehn Jahre Haft durchlebt hat, und um ihn daran zu hindern, zu der Debatte zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Gefängnisse beizutragen, in die er eingriff, ohne den Anspruch zu haben, irgendetwas zu “lenken” oder zu “inspirieren” (so die Worte der Minister und Richter, die von den Medien verstärkt wurden). Eine Wahrheit, die keine Verurteilung oder repressive Maßnahme jemals auslöschen kann: Weil der Genosse ein Anarchist ist und als solcher jede Delegation und Hierarchie ablehnt. Alfredo ist ein Revolutionär, der einen der Hauptverantwortlichen für die Atomkatastrophe in Europa angegriffen hat und anschließend im Gefängnis für seine Überzeugungen eingetreten ist. In diesen zehn Jahren setzte er gegen Resignation, Passivität und Untätigkeit den Schwung eines Lebens entgegen, das sich einer revolutionären Idee und Praxis widmete, die auf die umfassende Freiheit aller Unterdrückten und Proletarier abzielte. Eine Idee, die für den Staat unaussprechlich ist, der, seit sie unter den ausgebeuteten Massen auftauchte, mit allen Mitteln versucht hat, sie unter Kontrolle zu halten, und stattdessen ihre Fähigkeit, unerwartet wieder aufzutauchen, verstärkt hat. Eine unzulässige revolutionäre Praxis in einer Galaxie-Gesellschaft, in der es unvorstellbar ist, das Gewaltmonopol in Frage zu stellen, das der Staat mit systematischer Unterwerfung, Zwang, Drohungen und Erpressung aufrechterhält.

Alfredo Cospito wurde vom Staat buchstäblich zum Tode verurteilt. Der Staat ratifizierte seinen Willen, ihn zu vernichten, mit der Anhörung des Überwachungsgerichts in Rom am 1. Dezember, bei der sein Einweisungsbefehl in 41bis bis bestätigt wurde. Dass er heute noch am Leben ist, ist einzig und allein seiner großen Widerstandsfähigkeit zu verdanken: Für den Staat hätte er bereits tot sein müssen. Es ist eine Feststellung, der wir uns nicht entziehen dürfen, denn fast 130 Tage nach Beginn des Streiks steht sein Leben am Rande des Abgrunds. Zu den Verantwortlichen – neben dem Überwachungsgericht in Rom, dem Justizminister Nordio, dem ehemaligen Minister Cartabia, der aktuellen Exekutive, der Staatsanwaltschaft in Turin und der Nationalen Antimafia- und Antiterrordirektion – gehört auch das Kassationsgericht. Ein Gericht, das am 6. Juli eine der Anklagen im Scripta-Manent-Prozess, in dem der Genosse bereits zu 20 Jahren verurteilt worden war, in “politisches Massaker” umdeklarierte. Aufgrund dieser Umqualifizierung droht Anna Beniamino eine Strafe von 27 Jahren und Alfredo eine lebenslange Haftstrafe, eine Maßnahme, die ein Justizsystem veranschaulicht, das sich nicht einmal mehr hinter dem Deckmantel der Bestrafung als Form der Rehabilitierung versteckt, sondern – immer unverfrorener – seine Absicht bekräftigt, jede Form von staatsfeindlichen Leben zu unterdrücken. Dasselbe Gericht, das schließlich am 24. Februar über Alfredos Einweisungsbefehl in den 41bis zu entscheiden hat.

In diesen Jahren des militärischen und wirtschaftlichen Krieges sowie der ökologischen und sozialen Katastrophe entspricht die Zunahme der Repression einem lebenswichtigen Erfordernis des Kapitals. Die repressive Offensive weitet sich auf allen Ebenen aus, bis hin zu 41bis für Alfredo Cospito sowie für Nadia Lioce, Roberto Morandi und Marco Mezzasalma, Aktivisten der BR-PCC, die seit über 17 Jahren in 41bis inhaftiert sind. Wir werden unsererseits weiterhin gegen die unterschiedlichen Regime kämpfen, in denen unsere Kameraden inhaftiert sind, wohl wissend, dass diese sowohl dazu dienen, sie von äußeren Bewegungen zu isolieren (wie im Fall von 41 bis), als auch sie von der potenziell bewussteren Komponente der Gefangenen zu trennen (wie im Fall von AS2).

Überall sind die Widerstandsbewegungen mit dieser sozialen Realität konfrontiert, und in den letzten Jahren gab es viele Demonstrationen aktiver Solidarität in den Bewegungen in Italien, aber die Solidarität mit Alfredo geht über die Grenzen hinaus und bringt die Perspektive eines Internationalismus zum Ausdruck, der in der Lage ist, in der Praxis eine Vision der sozialen Befreiung zu artikulieren, die alle Staaten und Organisationen des internationalen Kapitals als Feinde anerkennt. Derselbe Feind, derselbe Kampf.

In den letzten Monaten wurde die Mauer des Schweigens um den 41bis durchbrochen, die Rolle, die die DNAA als Instrument der politischen Unterdrückung übernommen hat, wurde klargestellt, revolutionäre Ideen und Kampfpraktiken wurden zum Ausdruck gebracht, und die internationale Solidarität mit inhaftierten Anarchisten, Kommunisten und Revolutionären wurde ausgebaut. Heute besteht der Kampf darin, Alfredos Leben zu retten, indem das Isolationsregime 41bis endgültig durchbrochen wird. Heute, ohne jeglichen Glauben an die staatliche Justiz, unterstützen wir Alfredo immer noch und immer wieder.

SOLIDARITÄT MIT ALLEN ANARCHISTISCHEN, KOMMUNISTISCHEN UND REVOLUTIONÄREN GEFANGENEN.

Versammlung zur Solidarität mit Alfredo Cospito und den revolutionären Gefangenen.

Rom, Februar 2023

Über den Lügner, der nicht mehr weiß, dass er lügt

Giorgio Agamben

“Stalin und seine Untergebenen lügen immer, zu jeder Zeit, unter allen Umständen; und weil sie immer lügen, wissen sie nicht einmal mehr, dass sie lügen. Und wenn alle lügen, lügt keiner mehr”. Ich möchte über diesen Satz von Boris Souvarine aus seinem Buch über Stalin nachdenken, weil er uns sehr betrifft. Lügen seitens der Regierungen und ihrer Medien und Kollaborateure hat es schon immer gegeben, aber entscheidend ist meiner Meinung nach die Überlegung, die Souvarine seiner Diagnose hinzufügt: Lügen können ein so extremes Ausmaß erreichen, dass die Lügner nicht mehr wissen, dass sie lügen, und wenn alle lügen, lügt keiner mehr.

Das ist es, was wir in den letzten drei Jahren erlebt haben und immer noch erleben, und das ist es, was die derzeitige Situation in Italien nicht nur bedenklich und bedrückend macht, sondern auch derart, dass sie außer Kontrolle geraten und in einer noch nie dagewesenen Katastrophe enden kann. In der Tat ist nichts gefährlicher als ein Lügner, der nicht mehr weiß, dass er lügt, weil seine Handlungen jeden Bezug zur Realität verlieren. Wahrheit und Lüge, Glaube und Unglaube verschwimmen in seinem Kopf, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind. So haben in den Covid-Jahren Minister, Ärzte und Experten, die gelogen haben, ihre Lügen schließlich so sehr geglaubt, dass sie durch den Verlust jeglichen Bewusstseins für die Wahrheit in der Lage waren, die elementarsten Grundsätze der Menschlichkeit ohne Skrupel mit Füßen zu treten. Eine Gesellschaft, die jegliches Bewusstsein für die Schwelle verliert, die das Wahre vom Falschen trennt, ist buchstäblich zu allem fähig, sogar zur Selbstzerstörung. Genau das geschieht mit dem Krieg in der Ukraine, über den nur noch Unwahrheiten verbreitet werden. Die Gefahr besteht darin, dass Regierungen, die lügen und nicht mehr wissen, dass sie lügen, einen Atomkrieg auslösen können, den sie glaubten, nicht zu wollen, von dem sie aber aufgrund ihrer eigenen Lügen nun annehmen müssen, dass sie ihn wollen.

Erschienen im italienischen Original am 22. Februar 2023 auf Quodlibet.

Unbekannte Gestade – Fluchtlinien in den Bewegungen seit den 1980er Jahren

Federico Battistutta

Vorwort: Lobrede auf die Flucht

Es war das Jahr 1982, als die italienische Ausgabe von Henri Laborits Lob der Flucht, die einige Jahre zuvor in Frankreich erschienen war, in den Buchhandlungen erschien. Lassen Sie mich zunächst einige Auszüge aus dem Vorwort zitieren: “Wenn der Segler nicht gegen Wind und Meer ankämpfen kann, um seinem Kurs zu folgen, hat er zwei Möglichkeiten: den verwegenen Kurs […], der ihn abtreiben lässt, und die Flucht vor dem Sturm mit dem offenen Meer an seinem Heck […]. Die Flucht ist oft, wenn man weit von der Küste entfernt ist, die einzige Möglichkeit, Boot und Mannschaft zu retten. Außerdem ermöglicht sie es, unbekannte Ufer zu entdecken […], die für immer von denen ignoriert werden, die das trügerische Glück haben, dem Kurs folgen zu können […], ohne dass etwas Unvorhergesehenes passiert […]. Vielleicht kennen Sie dieses Boot namens Sehnsucht” [1].

Laborit erfreute sich damals einer gewissen Popularität, die auch durch den Film Mon oncle d’Amérique von Alain Resnais gefördert wurde, der damals in die Kinos kam und an dessen Drehbuch er mitarbeitete. Die Geschichten der Protagonisten werden im Lichte der Theorien von Laborit erklärt, wonach der Mensch (aber nicht nur er) angesichts einer als gefährlich empfundenen Situation drei Reaktionsmöglichkeiten hat: Angriff, Blockade und Flucht. Im ersten Fall kommt es zu einem frontalen Kampf gegen den bedrohlichen Reiz; im zweiten Fall – der Blockade – entlädt das Subjekt, das sich blockiert sieht, in sich selbst die Angriffs- oder Fluchtreaktionen, was eine Reihe von psychosomatischen Dekompensationen auslöst; die Flucht schließlich wird in den Situationen eingesetzt, in denen sie größere Erfolgsaussichten als der Angriff zeigt.

Im Laufe dieser Seiten werde ich argumentieren, dass die Flucht in vielerlei Hinsicht ein Schlüssel zur Geschichte der Bewegungen in den 1980er und 1990er Jahren sein kann, wenn man sich daran erinnert, dass die Flucht es in bestimmten Fällen und unter bestimmten Bedingungen ermöglichen kann, “unbekannte Ufer” zu entdecken, wie Laborit sagt. In Zeiten wie diesen ist die Flucht das einzige Mittel, um am Leben zu bleiben und weiter zu träumen, wird der französische Wissenschaftler an späterer Stelle seines Buches sagen. Es wird also darum gehen, den Begriff der Flucht (mit einigen rhapsodischen Beispielen) in diesem historischen Zeitraum zu kontextualisieren, zu deklinieren und zu entschlüsseln, den Jahren der kapitalistischen Konterrevolution, den Jahren der Reaganomics und des Thatcherismus, d.h. im Rahmen der drastischen Kehrtwende gegenüber dem Aufbegehren der vorangegangenen beiden Jahrzehnte. Um es klar zu sagen: Was folgt, ist ein erklärtermaßen parteiischer Diskurs, fast eine persönliche Chronik, der Ausdruck eines situierten Wissens, das gerade in diesen Jahren Übergänge durchlaufen und vollziehen musste. Lobpreisung der Flucht? Welche Flucht und welche unbekannten Gestade?

Rückzug ins Private

Für viele, ob jung oder alt, war es in erster Linie eine Flucht im wörtlichen Sinne, über die Landesgrenzen hinaus, um den Hexenverfolgungen jener Jahre zu entkommen (vgl. das ‘Reale’-Gesetz von 1975, das ‘Cossiga’-Gesetz von 1980, das Calogero-Konstrukt’ von 1979) (a)(b)(c), so sprechen wir hier von Flucht im Zusammenhang mit der Einbindung in eine ausgesprochen kriegerische Bildsprache, eine Art erzwungener Reduktionismus derer, die damals (auf beiden Seiten des Spektrums) die Pluralität und Komplexität (wie auch die Kreativität) der stattfindenden Zusammenstösse und Konflikte mit ihrer Undiszipliniertheit gegenüber eindeutigen politischen Identitäten in eine Sackgasse zwingen wollten.

Ohne zu vergessen, dass die 1980er Jahre auch eine Periode neuer Kampffelder darstellten – von der Entstehung einer vielfältig artikulierten ökologischen Sensibilität über die antimilitaristischen Demonstrationen gegen die Installation der Marschflugkörper Cruise Missile und Pershing 2 bis hin zu neuen Formen der jugendlichen Zusammenschlüsse und Proteste (siehe die Punk-Bewegung) -, ist es dennoch wahr, dass sie zumeist unter dem Banner des “privaten Rückzugs” interpretiert werden, d.h. als das Ende der Ära des politischen und sozialen Engagements und des Rückzugs ins Private in einem Klima erheblicher Desillusionierung. Kurz gesagt, es begann der unheilvolle Zyklus des Neoliberalismus, des kommerziellen Fernsehens mit dem Aufstieg von Berlusconi, der Macht der Werbung, der Gentrifizierung in den Städten, eines allgemeinen Lebensstils, der auf Konsum, auf dem Besitz von Designerkleidung und -objekten beruht. Manche haben dies eine “Kultur des Narzissmus” genannt. Alles richtig, keine Einwände, aber auch hier ist es besser, den Diskurs nicht zu sehr zu vereinfachen: In den Falten des privaten Refluxes in jenen Jahren geschah auch etwas anderes. Versuchen wir, es zu sehen.

So schrieb zum Beispiel Lapo Berti, der persönlich an den wichtigsten Ereignissen des kulturellen und politischen Bruchs der 1960er und 1970er Jahre teilgenommen hatte (siehe ‘classe operaia’, ‘Potere operaio’, ‘Primo maggio’): “Ich gehöre nicht zu denen, die das scheinbar trostlose Panorama, das diese Verwüstungen, die schmerzhafte Zerstörung persönlicher und kollektiver Erfahrungen, hinterlassen, für hoffnungslos halten. Ich glaube, dass in der Rückeroberung des Privaten, in der Ausgrabung, die in diesen Jahren in den zwischenmenschlichen Beziehungen stattgefunden hat, in der Aufmerksamkeit für die Lebensqualität, in der kulturellen Entdeckung der Vielfalt und Vielfältigkeit, in der pluralistischen Annahme der Wirklichkeit, eine Eroberung der sozialen Kultur liegt” [2].

Nehmen wir also dieses lange Zitat als Ausgangspunkt, an dem eine andere Nuance des Diskurses subtil artikuliert wird. Der Rückzug ins Private hat in seiner Ambivalenz auch Folgendes bedeutet: Aufmerksamkeit für die zwischenmenschlichen Beziehungen; Offenbarung der Bedeutung von Vielfalt und Vielfältigkeit; schließlich die Entdeckung neuer möglicher Wege zur Entfaltung des eigenen Beziehungs- und Handlungspotenzials. Das heißt, der Übergang zum Persönlichen, um erneut zum Sozialen zurückzukehren.

Die Logik des Begehrens

Ich vergleiche das Zitat von Lapo Berti mit einem anderen, das ebenfalls aus dieser Zeit stammt. Der Sprecher ist in diesem Fall Elvio Fachinelli, Psychoanalytiker, Verfechter einer antiautoritären Pädagogik und Gründer der Zeitschrift “L’Erba voglio” (Das Gras, das ich will). Auch er spricht das Problem des Zurückströmens ins Private auf direkte Weise an. Wir lesen: “Wo bist du geblieben? Du hast versagt, nicht wahr? So sagt die Stimme, die lauteste, aus den 1980er Jahren. Aber andere Stimmen murmeln: Es gibt kein Scheitern, kein Schachmatt, das kann es nicht geben, denn jene dort sind nach einem anderen Rhythmus gegangen, folgten einer anderen Logik, eher rätselhaft, manchmal tragisch, der des Begehrens oder der Freiheit (wer hat je gesagt, dass Freiheit einfach ist?). Und am Ende lösten sie sich in dem auf, was später kam, bereit, sich zu einem Zeitpunkt wieder zu kristallisieren, wer weiß wo, wer weiß wann” [3].

Was Fachinelli vorschlägt, ist eine Verschiebung: Der Logik der Machtergreifung und damit des Gewinnens/Verlierens setzt er eine andere entgegen, die des Begehrens, das von Natur aus widerspenstig gegenüber der ersten ist. Die Jahre des “Reflux” und der Rückkehr in die Privatsphäre haben für viele bedeutet, genau das Begehren und seine Logik in Frage zu stellen. Sie begannen, die Betonung der Subjektivität zu demontieren, d. h. die Erzählung, die sich auf die Entstehung eines Subjekts mit radikalen Bedürfnissen und Wünschen konzentrierte, für deren Erfüllung eine ebenso radikale Umgestaltung der Gesellschaft erforderlich war, eine “Revolution der Lebensweise”, wie Ágnes Heller es ausdrückte. Die Betonung der Subjektivität erwies sich als ein Vorteil, aber auch als eine Einschränkung. Wenn in der politischen Prosa das Subjekt als ein harter Kern erscheinen sollte, der nicht weiter analysiert werden konnte (Trontis Bild von der “ungehobelten heidnischen Spezies” veranschaulicht dies nur allzu gut), so sah es im Alltag nicht ganz so aus, und es zeigte sich bald, dass auch das Subjekt ein ziemlich verworrenes Konstrukt ist, das vorsichtig auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden muss, wenn man die gewünschte “Revolution der Lebensweise” erreichen will, ohne sich selbst zu verlieren: Es gibt ein Gefühl, das etwas betrifft, das in und unter der Haut des Subjekts liegt; genauso wie es ein Gefühl gibt, das etwas betrifft, an dem wir teilhaben, das aber außerhalb, jenseits, jenseits der Grenzen der Haut liegt. Dies bedeutete, dass man versuchte, die Stimme des Begehrens und ihre Logik genau zu entschlüsseln. So wurde die Betonung des Begehrens durch eine andere Qualität des Gefühls ersetzt. Das Begehren war keineswegs ein freies Land, eine natürliche, befreiende und revolutionäre Tatsache, sondern auch ein Feld des Kampfes, voller Widersprüche, unter bestimmten Bedingungen manipulierbar und zerstörerisch (und die Menge an Heroin, die in den 1970er und 1980er Jahren in Italien im Umlauf war, ist ein verzweifeltes Zeugnis dafür). Daher war eine Kartierung dieser Gebiete durchaus notwendig, eine Ausarbeitung, die ihre Zeit gebraucht hätte und zu einer Arbeit an sich selbst geführt hätte. Und wer weiß, wohin das geführt hätte?

Arbeit am Selbst

Sprechen wir nun über den Übergang von der sozialen und politischen Arbeit zur “Arbeit am Selbst”, in Anlehnung an einen Ausdruck von René Daumal, einem französischen Schriftsteller, der vom Surrealismus zum Studium des Sanskrit und des östlichen Denkens überging. “Es ist sehr wichtig, das zu kennen, was ich die eigene innere Topographie nennen würde”, schrieb Daumal [4].

Das Betreten des eigenen inneren Territoriums könnte, wie oben erwähnt, bedeuten, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche nach einer anderen und tieferen Beziehung zur Realität zu erforschen und zu kartografieren. All dies wurde in der Tat schon seit einiger Zeit von der Frauenbewegung praktiziert, mit Hilfe von Selbsterfahrung und der Praxis des Unbewussten. Die feministische Erfahrung hatte die Frauen dazu gebracht, die Rolle des Unbewussten in den Formen der Unterdrückung zu verstehen. Das Eintauchen in die Tiefe könnte es ermöglichen, die inneren Verletzungen wieder aufzugreifen und die Blockaden nicht mehr in der Opferrolle, sondern als verantwortliche und aktive Protagonistinnen der Beziehungsdynamik neu zu schreiben. Auf diese Weise wurde die Neubewertung unbewusster Prozesse keineswegs zu einem zweitrangigen Aspekt der Beziehung zur Realität, sondern vielmehr zu einem Medium, durch das die Möglichkeit der Transformation hindurchging.

In den Jahren der Ebbe begann die persönliche, biografische Dimension der Forschung, die Fähigkeit, sowohl Subjekt als auch Objekt der Untersuchung zu werden, eine immer breitere Dimension der Untersuchung zu sein, die nicht ausschließlich weiblich war, sondern auch Männer zu befragen begann, die Stereotypen der politischen Militanz auflöste, die eigene soziale Rolle und die damit verbundene Machtdynamik sowie die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen hinterfragte. Eine individuelle, aber auch eine gemeinsame Suche, eine Art und Weise, den Grundsatz “das Persönliche ist politisch” zu verwerfen. Von hier aus nahmen beispielsweise die ersten Erfahrungen männlichen Selbstbewusstseins Gestalt an, die einige Jahre später zur Entstehung von Initiativen zur Förderung einer Reflexion über die männliche Verfasstheit unter Wertschätzung der Unterschiede in einer umfassenden Kritik der patriarchalischen Gesellschaft führen sollten [5].

Die Wiederbelebung des Territoriums

Es wurde bereits erwähnt, dass in den 1980er Jahren auch die ökologische Frage aufkam, die die Beziehung zwischen Mensch und Natur untersuchte und begann, letztere anders wahrzunehmen, nicht mehr nur als Rohstoffquelle (der klassische “organische Austausch zwischen Mensch und Natur”), sondern als Trägerin einer eigenen Subjektivität, die gehört werden will. Die ersten grünen Bewegungen und Initiativen gehen auf diese Jahre zurück, ebenso wie die entsprechenden Lebensstile, die Aufmerksamkeit für die Landschaft, die Ökosysteme, die nicht-menschlichen Tiere, bis hin zu den Entscheidungen einiger, die Städte für das Land zu verlassen, um eine andere Vision des Lebens zu entwickeln.

Der nordamerikanische Ökologe Peter Berg nannte diese Option Reinhabitation, ein Begriff, der sowohl ein geographisches Territorium als auch einen Ort des Bewusstseins beschreibt, ein Wiedererlernen des Lebens am Ort, ein Wissen, wie man heimisch wird. Dies sind die Positionen der bioregionalistischen Strömung, eines Ansatzes, der eine dezentralisierte Form der menschlichen Organisation vorschlägt, eine Symbiose zwischen Stadt und Land, die in der Lage ist, die Integrität der biologischen Prozesse und der spezifischen geografischen Formationen zu erhalten [6]. Ebenfalls in den 1980er Jahren reifte die von Murray Bookchin ausgearbeitete sozialökologische und kommunalistische Vision heran, die die Probleme der Selbstverwaltung der Gemeinschaft und ihres Lebensraums als grundlegend für die Existenz einer Bioregion ansieht.

In Italien wurden ähnliche Positionen von Alberto Magnaghi entwickelt, der ebenfalls in den 1980er Jahren begann, das Regierungssystem der Metropolregionen ausgehend vom Übergang von der Fabrikstadt zur post-tayloristischen Metropole zu analysieren, wobei er seine Forschungen auf die Verbesserung der Qualität des assoziativen Lebens, die Beziehung zwischen Gemeinschaft und Territorium, die Geschlechterfrage und die Selbstbestimmung in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und Kultur ausrichtete. Ausgehend von der Idee, das Territorium als “Gemeingut” zu begreifen, entwickelte sich ein Projekt zum Aufbau einer koevolutionären Beziehung zwischen menschlicher Besiedlung und den Ökosystemen eines Territoriums. All dies wurde durch einen Prozess der Entwicklung eines Bewusstseins für den Ort durch die Bewohner selbst unterstützt, als Schlüsselwort zur Förderung geselliger Lebenserfahrungen und einer nachhaltigen Nutzung des territorialen Erbes, das in der Lage ist, selbsttragende lokale Ökonomien zu schaffen [7].

All diese Prinzipien der Wiederbesiedlung und einer erneuerten Beziehung zwischen menschlichen Siedlungen und Ökosystemen sind Teil einer ökologischen Sensibilität, so wie sie auch der Entstehung von Kommunen, Ökodörfern und ländlichen Gemeinschaften zugrunde liegen, die durch die Begegnung mit Aktivisten und verantwortungsbewussten Verbrauchern in den Städten Erfahrungen hervorgebracht haben, die auch heute noch lebendig sind, wie die von Genuino Clandestino und Campi Aperti zu den Themen Selbstbestimmung und Ernährungssouveränität [8].

Spiritualität des Konflikts

Wir verlassen die Stadt und das Land. Von außen kehren wir nach innen zurück, zu dem, was wir Arbeit am Selbst genannt haben. Bisher war von Selbsterfahrung oder psychotherapeutischen Praktiken die Rede, aber das ist nur ein Aspekt, der für diejenigen, die hauptberuflich in der Politik tätig waren, vielleicht am leichtesten verdaulich ist. Bei der Arbeit am Selbst wurde in einigen Fällen ein mühsames und für viele undurchsichtiges Terrain betreten, nämlich das der Spiritualität.

Man könnte es als das Aufbrechen einer sozialen und politischen Bewegung lesen, die in der Vergangenheit ihre Existenz unverhohlen angefochten hat, indem sie Spiritualität mit Klerikalismus und den religiösen Institutionen gleichsetzte, die den Status quo aufrechterhalten. Es gab einige Ausnahmen, wie die christlichen Basisgemeinden, die sich von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspirieren ließen (über denen jedoch die Heimtücke des katholischen Kommunismus in Italien schwebte), oder eher bewegungsorientierte Strömungen, die mit den Erfahrungen der nordamerikanischen Gegenkultur verbunden waren, wobei letztere – durch die Vermittlung der Beat-Generation – für östliche Spiritualitäten empfänglich war.

Heute stoßen zum Glück viele Ideologien an ihre Grenzen, und das Szenario scheint sich zu verändern und neu zu definieren. In diesem Zusammenhang ist Mario Tronti zu erwähnen, dessen Forschungen bekanntlich seit langem auf die politische Theologie ausgerichtet sind [9].

Spiritualität ist eine Sprache, die sich für diese Zeit eignet, weil sie die Sprache der Krise ist, so Tronti: “Deshalb können und müssen die Worte der Spiritualität in die Krise der Politik, die wir heute erleben, eintreten”. Angesichts der Fallstricke der heutigen Biopolitik und Psychopolitik verkörpert die Spiritualität “eine starke und tiefe antagonistische Anklage gegen die gegenwärtige Organisation des Lebens, und ich gestehe, dass sie mir manchmal als die letzte und endgültige Grenze des Widerstands gegen die von außen kommende Aggression erscheint”. Und weiter: “Es gibt eine Zone des Geheimnisses, die als Ressource sorgfältig kultiviert werden muss und vor der es sich lohnt, innezuhalten”, denn “der Kapitalismus hat eine Wüste im Menschen geschaffen”. In diesem Sinne besitzt die Spiritualität ein konflikthaftes Potential gegenüber dem Bestehenden, und der innere Frieden, den sie verspricht, ist nicht das Einrollen in einer intimistischen Oase, sondern die Möglichkeit, neue Konflikte innerhalb der Gesellschaft zu schaffen, um die Welt in Ordnung zu bringen: “mit sich selbst in Frieden zu sein, heißt heute, mit der Welt in den Krieg zu ziehen”. Und gegenüber denjenigen, die behaupten, dass diese Welt bereits zu sehr aus den Fugen geraten ist, ist Tronti lapidar: “Die gegenwärtige Unordnung ist nichts anderes als eine Folge der neuen globalen Ordnung, es ist eine Ordnung, die diese Unordnung von oben provoziert. Wir müssen die Welt von unten her in Unordnung bringen”.

Der Genauigkeit halber sollte hinzugefügt werden, dass die Konfliktualität der Spiritualität laut Tronti mehr und besser in der jüdisch-christlichen Tradition zu finden ist, da dieser Strang eine Verlagerung vom Kosmischen zum Historischen vollzogen hat. Interessanter wäre es, den Horizont des Diskurses auf noch nie dagewesene Formen der Spiritualität zu erweitern, die außerhalb der Grenzen der religiösen Traditionen entstehen, die sich seit langem unaufhaltsam in der Krise befinden. Wir sprechen hier von einem anderen Ausdruck von Spiritualität, konkret, materialistisch, innerhalb einer Ontologie des Werdens, einer lebendigen, intelligenten, autopoietischen Materie [10]. So hat Toni Negri kürzlich durch einen Vergleich mit Autoren wie Spinoza, Marx und Foucault die Merkmale einer neuen Spiritualität innerhalb einer materialistischen Produktion von Subjektivität umrissen, in der paradoxen Anerkennung einer Wirkung der Transzendenz, die dem historischen Werden selbst immanent ist [11]. Ebenso finden sich heute Bezüge zur Spiritualität bei verschiedenen Feministinnen, von Luisa Muraro (auch in diesem Fall auf den christlichen Horizont beschränkt) über die nordamerikanische Bell Hooks bis hin zu Gloria Anzaldúa [12], die zum Beispiel allgemein von “spirituellem Aktivismus” spricht, um ihre Epistemologie der Verbundenheit und ihre visionäre ethisch-politische Perspektive zu beschreiben [13].

Fazit: für eine fröhliche Militanz

Reflux, Selbstfindung, Innerlichkeit, Wertschätzung von Unterschieden, Horizonterweiterung in der Pluralität usw. sind einige der Grundströmungen, die seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Themen, die in den Bewegungen der 60er/70er Jahre und bis ins neue Jahrhundert hinein lebendig waren, nicht ohne Turbulenzen durchströmt haben, um uns zu erreichen. Viele der Ideen, Hoffnungen und Verdichtungen, mit denen wir uns heute beschäftigen, stammen auch von dort. Die Aufgabe besteht darin, das, was in dieser Sensibilität wirksam und originell war, mit der Kraft zu verbinden, die aus dem Erbe der Kämpfe, der Gegensätze und der Konfliktualität stammt, die die Jahre davor geprägt haben. Natürlich ist kein Platz für Nostalgie und auch nicht für abstrakte dialektische Synthesen, alles hat sich verändert und verändert sich mit immer größerer Geschwindigkeit; es geht nicht darum, die Vergangenheit neu zu bearbeiten oder künstliche Summierungen der unterschiedlichen historischen Jahrzehnten vorzuschlagen, sondern darum, geduldige Arbeit von unten zu leisten, Erfahrungen und Wissen zu vermischen. Mit anderen Worten, es geht um die Aktivierung jenes immer gültigen Prinzips, das Silvia Federici als “freudige Militanz” [14] bezeichnet hat: Ganz einfach zu verstehen, wie unser politisches Handeln von Grund auf ein Bote der Befreiung sein kann, ein Werkzeug, das in der Lage ist, unser Leben zu verändern, uns selbst neu zu verzaubern, um die Welt neu zu verzaubern.

Anmerkungen

[1] H. Laborit, Lob des Entkommens, Mondadori, Mailand 1982.

[2] L. Berti, Per una cultura della trasformazione sociale, in La politica possibile, herausgegeben von V. Dini – L. Manconi, Tullio Pironti, Neapel 1983.

[3] E. Fachinelli, Che bella “rivoluzione”: oggi siamo tutti soli, “L’Espresso”, n.14, 12. April 1987.

[4] R. Daumal, Il lavoro su sé, Adelphi, Mailand 1998.

[5] Interessant ist in diesem Zusammenhang der Artikel von Sergio Bologna, “Nel corso del tempo” ovvero della solitudine maschile, “Quaderni piacentini”, Nr. 74, 1980. Die erste Gruppe von Männern, die sich zu diesen Themen organisiert, wurde 1993 in Pinerolo gegründet. Im Jahr 2007 wurde der Verein Maschile Plurale gegründet, der im ganzen Land präsent ist und in den Bereichen Kommunikation, Bildung, Ausbildung und Aktivismus zu diesen Themen arbeitet und sich an der Einrichtung und dem Wachstum von Netzwerken beteiligt, um die Aufwertung von Unterschieden zu fördern, für eine Gesellschaft, die frei von Machismo und Sexismus ist. Siehe https://maschileplurale.it/info/

[6] P. Berg, Post-Umweltschutz, “Raise the stakes”, Nr. 18-19, 1991-92. Bevor er sich dem Bioregionalismus widmete, war Peter Berg in den 1960er Jahren einer der Gründer der Straßentheatergruppe (auch “Guerillatheater” genannt) San Francisco Mime Troupe. Später gehörte er den Diggers an, einer der radikalsten, visionärsten und sozial engagiertesten Gruppen im Haight-Ashbury-Viertel.

[7] A. Magnaghi, Il sistema di governo delle regioni metropolitane, FrancoAngeli, Mailand 1981 und A. Magnaghi, La bioregione urbana nell’approccio territorialista, ‘Contexts. Cities, Territories, Projects”, Nr. 1, 2019.

[8] Für Genuino Clandestino siehe https://genuinoclandestino.it. Für Campi Aperti: https://www.campiaperti.org.

[9] M. Tronti, Il demone della politica. Anthologia di scritti 1958-2015, herausgegeben von M. Cavalleri – M. Filippini – J.M.H. Mascat, Il Mulino, Bologna 2017.

[10] Zu diesem Thema verweise ich auf mein Misticopolitica. Orizzonti della spiritualità post-religiosa, Effigi, Arcidosso (GR) 2022.

[11] Judith Revel, Transzendenz, Spiritualität, Praktiken, Immanenz: Ein Gespräch mit Antonio Negri, “Rethinking Marxism”, Nr. 3-4, Juli-Oktober 2016.

[12]Zur Rolle der Spiritualität in der zeitgenössischen nordamerikanischen feministischen Bewegung siehe S. Doetsch-Kidder, Social Change and Intersectional Activism. The Spirit of Social Movement, Palgrave Macmillan, New York 2012.

[13] G. Anzaldúa, Light in the Darkness. Identität, Spiritualität, Realität neu schreiben, Meltemi, Mailand 2022.

[14] S. Federici, Sulla militanza gioiosa, “Machina”, 7. September 2020, https://www.machina-deriveapprodi.com/post/sulla-militanza-gioiosa.

Fussnoten des Übersetzers 

  1. legge Reale: Das erste Antiterrorgesetz sah unter anderem vor, dass Bullen, die während der Ausübung ihres Dienstes jemanden verletzt oder getötet hatten, vor einer Strafverfolgung geschützt werden konnten, außerdem waren von nun an Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung möglich.
  1. Die nach dem PM Cossiga titulierte Gesetzesänderung leitete die Belohnung von Abtrünnigen und Verrätern aus den Gruppen der bewaffneten Gruppen ein.
  1. Pietro Calogero war der Ermittlungsrichter, der das ‘Verfahren des 7. April’ leitete, das nach und nach ausgeweitet und schließlich zu 25.000 Festnahmen und 60.000 Ermittlungsverfahren führte. Ausgangspunkt war die Konstruktion, dass hinter den BR und anderen bewaffneten Gruppen zahlreiche bekannte Intellektuelle stecken würden. Der prominenteste Beschuldigte war Negri. 

Dieser Beitrag erschien im italienischen Original am 21. Februar 2023 auf ‘Machina’.

Fossile Brennstoffe, Kapitalismus und Klassenkampf

Tom Keefer 

Die Erschließung der riesigen nicht-konventionellen Teersande in Alberta, Kanada, ist ein letzter Versuch, eine Energiequelle für fossile Brennstoffe zu finden, die in der Lage ist, das kapitalistische Wirtschaftswachstum in einer Zeit aufrechtzuerhalten und auszuweiten, in der die Vorräte an konventionellem Öl – der Energiequelle, die den Industrialismus des 20. Jahrhunderts angetrieben hat – ihren Höhepunkt erreicht haben und in eine unumkehrbare Phase des Niedergangs eintreten. Trotz massiver Investitionen in neue Technologien zur Entdeckung und Gewinnung von Erdöl ist die konventionelle Erdölproduktion in den Nicht-OPEC-Ländern in den letzten zehn Jahren stetig zurückgegangen, während die großen OPEC-Produzenten in den letzten Jahren nicht in der Lage waren, ihre eigene Produktion deutlich zu steigern. Die Verlagerung auf nicht-konventionelle “Alternativen” wie die Teersande in Alberta bringen eine Vielzahl von Problemen mit sich – darunter dramatisch erhöhte Treibhausgasemissionen, die Vergiftung des Wassers und die Zerstörung des Bodens, die Enteignung indigener Völker und die Ausbeutung des riesigen und ständig wachsenden Pools in- und ausländischer Arbeitskräfte -, die alle die Widersprüche des Klassenkampfes und der Nutzung fossiler Brennstoffe im Kapitalismus des 21.Jahrhunderts in sich tragen.

In diesem Artikel wird versucht, die Entwicklung der Teersande in einen viel größeren historischen Kontext zu stellen – den Prozess des kapitalistischen Wachstums und der Entwicklung in den letzten 500 Jahren.  Ich werde vorschlagen, dass wir, um die Entwicklung der Teersande zum größten Industrieprojekt in der Geschichte der Menschheit wirklich verstehen und erfolgreich bekämpfen zu können, theoretische Perspektiven entwickeln müssen, die sich mit den Schwächen befassen, die den Kern der Kluft zwischen den meisten Umwelt- und Klassenkampfpolitiken heute bilden. Unser ökologischer Rahmen muss um eine Klassenanalyse der historisch spezifischen Dynamik des Kapitalismus und seiner Abhängigkeit von Energiequellen erweitert werden, und unsere Klassenkampfpolitik muss eine Analyse der Bedeutung des Energie- und Materialflusses für anhaltendes kapitalistisches Wachstum und Entwicklung integrieren.

In diesem Beitrag wird argumentiert, dass der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte mit einer Reihe von potenziell endgültigen Krisen konfrontiert war, die sich aus den Folgen des ökologischen Ungleichgewichts, dem Widerstand der Ausgebeuteten und Enteigneten und der Art und Weise, wie bestimmte Energiesysteme die kapitalistische Expansion eingeschränkt oder ermöglicht haben, ergeben haben. Ich werde die These aufstellen, dass das globale kapitalistische System heute an der Schwelle eines weiteren solchen Krisenmoments steht, das von den Verwerfungslinien des ökologischen Zusammenbruchs, der thermodynamischen Grenzen und der durch diese Bedingungen verursachten Verschärfung des Klassenkampfes durchdrungen wird. 

Wenn wir uns besonders darauf konzentrieren, eine Theorie darüber zu entwickeln, wie der Kapitalismus als Wirtschaftssystem Energie nutzt, müssen wir nicht nur klären, was wir unter Kapitalismus verstehen, sondern auch verstehen, wie er sich entwickelt hat. Ich baue auf der marxistisch geprägten Arbeit von Robert Brenner auf, die sich auf die Einsicht von Marx stützt, dass die wirtschaftlichen “Bewegungsgesetze” des Kapitalismus und anderer Klassengesellschaften am besten verstanden werden können, wenn man sich die konkreten sozialen Beziehungen ansieht, die die Dynamik zwischen denjenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, und denjenigen, die ihn sich aneignen, bestimmen. In den 1970er Jahren entwickelte Robert Brenner die überzeugende These, dass der Kapitalismus seinen Ursprung auf dem englischen Land hatte, als nach der Verwüstung durch die schwarze Pest im 14. Jahrhundert die englische Landbevölkerung, die durch die normannische Invasion von 1066 zusammengeführt und geeint worden war, ein neues Wirtschaftsmodell einführte, das sich grundlegend von dem traditionsgebundenen Feudalsystem unterschied, das es ersetzte. In diesem neuen System umschlossen die Grundbesitzer die gemeinsamen Felder und verdrängten die bäuerlichen Arbeitskräfte. Anschließend verpachteten sie das Land an kapitalistische Landwirte, die ihrerseits die verdrängten Bauern als Lohnarbeiter anstellten, um das Land zu bearbeiten. 

Der Kapitalismus, so argumentiert Brenner überzeugend, war also in seinen Ursprüngen ein landwirtschaftliches System, das seine Gewinne und seinen Mehrwert aus der ausgebeuteten Landarbeiterklasse bezog. Als die landwirtschaftliche Produktivität in England zunahm und die Bauern von ihrem Land verdrängt wurden, verlagerten sich die kapitalistischen Beziehungen auf neue Industrien – die Textil- und Handwerksproduktion -, in denen neue Normen der Arbeitsdisziplin und des Managements durchgesetzt wurden und die den Rahmen für den Industriekapitalismus bildeten.

Auch wenn dies vielen Aktivisten heute wie eine uralte Geschichte vorkommen mag, können die Zwänge, mit denen der Kapitalismus in seinen Anfängen konfrontiert war, Einblicke in seine gegenwärtigen Widersprüche geben, da er einer Zukunft mit abnehmender Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe entgegensieht. Der frühe Kapitalismus – noch als Agrarsystem und bevor er sich im übrigen Europa fest etabliert hatte – sah sich scheinbar unüberwindlichen Hindernissen für seine weitere Entwicklung gegenüber. Das erste und offensichtlichste dieser Hindernisse ergab sich aus der Unterbrechung der alten feudalen und subsistenzwirtschaftlichen Produktionsweisen, die der Kapitalismus ersetzte, und aus der immer größeren Zahl von Menschen, die er enteignete und ausbeutete. Obwohl ein erheblicher Teil dieser “überschüssigen” Bevölkerung durch die erzwungene Migration in die Kolonien absorbiert wurde, bleibt die Tatsache bestehen, dass der Widerstand gegen die kapitalistische Ausbeutung sehr real war und immer wieder die Form bewaffneter Aufstände annahm – man denke hier zum Beispiel an den Bettleraufstand zu Weihnachten 1582, den Aufstand der Maler 1586, den Aufstand der Filzmacher 1591, den Aufstand der Southwark Kerzenmacher 1592, um nur einige zu nennen. Die offen revolutionären Perspektiven der Levelers und Diggers in der Englischen Revolution von 1648 führten dies auf ein noch höheres Niveau und versuchten, den Agrarkapitalismus selbst zu stürzen.

Das andere große Problem des frühen Kapitalismus war, dass er eine ökologische Krise verursachte, die ihn zu zerstören drohte. Während die Wirtschaft boomte, wurden Englands Wälder verwüstet, da sie die wichtigste Quelle für Heizmaterial und Energie für die Eisenverhüttung waren. Um 1600 waren so viele englische Wälder abgeholzt worden, dass die Kapitalisten gezwungen waren, englisches Eisenerz nach Irland zu verschiffen, wo es noch reichlich Holz gab. Die zweite große ökologische Krise ergab sich aus der intensiven Landwirtschaft des Frühkapitalismus, die zu einer abnehmenden Fruchtbarkeit des Bodens führte. Es entstand eine “metabolische Kluft”, da die Stadtbewohner zwar mit dem auf dem Land erzeugten Obst, Gemüse und Fleisch ernährt wurden, die in diesen Lebensmitteln enthaltenen Nährstoffe aber nicht auf die Felder zurückgeführt wurden, was zu einem ernsten und zunehmenden Problem der Bodenverarmung führte. In einer Zeit, in der es noch keine synthetischen Düngemittel gab, stellte die fehlende Wiederverwertung von Nährstoffen eine stetig fortschreitende ökologische Katastrophe dar, die so gravierend war, dass die Briten menschliche Überreste von napoleonischen Schlachtfeldern ausgruben, um die Knochen der Toten als Dünger auf ihren Feldern auszubringen, und eine weltweite Suche nach Vogel-Guano in Gang setzten, der in Millionen von Tonnen zur Verwendung als Dünger transportiert wurde.

Zu einem Zeitpunkt, als der Kapitalismus an ernsthafte ökologische Grenzen stieß und der Widerstand der Arbeiterklasse das System zu stürzen drohte, wurde der Kapitalismus durch die Entdeckung weit verbreiteter und zugänglicher fossiler Brennstoffressourcen in England gerettet. England verfügte über riesige Reserven an hochwertiger Kohle, die nahe der Oberfläche und in der Nähe von Flusssystemen lag, die den Transport erleichterten. Die Nutzung der Kohle löste nicht nur das Problem der Beheizung der Haushalte und der Eisenproduktion, sondern förderte auch die Entwicklung von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Maschinen in Form von Dampfmaschinen, mit denen die Kohlebergwerke trockengelegt werden konnten. Diese neuen Maschinen wurden zur Grundlage der industriellen Revolution, da sie große Mengen an Energie erzeugten und rund um die Uhr in Betrieb sein konnten. Der Bau von Dampfschiffen und Schiffen mit stählernem Rumpf ermöglichte die Ausbreitung der imperialen Macht über den gesamten Globus, die Eroberung indigener Völker und den Import von Nahrungsmitteln und Düngemitteln, die notwendig waren, um die englische Landwirtschaft zu entlasten, bis die fossilen Brennstoffe selbst zur Herstellung der synthetischen Düngemittel verwendet werden konnten, die die moderne Landwirtschaft benötigte, um die Probleme der abnehmenden Bodenfruchtbarkeit zu überwinden.

Die Gewinnung und Freisetzung von Energie aus fossilen Brennstoffen ermöglichte es dem Kapitalismus, die Grenzen der “biotischen Rohstoffe”, die von solaren Energieströmen abhängig sind, zu überwinden. Dies wiederum ermöglichte die Entwicklung der kapitalistischen Globalisierung, indem es die nationalen Volkswirtschaften vereinte und die Projektion wirtschaftlicher und militärischer Macht auf globaler Ebene ermöglichte. Wie Elmar Altvater argumentierte:

“Solange ‘das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur’ auf biotischen Energien, auf dem Boden und den Früchten, die er trägt, auf der Geschwindigkeit und Reichweite eines Ochsen- oder Pferdewagens, auf der Tonnage, Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit eines Segelschiffs und auf der Kunst der Schifffahrt beruhte, war die materielle Möglichkeit, diese Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden, gering, und die Fähigkeit, eine Weltordnung zu schaffen, blieb begrenzt.”

Altvater meint, dass diese Aneignung der fossilen Energie zum ersten Mal eine echte “Weltordnung” ermöglichte, in der “der ‘Stoffwechsel’ von Mensch, Gesellschaft und Natur ein globales Ausmaß erreichte”. Altvater geht sogar so weit zu behaupten, dass “ohne fossile Energien weder der kapitalistische Produktions- und Akkumulationsprozess noch der moderne monetäre Weltmarkt existieren könnte”.

Neben der Lösung früher ökologischer Krisen hat die Integration fossiler Energieträger in die kapitalistische Produktion eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung des Widerstands der Arbeiterklasse gespielt. Der Kapitalismus produziert Mehrwert aus der Ausbeutung menschlicher Arbeit auf zwei Arten – absolut und relativ. Absoluter Mehrwert entsteht, wenn die Arbeiter härter, schneller, länger und für weniger Lohn arbeiten müssen. Relativer Mehrwert entsteht durch die Steigerung der Produktivität der Arbeitnehmer, so dass sie pro Arbeitsstunde mehr produzieren können.

Die Steigerung des relativen Mehrwerts durch die Einführung von Maschinen in den Produktionsprozess ist die bevorzugte Strategie der Kapitalisten, da dies bedeutet, dass die Kapitalisten es sich leisten können, die Löhne zu erhöhen und gleichzeitig die Gewinne zu steigern, da die gesamte Wirtschaftsleistung steigt. Der Schlüssel zur Steigerung des relativen Mehrwerts liegt in der maschinengestützten Produktion, und der Aufbau einer maschinengestützten Gesellschaft war vor der Entwicklung eines fossilen Energiesystems unmöglich.

Im Kapitalismus, so argumentierte Marx, ist die Maschinerie nicht nur ein “überlegener Konkurrent des Arbeiters”, sondern eine “ihm feindliche Macht. Sie ist die mächtigste Waffe zur Unterdrückung eines Streiks, jener periodischen Aufstände der Arbeiterklasse gegen die Autokratie des Kapitals”. In der Tat, so fügte er hinzu, “könnte man eine ganze Geschichte der Erfindungen schreiben, die seit 1830 allein zu dem Zweck gemacht wurden, dem Kapital Waffen gegen die Revolte der Arbeiterklasse an die Hand zu geben”. Maschinen waren also ein entscheidender Aspekt des Prozesses der primitiven Akkumulation und Enteignung, als die Kapitalisten darum kämpften, eine neue industrielle Arbeiterschaft gegen die alten Gewohnheiten der gemeinschaftlichen Solidarität und des dörflichen Lebens zu überwinden und zu disziplinieren. Und der Schlüssel zur Verbreitung von Maschinen als Gegenspieler der Selbstorganisation der Arbeiterklasse ist die exosomatische Energiequelle, die zu ihrem Antrieb benötigt wird.

Wenn wir einen Schritt zurücktreten und das Wachstum des kapitalistischen Systems langfristig aus einer thermodynamischen Perspektive betrachten, sehen wir, dass der Kapitalismus als System immer in der Lage war, mit jedem Jahr mehr und mehr Energie ins Netz zu bringen. Der Kapitalismus ist auf ständiges Wachstum ausgerichtet, und dieses Wachstum erfordert einen zunehmenden Energieeinsatz, um die ständige Ausweitung der Maschinen anzutreiben, die zur Disziplinierung und Verdrängung der lebendigen menschlichen Arbeit aus dem Produktionsprozess eingesetzt werden. Diese Dynamik wird besonders deutlich, wenn wir die schnelle und dynamische Industrialisierung betrachten, die derzeit in China, Indien und Brasilien stattfindet.

Marx unterschied zwischen toter Arbeit (den Maschinen, Computern, dem fixen Kapital oder den Fabriken usw.) und lebendiger Arbeit (Menschen) im Produktionsprozess. In dem Maße, in dem der Kapitalismus gewachsen ist und einen immer größeren und massiveren Apparat toter Arbeit geschaffen hat, spielt der globale Energieeinsatz eine absolut entscheidende Rolle, um dieses riesige Arsenal an Maschinen, Transportsystemen, Computern, Beleuchtung und Stromnetzen in Gang zu halten. Ohne einen konstanten Fluss dieser Energie würde die kapitalistische Akkumulation zum Stillstand kommen.

Der Grund dafür, dass die Teersande und andere nicht-konventionelle Ölquellen jetzt erschlossen werden, liegt darin, dass wir uns an einem Wendepunkt im Energiesystem des Kapitals für fossile Brennstoffe befinden. Nachdem die konventionellen Erdölvorräte im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weiter erschöpft wurden, sind die Teersande in Alberta und Venezuela die bedeutendsten verbleibenden Energiereserven auf dem Planeten. Sie mögen schmutzig, giftig und störend für das menschliche Leben und die natürliche Umwelt sein, aber der Kapitalismus interessiert sich nur dafür, Profite zu machen und sein Wirtschaftssystem am Laufen zu halten. Zum Unglück für den Kapitalismus beruhen seine Eroberung der Welt und seine Beherrschung der von ihm geschaffenen globalen Arbeiterklasse weitgehend auf der Verfügbarkeit billiger Energiequellen, die jetzt ihren Höhepunkt erreichen. Um sein Wachstum aufrechtzuerhalten, muss der Kapitalismus zu einem neuen Energiesystem übergehen, das die abnehmenden fossilen Brennstoffe ersetzt. Aber er braucht nicht nur ein neues Energiesystem, sondern auch eines mit einer hohen Energie-Rendite für die investierte Energie. Gelingt ihm dies nicht, werden steigende Energiekosten und ein endgültiger Rückgang der Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe zu einer Verschärfung der Klassenkämpfe und des Widerstands gegen den Kapitalismus führen.

Die Folgen steigender Erdöl- und Erdgaspreise bekommen Arbeiter und Menschen mit niedrigem Einkommen am unmittelbarsten zu spüren, da sich ihre Lebenshaltungskosten direkt erhöhen. Wenn die Ölpreise steigen, erhöhen sich die Kosten für den Transport zur und von der Arbeit, ebenso wie die Kosten für Grundnahrungsmittel, die mit synthetischen Düngemitteln aus fossilen Brennstoffen hergestellt und von ölbetriebenen Maschinen verarbeitet und transportiert werden. Erdöl- und Erdgasnebenprodukte werden als Ausgangsmaterial für eine Vielzahl von Konsumgütern, einschließlich synthetischer Kleidung und Haushaltswaren aus Kunststoff, sowie für eine Reihe industrieller Anwendungen und für die Stromerzeugung verwendet. Immer dann, wenn es zu einer ernsthaften Unterbrechung der Versorgung mit fossilen Brennstoffen oder einem starken Anstieg der Kosten für fossile Brennstoffe kam, waren die Auswirkungen für die Arbeiterklasse spürbar und führten häufig zu Protest und Widerstand. 

In einem sehr realen Sinne hat sich der Kapitalismus also von dem Punkt an, an dem er vor etwa 500 Jahren als ausbeuterisches, ökologisch zerstörerisches, aber unglaublich dynamisches Wirtschaftssystem in einem kleinen Inselhinterland des Weltsystems entstand, im Kreis gedreht. Erst jetzt, nach der Eroberung des Globus durch den Kapitalismus, die zu einem großen Teil auf die Aneignung fossiler Energien zurückzuführen ist, hat die von ihm ausgelöste ökologische Krise ein globales Ausmaß angenommen und wird die gesamte Menschheit und die gesamte natürliche Umwelt erfassen. 

Mit dem Erreichen des Höhepunkts der weltweiten Ölproduktion wird der Kapitalismus an einem historischen Wendepunkt stehen. Seine neuen kurzfristigen Akkumulationsstrategien werden auf der Sicherung der schwindenden hochwertigen Energiequellen beruhen, von denen die meisten im Nahen Osten verbleiben, sowie auf massiven Investitionen in Teersande in der verzweifelten Hoffnung, einen technologischen Durchbruch zu finden, der die thermodynamischen Beschränkungen aufhebt und ein weiteres globales Wirtschaftswachstum ermöglicht. Wenn der Kapitalismus überleben will, muss er sich auf eine alternative Energiequelle umstellen, und zwar auf eine ebenso umwälzende und revolutionäre Weise, wie es der Wechsel von biotischen Energieträgern zu fossilen Brennstoffen war. Diese kohlenstofffreie Energiequelle muss billig sein, keine Umweltverschmutzung verursachen, nicht zum globalen Klimawandel beitragen und in die bestehende Energieverteilungsinfrastruktur integriert werden können. 

Sollte der Kapitalismus nicht rechtzeitig eine solche alternative Energiequelle entwickeln, ist damit zu rechnen, dass die Rückkopplungsschleife des Klimawandels beschleunigt wird, da Teersandöl, Kohle und Biomasse zunehmend genutzt werden, um die schwindenden Erdöl- und Erdgasvorräte zu ersetzen.  Gleichzeitig wird sich der internationale Wettbewerb um die verbleibenden Vorräte an konventionellem Öl verschärfen, und der dramatische Anstieg der Lebenshaltungskosten wird mit ziemlicher Sicherheit zu einer weltweiten Verschärfung der lokalen, nationalen und internationalen Klassenkämpfe führen.

In dem Maße, wie der industrielle Kapitalismus fortschreitet und seine Maschinen immer größere Mengen nicht erneuerbarer fossiler Brennstoffe verschlingen, wird ein Punkt der Krise erreicht, an dem das Kapital nicht mehr in der Lage sein wird, seine Widersprüche zu externalisieren. Rosa Luxemburgs berühmte Wahl zwischen “Sozialismus oder Barbarei” soll uns daran erinnern, dass das Scheitern der großen revolutionären Welle ihrer Generation vielleicht sogar noch mehr ein historisches Scheitern war, den Kapitalismus und das Schicksal der menschlichen Spezies zu verändern, als gemeinhin anerkannt wird. Sollte der Kapitalismus jetzt gestürzt und durch eine Art sozialistisches System ersetzt werden, werden seine Erben mit Ökosystemen zurückbleiben, die möglicherweise bis zur Unerträglichkeit belastet sind, und mit nur noch wenigen brauchbaren Energieressourcen mit geringer Entropie. Wenn eine künftige sozialistische Gesellschaft den Sozialismus unter Bedingungen sinkender Arbeitsproduktivität und unter den vom erschöpften Industriekapitalismus des 20. Jahrhunderts hinterlassenen Energiebeschränkungen aufbauen muss, sind die Implikationen für die revolutionäre Theorie und Praxis erheblich und verdienen es, in den Mittelpunkt einer Neukonstitution des sozialistischen Projekts gestellt zu werden. Letztlich wird dies notwendig sein, wenn die Menschheit eine Art von Barbarei vermeiden will, die weitaus schlimmer sein wird als der Faschismus, der die revolutionären Hoffnungen der Generation von Rosa Luxemburg zerstörte.

Der Beitrag erschien in ‘The Commoner’, #13, Winter 2008/2009. Der Text ist als PDF u.a. hier zu finden. Dort finden sich auch einige für die Übersetzung nicht erhebliche Fußnoten. 

Der sturm nach dem sturm

Ich muss zugeben, dass ich darauf hereingefallen bin. Ich weiß nicht, ob man das auf einen Plural ausdehnen kann, “wir sind darauf reingefallen”, aber ich muss mir selbst einräumen, nicht ohne einen gewissen Widerwillen, dass ich darauf reingefallen bin, ja.

Für eine Weile, für Tage, vielleicht sogar für ein oder zwei Wochen, war ich davon überzeugt, dass das Fernsehen und die ganze Mega-Maschine der Massenmedien, die den “Fall Cospito” verfolgte, ausnahmsweise einmal der anarchistischen Sache und insbesondere der Rettung von Alfredos Leben dienlich sein könnte. Offensichtlich habe ich mich geirrt. Aber ich hatte wirklich das Gefühl, dass die Gesellschaft durch die Angelegenheit einer unserer Genossen erschüttert wurde, der Grund dafür ist jetzt grausam klar: es waren die Medien, die die Geschichte gepusht haben um ihrer selbst. 

Ich hatte noch nie eine solche Menge an Artikeln, Titelseiten oder Prime-Time-Berichten, eingehenden Analysen von “Experten” zu anarchistischen Themen erlebt: nicht einmal die Zeit der “No-TAV-Jagd” scheint auch nur annähernd vergleichbar.

Man hörte in den Kneipen davon, man verteilte Flugblätter und wie von Zauberhand waren die Leute neugierig, man sagte die Worte “Anarchist” und “Cospito” und es gab Reaktionen, unterschiedliche, sogar ekelhafte, aber Reaktionen.  Wir schienen (ich schließe eine allgemeine anarchistische Bewegung mit diesem Plural ein, mit all ihren Nuancen) in der Gesellschaft zu existieren, nach sehr langen Jahren, vielleicht eine Ewigkeit, in der ich mich als Anarchist mehr oder weniger wie ein fremder Sack voller Frustration und Wut inmitten einer Menge von Individuen fühlte, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich nichts anderes mit ihnen teile als den Sauerstoff, den ich atme (was, um es klar zu sagen, mir nicht gefällt! Ich genieße die soziale Ausgrenzung nicht: Ich nehme sie zur Kenntnis). Und dieses Gefühl hat mich auch stärker gemacht, wobei ich mit Stärke die Fähigkeit meine (nicht unbedingt und nicht nur muskulär und schon gar nicht maskulin), irgendeine Art von Veränderung zu bewirken. Das Echo, das die direkten Aktionen in den Zeitungen fanden, war für mich völlig unbekannt. Und zu hören, wie Akademiker, Literaten, Journalisten, Professoren, Richter oder ehemalige Richter sich für einen Genossen wie Alfredo aussprachen, gab mir ein Gefühl des Schwindels: aber verstehe ich das richtig?!

Die Antwort, die ich mir jetzt gebe, da selbst Sanremo den gesellschaftlichen diskursiven Raum um den 41bis betreten hat (und dann ist es schon wieder veraltet, jetzt wird es noch einen Knüller geben), ist, dass ich das zwar damals gut verstanden habe, mich aber der Illusion hingegeben habe, dass, sobald der mediale Ausnahmezustand “Anarchisten” vorbei ist, die schönen Worte in Taten umgesetzt werden würden. In Taten, in Beteiligung. Offensichtlich geschah das nicht, außer für diejenigen, die auch ohne und lange vor den Nachrichtenberichten gegen 41bis, gegen Gefängnis, usw. waren. So funktioniert die Unterhaltungsmaschinerie. Der Ausnahmezustand, ausnahmsweise, auf unserer Seite der Barrikade, ist wirklich da: das in der Schwebe und vielleicht endgültig verurteilte Leben eines unserer Genossen. Aber für den Rest der Welt war es nur journalistisch-soziale Werbung. Eine weitere Quelle des Konsums.

Ich denke, dass der Ausnahmezustand noch nicht vorbei ist und dass die Bemühungen um Freiheit (oder Rückstufung des 41bis) und um Alfredos Leben auf der anarchistischen Seite immer noch andauern, und dass das, was gesagt und geschrieben wurde, nämlich dass “diese Geschichte nicht mit Alfredo endet”, wahr sein muss. Denn wenn all die Energien, die in den letzten Monaten (und auch jetzt noch) mobilisiert wurden, nach Alfredos Tod oder oder Rückstufung des 41bis wieder verloren gehen,enden, zusammenbrechen würden, würden alle Schritte gegen den Staat bald auch hinweggefegt werden.

Und die Schritte, die wir gemacht haben, kollektiv und individuell: Wie viel Mut wurde auf den Plätzen und in den Nächten zum Ausdruck gebracht? Wie viele Begegnungen, wie viele Wege, die von einem Willen zum Engagement gekreuzt wurden, den es seit Jahren nicht mehr gab und den die Ära Covid endgültig begraben zu haben schien! Wie viel geteilte Wut, wie viele Schultern, auf die man sich stützen kann, haben wir gefunden oder wiederentdeckt? Und wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, dies alles zu tun.

Denn in einem bin ich mir sicher: Nach dem Sturm, den wir beschlossen haben zu entfesseln, wird der Staat seinen eigenen entfesseln, und wir wissen bereits, was das bedeutet: Ermittlungen, Verhaftungen, Operationen, Maßnahmen, Gerichtsverfahren und all die Konsequenzen, die dies für unser Leben und das unserer Zuneigung und Komplizenschaft bedeutet. Das Getöse der Massenmedien wird sich dann darum drehen, den Menschen zu verkünden, dass sie als Verantwortliche für diese oder jene Störung, für diese oder jene Aktion ertappt wurden… auch wenn wir in Wirklichkeit wissen, dass es sich dabei um reine Propaganda handelt, die fast immer schlampig ist und in den meisten Fällen von den Behörden betrieben wird. Aber in der Zwischenzeit stehen unsere Namen in den Zeitungen. Und die Repression ist so stark und die Medien so aggressiv, dass es uns nicht einmal mehr überrascht (was nicht heißen soll, dass es uns nicht wütend macht), dass Namen, Vornamen und andere persönliche Daten in Zeitungen oder im Internet auftauchen.

Der ‘Fall Cospito’ hat sich nun in eine Palastrede darüber verwandelt, ob der Faschist Del Mastro das Staatsgeheimnis verletzt hat oder nicht, um den Kollegen von der PD von der Polizei verleumden zu lassen. Und das ist alles, worum es sich dreht. Die Tatsache, dass Alfredo seinen Hungerstreik fortsetzt und wahrscheinlich bald sterben wird, ist nicht mehr von Interesse, keine Neuigkeit mehr. Auch die Märsche und Initiativen, die weiterhin überall im italienischen Staatsgebiet und anderswo stattfinden, scheinen sich nicht mehr zu verkaufen. Oder jedenfalls viel, viel weniger als noch vor zwei Wochen.

Das Tempo der Show hat sich beschleunigt. Inmitten eines Sturms von Begriffen, von Unterstellungen, von Fakten ohne Zusammenhang mit dem Kontext, mit der Analyse, mit der eingehenden Analyse, ist das, was sich herausgestellt hat, die einfache These, die man in den Bars wiederholen kann, mehr oder weniger die folgende: “Cospito hatte gut angefangen, friedlich, aber dann entdeckten wir, dass er mit der Mafia in Sassari befreundet war und die Anarchisten draußen befehligte, die Schaufenster einschlugen. Inzwischen ist klar, dass er bei 41bis bleibt, aber weiterhin nicht isst, oh, seine Entscheidung, wenn er abkratzt, hat er es sich selbst eingebrockt.” Oder zumindest ist es das, was ich jetzt wahrnehme, aus den Zeitungen, aus den Resten der Massenkommunikation, die ich aufschnappe, die noch immer, sehr wenig, über die Sache sprechen.

Ich möchte also versuchen zu bekräftigen, dass der Kampf nicht mit Alfredos Leben zu Ende ist, aber auch mir selbst und denjenigen, die dies lesen, eingestehen, dass das, was wir in diesen Monaten in die Wege leiten konnten, aus der Sicht der Einteilung der Kräfte auf lange Sicht unhaltbar ist. Aber es bleibt ein notwendiges Ziel, das es zu erreichen und zu erhalten gilt. Wenn dies nicht der Fall ist, befürchte ich, dass wir Zeugen eines “Regresses” werden, der eher einem “Jeder für sich” ähnelt, der die Moral, die Kräfte und die Komplizenschaft brechen würde. 

Der bessere Weg für den Autor wäre, dass dort, wo andere Menschen, nicht anarchistische Genossen, sondern Komplizen der Solidarität mit Alfredo und dem Anti-Gefängnis-Thema, sich den Momenten des Kampfes genähert haben, wir mit ebenso viel Klarheit und Ehrlichkeit miteinander reden und Wissen und Know-how teilen sollten, weil es notwendig ist, dass es andere Köpfe, andere Hände, andere Herzen gibt, die den Kampf derjenigen ergänzen, die vielleicht seit vielen Jahren (mit all den emotionalen, strafrechtlichen, existenziellen, wirtschaftlichen, etc. Folgen) den Kampf gegen den Staat und seine Apparate führt. Wo dies nicht geschehen ist, oder nicht versucht wurde, und man sich unter sich selbst in der anarchistischen Szene befindet, muss man meiner Meinung nach versuchen, Zeit zu schinden, um flexibel zu sein, nicht jeder sich bietenden Gelegenheit hinterherzujagen, so viel wie möglich zu versuchen, nicht in die verschlingende Logik des Ausnahmezustandes einzutreten, die, wenn es stimmt, dass sie ausnahmsweise real ist, keine Lösung hat, die durch unsere Kräfte allein, hier und jetzt, bestimmbar ist. In dem Sinne, dass nichts, was wir jetzt tun können, mir entscheidend für Alfredos Leben zu sein scheint, auch wenn es sehr wichtig ist. Leider muss man sagen, dass sein Leben in den (blutgetränkten) Händen des Staates liegt. Das ist die grausame Realität. Und es scheint nicht möglich zu sein, ihn sofort aus seiner Zelle zu holen oder das gesamte Gefängnissystem zu zerstören, also atmet durch. Nehmt euch Zeit, denkt nach, wählt aus, wohin wir unsere Energien stecken, denn sie sind nicht unendlich, und wenn der Feind kommt, um die Rechnung zu verlangen, müssen wir klar und vorbereitet sein, nicht am Abgrund…

Zumindest dachte ich das heute, nachdem ich in einer Zeitung, die ich gerade wegwarf, die Nachricht vom ‘Capri-Massaker’ gelesen hatte: wer kann sich noch daran erinnern! Und wie viele Menschen starben unter dem Schlamm und den verfallenen Häusern, sieben? Neun? Blättern Sie um, und niemand erinnert sich mehr daran. Und wie lange ist das jetzt her, zwei Monate? Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand, oder nur sehr wenige, abgesehen von Anarchisten und Revolutionären verschiedenster Richtungen, an diesen Kampf gegen 41bis erinnern werden: nicht in dieser Gesellschaft, nicht in dieser Welt des ewigen Spektakels, aber das, was geschehen ist und geschieht, ist Teil unseres Lebens, es ist eine weitere Schicht der Wut und des Bewusstseins, die wir mit uns herumtragen, und sie braucht keine Anerkennung.

Sie wollen den Anarchismus in diesem Teil der Welt begraben, aber wir sind dabei, ihn zu beflügeln, und wir beweisen es.

Forza Alfredo

Coraggio amicx, compagnx, complicx, teppistx: la salute è in noi!

Dieser Text erschien auf italienisch am 18. Februar 2023 auf Inferno Urbano, es handelt sich um eine sinngemäße Übersetzung. 

Eine Wurzel zum Quadrat

Cesare Battisti

“Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüsste, käme ich hier auch nicht raus”, antwortet Daniel, wohl wissend, dass er damit eine allgemeine Heiterkeit auslöst.

Die Lehrerin zeigt ein müdes Lächeln, das sich sofort in einer Geste auflöst, die ihm den Mut geben soll, weiterzumachen.

Daniel ist kein schlechter Schüler, und er ist auch nicht der Eiferer, den er unbedingt spielen will. Trotz der Rolle, die er sich selbst auferlegt hat und in der er gefangen ist, leuchtet noch Hoffnung in seinen Augen. Es gibt so viele junge Menschen wie ihn, die, früh vom Leben gezeichnet, auf das Beste von sich selbst verzichten und glauben, dass sie so mit der Gesellschaft umgehen können, die sie ablehnt.

Ein Lehrer vollbringt keine Wunder, aber er kann dem Leben einen Grund geben, dem Leiden einen Ausweg. Unvergessen, wie er das erste Mal durch die Gefängnistür trat: der Tumult, die Stille in der Luft, der unwiderstehliche Wunsch zu fliehen. Dann der erste Kontakt mit den Insassen, die plötzliche Erkenntnis, dass seine besten Bemühungen an einem solchen Ort umsonst sein würden.

Damals hätte sie vielleicht aufgegeben, wenn es nicht passiert wäre, dass… Sie weiß nicht mehr, was danach mit ihr geschah, aus Trägheit oder vielleicht aus Liebe zu ihrem Beruf blieb sie. Die Zeit, in der sie lernte, hinter die Strafe zu blicken und zu entdecken, dass sich hinter jeder Maske ein menschliches Gesicht verbarg. Noch heute fragt sie sich, ob sie nicht selbst eine Maske aufgesetzt hat, eine Art Schutzschild gegen die Hilferufe all der Daniels, die, ohne Erfolg, vom Fatalismus leben müssen.

Sie lassen die Schlüssel baumeln. Für die Schüler ist es die Zelle, für sie ein weiterer Tag, um die Gewissheit zu festigen, dass sie morgen zurückkehren wird, um von vorne zu beginnen. Es gibt nichts anderes zu tun, Wissen ist die Lösung, und sie hat es gelernt, um es anderen beizubringen.

Kein Schicksal, nur eine Aneinanderreihung von bedeutungslosen Fakten, die nirgendwo hinführen, fast nirgendwo. Es wäre zu einfach, sich jetzt einen Reim darauf zu machen, nachdem man die Ursachen und Wirkungen rekonstruiert hat, denen Daniel auf seinem Weg begegnet ist. Wenn man das Ende der Geschichte kennt, wird selbst ein uraltes, in den Wind gesprochenes Wort zu einer Vorhersage. Daniel ignoriert dies nicht, aber wie kann er nicht darüber nachdenken, wenn es nichts mehr zu tun gibt. Jetzt, da die Zeit eine endlose flache Welle ist, ist der Blick zurück die einzige Ablenkung, die ihm bleibt. Jedes Mal, wenn seine Gedanken den Weg in die Vergangenheit nehmen, entdeckt Daniel eine andere Seite an sich und fühlt sich wie ein Außenseiter. Doch so sehr er auch versucht, Hoffnung mit Trost zu verwechseln, er ist derjenige, der diese Geschichte geschrieben hat. Nur erinnert er sich jetzt nicht mehr an den Anfang und das Wort Ende gehört nicht zu ihm. Doch er ist kein verrückter Spinner. Er ist durch diese Welt gegangen, hat ein paar Abkürzungen genommen, das macht jeder, manche sogar mit geschlossenen Augen. Er ist gegangen, im Glauben, dass es keinen anderen Weg in die Ewigkeit gibt. Die Lehrerin, die viel weiß, sagt, dass Bildung retten kann, aber sie war nicht da, als das alles mit ihm geschah. 

Daniel löst sich aus der Koje, er hat das Denken satt. Er hat die Nase voll von sich selbst und den guten Ratschlägen, die so leicht zu geben sind. Er kann das müßige Geschwätz nicht mehr ertragen und ist bereit, sich im Nachhinein in Anstand zu kleiden. Wenn er sich doch wenigstens die Warnungen, die Gesten und Seufzer, die alten Blicke, die aus den Wänden hervorlugen, um ihn auf seine Fehler festzunageln, auf jene Wahrheit, die ihm immer entgangen ist, aus dem Kopf schlagen könnte. Wie auch das wirkliche Leben, das an ihm vorbeizog und dem er tatenlos zusah. Nicht ganz, er war zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes zu erfinden, weil er sich von dem allgemeinen ausgeschlossen fühlte.

Es begann alles vor seiner Geburt. Zunächst einmal würde es nicht sein Land sein, das er betreten würde, noch würden es seine Worte sein, die ihn lehren würden. Seine Augen öffnen, um nichts zu sehen, oder sich einer nicht fassbaren Welt hingeben. Er war noch nicht geboren, aber er spürte bereits, dass es schlimm enden würde. Von seinen ersten Schritten an versuchte er, sich wie jemand anderes zu fühlen, so zu werden, wie alle ihn haben wollten. “Er ist ein etwas zerstreutes, aber intelligentes Kind”. Wie oft hatte er das in der Schule gehört. Sie nannten es Ablenkung, die Lehrer, während er dachte, er denke über das wirkliche Leben nach. Es lief, wie es laufen sollte. Dann zerfaserte die Zeit, die Ewigkeit wurde knapper, Gewissheiten gerieten ins Wanken, und in Daniels Kopf kamen Zweifel auf, dass es vielleicht auch anders hätte laufen können.

Er zermartert sich schon seit einiger Zeit das Hirn. Aber das Kind weiß nicht einmal mehr, ob es seine eigenen Gedanken sind oder ob die Lehrerin sie ihm in den Kopf gesetzt hat. Sie geht ein und aus und glaubt, sie könne die Welt stündlich in Ordnung bringen. Als ob wir alle die gleiche Chance hätten, zu handeln, eine Seite zu wählen. Aber am Ende der Stunde geht sie zurück zu ihren Eltern, während er nichts als die braunen Flecken an den Wänden hat, mit denen er sich unterhalten kann. Und dann ist alles klar, Schule ist für die einen der Weg zum Erfolg, für die anderen eine Folterkammer, in der man sich des Lebens bewusst wird, das einem verwehrt wird.

Er zermartert sich schon seit einiger Zeit das Hirn. Aber das Kind weiß nicht einmal mehr, ob es seine eigenen Gedanken sind oder ob der Lehrer sie ihm in den Kopf gesetzt hat. Sie geht ein und aus und glaubt, sie könne die Welt stündlich in Ordnung bringen. Als ob wir alle die gleiche Chance hätten, zu handeln, eine Seite zu wählen. Aber am Ende der Stunde geht sie zurück zu ihren Eltern, während er nichts als die braunen Flecken an den Wänden hat, mit denen er sich unterhalten kann. Und dann ist alles klar, Schule ist für die einen der Weg zum Erfolg, für die anderen eine Folterkammer, in der man sich des Lebens bewusst wird, das einem verwehrt wird.

Daniel lässt sich auf seine Pritsche zurückfallen und beginnt, die Zeichen zu lesen. Bruchstücke von Stimmen, die an den knurrenden Wänden abprallen, wie Vorwürfe, die ihn auf jedem Schritt seines kurzen Lebens begleitet haben. Dieselben Warnungen vor Gefahren, die von einer guten Gesellschaft verbreitet werden, die nichts weiß; eine Welt, die man ignorieren sollte. Die Mauern sind das Geschichtsbuch, das er regelmäßig aufsucht, er weiß, wie man sie liest. Es ist seine Geschichte, wie die so vieler anderer, die ihre Seelen in den engen Mauern gelassen haben. Es sind Männer und Frauen mit ausgeprägten Leidenschaften, feurigen Fantasien und, wer weiß, wenig Standhaftigkeit, um Täuschungen zu vermeiden. So viele wie er, die eines Tages an den Lehrer in der Schule, die heilige Ordnung und die Versprechen des Profanen glaubten. Als ob sie alle, die Daniel auf der Pritsche quälten, sich wirklich um die Wünsche oder Schmerzen der anderen kümmerten.

So werden nach und nach Mauern errichtet, und die, die wir in uns tragen, sind am schwersten zu überwinden.

Wie auch immer, überschattet von einem Lied des Geistes, hat Daniel andere Bilder des Lebens, die er heraufbeschwören kann. Es sind Momente der Hoffnung, die aus melodiösen Klängen und Worten des Trostes bestehen. Sie gehören zu altem Wissen, sind aber so nah, dass man sie fast berühren kann. Es sind Erinnerungsfetzen, Geräusche eines Lebens, das im Begriff war zu beginnen und das nun im Gehirn verstreut ist und das er nicht mehr zustande bringt.

Er sollte nicht über diese Dinge nachdenken, wie ein Kind in der Schule. Er gibt dem Lehrer die Schuld, der ihn bedauert und sich dann schämt. So wie diejenigen, die wie er vor einer Million Jahren aufgehört haben zu lernen, sich geschämt haben.

Auf seinem Bett liegend, zählt Daniel zum millionsten Mal die Quadrate, die die Schnittpunkte der Gitterstäbe bilden, die ihn von der Freiheit trennen. Er reiht sie von links nach rechts auf, dann in die entgegengesetzte Richtung, diagonal und mit geschlossenen Augen; er teilt sie, multipliziert sie und macht auch die Quadratwurzel, die er heute Morgen in der Schule gelernt hat, aber noch nicht wusste, wofür sie da ist.

Nach längerer Zeit wieder ein paar Zeilen von Cesare Battisti, der immer noch in einer Zelle eingekerkert ist, die Rache des italienischen Staates für Taten, die 40 Jahre und mehr her sind. Eingekerkert, weil er die menschliche und politische Verantwortung übernommen hat, aber sich weigert, sich zu unterwerfen und seine, unsere Geschichte zu verraten. Einige weitere Texte von Cesare Battisti finden sich in den alten Ausgaben der Sunzi Bingfa hier. Die Kurzgeschichte ‘Eine Wurzel zum Quadrat’ erschien im italienischen Original auf Carmilla

PRIMA LINEA – Ein geschichtlicher Abriss

PAOLA STACCIOLI

Die Ursprünge

Im Laufe der 1970er Jahre eskalierten die sozialen und politischen Auseinandersetzungen in Italien. Auf den weit verbreiteten Wunsch nach einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft im kommunistischen Sinne reagierten einige Teile des Staates mit dem Terrorismus der Strategie der Spannung. Bomben und Putschdrohungen waren scheinbar destabilisierend und zielten in Wirklichkeit darauf ab, eine Macht zu stabilisieren, die in den Augen großer Teile der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit verlor. In der Zwischenzeit enttäuschte die PCI, die bei den Kommunalwahlen 1975 und erst recht bei den Parlamentswahlen 1976 stark zugelegt hatte, die Erwartungen eines Teils ihrer Wählerschaft, die den historischen Kompromiss, die Politik der nationalen Solidarität und der Verteidigung der bürgerlichen Institutionen, die Aufrufe zu Opfern und Sparmaßnahmen als Verrat betrachteten.

In denselben Jahren häuften sich die Siege der Guerillakriege und der nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Kolonialismus in der ganzen Welt, während der dramatische Staatsstreich in Chile 1973 einem großen Teil der revolutionären Linken als Bestätigung der Unmöglichkeit eines friedlichen Weges zur Eroberung der Macht durch die Volksmassen erschien.

In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kommt es zur endgültigen Auflösung der außerparlamentarischen Gruppen. Lotta continua löst sich im Herbst 1976 informell auf. Immer mehr junge Menschen sind davon überzeugt, dass der bewaffnete Kampf notwendig ist, um die Offensive zu konkretisieren, die in den vorangegangenen Jahren das gemeinsame Erbe der radikaleren Linken war und in der Schärfe der auf den Demonstrationen gerufenen Parolen zum Ausdruck kam. Wenn die Roten Brigaden das Beispiel einer zentralisierten Organisation darstellen, die darauf abzielt, eine Partei in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis und in Kontinuität mit der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung aufzubauen, so unterstützen andere Sektoren die Hypothese eines breit angelegten Guerillakriegs in engem Kontakt mit den Massenkämpfen. Also nicht die bewaffnete Partei, sondern die bewaffnete Bewegung. Der wichtigste Bezugspunkt ist das Großstadtproletariat. Prekäre, Obdachlose, Arbeiter, die durch die Umstrukturierung aus den Produktionskreisläufen verdrängt wurden, junge Menschen, die im städtischen Umland ghettoisiert sind und ihre Bedürfnisse einfordern. Das von Toni Negri theoretisierte “Gesellschaftliche Arbeiter” (Operaio sociale), der sich der DC-PCI-Allianz so sehr widersetzt, dass er auf den Plätzen sogar physisch mit den historischen Organisationen der Arbeiterbewegung zusammen stößt.

So entstand eine Gruppe, die in erster Linie aus Aktivisten bestand, die Lotta continua zu verschiedenen Zeitpunkten im Jahr 1974 nach der “legalitären Wende” im Jahr zuvor verlassen hatten, mit der die Gruppe die Aufrufe zur Organisation revolutionärer Gewalt gegen den Staat zurückwies. Zu ihnen gesellten sich die Waisen der aufgelösten Potere operaio, die sich der Autonomia operaia anschlossen, die zu einer Art Refugium für die radikalsten Positionen wurde. Fabrik-, Hochschul- und Nachbarschaftskomitees, die die Massenbewaffnung theoretisierten und eine umfassende Kampfpraxis einführten. In diesem Kontext entstehen die ‘Kommunistischen Komitees für Arbeitermacht’ und 1975 die Gruppe und die Zeitschrift “Senza tregua” (Kein Waffenstillstand), in der sich die Teilnehmer der Achtundsechziger und der außerparlamentarischen Gruppen zusammenfinden, aber auch sehr junge Menschen, die sich der Politik annähern, manchmal angezogen vom Mythos des verratenen Widerstands. Dieser Bereich äußert sich auf einer doppelten Ebene, der legalen und der klandestinen. Während in der Zeitung von Massenbewaffnung, Arbeitermilizen und einem Weg der proletarischen Organisation im Rahmen eines lang anhaltenden Bürgerkriegs die Rede ist, kommt es zu Besetzungen, Enteignungen, Selbstfinanzierungsaktionen, Überfällen auf Industriellenvereinigungen und der Verletzung von Betriebsleitern.

Im Oktober 1976 fand in Salò, in der Provinz Brescia, der so genannte “Sergeantenputsch” innerhalb von “Senza Tregua” statt. Dabei übernahmen Kader aus dem Umfeld von Lotta continua die Führung der Gruppe und verdrängten die “Intellektuellen”, die zuvor aus Potere operaio stammten und die Zeitschrift leiteten. Nach einer Zeit der Unterbrechung werden die Veröffentlichungen als “Seconda serie” wieder aufgenommen.

Aus den vertriebenen Aktivisten werden die Kommunistischen Kampfeinheiten (Ucc) und die Revolutionären Kommunistischen Komitees (Cocori) gebildet.

Die Entstehung

Es ist schwierig, einen genauen Anfangspunkt zu bestimmen. Der Name Prima Linea taucht am 30. November 1976 auf, um den Überfall auf das Hauptquartier der Arbeitgebervereinigung in Turin zu begründen, bei dem Akten der Vereinigung entwendet wurden. In dem dazu verteilten Flugblatt heißt es unter anderem: Prima Linea ist keine neue kommunistische Kampfgruppe, sondern der Zusammenschluss verschiedener Guerilla-Kerne, die bisher unter verschiedenen Akronymen agierten. Die Prima Linea ist nicht die Abspaltung von anderen bewaffneten Organisationen wie Rote Brigaden und NAP. Die einzige Ausrichtung, die wir anerkennen, sind innerbetriebliche Aufmärsche, wilde Streiks, Sabotage, Ausschaltung feindlicher Agenten, spontaner Überschwang und extralegale Konfliktualität.

Das militante Gremium, das in den vorangegangenen Jahren unter verschiedenen Akronymen aktiv war, ist die “Senza Tregua”. Zwischen 1976 und 1977 landen verschiedene Mitglieder der künftigen politisch-militärischen Spitze der Organisation vorübergehend im Gefängnis. Dieser Phase, die später als ‘Vor-Prima-Linea’ bezeichnet wird, wird unter anderem der tödliche Hinterhalt auf den MSI-Provinzrat Enrico Pedenovi zugeschrieben, als Reaktion auf die Ermordung von Gaetano Amoroso durch die Neofaschisten am 27. April 1976 in Mailand. Eine Aktion, die die Zustimmung großer Teile der revolutionären Linken fand.

Die Prima Linea konstituiert sich offiziell auf einem Kongress in San Michele a Torri, in der Nähe von Scandicci, im April 1977. Es gibt etwa dreißig Vertreter aus Mailand, Bergamo, Turin, Florenz und Neapel. Die Hauptinitiatoren kamen hauptsächlich aus Sesto San Giovanni. Das Stalingrad Italiens, wie es genannt wurde. Wegen seines Beitrags zum Widerstand und dann zu den Fabrikkämpfen. Die Realitäten in Bergamo und Turin sind beeindruckend. Ein Statut mit 31 Artikeln legt die Grundsätze einer “freiwilligen Organisation von Kämpfern für den Kommunismus” fest. Sie zeichnet sich durch zwei unterschiedliche Ebenen aus. Die erste ist ein Netz zur Unterstützung und Förderung illegaler Handlungen und des proletarischen Kampfes, das sich aus Patrouillen und Trupps zusammensetzt, die verschiedene Namen tragen (bewaffnete proletarische,- territoriale, und Arbeitertrupps) und Sabotage, Brandstiftung, Enteignungen und Angriffe auf Abteilungsleiter durchführen. Die zweite ist eine zentralisierte Struktur mit einem Nationalen Kommando an der Spitze, das der Organisationskonferenz unterstellt ist.

Die Anfänge, in der Bewegung

Prima Linea unternimmt ihre ersten Schritte auf einem Weg, der mit der heterogenen Siebenundsiebziger-Bewegung zusammenhängt und darauf abzielt, deren Konfliktniveau zu erhöhen. Schon im Namen sind diese Merkmale festgelegt. Die ‘erste Linie’ ist in der Tat die der Ordnungsdienste für Demonstrationen. Die Organisation will an der Spitze der Ausdrucksformen der radikalen Kritik am System stehen. In einem Dokument von 1977 lesen wir: …Die Märztage waren eine große Lektion: Von den objektiven Bedingungen, die die Bedürfnisse und politischen Eigenschaften des Proletariats vermassten, gingen wir zum Massenkampf gegen den Staat über. Darin wurden die verschiedenen politischen Hypothesen, die im revolutionären Raum unter den kämpfenden Organisationen lebten, deutlich. […] Die politische Frage, die sich in diesen Monaten entwickelte, die Suche nach Klarheit, nach einem klaren Projekt der Perspektive und der Organisation, zwingt dazu, alle Begriffe des Territoriums zu überwinden: vom autonomen zum bewaffneten, den politischen Kampf zu entfesseln, die politischen Vorschläge mit der revolutionären Spannung, die im Proletariat und in der Arbeiterklasse lebt, zu konfrontieren…

Im Frühjahr 1977 war das Klima in Italien sehr aufgeheizt. Der Grad der Gewalt auf den Plätzen ist sehr hoch. Die Demonstranten setzen Schusswaffen ein, und es gibt auf beiden Seiten Tote. Am 11. März wird in Bologna Francesco Lorusso, ein Aktivist von Lotta Continua, von einem Carabiniere ermordet. Am folgenden Tag kommt es in Rom und Bologna zu heftigen Zusammenstößen. In denselben Stunden wird in Turin der Brigadier des Büros der Questura (Staatspolizei, d.Ü.), Giuseppe Ciotta, bei einem Vergeltungsschlag getötet. …Genossinnen und Genossen, es ist nicht mehr die Zeit für beispielhafte Aktionen und Propaganda. Die Kriegserklärung des Staates muss aufgenommen werden. Die kämpfenden Formationen müssen heute, sofort, auf dem Terrain des einsetzenden Krieges überprüft werden: wer sich seiner Organisation entzieht, hat kein Recht, im kämpfenden Gebiet zu sprechen. Die Forderung wird von den kämpfenden kommunistischen Brigaden, Abteilung der Prima Lenea,, erhoben. Am 21. April in Rom und am 14. Mai in Mailand werden bei Demonstrationen zwei Polizisten getötet. Am 12. Mai stirbt in Rom eine Demonstrantin, Giorgiana Masi, die von Polizisten in Zivil erschossen wird. Im Herbst beginnt die Ebbe in der Bewegung. Viele junge Menschen treten in die Reihen der bewaffneten Organisationen ein. In den ersten Tagen unterstützt die PL vor allem den Kampf in den Fabriken und den proletarischen Kampf mit Brandanschlägen, Verletzungen von Abteilungsleitern und Chefs, führt aber auch Aktionen im sozialen Bereich, gegen die Schwarzarbeit und die Carovita (hohe Lebenshaltungskosten) sowie Angriffe auf die Christdemokraten und die Polizeikräfte durch. Die Aktivisten, von denen viele sehr jung sind, führen oft ein Doppelleben. Sie sind halbklandestin, mit einem Bereich der öffentlichen politischen Arbeit und einem illegalen. Sie haben keine Stützpunkte, bewahren ihre Waffen zu Hause auf und führen sie bei Aufmärschen vor.

Der bewaffnete Kampf wird als vorübergehend und umkehrbar angesehen, als ein notwendiger Zwang in bestimmten historischen Momenten, um die Massen zu einer Offensive gegen die verschiedenen Artikulationen der kapitalistischen Herrschaft zu bewegen. Eine direkte Beziehung zwischen den Massen und der Organisation wird als grundlegend angesehen, so dass sich in der Klasse die Debatte über die proletarische Kampforganisation und die Partei parallel entwickelt […]. Der Prozess des Aufbaus der proletarischen Armee in einem Land mit fortgeschrittenem Kapitalismus verläuft durch die Verflechtung von Kampforganisation und Institutionen der Klassenmacht…

Gegen das kapitalistische Kommando

Nach Ansicht von Front Line hat der Staat kein einziges “Herz”. Das Ziel ist daher nicht die Machtergreifung, sondern seine schrittweise Entflechtung und Auflösung sowie die Schaffung einer gefestigten und diffusen Gegenmacht. 1977 schrieb die Organisation: …Wenn der Staat die zentrale Voraussetzung für die Regulierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist, ist alles Teil des Staates, das gesamte gesellschaftliche Leben wird zum Staat, zur gewaltsamen Verwaltung der Bedürfnisse des Kapitals. Die Vergesellschaftung des Kommandos ist die Quelle der Legitimation für das Kommando selbst. […] Die Arbeiterklasse beginnt gerade in diesen Monaten, Kämpfe auszudrücken, die sich ausdrücklich gegen die kapitalistische Herrschaft und gegen die Produktion als Instrument der Herrschaft richten. […] Dieser politische Sprung ist grundlegend, weil er eine Verallgemeinerung der politischen Anzeichen des Kampfes, der Initiative des Kampfes, von der kämpferischen Organisation zum proletarischen Kampfrahmen und zu den Institutionen des Massenkampfes ermöglicht…

Die Mitglieder von PL überschreiten oft die Regeln einer Untergrundorganisation. Einige sind Gruppen von Freunden, die sich mit ihren Familien in Kneipen treffen, sie identifizieren sich mit den revolutionären Outlaws der Westernfilme, so dass sie sich selbst als “Wild Bunch” bezeichnen. Im Juli 1977 müssen sie ihren ersten Trauerfall verkraften. Romano Tognini wird bei einer Enteignung in einem Waffenlager in Tradate erschossen, das später zur Vergeltung mit einem Sprengsatz zerstört wird.

Am 2. Dezember 1977 verletzt eine von der PL unterstützte Gruppe den “Elektriker von Collegno”, den Arzt der Anstalt, in seinem Büro, der ungestraft bleibt, obwohl er wegen Folterungen an den Insassen verurteilt wurde. Viele applaudieren der Aktion.

Am Heiligabend greift Prima Linea die noch im Bau befindliche Strafanstalt Le Vallette an. Gefängnis, Repression und die Befreiung von Gefangenen spielen in der Geschichte der Gruppe eine zentrale Rolle. Ausbruchsversuche und -erfolge, Verwundung und Ermordung von Richtern, Technikern und Gefängniswärtern, Sprengstoffanschläge auf Gefängnisse. Anfang 1978 entsteht ein gemeinsames Kommando der beiden wichtigsten bewaffneten Organisationen der “Bewegung”, der Prima Linea und der Formazioni Comuniste Combattenti (Fcc), die im Sommer 1977 aus einer Abspaltung der Kommunistischen Brigaden hervorgegangen waren und im illegalen Bereich um die Zeitschrift “Rosso” operierten. Die Erfahrung dauerte nur wenige Monate, in denen es zu einigen Verletzungen und einer von den Basken der ETA organisierten Militärübung in Frankreich kam. Im März desselben Jahres entführen die Roten Brigaden Aldo Moro. Die Prima Linea billigt diese Aktion nicht, da sie sie als störend für die Bewegung und den Staat betrachtet. In dieser Zeit erhöht sie jedoch das Niveau der militärischen Konfrontation, auch dank der Lieferung von schweren Waffen aus dem Libanon.

Ein Schusswechsel

Am 11. Oktober 1978 übernimmt PL zum ersten Mal offiziell die Verantwortung für eine Hinrichtung. Das Opfer ist Alfredo Paolella, Professor für Strafrecht an der Universität Neapel, Berater des Justizministeriums und zuständig für die kriminologische Beobachtung im Gefängnis von Poggioreale.

Doch die Aktion, die am meisten Aufsehen erregt, findet am 29. Januar 1979 statt, als Emilio Alessandrini in Mailand erschossen wird. Der als demokratisch geltende Richter hatte die Ermittlungen zum Massaker auf der Piazza Fontana in Richtung der Neofaschisten gelenkt und dabei die Rolle der Geheimdienste und der institutionellen Vertuschung hervorgehoben. Für Prima Linea stellt Alessandrini eine Schlüsselfigur der fortgeschrittenen Spitze der Konterrevolution dar. Er gehört zum Sektor der Richter und Staatsanwälte innerhalb jenes linken Flügels, der sich “zum Staat gemacht” hat, der die Notstandsgesetze verwaltet und die Justizapparate rationalisiert, um die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Machtstruktur wiederherzustellen. Alessandrini ermittelte gegen bewaffnete Bewegungen und Organisationen, er übernahm die Leitung einer Antiterrorismus-Abteilung im Mailänder Gericht, richtete eine Datenbank ein und koordinierte die Untersuchungen zur politischen Gewalt. Es war eine Zeit starker Verwerfungen in der Linken. Wenige Tage zuvor hatten die Roten Brigaden den Gewerkschafter der Kommunistischen Partei, Guido Rossa, erschossen. Viele Aktivisten sind verunsichert.

Die PCI ihrerseits kollaboriert aktiv mit dem Staat, sogar im Rahmen einer eigenen Ermittlungsarbeit. Im Februar 1979 wird in Turin ein ‘Fragenkatalog zur Terrorismusbekämpfung’ veröffentlicht, der in verschiedenen Kreisen Verwirrung stiftet. Prima Linea beschließt, ihn zu beantworten. Am 28. Februar wird ein Kommando nach einem Hinweis in einer Bar von einigen Polizisten überrascht. Es kommt zu einem Handgemenge, Schüsse fallen, Maschinenpistolenfeuer. Zwei Aktivisten, Barbara Azzaroni und Matteo Caggegi, werden getötet. Viele Teile der Bewegung nehmen an der Beerdigung teil. Die Emotionen sind stark, ebenso wie der Wunsch nach Rache.

Die Prima Linea führt zwei Vergeltungsaktionen durch. Am 9. März überfällt sie einen Streifenwagen. Ein junger Passant kommt bei dem Schusswechsel versehentlich ums Leben. Am 18. Juli wird der Barkeeper Carmine Civitate erschossen, weil man fälschlicherweise glaubt, er sei für den Polizeieinsatz verantwortlich.

Diese tragische Kette von Ereignissen löst eine lange interne Debatte aus. Auf der Organisationskonferenz im September 1979 in Bordighera in der Provinz Imperia entwickelt sich ein politischer Kampf zwischen zwei Positionen. Die einen halten es für notwendig, sich wieder im Territorium zu verwurzeln und den Kampf auf breiter Front zu führen, während die anderen die Auseinandersetzung mit dem institutionellen Apparat vertikalisieren wollen. Der Knoten wird nicht gelöst. Es wird eine organisatorische Umstrukturierung mit der Schaffung einer nationalen Exekutive beschlossen, aber es kommt auch zu einer ersten Spaltung. Einige Aktivisten, die überzeugt sind, dass die Situation einen Rückzug erfordert, gründen die Gruppe ‘Für den Kommunismus’. Sie flüchten bald nach Frankreich, wo sie verhaftet und ausgeliefert werden.

Die Organisation startet eine Kampagne, die sich auf die Fabrik konzentriert, die einer umfassenden Umstrukturierung unterzogen wird. Die Parole lautet: Streik gegen die Unternehmensspitze. Im September 1979 tötet Prima Linea in Turin Carlo Ghiglino, einen Ingenieur, der für den Planungsbereich zuständig war und den Vorsitz des Lenkungsausschusses des Logistikbereichs von Fiat innehatte. Als Reaktion auf die wiederholten Angriffe der verschiedenen Gruppen, die gegen die Führungskräfte kämpfen, und auf die Solidarität der bewaffneten Organisationen unter den Arbeitern verfolgt das Unternehmen eine harte Linie. Im Oktober wurden nach Konsultationen mit den Gewerkschaften 61 Arbeiter entlassen, denen das Unternehmen “subversives” Verhalten vorwarf. Die darauf folgende Massenmobilisierung ist stark und entschlossen. Im folgenden Jahr kündigte Fiat fast fünfzehntausend Entlassungen an, die dann in Abfindungen für etwa dreiundzwanzigtausend Arbeitnehmer umgewandelt wurden. Nach 35 Tagen des Kampfes fand am 14. Oktober der so genannte “Marsch der Vierzigtausend” statt. Fiat-Beschäftigte, Angestellte, Manager, Abteilungsleiter, die ein Ende der Werksblockade und die Möglichkeit der Rückkehr an den Arbeitsplatz fordern. Die Gewerkschaft akzeptierte eine bedingungslose Kapitulation.

Am 11. Dezember 1979 besetzt eine Gruppe von PL mit militärischen Mitteln die Lehranstalt des Fiat-Konzerns in Turin, in der die neuen Führungskräfte ausgebildet werden. Fast zweihundert Studenten versammeln sich in der Aula, wo ein Militanter erklärt, dass das Institut als Nervenzentrum in der Kommandostruktur des Unternehmens angegriffen wird. Der Überfall endet damit, dass fünf Professoren, Olivetti-Führungskräfte und fünf Studenten an den Beinen verwundet werden. Drei Tage später, am 14. Dezember 1979, wird eine Zelle der Organisation bei der Vorbereitung eines Anschlags auf eine Fabrik in Rivoli gefasst. Bei einem Feuergefecht töten die Carabinieri den jungen Kämpfer Roberto Pautasso.

Am 5. Februar 1980 wird der Ingenieur Paolo Paoletti, der als einer der Verantwortlichen für die Seveso-Katastrophe von 1976 gilt, bei der eine Wolke hochgiftigen Dioxins aus dem Chemieunternehmen Icmesa freigesetzt wurde, in Monza erschossen, um die Lebensqualität und die Gesundheit zu schützen.

Am 19. März 1980 wird der Richter Guido Galli, Professor, Mitglied der Kommission des Justizministeriums für die Reform des Strafgesetzbuches und Mitarbeiter des Instituts für Prävention und Verteidigung, ermordet. Er gehörte der reformistischen Fraktion der Mailänder Richter an, die als Instrument zur Unterdrückung des Antagonismus angesehen wurde. …Die Kampagne der kommunistischen Organisationen zur Zerschlagung des Justizwesens und damit gegen das Projekt der Reorganisation der Kommandostrukturen in unserem Land geht weiter. […] Es geht darum, eine Intervention herbeizuführen, damit die kapitalistische Ordnung aus dieser Phase stark geschwächt und destabilisiert hervorgeht und sich darauf die revolutionäre proletarische Ordnung stabil konstituiert…

Die Reumütigen und der Zusammenbruch

Anfang 1980 wird Prima Linea mit einer Denunziation konfrontiert, ein Problem, das kurz darauf entscheidend zum schnellen Untergang der Gruppe beitragen wird. William Waccher, ein junger Mann aus dem Netzwerk der Organisation, der mit einem Haftbefehl gesucht wird, stellt sich den Ermittlern und kooperiert mit den Richtern. Seine Rolle und seine Aussagen sind unbedeutend, aber es ist das erste Mal, dass dies geschieht, und die Tatsache scheint nicht akzeptabel zu sein. Am 7. Februar wird er von einer Zelle der ‘Nationalen Exekutive der PL’ auf einem Feld am Stadtrand von Mailand erschossen. Die Hinweise von Waccher hätten die Identifizierung des “Kommandanten Alberto”, d.h. von Marco Donat Cattin, ermöglicht, aber sie bleiben ohne Folgen. Es war Patrizio Peci, ein reumütiger Brigadist, der kurz darauf die Identität des Sohnes des christdemokratischen Senators aufdeckte, dem es gelang, sich nach Frankreich abzusetzen. Die durch die Affäre ausgelöste Kontroverse zwingt den mächtigen Politiker zum Rücktritt als stellvertretender Sekretär der Partei. Peci selbst erwähnt den Namen von Roberto Sandalo, der wiederum nach seiner Verhaftung ein Geständnis ablegt. Wegen mehrerer Morde angeklagt, wird er nach zwei Jahren Haft auf der Grundlage des im Mai 1982 verabschiedeten Reuegesetzes entlassen. Im Jahr 2002 wird er erneut wegen Raubüberfällen und 2008 wegen Anschlägen auf Moscheen und islamische Kulturzentren verhaftet.

Die Prima Linea setzte trotzdem ihre Aktionen fort. Am 2. Mai 1980 wird Sergio Lenci, Universitätsdozent und Architekt, Gestalter des Projekts zur Renovierung des Gefängnisses Rebibbia, der als “städtischer Anti-Guerilla-Techniker” bezeichnet wird, schwer verletzt. Am 26. Juni findet im Zug Susa-Turin eine spektakuläre Propagandaaktion statt, bei der Flugblätter verteilt werden, die zum bewaffneten Kampf und zum Bürgerkrieg auffordern.

Im August 1980 erörtert die Führungsspitze der Prima Linea den neuen Zustand, der durch eine Reihe von Festnahmen und den Zusammenbruch der internen Solidarität sowie die Ausbreitung des Pentitismus gekennzeichnet ist. Es wird keine Einigung erzielt, und kurz darauf verlassen einige Aktivisten die Organisation. Im Oktober wird Michele Viscardi verhaftet. Er beginnt sofort zu reden, indem er die Carabinieri durch Italien begleitet. Es wird eine Kette in Gang gesetzt, die schnell zur Auflösung der Organisation führt.

Im April 1981 wird der Zusammenbruch der Prima Linea und die Bildung eines organisierten Pols, einer Art Anlaufstelle für gesuchte Militante, bestätigt. Aus der Asche der Organisation entstehen 1981 die ‘Kommunistische Organisation zur proletarischen Befreiung’ (Colp) und die ‘Nucleo di comunisti’, die von dem flüchtigen Sergio Segio, dem “Kommandanten Sirio”, gegründet wird.

Die beiden Gruppen beschränken sich auf einige Raubüberfälle, Aktionen gegen die Repression und für die Befreiung von Gefangenen. Am 3. Januar 1982 führen sie gemeinsam eine aufsehenerregende Operation durch. Ein Kommando unter der Führung von Sergio Segio befreit aus dem Gefängnis von Rovigo vier weibliche Gefangene, darunter seine Lebensgefährtin Susanna Ronconi. Ein Passant, ein bei der PCI registrierter Rentner, stirbt versehentlich an einem Herzinfarkt. Einige Tage später wird Lucio Di  Giacomo, einer der Ausbrecher, bei einem Schusswechsel mit den Carabinieri getötet. Die ‘Nucleo di comunisti’ und die Colp werden bald durch Verhaftungen zerschlagen.

Die Auflösung und die ‘dissociazione’

Im Jahr 1982 begann die Saison der Großverfahren. Prima Linea ist die italienische bewaffnete Organisation mit der größten Anzahl von Angeklagten: 923, darunter 201 Frauen. Hunderte von Aktionen werden der PL und den damit verbundenen Strukturen zugeschrieben. 23 davon mit tödlichen Folgen, neben einem Beamten des Strafvollzugs, der von einer Gruppe von Ausbrechern getötet wurde. Bei 11 handelt es sich um zufällige, nicht vorsätzliche Todesfälle.

Die endgültige Beendigung der Erfahrung der PL, nach einer Diskussion unter den inhaftierten Militanten, wird während eines Prozesses in Turin im Juni 1983 bekannt gegeben. In dem Dokument ‘Sarà che nella testa avete un maledetto muro’, das im Gefängnis von Le Vallette verfasst wurde und als das letzte der Prima Linea gilt, wird die Praxis des bewaffneten Kampfes für den Kommunismus in Italien für gesellschaftlich delegitimiert erklärt.

Die Distanzierung der in Rebibbia eingesperrten Angeklagten des 7. April (1) wird dann auf der Grundlage einer “Auslöschung des Gedächtnisses” und der “Verleugnung der Verantwortung” sowie des “kontinuistischen Irreduzibilismus” derjenigen kritisiert, die die Erfahrung der Kämpfer nicht als abgeschlossen betrachten.

Sobald die Auflösung formalisiert ist, beginnen fast alle Ex-Militanten der PL den Weg der Distanzierung vom bewaffneten Kampf (‘dissociazione’), der sozialen Wiedereingliederung, der Verhandlung mit dem Staat, der Schaffung der so genannten ‘homogenen Zonen’ in einigen Männer- und Frauengruppen der Angeklagten bei den großen städtischen Gerichtsprozessen. Positionen, die dazu beitragen, die Solidarität zu brechen und die Gemeinschaft der politischen Gefangenen zu zerreißen, die in jenen Jahren harten Haftbedingungen unter Anwendung von Artikel 90 der Strafrechtsreform von 1975 ausgesetzt waren, der das normale Gefängnisregime außer Kraft setzte und Raum für Verbote, Beschränkungen, Trennscheiben und Gespräche nur über die Gegensprechanlage bei Besuchen ließ. Die störenden Auswirkungen des ‘dissociazione’ sind Teil eines Klimas, das in den Spezialgefängnissen bereits durch das Phänomen des ‘Pentitismus’ sehr belastet war und im Dezember 1981 und Juli 1982 zur Ermordung von Giorgio Soldati, einem ehemaligen PL-Aktivisten, und dem ehemaligen BR Mitglied Ennio Di Rocco, die als Informanten galten, durch Häftlinge des brigatistischen Bereichs geführt hatte. Die Auseinandersetzungen zwischen den Gefangenen des ‘dissociazione’ und den Gefangenen, die den Dialog mit dem Staat verweigern, sind hart.

Ein Teil der antagonistischen Linken außerhalb des Gefängnisses führt ebenfalls einen erbitterten Kampf gegen die Politik der ‘dissociazione’, da er sie als verantwortlich für die Liquidierung des gesamten Klassenkampfes und der kämpferischen Praxis betrachtet. Aus gegenteiligen Gründen, nämlich dem Fortbestehen der “terroristischen Gefahr”, widersetzen sich wesentliche Teile des Staates und der Justiz der Abschaffung der Notstandsgesetze, des Regimes der harten Behandlung in den Sondergefängnissen und der Ausweitung der für die Reumütigen vorgesehenen Belohnungsgesetze auf die Gefangenen der ‘dissociazione’.

Die Gefangenen der ‘Homogenen Zonen’ setzen den Dialog mit den Institutionen fort, den sie als “konflikthafte Vermittlung” bezeichnen. Im Juni 1984 übergibt die Prima Linea ihre verbliebenen Waffen dem Kardinal von Mailand, Carlo Maria Martini, der sich offen für die Frage der sozialen Versöhnung zeigt.

1986 wurde das Gesetz Nr. 663, das so genannte Gozzini-Gesetz, verabschiedet, das alternative Maßnahmen zur Inhaftierung vorsieht, indem es eine Logik einführt, die auf dem Prinzip von Belohnung und Bestrafung in Abhängigkeit vom Verhalten des Gefangenen beruht. Im Februar 1987 wurde das langwierige Verfahren zum Gesetz Nr. 34 abgeschlossen, das denjenigen, die sich vom bewaffneten Kampf distanzieren, Strafmilderung gewährt. Diese beiden Gesetze zusammen ermöglichen es, Personen, die sich vom bewaffneten Kampf distanzieren, schrittweise aus dem Gefängnis zu entlassen, während Gefangene, die jede Form der Distanzierung und politischen Lösung ablehnen und als “Unverbesserliche” bezeichnet werden, für lange Zeit in Spezialgefängnissen bleiben werden.

Fußnote

  1. Am 7. April 1979 wurden 140 Intellektuelle (unter ihnen der Philosoph Antonio Negri) festgenommen und als “Drahtzieher” der Roten Brigaden angeklagt

Dieser Beitrag ist ein Textauszug aus dem Buch von Paola Staccioli: ‘Sebben che siamo donne. Storie di rivoluzionarie.’ Der Auszug findet sich auf dem Blog zum Buch. Die Fußnote und die Verlinkungen im Text erfolgten zum besseren Verständnis durch den Übersetzer. 

FÜR DIEJENIGEN, DIE SICH BEWEGEN (IM JAHR 2023): 2016 IM RÜCKSPIEGEL

Mouvement Inter Luttes Indépendant

(Die wahre Geschichte des Cortège de Tête)

Von den Gewerkschaftszentralen bis zum Innenministerium sind sich alle einig: Wenn es nach der Zahl der Demonstrantinnen geht, ist die Mobilisierung gegen die Rentenreform die größte soziale Bewegung in Frankreich seit Jahren. Auf Pflastersteinhöhe erscheint die Stimmung auf den Straßen jedoch relativ gedrückt, es fehlt an Energie und die polizeiliche Betreuung erstickt. Viele vermissen das Jahr 2016 und seine Nachwirkungen, d. h. das Aufkommen neuer Erscheinungsformen des Demonstrierens und der Überschreitung des gewerkschaftlichen Rituals, was üblicherweise als Cortège de Tête bezeichnet wird. Im folgenden Text blicken ehemalige Schüler, die an der MILI (Mouvement Inter Luttes Indépendant) teilgenommen haben, auf diese Zeit und die Entstehung des berühmten Cortège de Tête zurück. Sie erinnern uns daran, dass es manchmal einiger “objektiver Bedingungen” bedarf, um neue Formen zu erfinden, die Breschen schlagen und neue Möglichkeiten eröffnen können, aber vor allem und immer Kühnheit.

“Die Welt zieht sich proportional zu unserem Mut zusammen oder dehnt sich aus.”

Keine Panik, kleine Krabbe, Anaïs Nin

Am kommenden Donnerstag findet der fünfte von den Gewerkschaften organisierte Kampftag gegen die Rentenreform statt. Der fünfte bereits. In den letzten Wochen haben Gruppen mit revolutionärem Anspruch, die ihre Schwierigkeiten, in den Demonstrationen Fuß zu fassen, aber auch einen Mangel an gemeinsamen Ambitionen feststellen mussten, begonnen, verschiedene Analysen über “die Bewegung” zu schreiben, die manchmal nostalgisch und selbstkritisch gefärbt sind. Darunter war auf Lundi Matin ein Aufruf zu lesen (s.d. Übersetzung auf bonustracks, d.Ü.), die “Weitergabe der Kampfsequenz von 2016 an die neuen Generationen” zu gewährleisten. Das ist in gewisser Weise das, worauf der folgende Text abzielt: zu sehen, wie eine situierte Erzählung der 2016 erfolgten Überwindung die gegenwärtige Situation beleuchten kann. Es wird also von “2016” die Rede sein. Oder besser gesagt, von der Bewegung gegen La Loi Travail aus der Sicht der MILI [1], um die Rolle zu aufzuzeigen, die bestimmte Gruppen in dieser Sequenz gespielt haben. Es geht darum, die Kehrseite einer Bewegung zu zeigen, die bis heute in der kollektiven Vorstellung existiert, sei es durch alte Bilder von Riot Porn oder in bestimmten Formen, die heute noch fortbestehen, manchmal im Modus der Folklore, insbesondere des Cortège de Tête. Diese Überbleibsel aus dem Jahr 2016 können zu Nostalgie verleiten oder eine “gesegnete Zeit der Demos in Paris” suggerieren und damit vergessen lassen, dass man sich das “Zbeul ça se mérite” immer noch verdienen muss. Es ist auch eine Gelegenheit, daran zu erinnern, dass wir 2016 zögerten, ausflippten und mehrfach glaubten, in eine Sackgasse geraten zu sein. 

2010 BIS 2016 : LANGWEILE

Um zu begreifen, inwiefern 2016 ein Bruch in der Geschichte der Proteste der letzten fünfzehn Jahre war, muss man diese Bewegung in ihren Kontext einordnen. Abgesehen von der ZAD und einer Handvoll Ereignisse waren die ersten Jahre des Jahrzehnts 2010 zugegebenermaßen ziemlich deprimierend: keine großen Bewegungen, die ‘Rentenmobilisierung’ hatte (bereits) die Rückkehr zu traditionellen Formen der Mobilisierung markiert. Die Frage der politischen Gewalt schien anachronistisch und fanatischen Banden von Hammerkobolden vorbehalten zu sein. Abgesehen von einigen wenigen Anlässen löste das kleinste Graffito oder Einschlagen einer Scheibe den Zorn der “guten” Demonstranten aus, deren Verhalten mindestens genauso problematisch war wie das der Ordnungsdienste oder der Bullen, während die Winzigkeit und Schlaffheit des radikalen Milieus seine Überwachung erleichterte. Es war übrigens nicht ungewöhnlich, von Pazifisten als “Undercover-Bulle” beschimpft und entlarvt zu werden. Das lag in der Ordnung der Dinge. Niemand wagte es also, sich die Möglichkeit der Entstehung von etwas wie dem, was später “Cortège de Tête” genannt wurde, vorzustellen, und so marschierten die Radikalen brav am Ende der Demo, hinter der CNT und der FA, in Erwartung einer möglichen “manif sauvage””, dem obersten Horizont des Pariser radicool 2000. Wir überspringen den von den Attentaten geprägten Kontext: Tausende Menschen applaudierten auf der Place de la République den Bullen und dem Ausnahmezustand (und damit den Hausarresten und Demonstrationsverboten wie beim COP 21 im Jahr 2015). Man fand trotzdem einen Weg, ein bisschen zu lachen (big up Laffont), es gab auch den Horizont der ZAD, aber weit entfernt. Kurzum, eine beschissene Zeit.

DIE SCHAFFUNG EINES GEWISSEN HANDLUNGSSPIELRAUMS VOR 2016

Trotz allem wäre es falsch zu sagen, dass die Entwicklung im Jahr 2016 eine völlige Überraschung war, da sie nicht aus dem Nichts auftauchte. Ihr Auftauchen ist mit der Mobilisierung von Gruppen verbunden, im Rahmen der Bewegung, aber auch im Vorfeld. In dem Text von Lundi Matin “À la recherche du saut qualitatif” wird die MILI als ein “Raum der Organisation” beschrieben. Es handelte sich jedoch eher um eine Gruppe, die der Politik des Aufruhrs verpflichtet war, neben anderen (s. obige Verlinkung d.Ü.). Sie unterschied sich jedoch durch ihre Öffentlichkeit und die Resonanz, die ihr Diskurs innerhalb einer Generation von Schülern fand, von diesen. 

Vor der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz bestand die Priorität der MILI darin, die parteilichen Jugendorganisationen und die Schülergewerkschaften, allen voran FIDL und UNL, daran zu hindern, die Schülerdemonstrationen zu lenken. Der Konflikt mit diesen Gruppen hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal betrachteten wir, die MILI, diese Formationen als … windelweich. Auf unserer Seite wurde die Blockade übertrieben, während sie zur Ruhe aufriefen und erklärten, man müsse vernünftig sein und sich bereit erklären, den Dialog mit den Institutionen aufzunehmen. Die Linkeren, wie die junge NPA, machten es nicht viel besser und zogen es vor, zu jammern, dass die “objektiven Bedingungen” nicht gegeben seien. Zweitens gab es eine Meinungsverschiedenheit über den Zweck. Die MILI war nicht unbedingt eine Gruppe von Autonomen und hatte vielleicht nie eine ideologische Homogenität, aber nach 2014 war man sich trotzdem einig, antikapitalistische und revolutionäre Parolen in den Vordergrund zu stellen, um es mal großspurig auszudrücken. Schließlich war es offensichtlich, dass die Mehrheit der Aktivisten in den linken Organisationen ‘Manager-Bürokraten-in-der-Kluft’ waren, Emporkömmlinge, die in der Politik Karriere machen wollten und wie Politiker handelten. Sie nutzten die Mobilisierungen der Oberschüler, um ihren Organisationen Legitimität zu verleihen. Obwohl sie den meisten Oberschülern unbekannt waren, traten sie dennoch als Vertreter der Bewegung auf. Zu diesem Zweck verfügten sie aufgrund ihrer Nähe zu den politischen Parteien über beträchtliche Mittel. Diese Strategie wurde in der ursprünglichen Version des Treffens “11h Nation” deutlich. Die Schülergewerkschaften riefen nämlich zu diesem Termin auf, damit die verschiedenen blockierten Gymnasien einen jugendlichen Demonstrationszug bildeten, der sich brav in die Gewerkschaftsdemo einfügen würde, in der sie zu David Guetta tanzen und dumme Slogans singen würden. Kurzum, das Manöver war abscheulich und es schien uns wichtig, der Farce ein Ende zu setzen. Naiv glaubten wir, dass jeder Jugendliche eine Zukunft als Randalierer hat, was genau dieses Gewerkschaftsdispositiv zu leugnen oder zu verhindern versuchte. Wir machten uns also daran, es zu sabotieren, was ganz konkret durch Ohrfeigen für die Führungskräfte, wenn sie Interviews beantworteten, Schlägereien mit dem Ordnungsdienst und bescheidene Überschreitungen des vorgegebenen Rahmens wie Tags, Knallkörper, Rauch, Maskierung usw. geschah. Es war langwierig und mühsam, die aufstrebenden Bürokraten unter Druck zu setzen, und zugleich war es einfach, denn in Wirklichkeit repräsentierten sie nur sich selbst. Schwieriger wurde es, wenn sie uns an die Bullen verrieten oder von dem Ordnungsdienst von SOS Racisme oder der UNEF mit Schlagstöcken und Gasmasken in der Hand unterstützt wurden. Wenn man genau sein müsste, würde man den 14. November 2014, die Demo nach dem Tod von Rémi Fraisse, wählen, um die Ausgrenzung der Schülergewerkschaften genau zu datieren: Zusammen mit einer anderen Bande räumt der MILI den Ordnungsdienst der Demo, antikapitalistische Tags ersetzen die Flaggen der PS und Anti-Cop-Slogans und Böllergeräusche ersetzen David Guetta.

Die Schülergewerkschaften lassen danach nach und nach die Finger von der Sache. So sehr, dass 2015 die Demonstration gegen das Macron-Gesetz von der MILI organisiert wird und ihre Stimmung sich von den klassischen Schülerdemos abhebt. Kurzum, kurz vor 2016 hatte sich die MILI, unterstützt von anderen und unter dem Einfluss anderer politischer Erfahrungen, im politischen Mikrokosmos der Oberschüler durchgesetzt, sich dort einen kleinen Ruf aufgebaut und genoss ein gewisses Publikum. Wir hatten einen Raum für Interventionen eröffnet.  

ZU SCHNELL ZU STARK? 

Dennoch trat der Cortège de Tête nicht gleich bei der ersten Mobilisierung 2016 in Erscheinung und die Spannung musste erst crescendoartig aufgebaut werden. Wir sind im Übrigen fast zu schnell zu heftig losgezogen. Zu glücklich, die “11 Uhr Nation” organisieren zu können, galvanisiert von der Vorstellung einer wahrscheinlichen großen Bewegung und unter dem Einfluss der seltenen randalierenden Demonstrationen der letzten Jahre, beschlossen wir, das Niveau zu erhöhen. Nur dass es regnet, dass wir wahrscheinlich nicht mehr als 200 Leute sind und dass wir zwar schon an einigen Krawallsituationen teilgenommen haben, dies aber nicht für die große Mehrheit des Demonstrationszuges gilt. Als die Demonstranten also anfangen, Feuerwerkskörper in alle Richtungen zu werfen, mit Eiern und Farbflaschen zu werfen und sich auf die Banken im Faubourg Saint-Antoine zu stürzen, breitet sich eine Panik in der Demonstration aus, ohne dass sie sich deswegen auflöst. Die Stimmung wird zusätzlich getrübt, als eine Schülerin beim Aufheben eines Knallkörpers eine Fingerkuppe verliert und ein ehemaliger FIDL-Kader mitten im Demonstrationszug, der in einer Gasse stagniert, drei,vier Kartoffeln an den Kopf bekommt. Die Stimmung ist bedrückend, trotz der Musikanlage, die wir mitschleppen, um der Demo einen “festlichen” Touch zu verleihen. Trotz all dessen und des Drucks der Polizei hält der Zug durch und erreicht den Place de la République für die Gewerkschaftsdemonstration, bei der nichts Nennenswertes passiert. Wir sind mit uns zufrieden, fragen uns aber trotzdem, ob wir für dieses erste Datum nicht wirklich zu schnell zu hart losgelegt haben. 

Dennoch, eine Woche später, am 17. März, fangen wir wieder von vorne an….. Diesmal ist das Wetter schön, und es finden sich noch mehr Leute bei 11 Uhr Nation ein. Um die Diskrepanz zwischen den schwarzgekleideten Schülern und dem Rest des Demonstrationszuges auszugleichen, entscheiden wir uns nicht für eine Nivellierung nach unten. Im Gegenteil, wir besorgen uns Masken, die wir auf der Demo verteilen, um möglichst viele Leute dazu zu bringen, sich zu maskieren, wir schnappen uns ein Megaphon, um zu versuchen, Ängste abzubauen, und wir beschließen, uns farbig zu maskieren, um weniger gruselig zu wirken. Ohne dass es strategisch durchdacht war, beschließen wir, Banner mit Punchlines von Rappern, die wir hören, zu machen und sie zu taggen. Das mag harmlos erscheinen, aber es erinnert (uns) daran, dass wir Teil der Schülergemeinschaft sind und dass wir die langweilige Politik all dieser trotzkistischen oder sozialistischen Aktivisten nicht wollen, die selbst dann, wenn sie noch keine 18 Jahre alt sind, bereits wie tausendjährige Bürokraten aussehen. Wir wollen nicht mehr D. Guetta, wir wollen nicht mehr das berühmte “3 Schritte vorwärts, 2 Schritte zurück, das ist die Politik der Regierung”, wir wollen PNL, SCH oder Booba, etwas, das uns wirklich anspricht. Mühsam versuchen wir, einen Demonstrationszug zu bilden, um in den Faubourg Saint-Antoine einzuschlagen, wir haben Mühe, die Transparente nach vorne zu bringen, dann setzt sich der Zug in Bewegung. Eine halbe Sekunde lang glauben wir, dass wir die Demo driften und die ganze Soße crescendoartig überkochen lassen können, bevor wir zu unserer großen Freude von uns selbst, aber auch von einem Teil der Gymnasiasten überrannt werden. 

Die Demo wird noch weniger weit gehen als beim letzten Mal und ein Großteil des Demonstrationszuges löst sich auf und verabredet sich mit der Gewerkschaftsdemo, ohne dass dort etwas Interessantes passiert.

Wir erwarten nicht viel von Gewerkschaftsdemos, wir sind jung, ein bisschen verrückt, aber für uns bleibt es ein abgeriegelter und feindlicher Raum. Wir haben uns dort schon ein paar Mal daneben benommen und wissen genau, dass offensive Aktionen von einem Großteil der Demonstranten und der Gewerkschaftsorganisationen abgelehnt werden. Einige von uns haben 2010 flüchtig an der ‘Rentenbewegung’ teilgenommen. Wir erinnern uns an die manifs sauvage, bei denen 100 oder 150 Personen einen Demonstrationszug mit zehntausenden Teilnehmern hochgezogen haben, an die Affäre um den “Ninja-Tritt” und an die Interventionen der BAC in Zivilkleidung in der Demonstration. Wir konnten diesen Rahmen sogar 2014 bei einer Anti-FN-Demonstration testen: Beim ersten zerbrochenen Schaufenster wurden wir von Hunderten von Demonstranten ausgebuht, unter deren Augen wir mit der BAC, die uns verfolgte, Katz und Maus spielen mussten. Kurzum, das erklärt, warum wir zögerten, in das Objekt zu investieren. 

DIE GANZE WAHRHEIT ÜBER DIE GESCHICHTE DER TATSÄCHLICHEN ENTSTEHUNG DES CORTÈGE DE TÊTE

In der Woche darauf beschließen wir, zu einer Schülerdemonstration um 11 Uhr am Place d’Italie aufzurufen, die es uns erleichtern sollte, uns dem Gewerkschaftszug anzuschließen, der am 24. März von Montparnasse nach Invalides zieht. Obwohl wir nicht sehr zahlreich waren und nicht unbedingt mit den Lycéens von Paris-Sud auf einer Wellenlänge lagen, begann der Tag stark: Flaschenwürfe und Vertreibung der BAC von Hand und mit Gewalt.

Diesmal erklärt sich das Ausmaß der Ausschreitungen vor allem durch die Ankunft anderer Banden auf den “Oberschulen”-Demos. Wir hatten eine kleine Streitmacht und schafften es mehr oder weniger, der Oberschülerbewegung einen Rhythmus zu geben, andererseits konnten wir die Frage der Polizei nicht allein bewältigen. Wir luden ein und begannen, uns mehr oder weniger formell mit anderen Banden zu koordinieren, mit denen wir seit einiger Zeit zu tun hatten, nicht mit dem verkümmerten Pariser Milieu, sondern mit denen, die noch an die Strategie des Aufruhrs glaubten, die sich bewegten und sich die Mittel dazu verschafften. Doch auch wenn man sich über den Willen einig war, das Niveau der Konfrontation zu erhöhen, gab es keine ideologische Homogenität. Darüber hinaus handelte es sich nicht um eine unterkühlte Koordination von Gruppe zu Gruppe. Was diese Banden zusammenhielt, waren Komplizenschaften, Kameradschaftsbande und manchmal auch Freundschaften. Das hohe Maß an kollektivem Einsatz und die Diskussionen stärkten diese Bindungen ebenso wie die Nebenschauplätze. Allerdings gab es auch keine Homogenität in Bezug auf die Lebensformen. Kurzum, ohne diese Koordination wäre der “qualitative Sprung” von 2016 in Paris nicht möglich gewesen, und sie spielte eine wichtige Rolle bei den ersten Terminen der Bewegung.

Der Schülerkorso schafft es mehr oder weniger, nach Montparnasse zu gelangen, und wieder einmal wird nicht viel von ihm erwartet. Aber auch hier wurden wir von einem Teil der Oberschüler überholt, und auch das erfreute uns. Aus Kühnheit oder Naivität, wir werden es nie erfahren, beschließt ein Teil des Zuges, sich vor dem Gewerkschaftsblock zu positionieren, da er nicht versteht, warum er ans Ende der Demonstration verbannt werden soll. Wir entscheiden uns natürlich dafür, die Initiative zu unterstützen, denn wir hassen die Linke in all ihren Formen: politische Parteien, Schüler- und Studentengewerkschaften oder Gewerkschaftszentralen. Für uns sind sie Reformisten, mit denen man weder die Mittel noch die Ziele teilt, und dieses Gefühl wird durch die PS-Regierung noch verstärkt. In vielerlei Hinsicht war 2016 für uns eine Bewegung gegen die traditionellen Formen des Protests. Den Gewerkschaften gefiel die Bewegung nicht (wie? Jugendliche wollen vorne mitmarschieren, weigern sich, sich vertreten und führen zu lassen?), ebenso wenig wie den Bullen, die die Gelegenheit nutzten, um einen Aktivisten in diesem allerersten Cortège de Tête zu verhaften. Der Cortège de Tête, der mehrheitlich aus Schülern besteht, bewegt sich schließlich weiter, während der Ordnungsdienst dafür sorgt, dass mindestens 100 Meter zwischen ihm und dem Rest der Demonstration liegen. Bis zum Invalidendom ist es ziemlich ruhig, dann geht es wild zu. Man ist gewillt, die Bourgeoisie in Unordnung zu bringen, zumal sich die Zusammensetzung der Demonstration nicht auf das radikale Milieu beschränkt. 

Ohne dass dies einer linearen Entwicklung folgte, stieg die Spannung von Termin zu Termin, sei es gegenüber den Bullen oder dem Ordnungsdienst. Am Morgen im Rahmen der “Schülerdemonstrationen”, die immer mehr nur dem Namen nach Schüler sind: Angriff auf eine Polizeistation am 25. März nach dem Angriff von Bergson.

In der Folge begannen die 11-Uhr-Treffen Nation unter dem Einfluss der Repression zu schwinden, die Bullen behandelten sie immer mehr wie ein Treffen von Radikalen und immer weniger wie eine Schülerdemonstration. Das erste Treffen im April wurde übrigens stark unterdrückt: schwere Geschütze und gestellte Fallen, den Glücklichsten gelang die Flucht durch die ehemalige Kaserne von Reuilly. 

SCHLÄGEREIEN

Die bald folgende Auflösung dieses Raumes erweist sich nicht sofort als problematisch. Er wird es ermöglicht haben, der Mobilisierung einen Rhythmus und eine Intensität außerhalb des Rahmens der Gewerkschaftsdemonstrationen zu verleihen, die sich übrigens unter dem Impuls des Cortège de Tête zu öffnen beginnen. 

Auch hier war es nicht einfach, man musste sich gegen die Bullen und vor allem gegen den Ordnungsdienst durchsetzen, für den der Cortège de Tête die Hegemonie der Gewerkschaften über die soziale Bewegung bedroht und sicherlich, was für sie noch wichtiger ist, ihre Rolle als “gros-bras-à-grosses-couilles” in Frage stellt. Der Legitimitätsverlust der Gewerkschaften zugunsten des Cortège de Tête lässt sich durch verschiedene Elemente erklären, denn obwohl das Kräfteverhältnis durchaus materiell war, ging es vor allem um die Frage der Legitimität radikaler Praktiken und derer, die sie tragen. Zunächst galt es, sich physisch durchzusetzen. Am 31. März kam es zu einer ersten Schlägerei mit der FO, der es jedoch nicht gelang, den Kopfzug zu zerschlagen. Eine weitere große Schlägerei brach am 17. Mai aus, der Ordnungsdienst wurde in die Flucht geschlagen (danke Monceau Fleurs).

Gleichzeitig wird der Kontrast zwischen dem Cortège de Tête, der entschlossen ist, das Konfliktniveau zu erhöhen, und sich angesichts der Repression organisiert, und der Halbherzigkeit der Gewerkschaftsorganisationen immer stärker. Der Cortège de Tête verkörpert die radikalste Opposition gegen das Gesetz, die Regierung und den Kapitalismus und sicherlich auch gegen die traditionellen Methoden des Protests, der seit Jahrzehnten eine Niederlage nach der anderen einstecken muss. Nach und nach schließen sich ihm dann all jene an, die sich nicht auf die “Smarguez-bon-enfant”-Demos beschränken wollen, darunter auch Gewerkschafter. Die Gewerkschaften und ihre Ordnungsdienste scheinen das Ausmaß dieses Umschwungs nicht begriffen zu haben. Als die Ordnungsdienste am 17. Mai mit Baseballschlägern, Teleskopschlagstöcken, Helmen und Gaspatronen bewaffnet versuchte, den Cortège de Tête wieder unter Kontrolle zu bringen, wurde sie von einer massiven und heterogenen Gruppe (Jugendliche, schwarz gekleidete Radikale, Gewerkschafter, normale Leute, alte Leute usw.) ausgebuht, die “Ordnungsdienst-Kollaborateur” skandierte. Letzterer hat am selben Tag die Schlägerei und seine Legitimität im Demonstrationsraum verloren, seitdem nagt er am Hungertuch. Die Demütigung der Gewerkschaftszentralen wird noch später, am 1. Mai 2018, deutlich: Die Zahl der Demonstranten im  Cortège de Tête übersteigt bei weitem den Gewerkschaftsblock, der an diesem Tag, der einen riesigen schwarzen Block gesehen hat, nur noch eine Anekdote ist. 

Neben den Gewerkschaftsdemonstrationen entfaltet sich die Konflikthaftigkeit weiterhin in anderen Räumen: Besetzung von Tolbiac, manifs sauvage, Nuit Debout und ihr berühmter Aperitif bei Valls und die Blockaden der Gymnasien.

Wir haben keine Kontrolle mehr, wir sind schon lange überfordert, und das ist auch gut so. Auch wenn die Bewegung uns galvanisiert, verlieren wir paradoxerweise an Geschwindigkeit, die Gruppe beginnt unter der (Re-) Pression zu zerfallen. Wir spüren, dass wir im Fadenkreuz stehen, wir werden als “Ultra”-Bewegung dargestellt; als die ersten Demonstrationsverbote für uns ausgesprochen werden, werden einige auf dem Heimweg von der Polizei misshandelt, und es gibt auch das verbrannte Bullenauto. Kurzum, es wird immer schwieriger, eine öffentliche Existenz und öffentliche Aktionen anzunehmen, und vielleicht am problematischsten: Man kann sich nicht auf eine gemeinsame Ebene des Engagements einigen. Generell gibt es die Abnutzung einer Gruppe, die vielleicht zu schnell verbrannt ist und eine Tendenz zum Nihilismus und zur Selbstzerstörung hatte. Die Implosion unserer Gruppe hatte keine Auswirkungen auf die Bewegung, sie hatte einen eigenen Rhythmus gefunden und begann, ihre eigenen Banden zu generieren. Der 14. Juni war ein eindrucksvoller Beweis dafür. Wir sind dort nicht als Team präsent und es gibt eine Vielzahl anderer Gruppen, die die Arbeit erledigen werden.

Dasselbe passiert im Herbst: Wir rufen zu einer Schülerversammlung auf, 50 Jugendliche sind Anfang September im Saal, sie haben das Gefühl, nicht viele zu sein, und wir antworten ihnen, dass wir vier Jahre lang nicht mehr als zehn waren. 

 NEVER GREW UP ? 

Der Cortège de Tête entstand nicht auf magische Weise. Er war nicht weniger ein Produkt der Spontaneität als der “objektiven Bedingungen”. Es ist eine Form der Konfliktualität, die sich unter dem Impuls der Banden allmählich in der Gewerkschaftsdemo durchgesetzt und verbreitet hat, um sich dann von ihr zu verselbstständigen. Es ist übrigens dieselbe Energie, derselbe Dissens, der versucht hat, sich anderswo zu entfalten – 11 Uhr Nation, Nuits Debout, manifs sauvage – und dort in begrenzterer Weise seinen Platz gefunden hat. ohne auf das gleiche Echo zu stoßen (mit punktueller Relevanz, aber nicht mit der gleichen Beharrlichkeit). Der Cortège de Tête veränderte sich übrigens während der gesamten Sequenz, bevor sich seine Form stabilisierte, folkloristisch wurde oder gar sklerosierte. Er wurde mal von seiner festlichen Seite dominiert, mal von einem Black-Block-Modus, oder auch von einem K-way-schwarze-schasubles-rote-Ton: So verkörperte sich der Konflikt in ihm nicht immer auf die gleiche Weise. Dennoch bedeutete er für diese Bewegung eine Zeit lang den “qualitativen Sprung”, die angemessene Form.

Dies gilt a priori nicht mehr für das Jahr 2023. 

Auch wenn sich der Cortège de Tête dauerhaft und bis zu den aktuellen Demonstrationen gegen die Rentenreform etabliert hat, steht er nicht mehr für die Überwindung von Hindernissen (Anfechtung der Vereinnahmung des Raums der politischen Repräsentation durch den Linkskonservatismus, Mittel einer kollektiven Offensivität, Thematisierung der Bewegung jenseits eines reformistischen Kampfes). Es ist ein Ersatz, der auf eine automatische Form angewiesen ist, die jedoch allmählich ihrer Substanz beraubt wird: ein Wartesaal. Dort hofft man noch auf das Ereignis – manche versuchen manchmal, es zu aktivieren -, aber es kommt nicht oder nur selten.

Man vergisst vielleicht, dass ein solcher Ort im Jahr 2016 nur durch ständige Spannung und Kampf errichtet wurde und dass die Möglichkeit seiner Existenz einen Fuß in die Tür (und manchmal auch ins Gesicht) setzen musste. Die Schwierigkeiten waren zahlreich, die Aussichten – wie heute – gering, und doch musste man es versuchen, erfinden und dann durchhalten. Um manchmal – wie am 16. März 2018 oder im vergangenen Oktober in Sainte-Soline erneut zu sehen war – die berühmte Grenzüberschreitung zu erreichen.

Im Grunde handelt es sich hier nicht um einen Aufruf zu einem authentischen oder ewigen Cortège de tête. Auch wenn man ihn wahrscheinlich nicht in den Papierkorb werfen sollte – und die offensive Kontinuität seiner gegenwärtigen Sturheit in Betracht ziehen sollte -, sollte man seine Stagnation als eine Glaubenskrise verstehen. Die Zeit der Begeisterung, des Zusammenhalts und der starken Entschlossenheit, die man dort suchte, ist vorbei. Die Qualität und das Niveau der allgemeinen Konfliktivität, die dort zum Tragen kamen, haben sich aufgelöst. Die ungezügelten Angriffe der Bullen auf ihn, insbesondere in Paris, seit 2016 haben ihn vor allem nicht unversehrt gelassen. Und doch ist es immer noch besser, als in den hinteren Teil des hintersten Teils zurückzukehren, in den hintersten Teil der Fahnenparaden, in einen Minderheitenpfad, der in die Unendlichkeit führt. 

Wenn man schon hingeht, dann sollte man auch mit dem Wunsch nach Selbstüberwindung hingehen, wobei nicht auszuschließen ist, dass das, was an die Stelle des Cortège de tête tritt, noch vom  Cortège de tête selbst ausgehen kann. Es geht also darum, sich auf die Suche nach neuen Wegen zu begeben, um seine politische Hypothese zu aktualisieren, die da lautete: Intervention und Straßenkonfliktualität. 

Die Spaltung wiederfinden, auch innerhalb der sozialen Bewegung, die Offensive vorantreiben.

Dieser Text erschien am 14. Februar 2023 auf Lundi Matin mit zahlreichen Videos der damaligen Demos und Aktionen. Zu den Hintergründen von 2016 ff siehe auch die Broschüre der Ex-Magazin Redaktion, sowie das Buch ‘Winter is coming- Soziale Kämpfe in Frankreich’ von Sebastian Lotzer, bahoe books 2018, in dem sich auch ein längeres Interview mit der MILI findet.