Der eiserne Determinismus

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Das Hauptthema des Telemeetings am Dienstagabend war der Artikel “Wargame. Zweiter Teil”.

Der Text befasst sich mit den Dynamiken, die einer hypothetischen Besetzung eines Platzes in einer Großstadt zugrunde liegen, in Anlehnung an die Ereignisse bei Occupy Wall Street (OWS) im Zuccotti Park in New York. In den letzten Jahren hat sich bestätigt, dass man ein “abstraktes” Modell braucht, um die Realität zu verstehen, ohne sich in den Details zu verlieren. Es ist nicht wichtig, was die Demonstranten über sich selbst sagen, sondern was sie zu tun gezwungen sind, und es ist von entscheidender Bedeutung, die Kontinuität im Zyklus der Aufstände, Zusammenstöße und des Ansturms auf die Straße zu begreifen, der mit dem Brand in den Banlieues 2005 beginnt und 2022 mit der populistischen Welle als Reaktion auf die Gesundheitspolitik der Staaten zur Bekämpfung der Pandemie endet. Wir können also ein erstes Element festhalten: Die Invariante, die im Laufe der Zeit erhalten bleibt, ist die Massenbewegung und nicht das Motiv, das sie hervorbringt.

Seit 2010 sind verschiedene Bewegungen entstanden: vom Arabischen Frühling über OWS bis hin zu der jüngsten Bewegung, die in Kenia unter dem Ruf “Occupy Parliament” entstand. Vor dem Ausbruch dieser Massenmobilisierungen reifte in der Gesellschaft etwas heran, was aber nicht zu erkennen war: alte politische Vorstellungen gerieten unweigerlich in Konflikt mit einer Welt, die sich tiefgreifend verändert. Aus den Arbeiten von Marx und der Linken wissen wir, dass die zukünftige Gesellschaft bereits gegenwärtig ist und materielle Vorwegnahmen hervorbringt. Im Fall des “Occupy”-Memes ging es irgendwann viral und verbreitete sich über das Internet, ohne dass jemand in der Lage war, es zu stoppen. Marx schrieb in Louis Bonapartes 18. Brumaire (1852):

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht willkürlich, unter Umständen, die sie selbst gewählt haben, sondern unter den Umständen, die sie unmittelbar vorfinden und die durch Tatsachen und Traditionen bestimmt sind.”

Es sind also die materiellen Fakten, die den Menschen zwingen, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. An einem bestimmten Punkt kommt es zu einem offenen Kampf zwischen den sozialen Klassen, der, wenn er nicht in irgendeiner Form zu einem Kompromiss führt, die Tendenz hat, sich auszuweiten und zu verschärfen. Ab einem bestimmten Punkt kommt es auf die Verteilung der Kräfte vor Ort und auf die Strategien an, die den zu erreichenden Zielen entsprechen.

Wie wir in dem Artikel “Notwendige Auflösung” geschrieben haben, findet eine gigantische Umstellung statt zwischen der alten Art, den Klassenkampf zu verstehen, und der neuen, nämlich zwischen dem politischen Menschen, der von der politischen Ideologie hervorgebracht wird, und dem Menschen, der von der modernen Industrie hervorgebracht wird. Aus der Lektüre der Thesen zur Taktik der Kommunistischen Partei (Rom, 1922) geht hervor, dass die Ursachen, die zur Katastrophe der Kommunistischen Internationale geführt haben, keineswegs auf Einzelpersonen, auf das Wirken unvorbereiteter oder schlechter Führer, sondern auf historische Bestimmungen zurückzuführen sind. Trotz der Konterrevolution, die in den 1920er Jahren begann, gelang es der Linken, eine Bilanz des Geschehenen zu ziehen und einen Anker für die Zukunft zu setzen. Die Thesen zur Taktik sind ein auch heute noch gültiges “Wargame”, ein nützliches Instrument zur Orientierung im Heute und Morgen. Der Inhalt der Thesen wurde von der Internationale nicht verstanden, auch nicht von den vielen, die sich heute auf die Strömung beziehen, die sie geschrieben hat.

Das Wargame ist eine Maschine, um die Dynamik eines Krieges wie auch eines Gewerkschaftskampfes zu verstehen, aber es ist auch ein Werkzeug, um übergreifende soziale Dynamiken zu verstehen (siehe Euler-Venn-Diagramme):

Im Allgemeinen muss jeder “Spieler” seine Strategie wählen, indem er die Möglichkeit von Koalitionen (kooperative oder nicht-kooperative Spiele) bewertet, die möglichen Reaktionen der anderen Spieler berücksichtigt und mögliche Züge gegen die Erwartungen abwägt. Die möglichen Entwicklungen reichen von den einfachsten Situationen wie endlichen Nullsummenspielen (bei denen die Gewinne jedes Spielers proportional zu den Verlusten des anderen sind) bis hin zu unendlichen Nicht-Nullsummenspielen, bei denen alle in der realen Welt vorkommenden Parameter auftreten, eine Welt, die durch eine Reihe sich überschneidender Mengen dargestellt werden kann.

Für uns ist das globale Netzwerk eine grundlegende Voraussetzung für die laufende Revolution. Das Internet ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein mächtiges Koordinationsinstrument, da es die Unentwegten aus der ganzen Welt miteinander verbinden kann. Dank sozialer Netzwerke können junge Kenianer mit wütenden Jugendlichen aus allen Kontinenten in Kontakt treten und in Echtzeit interagieren. Man hat inzwischen erkannt, dass ein Aufstand, der an einem Ort ausbricht, durch das Tamtam im Netz andere Länder mit einbeziehen kann; darüber haben wir in der Broschüre “Tausend Städte” geschrieben, die das Ergebnis einer Reflexion über die internationale Demonstrationswelle vom 15. Oktober 2011 ist. Was heute einen Unterschied machen kann, ist die Botschaft, die von den Plätzen ausgeht: Wenn sie universell ist (z. B. 99 % gegen 1 %), hat sie eine bessere Chance, sich zu verbreiten und Wurzeln zu schlagen.

OWS hatte auch sein Wargame, rudimentär in der Theorie, aber fortschrittlich in den Mitteln. Die Bewegung entschied sich für eine führerlose Organisation und nutzte das Potenzial von Netzwerken, in denen das Prinzip der Autorität ohne Machthierarchien und ergebnislose Debatten funktioniert. Die Spielzüge von OWS verhinderten zum Beispiel, dass der Staat die Anführer vereinnahmen konnte, da es keine gab, und ermöglichten den Kontakt mit breiten Schichten des Proletariats, angefangen von der Basis, von lokalen Gewerkschaftssektionen, bis hin zu einem denkwürdigen Hafenstreik an der Westküste.

Innerhalb des Netzes ist kein Knotenpunkt “extern”, da alle mit den anderen in zwei Richtungen verbunden sind. In den “Überlegungen” von 1956 heißt es: “Wir reklamieren alle Formen der Tätigkeit, die den günstigen Momenten eigen sind, soweit es die tatsächlichen Kräfteverhältnisse zulassen”. Heute zeigen die Kräfteverhältnisse, dass die Möglichkeiten, die soziale Wirklichkeit zu verändern, auf ein Minimum reduziert sind. Aus diesem Grund haben wir es abgelehnt, eine weitere internationalistische Kleinpartei zu gründen, was uns jedoch nicht daran hindert, eine präzise Arbeitsmethode zu wählen, die auf häufigen Treffen, der Veröffentlichung von Texten und der Bewahrung des historischen Archivs (digital und auf Papier) beruht. Wir legen großen Wert auf die Treffen und die Korrespondenz mit den Lesern, denn sie ermöglichen es uns, die soziale Temperatur mit unserem Detektor zu messen.

Wenn man von “Programmerhaltung” spricht, denkt man vielleicht an eine kulturelle, intellektuelle und akademische Tätigkeit; es handelt sich jedoch um eine praktische Tätigkeit. In der Realität gibt es Auslöschungen, so dass wir die Verantwortung haben, die Ausarbeitung am Faden der Zeit fortzusetzen, indem wir den Genossen einen “physischen Ort” bieten, an dem sie sich treffen und die Texte konsultieren können. Es ist eine kleine “Umkehrung der Praxis”, die mit den vorhandenen Kräften möglich war.

Das jüngste Wahlergebnis in Frankreich ist sowohl ein Produkt als auch ein Faktor der Instabilität. Statt zur Bildung regierungsfähiger Exekutiven zu führen, bewirken Wahlkonsultationen heute das Gegenteil. Das Problem der Unregierbarkeit betrifft nicht nur Europa, sondern auch die USA, das wichtigste kapitalistische Land, das sich derzeit mit einem komplizierten Wahlkampf (vor allem für die Demokraten) auseinandersetzen muss. In Frankreich ist die Wahlbeteiligung gestiegen: Der Antifaschismus spielte eine wichtige Rolle beim “Sieg” der Neuen Volksfront. Diese Wahlbeteiligung ist allerdings ein Spiegelbild der zunehmenden Wahlenthaltung in Italien; in beiden Fällen zeigt sich die Fragilität des Systems. Das Vereinigte Königreich, wo die Labour-Partei die letzte Wahl gewonnen hat, befindet sich in einer technischen Rezession: die Immobilienpreise steigen und die Armut breitet sich aus. Auch Deutschland ist “gespalten”, Limes betitelte seine Ausgabe vom April 24 bezeichnenderweise mit “Deutschland ohne Qualität”. Im Iran hat ein Reformist gewonnen, der jedoch zum Establishment gehört, und die Wahlbeteiligung war so niedrig, dass sie bisherige Negativrekorde übertraf. Ob nun eine rechte, linke oder zentrale Kraft an der Spitze eines Landes steht (oder eine technische Regierung eingesetzt wird), macht keinen großen Unterschied: Es gibt keine Zauberstäbe, die die Probleme des Kapitalismus lösen können.

Jedes geo-historische Gebiet hat seine eigenen Merkmale (politisch, kulturell, religiös usw.), aber es gibt nur eine Ursache für das weltweite Chaos. Der Verlust der Effizienz von Staaten und ihren Regierungen geht Hand in Hand mit dem Verlust der Vitalität des gesamten Wirtschaftssystems. Das Anwachsen der populistischen Bewegungen ist auf die allgemeine Verarmung der Mittelschichten zurückzuführen (das Gesetz des wachsenden Elends, das Marx als das absolute Gesetz der kapitalistischen Akkumulation bezeichnet), die sich radikalisieren. Die Kräfte innerhalb des Systems können nicht anders, als zusammen mit dem System selbst zu kollabieren. Der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand abschafft, er arbeitet unaufhörlich an der Erosion der Struktur der gegenwärtigen Produktionsweise und verursacht tiefe Risse auch auf der überstrukturellen bourgeoisen Ebene.

Erschienen im italienischen Original am 9. Juli 2014, übersetzt von Bonustracks. Der erste Teil findet sich hier Die links entstammen aus dem Originalartikel.