“Gewiss, Verschwörungen gibt es, und wir können leicht zugeben, dass die Mont-Pèlerin-Gesellschaft einer Verschwörung so nahe kommt, wie wir hoffen können, Beweise dafür zu finden; aber die bloße Entdeckung einer Verschwörung sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass es ihr gelungen ist, ihre Ziele in der von ihr beabsichtigten Weise zu verwirklichen, oder dass sie die organisierende Kraft ihrer eigenen Verwirklichung gewesen ist. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht davon ausgehen, dass der Neoliberalismus nur durch die Umgehung demokratischer Institutionen und des Volkswillens an die Macht gelangen kann.”
Damien Cahill & Martijn Konings: Neoliberalism: A Useful Concept?
Man hört immer wieder, dass sich die Ära des Neoliberalismus ihrem Ende nähert. Einige, wie der dümmliche Francis Fukuyama, fordern eine Rückkehr zum früheren Stadium, dem Liberalismus. Dicht gefolgt werden sie von der Linken, die davon träumt, der ganzen Welt den Keynesianismus aufzuzwingen. Angesichts dieser unterschiedlichen Perspektiven kann man sich einige Fragen stellen. Vielleicht wäre es besser, sich gegen solche Perspektiven zu stellen und von einem anderen Blickwinkel aus auf die neoliberale Ära zu schauen, um sie an ihren Wurzeln zu packen. Nach einer weit verbreiteten Definition bezeichnet der Neoliberalismus eine Untergruppe von Wirtschaftsdoktrinen und -analysen. Für manche entspricht er einer Abkürzung des Versuchs, die Sequenzen von The Age of Enterprise oder der New Deal Ära zu (v)erklären. Dennoch ist der Neoliberalismus nicht einfach nur eine Ideologie oder eine historische Sequenz, die durch die Beschränkung der Rolle des Staates auf die Bereiche Wirtschaft, Soziales und Recht bestimmt wird und der Öffnung neuer Geschäftsfelder für das Gesetz des Marktes Platz macht. Der Neoliberalismus ist weit mehr als das: Er ist die größte realisierte Verschwörung des 20. Jahrhunderts.
Die Tatsachen und Auswirkungen dieser Verschwörung zu leugnen, bedeutet, sich selbst der chronischen Unfähigkeit zu unterwerfen, eine parteiliche Denkweise der damaligen Zeit beleben zu können. Die Verschwörung, die die Mont-Pèlerin-Gesellschaft darstellte, gab den Ton für die aktuellen Operationen der Kapitalentfaltung und deren laufende Neukonfiguration an. Denn 1947 gründete sich die Mont-Pèlerin-Gesellschaft auf folgende historische Koordinaten: den Zusammenbruch des liberalen Lagers und die fast vollständige Hegemonie des Keynesianismus. An der ersten Konferenz nahmen 37 Personen teil, darunter Milton Friedman, Friedrich Hayek, Karl Popper und Ludwig von Mises, die den Sozialismus auf epistemologischer Ebene widerlegen wollten. Letzterer kann sich davon nicht erholen und wird sich voll und ganz zum Neoliberalismus bekehren. Die Mont-Pèlerin-Gesellschaft knüpft ein weites Netz von Komplizen außerhalb des Feldes der Ökonomen, sowohl in der Verwaltung als auch in der Geschäftswelt und in den Medien. Sie werden ihre politischen Ziele nie offenlegen, sondern ihre Strategien geschickt verbergen und über Jahrzehnte hinweg methodisch ihre Säkularisierung aufbauen, noch bevor sie sich an der Spitze der Regierung etabliert haben. Ihre Epistemologie ist ein wirksames Mittel, um jedes andere Verhältnis zur Welt nutzlos zu machen. Popper entwickelt unter dem Deckmantel der Suche nach Plausibilität einen vollkommenen Relativismus. Für ihn muss jede Theorie wissenschaftlich begründet werden, da sie sonst automatisch widerlegt wird. Nach dieser Theorie ist alles komplexer, als es scheint: Kurz gesagt, alles entzieht sich uns. Dies ist der erhoffte Effekt der von Popper propagierten “Logik der Situationen”. Er wendet die Methode der Wirtschaftstheorie auf die Sozialwissenschaften an. Dieser vom Markt bestimmte Relativismus zerschlägt jeden Versuch, sich auf die Welt zu beziehen. Man kann sich nur an ihn anpassen. So wird alles widerlegt, was sich nicht auf seine epistemologischen Gesetze bezieht.
Der Neoliberalismus entwickelt ein politisches Projekt, um das zu implementieren, was sie als Gesellschaft der Märkte entworfen haben. Ihre Vorstellung vom Markt ist eine Ansammlung zwischenmenschlicher Dispositive, die durch eine Reihe von Interventionen aufgebaut wird, die bestimmte berechenbare Ergebnisse hervorbringen. Der Markt wird zum Eckpfeiler des Kapitalismus. Sie heben hervor, dass dieser die Funktion hat, die Bewertung und Verbuchung jedes noch nicht messbaren Phänomens zu verallgemeinern. Alles muss eine Sache der Messung sein, um der Plausibilität der Wissenschaft unterworfen zu werden. Alle neoliberalen Strategien bestanden darin, durch die Säkularisierung ihrer Wahrnehmungsebene und ihrer auf die ganze Welt angewandten Methodik ununterscheidbar zu sein. Das Aufkommen von Consultingunternehmen und ihr Einfluss auf die Politik zeigt die ganze Effektivität der von der Mont-Pèlerin-Gesellschaft konzipierten Operation. Selbst die Verbreitung von Kryptowährungen wird von neoliberalen Instanzen wie dem Center for American Progress gefördert. Manche ziehen es seltsamerweise vor, dies mit dem Libertarismus in Verbindung zu bringen, aber die Neoliberalen beherrschen die Kunst der Täuschung. Es wird fälschlicherweise angenommen, dass der Neoliberalismus eine Verunglimpfung des Staates beinhaltet – doch dies ist alles rein rhetorisch. In der Manier von Hayek und Friedman, die bewusst das Bild eines Neoliberalismus kultivierten, der darauf bedacht war, die Liberalisierung der Märkte zu fördern, indem er die Rolle des Staates einschränkte, erkannten sie gleichzeitig an, dass der Staat, auch in seiner autoritären Form, mit der Bildung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsordnung auf der Grundlage des Privateigentums vereinbar ist. Der Historiker Philip Mirowski beschreibt diese Strategie als “the double truth doctrine”, bei der die Neoliberalen öffentlich für freie Märkte und “schlanke” Staaten eintreten, während sie bei ihren privaten Treffen mit der politischen Elite die staatliche Durchsetzung des Marktgesetzes propagieren.
Die neoliberale Verschwörung hat die politische, soziale und wirtschaftliche Sphäre tiefgreifend verändert. Zunächst in Großbritannien und den USA, dann auch im Rest der Welt. Die erste Implementierung versuchte, die bestehenden Grundlagen des Wirtschaftswachstums, der Produktivität und des Werts zu unterwandern, während sie gleichzeitig eine enge Allianz mit der staatlich gestützten Forschung sowie dem Markt für neue Technologien und dem Finanzkapital schmiedete. Genau genommen wird das neoliberale Projekt der USA einen aufmerksamen Blick auf die Biowissenschaften und ihre Disziplinen werfen. Der Neoliberalismus hat eine neue Biopolitik entwickelt, indem er den im gesellschaftlichen Reproduktionsmodell des Wohlfahrtsstaats und des New Deal etablierten Charakter des Lebens umgestaltet, um jene neue Biopolitik zu etablieren, die darauf abzielt, die Zusammenführung zwischen den Sphären Produktion/Reproduktion, Arbeit/Leben, Markt/Lebewesen operationalisierbar zu machen. Das Ziel ist klar: Der Neoliberalismus versucht, aus der Gesamtheit der Sphären des Lebens und des Biologischen Kapital zu schlagen, um seine Finanzialisierung zu ermöglichen. Unter diesem Einfluss hat Reagan die amerikanische Wirtschaft nach postindustriellen Gesichtspunkten umgestaltet. Ganz besonders in der Verknüpfung von neoliberalen Wachstums- und Krisentheorien mit der Entwicklung neuer Technologien in den Biowissenschaften. Zwischen dem Neoliberalismus und der Biotech-Industrie gibt es einen gemeinsam eingeschlagenen Pakt zur Überwindung der ökologischen und ökonomischen Grenzen. Um die Bedingungen für diese Überwindung zu schaffen, ist es notwendig, die biotechnologische Infrastruktur zu entfalten. Daher die alte Idee, den Weltraum zu kolonisieren. Die Kolonisierung des Mars ist nicht nur in den Köpfen von Jeff Bezos und Elon Musk.
Die neoliberale Biopolitik, die durch die Entwicklung der Biotechnologie forciert wird, räumt den Weg für die Entstehung von Biocitizenship frei. Durch die Verwirklichung von Gary Beckers Theorien über das “Humankapital” wird der Körper zu einem Kapital, das es zu pflegen gilt. Die Bildung von Biocitizenship materialisiert die Bioökonomie, d. h. die Funktion des Bio-Citoyen besteht darin, seine biologischen und körperlichen Möglichkeiten zu optimieren. Diese Logik ermöglicht den Wettlauf von Forschern und Pharmaunternehmen und beschleunigt die Prozesse, die zur Vermarktung ihrer neuen Produkte führen, indem sie die Gesetze zu klinischen Tests umgehen. Dies führt dazu, dass alle Formen des menschlichen Lebens zu Meerschweinchen werden. Das bedeutendste Beispiel dafür ist die Sequenz von Covid-19 und seinen Impfstoffen, in der ein Großteil der Weltbevölkerung zu Laborratten degradiert wurde. Dadurch konnte der revolutionäre Zyklus von 2019 abrupt gestoppt werden, indem die wirtschaftliche Ordnung wiederhergestellt, die Autoritäten (Polizei, Wissenschaft, Medien, Unternehmen, Staaten) wieder eingesetzt und der ausschließliche Horizont – regiert zu werden -, wiederhergestellt wurde. Das neoliberale Projekt besteht darin, akribisch alle Bifurkationen zu zerstören, d. h. die Verbreitung des Kommunismus materiell und geistig unmöglich zu machen. Dieser Krieg wird seit dem Zweiten Weltkrieg wissentlich geführt. Madsen Piries Mikropolitik zeigt die strategische Vorrangstellung des “politischen Ingenieurwesens”. “Mikropolitik konzentriert sich auf die Schaffung von Strategien, die die Entscheidungen der Menschen verändern, indem sie die Bedingungen für diese Entscheidungen verändern.” Die Ideen folgen den Siegen der neoliberalen Mikropolitik, die die Umrisse des Regierens der Dinge durch die Herrschaft der Umwelt zeichnet.
Erschienen im französischen Original am 15. Juni 2023 auf Entêtement, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.
“Wir beabsichtigen, eine flächendeckende Destitution aller Dimensionen der gegenwärtigen Lebensbedingungen in Gang zu bringen. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass es dafür überall Verbündete gibt. Alles, woran unser Leben hängt und was uns immer wieder entgleitet, muss auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und wieder in die Hand genommen werden. Was wir vorbereiten, ist kein Sturmangriff, sondern eine kontinuierliche Bewegung des Entzugs, die sorgfältige Zerstörung, sanft und methodisch jegliche Politik betreffend, die über der empfindsamen Welt schwebt.”
Éric Hazan und Julien Coupat: Für einen Prozess der Destitution: Einladung zu einer Reise
Seltsamerweise ist das Konzept der Destitition nicht mehr so populär. Das liegt daran, dass die jüngsten Aufstände auf der Welt durch eine fragwürdige Pandemie abrupt beendet wurden. 2019 war das Jahr, in dem die weltweite Gouvernementalität beschloss, eine gigantische konterrevolutionäre Operation auf globaler Ebene durchzuführen. Gibt es einen besseren Vorwand als eine Pandemie, um eine große Mehrheit der Weltbevölkerung in ihren Häusern einzusperren?
Viele “Revolutionäre” suhlten sich in dieser Situation, rechtfertigten das Ungerechtfertigte, solidarisierten sich mit dieser Operation und plärrten ein paar groteske Ideen heraus: Biopolitik im Kleinen, Zero-Covid, Pflegekommunismus und Anti-Konspirationismus. In dieser Atmosphäre war es schwierig, den Prozess der Destitution zu intensivieren. Es folgten die Präsidentschaftswahlen 2022, bei denen sich die Sehnsucht nach links, die Sehnsucht nach der Institution in all ihren Formen ausbreitete. Als ob man auf Ohnmacht mit Ohnmacht antworten könnte. Man muss sagen, dass die Covid-Sequenz einige der schlimmsten Makel des französischen Ethos wachgerufen hat, die man wie folgt zusammenfassen kann: der Anspruch auf intellektuelle Hegemonie, das Bedürfnis nach Gesellschaft und der Abglanz vor allem. Es ist kein Zufall, dass die erste Äußerung einer Formalisierung der Destitution aus dem Ausland, genauer gesagt aus Italien, kam. Italien ist keine Nation, sondern eine Ansammlung von regionalen Fragmenten, die durch eine bestimmte Befindlichkeit miteinander verbunden sind. Die Italiener verachten die Gesellschaft und die Politik, sie ziehen es vor, in ihrer eigenen Welt zu wohnen. Es war also in diesem Land der Fragmente, dass das erste formale Auftreten des Gedankens der Destitution entstand. Ein 2008 erschienenes Interview mit Mario Tronti, Sur le pouvoir destituant, wurde einige Jahre später von Giorgio Agamben in seinen Arbeiten über L’usage des corps fortgesetzt. In der Folgezeit bekräftigte das Unsichtbare Komitee mit À nos amis und Maintenant eine destituierende Sensibilität und Strategie. Die Destitution wurde nicht besiegt, sondern nur verlangsamt. Solange es Menschen gibt, die in der Lage sind, an der empfindsamen Welt festzuhalten, werden destituierende Gesten weiter an der Tagesordnung sein.
I. Kreis – Gestalt des Lebens
“Mir gefällt die Idee der destitutierten Macht sehr gut. Ich finde, das ist eine schöne Idee. Wir sollten darüber nachdenken und unseren Diskurs darüber vertiefen und artikulieren. Meiner Meinung nach ist das vielleicht genau das, worauf die Krise der Subjektivität hinausläuft.”
Mario Tronti: Über die destitutierte Macht
2008 gab der ehemalige Operaist Mario Tronti der italienisch-französischen Zeitschrift La rose de personne ein Interview, das dem Aufstand in den französischen Vorstädten im Jahr 2005 gewidmet war. Tronti entwickelt darin die Idee einer “destituierenden Macht”. Inmitten eines großen Umbruchs taucht die Aussage der Destitution auf, wo die Subjektivität ihren Kreuzweg nicht beendet, wo sie gar, je mehr sie beschworen wird, desto mehr Risse bekommt. In Politik in der Dämmerung stellte Mario Tronti das Ende der Arbeiterbewegung und darüber hinaus die Niederlage des historischen Subjekts fest, was das Ende des revolutionären Subjekts impliziert. Doch in den 1990er und 2000er Jahren tauchte bei Marxisten, denen es an einem zu regierenden Subjekt fehlte, wie Negri, oder bei Postmodernen à la Butler wieder der Versuch auf, die Subjektivität zu retten, koste es, was es wolle. Seit Michel Foucault und seiner treffenden Analyse der Beziehung zwischen Macht und Subjekt ist es schwierig, noch in Begriffen wie Subjekt oder Subjektivität resonieren zu wollen.
Es gibt zwei Bedeutungen des Begriffs Subjekt. Die erste ist ein Subjekt, das durch Kontrolle und Abhängigkeit einem anderen unterworfen ist, und die zweite ist ein Subjekt, das durch die Fähigkeit des Bewusstseins oder der Selbsterkenntnis an eine Identität gebunden ist. Diese beiden Bedeutungen setzen die Macht und die Bedingung der Unterwerfung in Beziehung zueinander. Daher wird jeder Prozess der Konstitution eines Subjekts durch Macht bestimmt. Angesichts der Falle der Metaphysik der Subjektivität wurde ein Ausweg gebahnt, der auf gelebter Erfahrung beruht. Wir verdanken sie Giorgio Agamben und TIQQUN, die den Begriff der ‘Lebensform’ (forme de vie) als Ausweg aus dieser Falle vorschlagen. Es geht hier nicht mehr darum, von den Voraussetzungen dessen auszugehen, was ich bin, sondern sich auf die sinnliche Erfahrung zu beziehen, wie ich bin, was ich bin. “Die Konstitution einer ‘Form-des-Lebens’ fällt also vollständig mit der Destitution der sozialen und biologischen Bedingungen zusammen, in der sie sich wiederfindet.” (Giorgio Agamben:L’Usage des corps). In diesem Sinne widerruft eine ‘Form-des-Lebens’ alle Ansprüche ihrer Voraussetzungen, die sie von innen heraus in Schwingungen versetzt,solange, bis sie sich in ihnen bewahrt und verbleibt. ‘Lebensformen’ zu denken bedeutet nicht, nach einer authentischeren oder anderen überlegenen ‘Lebensform’ zu suchen, sondern eine Verbindung zwischen sich selbst und der Welt wiederzufinden. Diese Koordinate einzunehmen, öffnet andere Wege, den Weg der ‘Lebensformen’ . Jede Entstehung einer ‘Form-des-Lebens’ ist eine Operation zur Entmachtung der Macht. “Ich würde sogar sagen, dass eine Lebensform genau dort ist, wo man etwas erreicht, das von sich aus destituierend sein wird” (Giorgio Agamben: Vers une théorie de la puissance destituante).
II. Kreis – Macht und Potenz
“Unter diesen Bedingungen kann die Idee der destituierenden Macht wieder Gestalt annehmen. Denn die Priorität ist nicht so sehr das Projekt, etwas aufzubauen, sondern die Destitution dessen, was existiert, die Krise dessen, was ist, auszulösen. Das ist der Gedanke, den ich betonen würde. Ich glaube, dass du die destituierende Macht als Alternative zur konstituierenden Macht begreifst, während die Ideologien der Multitude weiterhin von der konstituierenden Macht sprechen…”.
Mario Tronti: Über die destituierende Macht
In dem Interview ‘Über die destituierende Macht’ stellt Mario Tronti zwei Mächte gegenüber. Der konstituierenden Macht seines Genossen Toni Negri stellt er diese neue Idee der absetzenden Macht gegenüber. Trontis Fehler besteht darin, in den Begriffen der Macht zu verbleiben. Dennoch erahnt er einen Teil der destituierenden Macht intuitiv, nämlich dass die Priorität nicht darin besteht, ein neues Subjekt zu konstituieren, sondern den Zustand der Dinge rückgängig zu machen. Hier sind die Beiträge von Agamben und dem Unsichtbaren Komitee von unschätzbarem Wert. Sie enthüllen die gesamte destituierende Logik, d. h. den Prozess, der in der Lage ist, die Macht der ‘Lebensformen’ zu entmachten. Dies erfordert eine Abkehr vom Konzept der Macht hin zum Konzept der Potenz. In ‘L’usage des corps’ arbeitet Agamben weiter an seiner Logik des zweckfreien Mittels, und die Frage der Macht berührt diese Logik explizit. Er entmachtet die von den Aristotelikern geliebte Macht des Aktes und verortet sein Konzept der Macht als Habitus, d. h. im gewohnheitsmäßigen Gebrauch. Wenn also jede ‘Lebensform’ eine Potenz habituell nutzt, kommt ein Modus des Seins ins Spiel. Wenn man eine Potenz in ihrer Steigerung nutzt, so berührt man den affektiven Touchpoint einer Lebensform. Die Potenz muss ihr Bestehen und ihre Steigerung nicht rechtfertigen, denn sie wird durch das Risiko bestimmt, eine gelebte Erfahrung voll zu erfahren. “Da die absolute Potenz in Wirklichkeit nur die Voraussetzung der verordneten Potenz ist, die diese benötigt, um ihre eigene unbedingte Gültigkeit zu garantieren, kann man in ähnlicher Weise sagen, dass die verfassungsgebende Macht das ist, was die verfasste Macht voraussetzen muss, um sich selbst eine Grundlage zu geben und sich zu legitimieren. Nach dem Schema, das wir so häufig entworfen haben, ist eine Figur der Macht konstituierend, wenn eine destituierende Macht in ihr festgehalten und neutralisiert wird, um sicherzustellen, dass sie sich nicht gegen die Macht oder die Rechtsordnung als solche wenden kann, sondern nur gegen eine ihrer bestimmten historischen Figuren” (Giorgio Agamben, L’usage des corps).
Die Existenz der Macht ist die Ablehnung der gelebten Erfahrung, der möglichen Erschütterung der Sensibilität durch eben diese Erfahrung. Die Macht muss die sinnliche Erfahrung an sich reißen, denn die Macht kann nicht fühlen, sie kann nur sehen und Ökonomien aufstellen. Jede Macht einer Lebensform, die von der Macht gefangen genommen wird, zerbricht die Gesamtheit der Bindungen, die in ihr wohnen, für eine Gesamtheit von Ökonomien (psychisch, libidinös, sozial usw.), die determiniert sind und durch Dispositive, die jede Möglichkeit einer Rückkehr der destituierenden Macht neutralisieren. Eine Wette auf die Macht einzugehen, bedeutet, auf die Konsistenz der Lebensformen und ihre Berührungspunkte als Mittel zu setzen, um außerhalb der Macht zu bestehen.
III. Kreis – Kontakt und Beziehung
“Eine rein destituierende Macht zu denken bedeutet in diesem Sinne, den Status der Beziehung selbst zu hinterfragen und in Frage zu stellen, indem man sich für die Möglichkeit öffnet, dass die ontologische Beziehung in Wahrheit keine Beziehung ist. Es bedeutet, sich in einem entscheidenden Nahkampf mit dem schwächsten Wesen, das die Sprache ist, zu messen.”
Giorgio Agamben: L’usage des corps
Eine destituierende Macht öffnet den Raum für die tatsächliche Fähigkeit von ‘Lebensformen’, nicht mehr von ontologisch-politischen Beziehungen (nacktes Leben/souveräne Macht; konstituierende Macht/konstituierte Macht) regiert zu werden, um so ihre in Kontakt stehenden Elemente hervorzuheben. Kontakt im Sinne von Giorgio Colli, wo er nicht auf einen Tangentenpunkt oder ein Quid oder eine Substanz reduzierbar ist, sondern die beiden kommunizierenden Elemente meint, die durch eine Abwesenheit von Repräsentation, durch eine Zäsur definiert sind. Dann werden die ontologisch-politischen Beziehungen durch ihre Inschwingungssetzung destituiert, die aufzeigt, dass die Konsistenz ihrer Beziehungen durch die Abwesenheit der Beziehung selbst konstituiert wird. Wenn diese relationale Ordnung destituiert wird, wenn die ontologisch-politische Einheit, die durch Erfassungsoperationen regiert wird, um die Festlegung der Beziehung zu bewirken, deaktiviert wird, spielt sich die Erfahrung der ethischen Differenz ab, in der alles, was von sich selbst getrennt wurde, frei die Bindungen an die Welt halten kann, die eine Lebensform überhaupt erst verdichten. Dies findet sich auch in den jüngsten Aufständen. Die gelebte Erfahrung ist frei von den Vorgaben der Macht, die Begegnung ist endlich in einer gemeinsamen Präsenz in der Welt möglich. Was auf dem Spiel steht, ist nicht die Beziehung zum Sozialen oder Biologischen, sondern ein Weben von Verbindungen zwischen sich selbst und anderen, die in einer gemeinsamen gelebten Erfahrung verfangen sind. Die Unterschiede, die erfahren werden, sind daher ethischer Natur, es werden unterschiedliche Realitätsebenen ins Spiel gebracht, manche teilen darin eine Übereinstimmung, andere eine Dissonanz. Die Frage ist, in Kontakt zu treten, dem zu begegnen, was in einem selbst und im anderen stattfindet, der Rest ist ein Ereignis.
IV. Kreis – Verzicht und Subtraktion
“Destituere bedeutet im Lateinischen: abgesondert platzieren, isoliert aufstellen; aufgeben; absondern, fallen lassen, unterdrücken; enttäuschen, täuschen. Wo die konstituierende Logik auf den Machtapparat stößt, den sie zu kontrollieren beabsichtigt, ist eine destituierende Macht eher damit beschäftigt, sich ihm zu entziehen, ihm die Kontrolle über sich zu entziehen, während sie an Einfluss auf die Welt gewinnt, die sie abseits davon formt.
Ihre eigene Geste ist der Ausbruch, ebenso wie die konstituierende Geste die Erstürmung ist. In einer destituierenden Logik gilt der Kampf gegen den Staat und das Kapital in erster Linie für den Ausbruch aus der kapitalistischen Normalität, die dort gelebt wird, für die Desertion aus den beschissenen Beziehungen zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt, die dort erprobt werden. Dort, wo die Konstituierenden sich in ein dialektisches Verhältnis des Kampfes mit dem Herrschenden setzen, um sich dessen zu bemächtigen, gehorcht die destituierende Logik der Lebensnotwendigkeit, sich davon zu befreien. Sie kündigt den Kampf nicht an, sondern hält an seiner Wirksamkeit fest. Sie richtet sich nicht auf die Bewegungen des Gegners, sondern auf das, was die Erweiterung der eigenen Macht erfordert.”
Unsichtbares Komitee: Jetzt
Wie das Unsichtbare Komitee erklärt, ist die Destitution ein Verzicht auf die Welt, auf die Welt derjenigen, die im Empire leben. Der Verzicht auf diese Welt bedeutet, sich wieder um seinen Lebensimpuls zu kümmern. Eine existentielle Notwendigkeit wird erfahren, dieser Verzicht liegt genau in dem begründet, was das Empire zerstört, die Möglichkeiten der Bewegung und ihre verschiedenen Tonalitäten, andere, mit der Welt verbundene Existenzweisen zu leben. Diese Entsagung ist darüber hinaus eine schismatische Position, eine Entschlossenheit, die laufende Subtraktion zu verschärfen. “Aber dieses destituierende Element des Festes scheint mir sehr wichtig zu sein: Es ist immer ein Subtrahieren einer Sache von ihrer eigentlichen Ökonomie, um sie zu entrümpeln, um einen anderen Gebrauch davon zu machen” (Giorgio Agamben, Vers une théorie de la puissance destituante). Die Stärke des Empire besteht darin, durch seine Neutralität die Vorhandenheit des Verwendungszweckes zu überdecken, eine Reihe von politischen und rechtlichen Instrumenten zu entfalten oder dieses Überdecken aufrechtzuerhalten. Die von der Destitution angetriebene Subtraktion besteht darin, die infrastrukturelle Umklammerung, die das Imperium entwirft, aufzubrechen. Sich entziehen bedeutet, die feste Ökonomie eines Gebrauchs zu deaktivieren, die Medizin zu deaktivieren, zur Kenntnis zu nehmen, dass andere Beziehungen möglich sind, den ethischen Ton unserer eigenen Beziehungen zu dem, was uns gut oder schlecht erscheint, anzunehmen, das Wissen der Institution zu entreißen, um nicht länger ein Subjekt oder ein Objekt zu sein, sondern ein aktives Element einer Beziehung, die mit einem einzigartigen Wunsch zu heilen zu kämpfen hat. Durch die Subtraktion wird diese Fremdheit in der Welt aufgehoben, man nimmt einen Platz in ihr ein, ohne jedoch Wurzeln zu schlagen. Vielmehr finden wir unsere Fähigkeit wieder, auf der Erde zu sein und an ihr teilzuhaben. Unsere Aufmerksamkeit kann so einen Blick auf die Techniken werfen, die unsere Lebensformen durchdringen, und sehen, wo unsere Behauptungen tatsächlich Angriffe auf diese Welt sind.
V. Kreis – Strategie und Sensibilität
“Es geht hier nicht um einen neuen Gesellschaftsvertrag, sondern um eine neue strategische Zusammensetzung der Welten.”
Unsichtbares Komitee: Jetzt
Die Destitution verzichtet nicht auf den Kampf, sondern impliziert ein anderes Verhältnis zum Kampf. Die verschiedenen Texte des Unsichtbaren Komitees haben vorgeschlagen, eine Strategie und eine Sensibilität miteinander zu verbinden, sie zusammenzuhalten, denn diese Anordnung ist das Herzstück der destituierenden Omnipotenz. Eine destituierende Strategie zu etablieren bedeutet, von der tatsächlichen Ebene der Lebensformen auszugehen und von dort aus methodisch vorzugehen, um eine Strategie zu entwickeln, die den aktuellen Kämpfen angemessen ist. “Um die Macht abzusetzen, genügt es also nicht, sie auf der Straße zu besiegen, ihre Apparate zu zerschlagen und ihre Symbole anzuzünden. Die Macht abzusetzen bedeutet, ihr die Grundlage zu entziehen. Genau das ist es, was Aufstände tun. Dort erscheint das Konstituierte so, wie es ist, in seinen tausend unbeholfenen oder effizienten, groben oder ausgeklügelten Manövern. ‘Der König ist nackt’, sagt man dann, weil der Schleier des Konstituierenden zerfetzt ist und jeder durch ihn hindurchsehen kann. Die Macht abzusetzen bedeutet, ihr die Legitimität zu entziehen, sie dazu zu bringen, ihre Willkür anzunehmen und ihre zufällige Dimension zu enthüllen. Es bedeutet zu zeigen, dass sie nur in der Situation Bestand hat, durch das, was sie an Strategen und Kunstgriffen entfaltet – sie zu einer vorübergehenden Konfiguration der Dinge zu machen, die, wie so viele andere, kämpfen und tricksen muss, um zu überleben. Es bedeutet, die Regierung zu zwingen, sich auf das Niveau der Aufständischen zu begeben, die nicht länger ‘Monster’, ‘Kriminelle’ oder ‘Terroristen’, sondern einfach nur Feinde sein können. Die Polizei dazu drängen, nur noch eine Bande zu sein, die Justiz eine Vereinigung von Verbrechern”. (Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde).
Die Fassade der Macht als etwas Unnatürliches entlarven. Die Macht bloßzustellen bedeutet, die Spielregeln, die die Macht auferlegt, zu brechen, die Situation verwandelt sich und die Parteinahme ist mehr denn je situativ. “Angesichts der kapitalistischen Organisation kann sich eine destituierende Macht gewiss nicht an ihre eigene Immanenz halten, an all das, was mangels Sonne unter dem Eis wächst, an all die lokalen Aufbauversuche, an eine Reihe von punktuellen Angriffen, selbst wenn all diese kleinen Leute regelmäßig in großen, stürmischen Demonstrationen zusammenkommen sollten. Und der Aufstand wird mit Sicherheit nicht warten, bis alle zu Aufständischen werden. Aber der glücklicherweise bittere Irrtum der Leninisten, Trotzkisten, Negristen und anderer Sub-Politiker besteht darin, zu glauben, dass eine Periode, in der alle Hegemonien am Boden zerschmettert werden, noch eine politische Hegemonie zulassen könnte, sogar eine parteipolitische, wie sie sich Pablo Iglesias oder Chantal Mouffe erträumen. Was sie nicht sehen, ist, dass in einer Zeit der erklärten Horizontalität die Horizontalität selbst die Vertikalität ist. Niemand wird mehr die Autonomie der anderen organisieren. Die einzige noch mögliche Vertikalität ist die der Situation, die sich jedem ihrer Bestandteile aufdrängt, weil sie sie überschreitet, weil die Gesamtheit der beteiligten Kräfte mehr ist als die Summe jedes einzelnen von ihnen. Das Einzige, was in der Lage ist, die Gesamtheit dessen, was dieser Gesellschaft desertiert, quer zu einer historischen Partei zu vereinen, ist die Intelligenz der Situation, alles, was sie Schritt für Schritt lesbar macht, alles, was die Bewegungen des Gegners verdeutlicht, alles, was die gangbaren Wege und die Hindernisse identifiziert – den systematischen Charakter der Hindernisse. Mit dieser Intelligenz lässt sich das, was es an vertikaler Ablösung braucht, um bestimmte Situationen in die gewünschte Richtung zu lenken, gelegentlich gut improvisieren” (Unsichtbares Komitee: Jetzt)
Die Sensibilität für die Situation erfordert eine Intelligenz, die in der Lage ist, eine Strategie innerhalb der Situation zu entwickeln. Die Methoden sind nie festgelegt, sondern verändern sich je nach dem Verlauf der erlebten Situation. “Dies ist die sicherste Methode, um einen Aufstand zu besiegen – eine Methode, die es nicht einmal erfordert, den Aufstand auf der Straße zu besiegen. Um die Destitution unumkehrbar zu machen, müssen wir also zunächst unsere eigene Legitimität aufgeben. Wir müssen die Vorstellung aufgeben, dass man eine Revolution im Namen von etwas macht, dass es eine im Wesentlichen gerechte und unschuldige Entität gibt, die die revolutionären Kräfte zu repräsentieren versuchen. Man bringt die Macht nicht auf die Erde, um sich selbst über den Himmel zu erheben” (Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde). Das Unsichtbare Komitee ruft dazu auf, auf sozialen Kredit zu verzichten, zur Tonalität der Situation zurückzukehren, in der richtigen Distanz zu bleiben, nicht mehr als Garanten der Revolution aufzutreten. Bekämpfen Sie in Ihrem Inneren jeden Anflug von existierender moralischer Gesundheit, wie Dionys Mascolo sagen würde. “Um die Regierung abzusetzen, reicht es jedoch nicht aus, diese Anthropologie und ihren vermeintlichen ‘Realismus’ zu kritisieren. Es muss gelingen, sie von außen zu erfassen, eine andere Ebene der Wahrnehmung zu behaupten. Denn wir bewegen uns tatsächlich auf einer anderen Dimension” (Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde). Die Veränderung unserer Aufmerksamkeit für die Dinge, unserer Fähigkeit zu sehen, ist entscheidend, um die Mächte zu begreifen, die uns durchdringen und bewegen, und schließlich zu sehen, dass die Dinge sich nicht endlos wiederholen. Die Welt ist nicht eins, sie ist vielfältig. Das heißt, es gibt so viele Realitätsebenen wie es ‘Lebensformen’ gibt. Sich auf einer anderen Ebene zu bewegen, bedeutet, nicht mehr durch die Augen des Gegners zu sehen. Dies ist vielleicht eine der Mindestvoraussetzungen für jedes Wesen, das sich in einem destituierenden Prozess bewegt. Mit den eigenen Augen sehen können. “Die Regierung absetzen heißt, sich selbst unregierbar zu machen. Wer hat von Bezwingen gesprochen? Überwinden ist alles.” (Unsichtbares Komitee, Jetzt)
VI. Kreis – Geste und Revolution
“Das bedeutet, dass der revolutionäre Prozess – und hier taucht wieder die Frage der destituierenden Macht auf – die destituierende Macht auch darin besteht, einen Gegner hervorzubringen, eine echte “kompakte Konterrevolution” hervorzubringen. Nicht für die Revolution kämpfen,sondern dafür sorgen, dass es eine so starke Konterrevolution gibt, dass man, indem man sie bekämpft, in der Lage ist, die Stagnation zu überwinden, die die unmittelbare Situation darstellt.”
Mario Tronti: Über die destituierende Macht
Wir leiden noch immer unter dem Erbe der Französischen Revolution, das fest in unseren Köpfen verankert ist. Überlisten Sie diese Wahrnehmung der Revolution, die von einer verfassungsgebenden Gewalt regiert wird, die der Ankerpunkt jedes Mechanismus des Handelns ist, auf den jede verfassungsgebende Gewalt eine neue verfassungsgebende Gewalt gründen wird. Wir wissen in unserem tiefsten Inneren, dass diese Dialektik die Tragödie der Revolution ausmacht. “Die Destitution ermöglicht es uns, neu zu überdenken, was wir unter Revolution verstehen. Das traditionelle revolutionäre Programm war das einer Rückeroberung der Welt, einer Enteignung der Enteigner, einer gewaltsamen Aneignung dessen, was uns gehört, was uns aber vorenthalten wurde. Nur: Das Kapital hat sich jedes Detail und jede Dimension des Daseins angeeignet. Es hat eine Welt nach seinem Bild geschaffen. Es hat sich von der Ausbeutung bestehender Lebensformen in ein totales Universum verwandelt. Er hat die ihm gemäßen Arten zu sprechen, zu denken, zu essen, zu arbeiten und in den Urlaub zu fahren, zu gehorchen und zu rebellieren konfiguriert, ausgestattet und begehrenswert gemacht. Dabei hat es den Anteil dessen, was man sich in dieser Welt vielleicht wieder aneignen möchte, auf ein Minimum reduziert”. (Unsichtbares Komitee: Jetzt). Wenn glücklicherweise niemand mehr an ein revolutionäres Programm und seine Eschatologie glaubt, geht es vielmehr um Gesten, die es zu wahren gilt. “Die revolutionäre Geste besteht also von nun an nicht mehr in einer einfachen gewaltsamen Aneignung dieser Welt, sie spaltet sich auf. Auf der einen Seite gibt es Welten zu schaffen, Lebensformen, die abseits von dem, was herrscht, wachsen sollen, auch indem man das, was vom gegenwärtigen Zustand der Dinge gerettet werden kann, zurückgewinnt, und auf der anderen Seite gilt es, die Welt des Kapitals anzugreifen, sie schlichtweg zu zerstören. Eine doppelte Geste, die sich noch verdoppelt: Natürlich halten die Welten, die man aufbaut, ihren Abstand zum Kapital nur durch die Komplizenschaft, es anzugreifen und sich gegen es zu verschwören, natürlich sind Angriffe, die nicht eine andere gelebte Idee von der Welt in ihrem Herzen tragen, ohne wirkliche Reichweite, erschöpfen sich in sterilem Aktivismus” (Unsichtbares Komitee: Jetzt). Die revolutionäre Geste, die von einer destituierenden Sensibilität ausgeht, lässt zwei Tonalitäten zusammen existieren: Desertion und Angriff, Ausarbeitung und Zerstörung, immer in der gleichen Geste. Ein anderes Verhältnis zur Zeit spielt sich ab, wo die Logiken der Alternative und des Aktivismus sich verflüchtigen, für eine Anordnung zwischen Langfristigkeit des Aufbaus und der Zerstörung, die durch das Eingreifen in eine Situation unternommen wird. “Im Gegensatz zu dem, was Aktivisten und Regierende glauben wollen, sind es nicht die Revolutionäre, die die Revolutionen machen, es sind die Revolutionen, die die Revolutionäre machen.” (Unsichtbares Komitee: Schön wie ein unreiner Aufstand).
VII. Kreis – Kommunismus
“Kommunismus ist die tatsächliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand der Verhältnisse absetzt.”
Unsichtbares Komitee, Jetzt
Anders ausgedrückt: Der Kommunismus ist der destituierende Prozess, der darauf abzielt, die Wirtschaft und das Soziale außer Kraft zu setzen und so die Materialität der ‘Lebensformen’ spürbar und verständlich zu machen. Als der Ort des Bürgerkriegs, an dem die Unterschiede zwischen den Lebensformen ausgetragen werden und die Kommunikation zwischen ihnen möglich wird. Es gibt kein Verschwinden des Konflikts aus der Erfahrung des Kommunismus, da der Konflikt eine Form der Kommunikation zwischen den ‘Lebensformen’ ist. Den Kommunismus zu leben entspricht nicht einer Selbstaufgabe, sondern der Entfaltung und Aufmerksamkeit für eine Reihe von Verbindungen, wobei wiederum die Fähigkeit, einige von ihnen zu kappen, notwendig ist. Es ist ein Erfordernis der ‘Lebensformen’ als Prozess der materialistischen Untersuchung, die Übereinstimmung zwischen dem Leben und dem Wort wiederherzustellen. Ein kommunistisches Wort nimmt seine gelebte Erfahrung so nah wie möglich an sich heran, es wird nur in der gemeinsamen Affirmation, einer Präsenz, d.h. einer Parteinahme, gehalten. Diese Aufmerksamkeit erfordert es, die Kosmotechnik, die eine oder mehrere Lebensformen mit sich bringen, zu bedenken und immer ernst zu nehmen. Vom Kommunismus ist nichts zu erwarten, der Kommunismus muss gemacht werden.
Erschienen im französischen Original am 15. Juni 2023 auf Entêtement, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. (Anm. d.Ü.: Die eine oder andere begriffliche Ungenauigkeit in der Übersetzung bitte ich nachzusehen, vielleicht findet sich ja im Laufe der Zeit noch eine profundere Übersetzung ins Deutsche ein.)
Joshua Clovers Buch ‘Riot. Strike. Riot. Eine neue Ära der Aufstände’, erschienen bei Meltemi (2023), ist ein sehr anregender Versuch, die sozialen Kämpfe, die die letzten Jahrzehnte geprägt haben, anhand der Koordinaten der Kritik der politischen Ökonomie zu interpretieren. Ein Ansatz, der die Vitalität der Marx’schen Kategorien erneut bekräftigt und die materialistische Methode bei der historischen Aufarbeitung von Klassenkonflikten wieder aufleben lässt. Letzterer nimmt, auch wenn er von vielfältigen subjektiven Artikulationen durchzogen ist, im heutigen Kapitalismus eine immer offensichtlichere zentrale Stellung ein – zum Leidwesen derjenigen, die keine Gelegenheit auslassen, die Litanei vom “Ende der großen Erzählungen” und dem “”Ende des Klassenkampfes” zu wiederholen.
Meines Erachtens stößt Clovers Arbeit jedoch auf einige wichtige Einschränkungen, auf die wir später zurückkommen werden, und zwar im Zusammenhang mit einer etwas zu scharfen Gegensätzlichkeit zwischen Zirkulation und Produktion und vor allem durch das Versäumnis, den Unterschied zwischen gesellschaftlichem Reichtum und Wert zu betonen, der bei den gegenwärtigen Transformationen der produktiven Subjektivitäten immer entscheidender wird.
Ganz im Sinne der Marxschen Methode liest Clover die Veränderungen des politischen Antagonismus im Lichte der historischen Veränderungen der Produktionsverhältnisse, die die Abfolge der kapitalistischen Phasen kennzeichneten: den merkantilistischen Kapitalismus, den Industriekapitalismus und den zeitgenössischen Kapitalismus (dem er keine Bezeichnung gibt, sondern ihn von Zeit zu Zeit als postfordistisch, finanztechnisch, logistisch, usw. bezeichnet). Seine These besteht darin, dass die erste Phase zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert durch das Primat der Kämpfe in der Warenzirkulation gekennzeichnet war: Die Einfriedungen begründeten eine Dynamik der Enteignung der bäuerlichen Massen, ohne sie in die Lohnform einzubeziehen. Ein großer Teil des Proletariats blieb somit sowohl von der Möglichkeit, für den eigenen Lebensunterhalt selbst aufzukommen, als auch von der Möglichkeit, einen Lohn zu erhalten, ausgeschlossen. In Klees Rekonstruktion konnten die Kämpfe in dieser Phase nicht anders gestaltet werden als als Riots: Plünderung und Blockierung von Nahrungsmitteln für den Export und den Handel, um die Waren wieder in Besitz zu nehmen und in das Preisniveau einzugreifen. Die zweite Phase beginnt dann mit der industriellen Revolution und reicht bis zum Fordismus. Die materielle Produktion erfährt einen enormen Expansionsprozess und das Proletariat wird weitgehend in die Lohnarbeitsverhältnisse einbezogen. Der Streik wird als Waffe des Arbeiterkampfes in den direkten Produktionsverhältnissen vorherrschend: Der Konflikt verlagert sich vom Preis der Ware auf den der Arbeitskraft und macht den Lohnempfänger zum privilegierten Subjekt des Antagonismus. In der dritten Phase schließlich, die in den 1970er Jahren beginnt, kommt es laut Clover zu einem raschen Schrumpfungsprozess des Industriekapitalismus und zu einem fortschreitenden Verlust der zentralen Bedeutung der materiellen Produktion zugunsten von Logistik und Finanzen. Dies würde dann immer größere Gebiete mit einer “Surplus-Bevölkerung hervorbringen, die mit dem uralten Problem des Konsums ohne direkten Zugang zu den Löhnen konfrontiert ist” (S. 47). Wenn sich der politische Antagonismus heute als Besetzung der Plätze, der Warenzirkulationswege, der Logistik, als Riots anstatt als Streiks darstellt, so ist dies auf die tiefe Krise der sozialen Reproduktion zurückzuführen, die durch einen schrumpfenden Industriekapitalismus verursacht wird, der nicht mehr in der Lage ist, die Gesamtheit der Arbeitskräfte auszubeuten, so die starke These des Textes. Wenn das Kapital nicht mehr in der Lage ist, die Arbeit über die Lohnform zu regulieren, wird diese Funktion einerseits von staatlicher Kontrolle und Repression übernommen, andererseits kehren die Kämpfe um den Zugang zu den für die soziale Reproduktion wesentlichen Gütern zurück: Und damit kehrt auch der Riot zurück.
Zur Untermauerung dieser These, die sich auf die Studien der Weltwirtschaftstheoretiker (Arrighi, Brenner usw.) stützt, führt Clover eine ganze Reihe empirischer Belege an. Seit den 1970er Jahren hat der Industriesektor in den USA und damit in der gesamten “überentwickelten” Welt einen langen Prozess der Aushöhlung und des Einbruchs des Leistungsniveaus durchlaufen: “Das globale BIP-Wachstum lag von den 1950er bis zu den 1970er Jahren immer über 4 Prozent; danach blieb es bei 3 Prozent oder sogar weniger, manchmal sogar viel weniger. Während der langen Krise war selbst die beste Periode insgesamt schlechter als die schlimmste Phase des vorangegangenen Booms. […]. Dieser parallele Verlauf geht wiederum einher mit den Projektionen der Werttheorie aus der Verschiebung zugunsten der Zirkulation: weniger Wertproduktion, weniger Systemgewinne” (S. 42-43). Logistik und Finanzialisierung wären, kurz gesagt, vorübergehende Notlösungen, die nur notwendig sind, um dort zusätzliche Profite zu erzielen, wo der Markt noch nicht gesättigt ist: die einzige Möglichkeit für das Kapital, in einem allgemeinen Kontext eines tendenziellen Rückgangs der Profitrate, d. h. eines allgemeinen Zusammenbruchs der Mehrwertproduktion, zu handeln.
In diesem Rahmen wird die fortschreitende Niederlage der Kämpfe, die sich im Kontext der direkten Produktion bewegen – der traditionellen Arbeiterklasse und ihrer gewerkschaftlichen Formen – zu einer schwer zu vermeidenden Folge. In einem industriellen Sektor, der sich in der Regression befindet, wird die Konfliktualität der Lohnarbeit entweder zu einem bloßen defensiven Akt, um nicht in dem aus den Produktionskreisläufen verdrängten “Surplus” zu enden; oder, schlimmer noch, sie erfährt schwere Niederlagen, die Clover am paradigmatischen Beispiel des Kampfes der englischen Bergarbeiter in den 1980er Jahren aufzeigt. Im Wesentlichen stößt der Streik in einem Kontext der fortschreitenden Umgestaltung – mit Prozessen tiefgreifender Prekarisierung und Finanzialisierung – der klassischen Lohnarbeit als Ausübung von Gegenmacht, die darauf abzielt, einen besseren “Preis” für die Arbeitskraft zu erzielen, an seine historischen Grenzen. Die Rückkehr des Riots, des Kampfes um die Rohstoffpreise, wird zu einer Taktik, die den historischen Merkmalen des jüngsten kapitalistischen Zyklus entspricht. Wenn immer größere Teile der Erwerbsbevölkerung vom sogenannten Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, ist die Lohnform nicht mehr in der Lage, die soziale Reproduktion der Erwerbsbevölkerung in ihrer Komplexität zu gewährleisten. Die Instrumente der Rassifizierung und der Kriminalisierung wirken in ihrer schärfsten Form, um den Ausschluss zu selektieren und zu hierarchisieren: “Die Deindustrialisierung ist ein dramatisch rassifizierter Prozess” (S. 175), wie Clover betont. Der Riot erscheint dann einerseits als Prozess des Preiskampfes – in den Erscheinungsformen der Senkung der Lebenshaltungskosten, der unmittelbaren Plünderung usw.; andererseits als Selbstverteidigung des “Surplus” gegen staatliche Gewalt, die verschiedenen Formen der Diskriminierung von Andersartigkeit, die Kriminalisierung der Armen und die Rassifizierung. Es ist daher kein Zufall, dass sich die bedeutendsten Revolten der letzten Jahre an der Polizeigewalt entzündet haben – man denke, um das offensichtlichste Beispiel zu nennen, an die Welle von Riots nach der Ermordung von George Floyd. Selbstverteidigung und Preiskampf erscheinen somit als zwei Seiten derselben Medaille: als Ausdruck eines Antagonismus, der seine Neuzusammensetzung in Subjektivitäten findet, die dem, was Marx das Lumpenproletariat (Subproletariat) nannte, viel näher stehen als der traditionellen Figur des Arbeiters (vgl. S. 187).
Und obwohl Clovers Analyse viele interessante Punkte und eine wirksame historische Rekonstruktion der Transformationen des Konflikts enthält, scheint es mir, dass ein scharfer Gegensatz zwischen Kämpfen der Zirkulation und Kämpfen der Produktion dieses zeitgenössische “Subproletariat” ein wenig zu eng fasst. Wie in dem vom Kollektiv ‘Into the Black Box’ verfassten Nachwort (die deutsche Übersetzung findet sich auf Bonustracks, d.Ü.) zu Recht hervorgehoben wird, ist gerade in den Kämpfen der Logistik – was die Sphäre der Zirkulation schlechthin zu sein scheint – die Dimension des realen Streiks nach wie vor von zentraler Bedeutung: Fahrer, Lagerarbeiter usw. machen ausgiebig von der Streikwaffe Gebrauch. Darüber hinaus wirft dieser bedeutende Grenzfall eine allgemeinere Frage auf, die Clover – nur teilweise – in seinem Postscript zur italienischen Ausgabe anspricht: die Frage nach der Grenze, die heute realistischerweise zwischen Produktion und Zirkulation gezogen werden kann. Der Autor räumt ein, dass die Definition dieser Schwelle sehr unscharfe Konturen annimmt: Arbeit im Dienstleistungsbereich, in der Kommunikation, die Arbeit von Fahrern sowie die Arbeit im Zusammenhang mit dem Rohstoffabbau, dem Transport und der Finanzialisierung kann kaum als unproduktive Arbeit, als bloße Warenzirkulation, eingestuft werden. Und dennoch, so Clover erneut, gibt es nach wie vor empirische Belege für die lange Krise der Profitraten des Kapitals: Selbst wenn man die Renditen und Profite aus dem Finanzsektor und den (digitalen und logistischen) Plattformen berücksichtigt, sind sie immer noch rückläufig. Clover betont, dass die globale Krise der kapitalistischen Verwertung, unabhängig von der Einstufung der Zirkulationstätigkeiten (ob produktiv oder unproduktiv), faktisch eine immer stärkere Tendenz zu einer relativen Verringerung der Wertproduktion mit sich bringt; dies würde die historischen Bedingungen bestätigen, die das Entstehen jenes Überschusses erzwingen, der nicht in der Lohnform enthalten ist (außer in einem Kontext endemischer Unterbeschäftigung und Prekarität) und der im Riot seine wirksamste Taktik der politischen Aktion findet.
Andererseits ist diese Betonung der langen Krise der kapitalistischen Verwertung meines Erachtens besonders interessant unter dem Gesichtspunkt jener allgemeinen Transformationen der Produktion, auf denen die neo-operaistischen Theorien so sehr beharrt haben. Wenn die Krise der Lohnform einerseits sicherlich als Faktor der Disziplinierung, der Gewalt und der Krise der sozialen Reproduktion konfiguriert ist, so ist sie andererseits weit davon entfernt, eine Unproduktivität der ärmsten Segmente der Arbeiterschaft zu signalisieren, sondern hat mit einer Vervielfachung der Produktionsformen zu tun, die sich sowohl auf quantitativer als auch auf qualitativer Ebene artikulieren.
Quantitativ, weil die Ausdehnung der globalen Wertschöpfungsketten und ihre Intensivierung im gesamten sozialen Bereich eine klare Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven sozialen Tätigkeiten zunehmend obsolet machen. Es ist inzwischen gut belegt, wie viele unbezahlte Tätigkeiten im Bereich der Reproduktion (Care-Arbeit, affektive Arbeit usw.), im Bereich des Digitalen (Daten, Informationen usw.) und im Bereich des Wissens (soziale Kooperation, Weitergabe von stillschweigendem und unausgesprochenem Wissen usw.) direkt oder indirekt zur Koproduktion von Gebrauchswerten beitragen, die sich das Kapital aneignet und dann in Wert setzt. Wir haben es mit einer biopolitischen Produktion zu tun, die weit über die durch Löhne vergütete Arbeitszeit hinausgeht und eine realistische, begriffliche Trennung von Arbeitszeit und Konsumzeit nicht mehr zulässt. Ansprüche an die gesellschaftliche Reproduktion – Grundeinkommen, Qualitätswohlfahrt, Recht auf Wohnen, Senkung der Lebenshaltungskosten usw., – wenn der häusliche Raum, die Kommunikationstechnologien oder die Verkehrsmittel zu den wichtigsten Orten und Mitteln der Arbeit werden, können sie nicht ausschließlich als Instanzen des Kampfes um die Warenpreise betrachtet werden: Sie haben unmittelbar mit den Arbeitsbedingungen zu tun, die über die zertifizierte Produktionszeit hinausgehen, mit der sozialen Dimension der Löhne. Die enorme Mobilisierung, die in den letzten Monaten in Frankreich rund um die Frage der Renten stattgefunden hat, beinhaltet genau diese Dimension.
Wie Etienne Balibar (2023) kürzlich in einem Interview sagte: “Es ist überraschend zu sehen, in welchem Maße die Rentendebatte das sehr einfache, aber grundlegende marxistische oder marxsche Konzept des Werts der Arbeitskraft und ihrer Ausbeutung verifiziert. Vorausgesetzt natürlich – und das liegt in Marx’ eigener Logik, denke ich -, dass wir uns von der mikroökonomischen Sichtweise lösen, d.h. zu glauben, dass der Wert der Arbeitskraft nur auf der Skala des Tages und des Jahres definiert ist. Stattdessen handelt es sich um ein Konzept, das das gesamte Leben des Arbeiters betrifft. Wenn wir uns die Frage stellen, zu welchem Preis die Arbeitskraft gekauft und verkauft wird, von den Arbeitern verkauft und vom Kapital gekauft wird, dann müssen wir offensichtlich im heutigen System – und das war zu Marx’ Zeiten nicht der Fall – in diesen Wert gleichzeitig die Löhne, die die Menschen während ihres Lebens verdienen, und die Renten, die sie danach erhalten, einbeziehen. Unter diesem Gesichtspunkt besteht die gegenwärtige Offensive des französischen Kapitals also darin, maximalen Druck auf diese Gesamtvergütung auszuüben. Dies ist die gleiche Logik, die wir im Kapitel des Kapitals über den Arbeitstag finden, nur dass wir hier nicht auf der Ebene des Arbeitstages argumentieren, sondern auf der Ebene des gesamten Lebens.” (1)
Dann gibt es eine qualitative Ebene, denn diese weit verbreitete soziale Produktivität ist nicht immer und unmittelbar in den kapitalistischen Verwertungskreislauf eingeschrieben: Sie kann ihn jederzeit überschreiten und tut dies auch. Wie Vercellone und Brancaccio (2023) über die französischen Kämpfe schreiben: “In Wirklichkeit arbeiten die meisten gesunden Rentner im ‘anthropologischen’ Sinne des Wortes: Es genügt zu wissen, dass eine große Anzahl von Bürgermeistern Rentner sind, dass Rentner einen großen Teil der Freiwilligen in der Sozial- und Solidarwirtschaft und in den Wissensgemeinschaften ausmachen, ohne zu vergessen, dass sie oft wesentliche Funktionen in der Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen ausüben, usw. Wenn man all dies in Geldwerte umrechnen würde, könnte man sogar sagen, dass die Rentner mit ihrer Arbeit einen großen Teil ihrer Renten bezahlen.” (2) Es gibt eine weit verbreitete Produktion von Gebrauchswerten, von sozialem Reichtum, die, obwohl sie von allen Seiten angegriffen wird, auf die Wirksamkeit anderer Produktions- und sozialer Reproduktionsverhältnisse hinweist, die konstitutiv über die Lohnform hinausgehen. In den zeitgenössischen Riots und Streiks lassen sich dann Versuche erkennen, andere Formen der Produktion, der Verteilung und der Anerkennung des gesellschaftlichen Wohlstands zu institutionalisieren.
Kurz gesagt, das Buch von Clover fügt sich durch sein Beharren auf der Krise der Verwertung in eine immer dringlichere Debatte über die vielfältigen Formen des Antagonismus ein, die sich in den großstädtischen und logistischen Räumen bewegen, und vertieft diese. Es handelt sich dabei um Formen des Kampfes, die sich gerade in einer mit der Reproduktion verbundenen Dimension auf biopolitischer Ebene qualifizieren und entweder nicht durch die Lohnform vermittelt werden können oder eine mit dem Leben selbst verbundene soziale Dimension beinhalten. Sie gehen über die klassische Verwertung hinaus und bestimmen einen Raum der Konfliktualität, der dazu tendiert, über die Kreisläufe der Kapitalproduktion hinaus zu denen der sozialen Reproduktion zu gelangen. Im letzten schönen Kapitel über “Kommune und Katastrophe” scheint er einer ähnlichen Einsicht nahe zu kommen, wenn er schreibt: “Die Kommune ist auch ein Bruch in Bezug auf die Konstitution des Riots als Erzwingens von Preisen, weil die Versorgung mit den Mitteln des Lebensunterhalts nicht mehr gegeben ist. Sie ist jenseits des Streiks und des Riots. In dieser Situation taucht die Kommune nicht als Ereignis, sondern als Strategie der sozialen Reproduktion auf” (S. 215); man könnte hinzufügen, dass sie gerade als Kommune, d.h. als antagonistisches gesellschaftliches Produktionsverhältnis und als Eröffnung des Übergangsprozesses auftritt. Ein lesens- und diskussionswürdiges Buch, dieses Buch von Clover.
Dieser Beitrag erschien auf italienisch am 6. Juni 2023 auf Into The Black Box und wurde von Bonustracks ins deutsche übertragen. Das Buch Riot.Strike.Riot von Joshua Clover wurde auf deutsch von Achim Szepanski und K.H. Dellwo herausgegeben und ist in der Galerie der abseitigen Künste erschienen.
Während sich die meisten politischen Formen und Traditionen der europäischen Linken ungehindert über nationale Grenzen hinweg ausbreiteten, war der italienische Operaismus der 1960er Jahre in seiner Zeit weitgehend eine Erfahrung sui generis. Ihm wird ein bedeutender intellektueller Einfluss im eigenen Land zugeschrieben – er veränderte die italienische Soziologie durch sein Projekt der Arbeiteruntersuchungen und brachte eine berauschende, wenn auch flüchtige Ernte an theoretischen Zeitschriften hervor: Quaderni rossi, Classe operaia, Angelus Novus, Contropiano -, hatte er im Ausland aber weniger unmittelbaren Widerhall als die größere Strömung um Il Manifesto, deren kulturelle Breite und politische Kohärenz von ganz anderer Natur war.
Eine Voraussetzung für die Existenz des Operaismus war der drastische industrielle Aufschwung der 1950er Jahre in einer Kultur, die bereits stark von zwei Massenparteien der Arbeiter geprägt war, von denen jede ihr eigenes lebendiges geistiges Leben hatte. Die Kommunistische Partei Italiens hatte etwa zwei Millionen Mitglieder, während die Sozialistische Partei der Nachkriegsjahrzehnte weit links von der Sozialdemokratie des Kalten Krieges stand; beide wurden durch das Tauwetter nach Chruschtschows Geheimrede wiederbelebt. Der Operaismus zeichnete sich durch eine unerbittliche Feindseligkeit gegenüber dem verwässerten Gramscianismus der “national-populären” Sichtweise der PCI (“die Resistenza als zweite Risorgimento“) und durch eine Auseinandersetzung mit enthistorisierenden, wissenschaftlichen Methodologien aus. Die frühen operaistischen Denker stammten hauptsächlich von der Linken der PSI, deren Schlagwort der “Autonomie” – ursprünglich mit einer Konnotation des “Für-sich-seins” – ein Schlüsselbegriff blieb. Eine wegweisende Figur war Raniero Panzieri (1921-64), der von 1957 bis 59 die theoretische Zeitschrift Mondo operaio der PSI herausgab; von der Nenni-Führung an den Rand gedrängt, arbeitete er für Einaudi in Turin. Als er dort 1961 die Quaderni rossi ins Leben rief, konnte Panzieri auf gleichgesinnte Denker um Luciano Della Mea in Mailand, Antonio Negri und Massimo Cacciari in Venetien und Mario Tronti in Rom zurückgreifen. Tronti, der 1931 in Rom in eine kommunistische Arbeiterfamilie hineingeboren wurde, war Anfang der 1950er Jahre der PCI beigetreten, während er an der Universität Rom Philosophie studierte. Nachdem er 1964 mit den Quaderni rossi gebrochen hatte, wurde er Herausgeber der Classe operaia. 1967 kehrte er zur PCI zurück, um das operaistische Projekt in ihren Reihen zu verfolgen und ein Konzept der “Autonomie des Politischen” zu entwickeln. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir einen Auszug aus Trontis Memoiren über die Bewegung, ‘Noi operaisti’, die 2009 bei Derive Approdi erschienen sind. Sie sind polemisch und persönlich zugleich und bieten einen erhellenden Kontrast zwischen dem Frühling des Jahres 56 und dem heißen Herbst des Jahres 69. Sie unterscheiden scharf zwischen dem klassischen Operaismus und seinem fernen Echo, der Autonomia, die in den späten 70er Jahren an den gegenkulturellen Rändern der europäischen Städte fortbestand, um dann um die Jahrhundertwende in Hardt und Negris Empire in modernerer Form aufzutreten. (Vorwort der englischen Übersetzung von Eleanor Chiari)
UNSER OPERAISMUS
Der italienische Operaismus der 1960er Jahre beginnt mit der Geburt der Quaderni rossi und endet mit dem Tod der Classe operaia. Ende der Geschichte. So lautet das Argument. Oder aber – si le grain ne meurt – der Operaismus wird auf andere Weise reproduziert, reinkarniert, transformiert, korrumpiert und … verloren. Dieser Text entstand ursprünglich aus dem Drang, die intellektuelle Unterscheidung zwischen Operaismus – “Arbeitertum” ist die unzureichende, aber unvermeidliche englische Übersetzung – und Post-Operaismus oder den Autonomiebewegungen der späten 70er Jahre und danach zu klären. Dann taten die süßen Freuden der Erinnerung ihr Übriges. Ob dieser “Rest” geschmackvoll oder heute noch von Nutzen ist, müssen die Leser beurteilen. Dies ist meine Wahrheit, basierend auf dem, was ich damals glaubte und was ich heute nur noch deutlicher sehe. Ich will keine kanonische Interpretation dieses Projekts liefern; aber dies ist eine der möglichen Lesarten, einseitig genug, um die gute alte Idee der parteiischen Forschung zu unterstützen, diese unverdauliche theoretische Praxis des “Standpunkts”, die uns geformt hat.
Ich sage wir, weil ich glaube, für eine Handvoll Menschen sprechen zu können, die durch ein Band politischer Freundschaft untrennbar miteinander verbunden sind und die einen gemeinsamen Problemstrang als “gelebtes Denken” teilen. Für uns war die klassische politische Freund-Feind-Unterscheidung nicht nur ein Feindbild, sondern auch eine Theorie und Praxis des Freundes. Wir sind Freunde geworden und geblieben, weil wir politisch einen gemeinsamen Feind vor uns entdeckt haben; das hatte Konsequenzen, die die intellektuellen Entscheidungen der Zeit und die nachfolgenden Horizonte bestimmt haben. Ich werde versuchen, in einfachen Worten zu sprechen und die literarische Sprache zu meiden. Dennoch muss gesagt werden, dass der Operaismus der 1960er Jahre seinen eigenen “hohen Stil” des Schreibens prägte, ziseliert, klar, konfrontativ, in dem wir glaubten, den Rhythmus der Fabrikarbeiter im Kampf gegen die Bosse zu erfassen. Jeder historische Abschnitt wählt seine eigene Form der symbolischen Darstellung. Halbgebildete Partisanen, die sich den Erschießungskommandos der Nazis entgegenstellten, schufen die “Briefe der Todeskandidaten des Widerstands”, ein Kunstwerk (1). Genauso gingen die Jungen, die frühmorgens vor den Toren der Mirafiori-Fabrik in Turin standen, abends nach Hause, um “Seele und Form” des jungen Lukács zu lesen. Ein starker Gedanke erfordert eine intensive Schrift. Das Gefühl für die Größe des Konflikts weckte in uns die Leidenschaft für den Nietzsche’schen Stil: in einem edlen Tonfall zu sprechen, im Namen derer, die unten sind.
Ich habe nie die Lektion vergessen, die wir an den Werkstoren gelernt haben, als wir mit unseren hochtrabenden Flugblättern ankamen und die Arbeiter aufforderten, sich dem antikapitalistischen Kampf anzuschließen. Die Antwort, die immer die gleiche war, kam von den Händen, die unsere Zettel entgegennahmen. Sie lachten und sagten: “Was ist das? Geld? In der Tat ein ‘grobes heidnisches Volk’. Das war nicht das bürgerliche Wort “enrichissez-vous”, sondern das Wort “Lohn”, das als objektiv antagonistische Antwort auf das Wort “Profit” präsentiert wurde. Der Operaismus überarbeitete den brillanten Satz von Marx – das Proletariat, das seine eigene Emanzipation erlangt, wird die gesamte Menschheit befreien – zu der Aussage: Die Arbeiterklasse, die ihre eigenen partiellen Interessen verfolgt, schafft eine allgemeine Krise in den Kapitalverhältnissen. Der Operaismus markierte eine Art des politischen Denkens. Denken und Geschichte trafen in einem direkten, unmittelbaren und frontalen Zusammenstoß aufeinander. Was ist, musste der Analyse, der Reflexion, der Kritik und dem Urteil ausgesetzt werden. Was darüber gesagt und geschrieben wurde, kam später.
Die folgende biographische Schilderung behält ein Element der Zweideutigkeit zwischen persönlichen und generationsbedingten Aspekten bei. Aber ich sollte gleich zu Beginn sagen, dass mein Operaismus kommunistischer Art war. Das war nicht immer der Fall, auch nicht in der Anfangszeit; Parteimitglieder waren nie die Mehrheit in der italienischen Arbeiterbewegung, noch dominierten sie in den Quaderni rossi oder der Classe operaia; die Kombination war vielleicht mein persönliches Dilemma. Ich werde hier die Lehrjahre der operaisti, einer begrenzten, aber bedeutenden generationellen Fraktion, beschreiben. Als unbeholfener Historiker von Ereignissen und Ideen werde ich versuchen, die komplexen, frühen Ansätze des operaistischen Arguments zu erklären, und einiges von dem, was danach kam.
Der Bruch von Sechsundfünfzig
Ein Schlüsseldatum kristallisiert sich als strategischer Ort für uns alle heraus: 1956. Mehrere Dinge machten dieses Jahr “unvergesslich”, aber ich möchte den Übergang – tatsächlich einen erkenntnistheoretischen Bruch – von einer Parteiwahrheit zu einer Klassenwahrheit hervorheben. Die Parteitage bis zu den ungarischen Ereignissen stellten eine Abfolge von Sprüngen im Bewusstsein einer jungen Generation von Intellektuellen dar. Ich spürte, bevor ich es bewusst dachte, dass das zwanzigste Jahrhundert dort endete. Wir erwachten aus dem dogmatischen Schlummer der Geschichtlichkeit. In Italien hatte die Herrschaft des Eigennamens, als Substantiv oder Adjektiv, materialistisch oder idealistisch – die Linie De Sanctis-Labriola-Croce-Gramsci – eine beispiellose kulturelle Hegemonie in der Politik ausgeübt. Dank Togliattis Charisma hatte sich in der Nachkriegszeit eine mächtige Gruppe von PCI-Führern um sie herum gebildet, die sich nun daran machte, sie in die Tat umzusetzen. Im Istituto Gramsci konnte man Parteimitglieder aus der Leitung und dem Sekretariat antreffen. Sie schrieben keine Bücher oder beauftragten irgendwelche dubiosen Ghostwriter, dies für sie zu tun. Sie lasen Bücher. Und zwischen einer Initiative und der nächsten diskutierten sie, was sie davon hielten.
Irgendwann kam ein seltsam aussehender Mann aus Sizilien, der in Messina unterrichtet hatte: groß, drahtig, mit einer Hakennase und einem kantigen Gesicht. Er sprach in einer schwierigen Sprache, und seine Schrift war noch schwieriger zu verstehen. Aber Della Volpe zerlegt Stück für Stück die kulturelle Linie der italienischen Kommunisten, ohne auf orthodoxe Zugehörigkeiten zu achten. (2) Um ehrlich zu sein: Wir haben uns von dem gramscianischen “Nationalpopulismus” der PCI befreit, aber ein gewisser intellektueller Aristokratismus haftet uns noch an. Verstehen war wichtiger als Überzeugen; wer sich mit dem Begriff abmüht, hat Schwierigkeiten mit dem Wort. Heute ist das Gegenteil der Fall: Einfacher Diskurs bedeutet Verzicht auf Gedanken. Der Ansatz, den wir damals verfolgten, erscheint heute, wo der Triumph der medialen Vulgarität über die politische Sprache vollständig ist, umso wertvoller. Wir waren eine Schule der asketischen intellektuellen Strenge, die um den Preis einer leicht selbstbezogenen Isolation erkauft wurde. Wissenschaft gegen Ideologie – das war das Paradigma. Marx gegen Hegel, wie Galilei gegen die Scholastiker, oder Aristoteles gegen die Platoniker. Dann sind wir im Großen und Ganzen aus diesem Schema herausgewachsen, was den Inhalt betrifft, haben aber seine Lehren in Bezug auf die Methode beibehalten. Wenn ich darüber nachdenke, war es genau diese Grundlage, die uns ab 1956 die Möglichkeit gab, Schritt für Schritt, durch Versuch und Irrtum, die Horizonte der kommunistischen Freiheit zu entdecken, während andere – die Mehrheit – den Wert der bürgerlichen Freiheiten wiederentdeckten.
Ich bin mir nach wie vor unsicher, was die Wahl der politischen Taktik zu diesem Zeitpunkt angeht – nicht, was “richtig” war, sondern was am nützlichsten gewesen wäre. Es stimmt, dass manchmal wenig von den eigenen Entscheidungen abhängt und viel von den Umständen, den Möglichkeiten, den Begegnungen. Aber 1956 stand uns noch ein anderer Weg offen: der des politischen Wachstums innerhalb der PCI, deren Führung eine Periode der “Erneuerung in Kontinuität” eingeleitet hatte. Was hätte dieser zweite Weg mit sich gebracht? Ein langer Marsch durch die Organisation; ein kulturelles Opfer auf dem Altar der Praxis; die Ausübung jener politischen Kategorie der Renaissance, der “ehrlichen Verstellung”. In meiner persönlichen Ausbildung war Togliatti der Meisterpolitiker par excellence. Ich frage mich, ob es möglich gewesen wäre, ein Togliattianer zu sein, aber mit einer anderen Kultur – und antworte: Ja. Die Politik hat eine eigene Autonomie, auch gegenüber dem kulturellen Rahmen, der sie stützt und zuweilen legitimiert. Wir ließen uns von der faszinierenden Freude am anderen Denken mitreißen. Aber es bleibt der Zweifel, dass der andere Weg der richtige gewesen sein könnte: etwas weniger sagen und etwas mehr tun. Die theoretische Entdeckung der “Autonomie des Politischen” fand im Rahmen der praktischen Erfahrung des Operaismus statt; nur die historisch-konzeptionelle Ausarbeitung kam später – und mit ihr die Erkenntnis, dass es nicht gelungen war, eine Synthese von “Innen und Außen” zu erreichen.
Vor einigen Jahren schrieb ich: “Wir jungen kommunistischen Intellektuellen hatten Recht, auf der Seite der ungarischen Aufständischen zu stehen. Aber – und das ist das Paradoxe an der Revolution im Westen – der sozialistische Staat hatte nicht unrecht, wenn er den Kampf mit Panzern beendete.” (3)
Das ist die Art von Satz, den selbst die engsten Freunde, gerade weil sie einem alles Gute wünschen, vorgeben, nicht gelesen zu haben. Doch die Lösung dieses ödipalen Rätsels der Arbeiterbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts war genau die Aufgabe, die sich uns stellte. Es ist leicht, zwischen Recht und Unrecht zu wählen; schwierig wird es, wenn man sich zwischen zwei Rechten entscheiden muss, die beide auf der eigenen Seite stehen. Das Dilemma besteht darin, ob man die Leidenschaft der Zugehörigkeit oder das Kalkül der Möglichkeiten verfolgt. Die beiden Rechte von 1956 waren auch die beiden Unrechte, die diejenigen, die nur die mögliche Entwicklung dessen sahen, was man “Sozialismus mit menschlichem Antlitz” nennen würde, von denen trennten, deren einziger Maßstab die unmittelbare Kontrolle über die Stellungen im Kreuzfeuer der beiden gegnerischen Blöcke war.
Eine der bedeutendsten kritischen Analysen des sowjetischen Systems kam jedoch aus den Reihen des Operaismus. Rita Di Leos ‘Operai e sistema sovietico’ zeigte, dass man vom Standpunkt der Arbeiter aus viel mehr begreifen kann als die kapitalistische Fabrik. (4) Das politische Experiment der Arbeiter schlechthin wurde hier kritisch ins Spiel gebracht. Es bleibt eine äußerst isolierte Analyse: Wahrheit und Tatsachen liegen zu dicht beieinander, als dass sie von den beiden herrschenden, gegensätzlichen Ideologien akzeptiert werden könnten.
Ein ‘Bildungsroman’
In den frühen 1960er Jahren bildete sich spontan eine Gruppe von Operaisten. Nicht in der Art und Weise, wie “Gruppen” in den frühen 1970er Jahren institutionalisiert wurden. Unsere Gruppe war eine originelle, völlig informelle Art, politisch und kulturell zusammenzukommen. Es ist seltsam, wie sich im Laufe der Zeit eine Art von gegenseitiger Zuneigung erhalten hat, selbst unter den Genossen, die nicht den gleichen Weg von den Quaderni rossi zur Classe operaia zurückgelegt haben. Ich empfinde immer noch eine tiefe Sympathie und erinnere mich an die menschlichen Qualitäten von Menschen wie Bianca Beccalli, Dario und Liliana Lanzardo, Mario Miegge, Giovanni Mottura, Vittorio Rieser, Edda Saccomani, Michele Salvati und anderen. Quaderni rossi war ein schöner Titel für eine Zeitschrift, mit einer beschwörenden Einfachheit, die in sich selbst beredt ist. Die “Notizbücher” drückten den Willen zur Forschung, Analyse und Studium aus. Das Rot des Umschlags war das Zeichen einer Entscheidung, einer Verpflichtung, dies zu sein. Das Schreiben und damit das Lesen auf der Vorderseite – schwarz auf rot – zu beginnen, war eine brillante Idee von Panzieri.
Ranieri – er starb 1964 mit Anfang vierzig – gehörte zu denjenigen, denen es bestimmt war, zu wenig Zeit auf dieser Erde zu verbringen. Genug jedoch, um eine Spur zu hinterlassen. Wenn ich mich heute an ihn erinnere, wenn ich wieder an ihn denke, spüre ich eine Sehnsucht nach einer verlorenen politischen Menschlichkeit. Er war nicht von Natur aus ein romantischer Held, sondern wurde durch die Umstände zu einem solchen. Er wollte von einem Organisator des Operaismus zu einem Organisator der Arbeiterkultur werden. Aber er konnte nicht wirklich etwas organisieren. Darin lag der Charme seiner Begrenztheit, die der unseren so ähnlich war – insbesondere der meinen -, dass wir uns ihm nahe fühlten. Panzieris Marx war der von Luxemburg, nicht der von Lenin. Wie Rosa las er das Kapital und imaginierte die Revolution. Anders als Lenin, der das Kapital las, um die Revolution zu organisieren. Er war kein Kommunist und hätte es auch nie sein können. Seine Tradition war die des revolutionären Syndikalismus, mit einer Dosis des anarchischen Sozialismus, den die alte PSI historisch in sich trug. Aber “Arbeiterkontrolle” war ein Zauberwort, das uns aus dem anderen dogmatischen Schlummer aufweckte – der sozialistischen “Partei des ganzen Volkes”.
Nachts mit Raniero durch die Straßen von Rom oder Mailand – nicht durch das verhasste Turin – zu gehen, bedeutete, Benjamins Idee des “Sich-Verlierens” in den Straßen einer Stadt zu verwirklichen. Es gibt auch eine Kunst, sich in der Polis zu verlieren, nämlich die der Politik, und wir haben uns alle Mühe gegeben, diese Kunst zu beherrschen. Mehr als einmal verirrten wir uns und fanden uns an der Grenze wieder, die die eine Seite von der anderen trennt, ohne sie jemals zu überschreiten. Wir zogen aufgeklärte Bosse vor, aber nur, um den Krieg, der uns interessierte, besser führen zu können. Wir waren nicht in die fortschrittliche Demokratie verliebt, sondern nutzten sie als ein fortschrittlicheres Kampffeld. Intuitiv erkannten wir die Reformisten der Linken als ernstzunehmende Funktionäre des kapitalistischen General Intellect (der heute auf euro-globaler Ebene herrscht). Wir schätzten den Bewegungsimpuls eher als eine Leidenschaft denn als eine Tatsache. Er war ein Ereignis der politischen Vorstellungskraft, über das wir ständig nachdachten – und das wir praktizierten, eine weitaus ernstere Angelegenheit.
Quaderni rossi schaltete das Licht in der Fabrik an, fokussierte das Objektiv und machte ein Foto, auf dem die Produktionsverhältnisse mit verblüffender Klarheit zu sehen waren. Was auch immer über die ehemaligen Arbeiterintellektuellen gesagt wurde, es besteht immer ein Konsens darüber, dass die Analysen ihrer Arbeiteruntersuchungen “klar” waren. Der Operaismus eröffnete eine neue Art, sich mit der Soziologie zu beschäftigen: Die Webersche Methodologie vermischte sich mit der Politik der marxistischen Analyse. In diesem Sinne gab es zwischen den Quaderni rossi und der Classe operaia oder zwischen Vittorio Rieser und Romano Alquati weniger Unstimmigkeiten, als wir damals dachten. Die Verdienste der italienischen Soziologie durch den Operaismus sind heute weithin anerkannt; aber es war auch ein Kontext, in dem neue Wege der Geschichte ins Auge gefasst wurden. Umberto Coldagelli und Gaspare De Caro eröffneten mit ihren “Marxistischen Forschungshypothesen zur Zeitgeschichte” in Quaderni rossi No 3 einen kritischen Weg. Coldagelli begann sein langwieriges Unterfangen, sich mit der politischen und institutionellen Geschichte Frankreichs zu befassen; Sergio Bologna begann seine Forschungen über Deutschland, den Nazismus und die Arbeiterklasse.
Wege durch das Fegefeuer
Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Panzieri und den Soziologen der Quaderni rossi betrafen die Idee und Praxis der Politik, nichts anderes. Das Primat der Politik war von Anfang an in Classe operaia präsent, die 1963 als “politische Zeitung der kämpfenden Arbeiter” gegründet wurde. Der Slogan meines Leitartikels “Lenin in England” in der ersten Ausgabe – “erst die Arbeiter, dann das Kapital”; das heißt, es sind die Kämpfe der Arbeiter, die den Lauf der kapitalistischen Entwicklung vorantreiben – das war Politik: Wille, Entscheidung, Organisation, Konflikt. Der Übergang von der Analyse der Bedingungen der Arbeiter, wie es die Quaderni rossi weiterhin taten, zur Intervention in die Forderungen, die sie für ihre Klasseninteressen vorbrachten, war es, der dem Sprung von der Zeitschrift zur Zeitung seinen Sinn gab. Und wenn die Quaderni rossi eine inhaltliche Innovation darstellten, so war Classe operaia auch eine formale Revolution. Die Wahl der Grafiken war eine Frage der hohen Kunstfertigkeit; Dichter und Schriftsteller, von Babel bis Brecht, Majakowski bis Eluard, bevölkerten die Seiten; die Classe operaia leistete Pionierarbeit in der politischen Satire im Comicstil – der siegreiche Drache, der einen fliehenden Heiligen Georg jagt, in einer Umkehrung von Leibeigenem und Herrscher. Wir sahen Classe operaia als die Politecnico – die legendäre kulturelle Wochenzeitung der Nachkriegszeit – der Fabrikarbeiter.
Auf dem roten Impressum der Zeitung standen die Worte von Marx: ‘Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist immer noch auf ihrer Reise durch das Fegefeuer. Sie geht methodisch vor.’ Die Revolution ist sorgfältig. Togliattis Übersetzung/Interpretation: Sie geht den Dingen auf den Grund. Nicht schlecht. Das aber war am Anfang entscheidend; ein wesentlicher Zweifel. Heute wissen wir nicht mehr, ob es noch systematisch oder vielleicht prekär arbeitet oder ob es sich tatsächlich zurückgezogen hat. Lange, langsame Perioden der Restauration sind – mehr als andere Epochen – anfällig für Irrlichter der revolutionären Illusion; zwischen 1848 und 1871 sah Marx mehrere davon. Von unserer kleinen Nische aus sahen wir andere, und dies sollte später eines der Auswahlkriterien für diejenigen sein, die die operaistische Erfahrung auf das Feld des Kampfes mitnahmen. Die berühmte Spaltung der Quaderni rossi mag heute auf den ersten Blick auf die Unvereinbarkeit von Figuren wie Panzieri und Romano Alquati zurückzuführen sein. Sie kamen auf der Grundlage eines gemeinsamen Forschungsprojekts zusammen, konnten aber nicht nebeneinander existieren. In Alquati wurde die intellektuelle Unordnung zum Genie erhoben. Er sah nicht so sehr das, was ist, sondern das, was im Entstehen begriffen war. Er erzählte uns, dass er erst als Erwachsener, als er sich endlich eine Brille kaufen konnte, erkannte, dass die Felder grün waren. Alquati erfand, also intuitiv, und er sagte, er sei immer einen Schritt voraus. Aber er war es, der uns zeigte, wie die jungen Fiat-Arbeiter ihren Kampf führten.
Mit anderen Worten, wir haben ein schönes altes Tollhaus zusammengebracht. Bei unseren Treffen verbrachten wir die Hälfte der Zeit mit Reden und den Rest mit Lachen. Und abgesehen von ein paar PCI-Aktivisten habe ich noch nie Menschen getroffen, die menschlich mehr wert waren als die, mit denen ich zuerst bei den Quaderni rossi und dann bei Classe operaia zu tun hatte: ein so selbstloses öffentliches Engagement, frei von jeglichem persönlichen Ehrgeiz; ein so geradliniger Sinn für Engagement; und nicht zuletzt eine so entzauberte, selbstironische Art, die gemeinsame Arbeit zu teilen. Die Genossen von Quaderni rossi sind besser bekannt und wurden von den darauffolgenden feindlichen Zeiten begnadigt und in den Paradiesgarten der Wohlgesinnten aufgenommen. Die Genossen der Classe operaia werden weniger zitiert und häufiger angeprangert; ich erinnere mich mit unendlicher Nostalgie an sie. Diese jungen Männer und Frauen haben nicht über eine “neue Art, Politik zu machen” theoretisiert. Sie haben sie praktiziert.
Unser ‘Workerismus’
Was also ist der Operaismus? Eine Erfahrung intellektueller Bildung, mit Jahren der Novizenschaft und der Pilgerschaft; eine Episode in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die zwischen Kampfformen und organisatorischen Lösungen oszilliert; ein Versuch, in Italien und darüber hinaus mit der marxistischen Orthodoxie über die Beziehungen zwischen Arbeitern und Kapital zu brechen; eine versuchte Kulturrevolution im Westen. In diesem letzten Sinne war der Operaismus auch ein spezifisches Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts. Er entstand genau in dem Moment des Übergangs, als sich die tragische Größe des Jahrhunderts gegen sich selbst wandte und von einem permanenten Ausnahmezustand in eine neue “normale”, epochenlose Zeit überging. Wenn wir auf die 1960er Jahre zurückblicken, können wir feststellen, dass diese Jahre eine Übergangsfunktion hatten. Die maximale Unordnung erneuerte die bestehende Ordnung. Alles veränderte sich, damit alles Wesentliche gleich bleiben konnte.
Der Fabrikarbeiter, dem wir begegneten, war eine Figur aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Wir haben nie den Begriff “Proletariat” verwendet: “Unsere” Arbeiter waren nicht wie die in Engels’ Manchester, sondern eher wie die in Detroit. Wir brachten nicht ‘The Condition of the Working Class in England in 1844’ mit in die Fabriken, sondern den Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit in den ‘Grundrissen’. Wir wurden nicht von einer ethischen Revolte gegen die Ausbeutung in den Fabriken bewegt, sondern von politischer Bewunderung für die Praktiken des Ungehorsams, die sie erfunden haben. Man muss unserem Operaismus zugutehalten, dass er nicht in die Falle des Dritte-Welt-Gedankens, des Kampfes vom Lande gegen die Stadt und der langen Bauernmärsche getappt ist. Wir waren nie Chinesen, und die Kulturrevolution des Ostens hat uns kalt gelassen, entfremdet, mehr als nur ein wenig skeptisch und in der Tat sehr kritisch ihr gegenüber. Rot war und ist unsere Lieblingsfarbe, aber wir wissen, dass, wenn Gardisten oder Brigaden sie aufgreifen, nur die schlimmsten Seiten der menschlichen Geschichte daraus entstehen können.
Aber wir begrüßten die Tatsache, dass die Arbeiter des 20. Jahrhunderts die “lange und glorreiche” Geschichte der unteren Klassen mit ihren verzweifelten Rebellionen, ihren tausendjährigen Irrlehren, ihren immer wiederkehrenden und großartigen Versuchen, ihre Ketten zu sprengen, durchgehalten hatten – um immer schmerzhaft unterdrückt zu werden. In den großen Fabriken war der Konflikt fast identisch. Wir gewannen und verloren Tag für Tag in einem ständigen Grabenkrieg. Wir waren begeistert von den Formen des Kampfes, aber auch von seinem Zeitpunkt, den ergriffenen Momenten, den auferlegten Bedingungen, den verfolgten Zielen und den Mitteln, um sie zu verfolgen: nicht mehr zu verlangen, als möglich war, und nicht weniger, als erreicht werden konnte. Eine weitere einschneidende Entdeckung war die Feststellung, dass es während der langen Phase der scheinbaren Ruhe im Werk – von 1955 (Niederlage bei den Wahlen zur Betriebskommission) bis zur Wiederaufnahme der allgemeinen Tarifkämpfe im Jahr 1962 – keine Passivität der Arbeiter gab, sondern eine andere Art des wilden Kampfes: der ‘Salto della scocca’ (“Überspringen eines Fahrgestells”), Sabotage am Fließband, die aufmüpfige Anwendung der tayloristischen Produktionspläne.
Ja, diese Arbeiter waren die Kinder der antifaschistischen Arbeiter von 1943, die Lagerhallen und Maschinen vor der Zerstörung durch die Nazis gerettet hatten. Aber sie waren auch die Erben der Fabrikbesetzungen der Revolutionsjahre 1919-20, als die rote Fahne über den Fabriken wehte und von dem Willen zeugte, es so zu machen wie in Russland. In der erzwungenen Konzentration der Industriearbeit in Italien zwischen den 50er und 60er Jahren schufen die Erfordernisse einer rasanten kapitalistischen Entwicklung einen noch nie dagewesenen Schmelztiegel historischer Erfahrungen, alltäglicher Bedürfnisse, gewerkschaftlicher Unzufriedenheit und politischer Forderungen; das war es, was die operaisti – zweifellos naiv – zu interpretieren versuchten. Eine gesegnete Naivität, die uns – wie Fortini sagte – “klug wie Tauben” machte. Der Operaismus war unsere Universität; wir machten unseren Abschluss im Klassenkampf, der uns nicht zum Lehren, sondern zum Leben befähigte. Die Sichtweise der Arbeiter wurde zu einem politischen Mittel, die Welt zu sehen, und zu einer menschlichen Art, in ihr zu agieren, indem wir immer auf derselben Seite blieben. Tatsache ist, dass die gesamte Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Figur des Massenarbeiters zusammenlief; nur das Arbeitersubjekt, das in dieser Zeit, zwischen 1914 und 1945, auftauchte und danach heranwuchs, konnte sich auf den Gipfel dieser Geschichte erheben.
Doch mit den 1960er Jahren begann bereits die niedergehende Jahrhunderthälfte; nur der miserable Verlauf der folgenden Jahrzehnte bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus konnte sie als eine wundersame Zeit des Neuanfangs erscheinen lassen. Der qualitative Unterschied zwischen Unruhen und Revolution muss genauer untersucht werden. Die Macht zu kritisieren ist eine Sache, sie in eine Krise zu stürzen eine andere. Die Emanzipation des Individuums in den 1960er Jahren führte zur Wiederherstellung des alten Gleichgewichts der Kräfte, das nun mit einigen neuen Reformen verschönert wurde. Wir waren die Opfer in diesem Prozess, der keine Anomalie, sondern ein normales Merkmal der Politik war. Dies zu verstehen, reicht nicht aus, um den Prozess zu kippen, aber es ist eine notwendige Voraussetzung dafür. Die ganze Diskussion über die “Autonomie des Politischen” – die ihren Ursprung im Operaismus hatte und sich von dort aus verbreitete – drehte sich um diesen Punkt. Die Kämpfe der Arbeiter bestimmen den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung; aber die kapitalistische Entwicklung wird diese Kämpfe für ihre eigenen Zwecke nutzen, wenn kein organisierter revolutionärer Prozess in Gang kommt, der in der Lage ist, dieses Kräfteverhältnis zu verändern. Dies lässt sich leicht an den sozialen Kämpfen erkennen, in denen sich der gesamte systemische Herrschaftsapparat neu positioniert, reformiert, demokratisiert und stabilisiert.
Ein Paradoxon: Die kulturell rückständigsten Kämpfe – für die “Emanzipation” – hatten soziale Folgen, die für die Arbeiterschaft günstig waren und das Kapital zu Zugeständnissen zwangen: Sozialstaat, Verfassungsreformen, die Rolle der Gewerkschaften und Parteien. Die kulturell fortschrittlicheren Kämpfe – für die Befreiung – führten jedoch zu einem rachsüchtigen Wiederaufleben des Kapitalismus, zu der einzigartigen Vorstellung einer einzigen möglichen Gesellschaftsform und zur Unterordnung alles Menschlichen unter eine universelle Theorie und Praxis des bürgerlichen Lebens. Vielleicht, so würden Konservative und Liberale im Chor sagen, waren die ersten Kämpfe richtig und die zweiten falsch? Ich glaube, wir müssen nach einer anderen Erklärung suchen. In den Kämpfen für die Emanzipation spielte die organisierte Arbeiterbewegung eine zentrale, aktive Rolle. In den Befreiungskämpfen war es die Krise dieser Bewegung, die eine aktive Rolle spielte – und paradoxerweise verschärften die Kämpfe diese Krise. Hat der Operaismus auch auf diese Weise funktioniert? Ich lasse die Frage offen.
Der Operaismus und die PCI
Es gab jedoch eine einfache Tatsache, die nicht durch einen Akt des politischen Willens beseitigt werden konnte. Viele derjenigen, die die “alternative Subjektivität” der 1960er Jahre ausmachten, hatten sich außerhalb der offiziellen, institutionellen Formen der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien formiert und waren in gewisser Weise gegen diese gerichtet. So wurde 1962 der Kampf der Fiat-Arbeiter um einen neuen Vertrag zum Anlass für eine außergewöhnliche öffentliche Agitation, die sich auf nationaler Ebene bemerkbar machte. Auf diese Weise wurde die politische Zentralität der Arbeiterklasse in die Praxis umgesetzt, indem Brechts Vorschlag an die Pariser Antifaschistenkonferenz von 1935 bei jedem Ausbruch wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde: “Genossen, lasst uns über die Eigentumsverhältnisse sprechen!” Aber die PCI wurde ihrer Aufgabe, die großen Arbeiterkämpfe der frühen 60er Jahre in hohe Politik zu übersetzen, nicht gerecht. Anders als gemeinhin angenommen, war die “Partei der Arbeiterklasse” eher bereit, auf das 68er der Studenten zu hören als auf das 69er der italienischen Arbeiter. (Auch dafür gibt es einen nachträglichen Beweis: In den folgenden Jahren wurde die Parteiführung weit mehr aus den Reihen der Studenten als aus denen der Arbeiter aufgefüllt). Zugleich entwickelte sich ein linker Antikommunismus, der einer historischen Analyse bedarf. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um einen Anti-PCI, der sich aus intellektuellen Kräften zusammensetzte, die auch heute noch existieren (trotz des Verschwindens ihres Gegners), die im Schatten einer Bewegung, einer Generation, einer Weltanschauung aufwuchsen; einer Art des Fühlens, der Vertrautheit und der Kommunikation, anstatt des Seins, des Denkens und des Kampfes. Zu den Vorreitern von damals gesellte sich nun ein Heer von Reumütigen.
Dieses Phänomen verstärkte sich nach dem Tod Togliattis im Jahr 1964, nicht nur wegen des realen Rückgangs der Vermittlungsfähigkeit der Partei, sondern auch wegen der tiefgreifenden Veränderungen, die sich in der italienischen Gesellschaft vollzogen. Erst Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre kam der moderne Kapitalismus in Italien so richtig in Schwung, und die alte, kleine Welt der Zivilgesellschaft, die in der Erinnerung an das neunzehnte Jahrhundert verankert war, ging endgültig zu Ende. Das kleingeistige “Italietta” des Risorgimento lastete noch immer auf uns, die wir in den 1930er Jahren geboren wurden; wir würden mehr aus der Beschäftigung mit diesem Jahrzehnt lernen als aus der Erfahrung all derer, die folgten. Wir wurden gegen die Krankheit der ‘Vetero-Italica’ geimpft. Die gesamte italienische Geschichte war bis zu diesem Zeitpunkt eine Nebengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Diejenigen von uns, die versuchten, auf moderne, desillusionierte Weise zu denken, spürten ihr Gewicht auf unseren Schultern – von den Beschränkungen der italienischen Sprache bis hin zur Blindheit ihrer Kultur. Wie wir bei der Lektüre von Locke und Montesquieu und bei der Untersuchung des Westminster-Modells feststellten, war die gesamte vorfaschistische Ära letztlich eine Karikatur der westlichen liberalen Systeme. Und die beiden “roten Biennien”, die sich so sehr voneinander unterscheiden – 1919-20 und 1945-46 – waren magische Momente, die nur aus der Asche der großen Kriege entstehen konnten.
Die stille Stärke der KPI bestand darin, sich in diese kleine Geschichte der longue durée einzufügen, ihre Ziele zurückzuschrauben, jeder Impulsivität Einhalt zu gebieten, ein “was zu tun ist” zu organisieren, das nie über das Mögliche hinausging und darauf achtete, nie nach dem Unmöglichen zu greifen. Das “national-populäre” der PCI war für uns Arbeiter ein Schreckgespenst, auf kultureller Ebene noch vor der politischen, das haben wir schon früh verstanden. Unser Genosse Alberto Asor Rosa schrieb 1964, im Alter von dreißig Jahren, ‘Scrittori e popolo’: ein Essay über – und gegen – die populistische Literatur in Italien. (5) Sein Buch markierte den Beginn einer Krise eines Aspekts der italienischen politischen Kultur, der bis zu diesem Zeitpunkt hegemonial geblieben war. Doch ohne diese populäre – nicht populistische – Politik hätten wir niemals Grund zu singen gehabt: Avanti, avanti, il gran partito noi siamo dei lavoratori . . . Die wirkliche Stärke der PCI war ihre bewusste Strategie, sich klar und kulturell in dem Volk zu verwurzeln, das aus dieser Geschichte hervorgegangen war.
Es ist ein Gemeinplatz zu sagen, dass die PCI die wahre italienische Sozialdemokratie war. Das war sie aber nicht. Vielmehr war sie die italienische Version einer kommunistischen Partei. Der italienische Weg zum Sozialismus war lang und führte weit in die Ferne: Hinter uns lag die Geschichte einer Nation, die Realität eines Volkes, die Tradition einer Kultur. Das Leben und das Werk von Gramsci fassten diese Dinge zusammen und hinterließen ihr hegemoniales intellektuelles Erbe in der totalisierenden politischen Aktion von Togliatti. So war der Reformismus in einem ursprünglichen Sinne die politische Form, die der revolutionäre Prozess in diesem Kontext annahm. Dieser Zyklus endete mit der Auflösung des Mythos der kapitalistischen Rückständigkeit, der sich in der PCI lange gehalten hatte, selbst während des Aufstiegs der kapitalistischen Entwicklung in Italien. Die orthodoxeste Fraktion der Togliatti, die Amendola-Gruppe, kultivierte diesen Mythos über jedes vertretbare Maß hinaus und machte ihn zur sozialen Grundlage für einen kulturellen Common Sense. Hier kam es zur Spaltung zwischen der Partei und jungen, aufstrebenden intellektuellen Kräften, die in Teilen des gewerkschaftlichen Sektors, vor allem im Norden, und in den widerspenstigen Reihen der Partei Unterstützung fanden. (6)
Tatsächlich waren die Kämpfe der norditalienischen Arbeiter Anfang der 60er Jahre denen des amerikanischen New Deal ähnlicher als denen der süditalienischen Landarbeiter in den 50er Jahren. Der apulische Arbeiter, der in Turin zum Massenarbeiter wurde, war das Symbol für das Ende der Geschichte der “Italietta”. Togliatti hatte ein gutes Verständnis für die übergeordneten und politischen Aspekte der frühen Mitte-Links-Bewegung, war aber nicht in der Lage, die sozialen und materiellen Ursachen, die sie hervorgebracht hatten, und die zentrale Rolle der großen Fabrik zu erkennen. Quaderni rossi und Classe operaia sahen deutlicher als die Zeitschriften der PCI, Società und Rinascita, den Nexus Fabrik-Gesellschaft-Politik als den strategischen Ort, an dem sich kapitalistische Transformationen vollzogen. Man braucht nur in den Zeitschriften der operaisti zu blättern: Korrespondenz aus den Fabriken, Analyse der Umstrukturierung des Produktionsprozesses vor Ort, Bewertung von Managementstrategien, Kritik an Forderungen, Bewertung von Verträgen, Interventionen in Kämpfe, internationale Themen, aber auch Leitartikel zu den wichtigsten politischen Fragen der Zeit.
Eine Kultur der Krise
Die Hypothese, dass die Kette nicht dort gebrochen werden muss, wo das Kapital am schwächsten ist, sondern dort, wo die Arbeiterklasse am stärksten ist, bestimmte die Agenda der operaista. Noch heute bin ich mir nicht sicher, ob die Lust am intellektuellen Abenteuer und die Wahrnehmung politischer Verantwortung wirklich miteinander vereinbar sind; doch in den politischen Freundschaften, die auf dieser Grundlage entstanden, existierten sie für uns nebeneinander. Wenn auch sonst nicht viel dabei herauskam, so haben wir doch zumindest einen Weg gefunden, mit einer angenehmen hominis dignitate in einer feindlichen Welt zu überleben. In diesem Sinne war unser Operaismus im Wesentlichen eine Form der Kulturrevolution, die eher bedeutende intellektuelle Persönlichkeiten hervorbrachte als historische Ereignisse zu bestimmen. Mehr als eine Art, Politik zu machen, definierte er eine Art, politische Kultur zu machen. Es handelte sich um eine seriöse Hochkultur: Spezialisierung ohne Akademisierung, die auf eine Praxis mit strategischer Konsistenz und historischer Tiefe abzielte. Es ging darum, eine postproletarische Aristokratie des Volkes wiederherzustellen oder vielleicht zu etablieren, gegen die bestehenden Strömungen eines bürgerlichen Populismus. Wir sahen ein Subjekt ohne Form – oder besser gesagt, mit einer traditionellen, historischen Form, die in der Krise war. Unser neues soziales Subjekt, der Massenarbeiter, war nicht mehr in der alten politischen Form enthalten. Ein Subjekt, das aus der Krise geboren wird, ist ein kritisches Subjekt. Zwischen dem Operaismus und dem mitteleuropäischen Denken des 19. Jahrhunderts sollte sich später eine leidenschaftliche Liebesbeziehung entwickeln: eine Liebe, die nicht enttäuscht wurde und die, wie ich sagen würde, erwidert wurde, wenn man die in diesem Rahmen entstandenen Werke betrachtet. Es genügt, Zeitschriften wie Angelus Novus, Contropiano und später – in gewissem Maße – Laboratorio politico zu lesen, um sich davon zu überzeugen, dass für uns die Kommunikation nie vom Denken getrennt war.
Viel Tinte wurde in Kontroversen über den Anti-Hegelianismus im italienischen Operaismus vergossen. Der Hegelianismus findet sich vor allem in der Ideologie der Arbeiter als “universelle Klasse”, die in der Zeit der Zweiten Internationale von der kantischen Ethik und in der Zeit der Dritten Internationale vom dialektischen Materialismus durchdrungen ist. Dieses Bild des Proletariats, das “sich selbst befreit und die ganze Menschheit befreit”, wie es Marx im 19. Jahrhundert vertrat, wurde durch Munchs Schrei zertrümmert, dem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der große Zusammenbruch aller Erscheinungsformen folgte. Wir sprechen hier von den künstlerischen, aber auch von den wissenschaftlichen und philosophischen Avantgarden sowie von der Revolution aller anderen kollektiven menschlichen Formen, der sozialen, wirtschaftlichen und politischen, unter dem tragischen Eindruck des ersten großen europäischen und weltweiten Bürgerkriegs (1914!). Die Flut des menschlichen Fortschritts – die Belle Époque – prallte gegen die Wand des schlimmsten Massakers, das es je gegeben hat. Doch wo Gefahr ist, wächst auch Befreiung. Aus diesem Inferno erwuchs das Prinzip Hoffnung: das fortschrittlichste revolutionäre Experiment, das je gestartet wurde. Es waren die Bolschewiki, allein und verflucht, die den Sprung wagten; alles, was im Laufe ihres Experiments folgte, kann die Dankbarkeit nicht aufheben, die die Menschheit für diese heroische Anstrengung schuldet. Man muss kein Kommunist sein, um das zu verstehen. Und wer das nicht versteht – oder nicht verstehen will -, dem fehlt ein Teil der Seele, die er braucht, um in dieser Welt zu existieren und politisch zu handeln. Wir hatten das Glück, mit diesem Gedanken aufzubrechen. Wir fügten die Tugend der “Arbeiterperspektive” hinzu, und so begann das intellektuelle Abenteuer, von dem hier berichtet wird.
Die Kritik an 1968
Zwei glückliche Fügungen des Schicksals: Wir erlebten 1956, als wir noch jung waren, und 1968, als wir es nicht mehr waren. Dies ermöglichte es uns, den politischen Kern zu erfassen, der unter der ideologischen Kruste dieser Ereignisse lag. Wir konnten auf 1956 ohne die historischen Fesseln reagieren, die auf der vorangegangenen Generation lasteten; wir konnten die Möglichkeiten ergreifen, die es eröffnete. Wir hatten keine andere Wahl, als uns mit den Ereignissen auseinanderzusetzen, uns selbst zu hinterfragen, Entscheidungen zu treffen und zwischen zwei Seiten zu wählen. Ich habe nie die Vorstellungen von Gut und Böse akzeptiert, mit denen die Kirche die Gläubigen zähmen will. Aber ich habe durch harte Erfahrung verstanden, dass das Böse die langen, trostlosen Zeiten bedeutet, in denen nichts geschieht; das Gute zeigt sich, wenn man gezwungen ist, Stellung zu beziehen; es ist der Fall in die Sünde, der einen zur Freiheit erweckt. Auch der Nihilismus entsteht nicht durch dunkle Perioden der Barbarei, sondern durch falsche Schimmer der Zivilisation, gegen die er nicht die schlechteste Reaktion ist.
Im Jahr 1956 war kein Platz für narzisstische Spielereien oder die Analyse des Unbewussten – zumindest nicht in dem unruhigen Terrain, das die internationale kommunistische Bewegung war. Die politische Katastrophe löste eine große kulturelle Krise aus. Parteitag der KPdSU, die Geheimrede Chruschtschows, der ungarische Aufstand und seine Niederschlagung – alles wurde nach und nach aufgearbeitet. Die Mandarine von Togliatti bewegte sich vorsichtig zwischen den Widersprüchen des Sowjetsystems und vulgarisierte das gramscianische Edikt gegen Croce: weniger Dialektik der Gegensätze, mehr Dialektik der Unterschiede. Wir waren jung und freigeistig, wir wollten, so naiv es auch erscheinen mag, Klarheit und nicht Verwirrung, doch man bot uns ein zartes Hell-Dunkel. Es war das erste “Nein”, das wir den Parteiführern gaben – wütend, aber nachdrücklich. Da wir den Krieg gegen den Faschismus nicht miterlebt hatten, fühlten wir uns nicht mit dem sozialistischen Mutterland verbunden: Es war nicht zum Mittelpunkt unseres Lebens geworden. Für unsere Vorfahren war der Antifaschismus ein politischer und moralischer Imperativ, der das eigene Leben für immer prägen konnte; eine Verpflichtung von großer menschlicher Intensität, der sich kein denkendes Herz im Klima jener Zeit entziehen konnte. In den 1930er Jahren geboren, waren wir zu jung für den antifaschistischen Widerstand und fürchteten in der Nachkriegszeit nie die Rückkehr des Faschismus. Als Militante erlebten wir den Kalten Krieg als einen “Kampf der Kulturen”, nicht als einen Konflikt um Einflusssphären. Von diesem Zeitpunkt an war in unserem Denken kein Platz mehr für “großartige und fortschrittliche Schicksale”. Der Kommunismus war nicht mehr die Endstation auf einer Eisenbahnlinie, die die Menschheit unaufhaltsam in Richtung Fortschritt führte. In der Nachfolge von Marx wäre er die Selbstkritik der Gegenwart; in der Nachfolge von Lenin wäre er die Organisation einer Kraft, die in der Lage ist, das schwächste Glied in der Kette der Geschichte zu zerschlagen.
Diese erneute Erwähnung von 1956 ist nicht übertrieben. Ohne diesen Sprung hätte es den Operaismus nie gegeben: Wir hätten weder Panzieris “Thesen zur Arbeiterkontrolle” gehabt, noch wären wir als Intellektuelle der Krise zusammengekommen. (7) Das Jahr 1968 hätte trotzdem stattgefunden – es entsprang anderen Wurzeln, den Modernisierungszwängen der kapitalistischen Gesellschaft -, aber vielleicht hätte es eine andere Form angenommen, mit mehr Blumenkindern und weniger Revolutionärslehrlingen. Wir haben 1968 als Erwachsene erlebt, was ein weiterer Glücksfall war, denn dieses Jahr in der Jugend zu erleben, erwies sich auf lange Sicht als großes Unglück (wie Marx sagte, es sei, Lohnarbeiter zu sein). Der Schein hat sich durchgesetzt und die wirkliche Substanz ist verloren gegangen. Der Schein, d.h. das, was die Bewegung symbolisch zum Ausdruck brachte, war ihr antiautoritärer Charakter. Das funktionierte auf seine Weise. Die Substanz war ihr Charakter als Revolte. Das war nicht von Dauer: Bei Einzelnen wurde sie ausgelöscht und absorbiert, bei Gruppen wurde sie abgelenkt und verfälscht.
Diejenigen von uns, die die Kämpfe der Fabrikarbeiter in den frühen 60er Jahren miterlebt hatten, betrachteten die Studentenproteste mit wohlwollender Distanz. Wir hatten keinen Generationenkonflikt vorausgesagt, obwohl wir in den Fabriken die neue Schicht der Arbeiter – vor allem junge Migranten aus dem Süden – kennengelernt hatten, die aktiv und kreativ waren und immer an der Spitze standen (jedenfalls im Vergleich zu den älteren Arbeitern, die von den vergangenen Niederlagen erschöpft waren). Aber in den Fabriken hielt das Band zwischen Vätern und Söhnen immer noch zusammen; in der Mittelschicht war es zerrissen. Dies war ein interessantes Phänomen, aber nicht entscheidend für die Veränderung des strukturellen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. In Valle Giulia waren wir im März 68 auf der Seite der Studenten gegen die Polizei – nicht wie Pasolini. Aber gleichzeitig wussten wir, dass es sich um einen Kampf hinter den feindlichen Linien handelte, bei dem es darum ging, wer für die Modernisierung zuständig sein würde. Die alte herrschende Klasse, die Kriegsgeneration, war erschöpft. Eine neue Elite drängte ans Licht, eine neue Führungsschicht für den globalisierten Kapitalismus der Zukunft. Der Kalte Krieg war längst zum Hindernis geworden, die Krise der Politik, der Parteien und der “Öffentlichkeit” war da. Das Gift der “Anti-Politik” wurde erstmals von den 68er-Bewegungen in die Adern der Gesellschaft gespritzt. Die Reifung der Zivilgesellschaft und die Eroberung neuer Rechte veränderten das kollektive Bewusstsein. Vor allem aber waren diese Veränderungen für den italienischen Kapitalismus und sein Streben nach Modernität von Vorteil. Die Reprivatisierung des gesamten Systems der sozialen Beziehungen begann mit dieser Periode, die noch nicht zu Ende gegangen ist.
Paradoxe Auswirkungen
Die bemerkenswerte Jugend von 68 verstand nicht – und wir auch nicht, obwohl wir es bald begreifen würden – diese Wahrheit: Die Zerstörung der Autorität bedeutete nicht automatisch die Befreiung der menschlichen Vielfalt; sie konnte, und so geschah es auch, die Freiheit speziell für die tierischen Geister des Kapitalismus bedeuten, die unruhig im eisernen Käfig des Gesellschaftsvertrags herumgestampft hatten, den das System als unvermeidliches Heilmittel für die Jahre der Revolution, der Krise und des Krieges angesehen hatte. Das Jahr 68 war ein klassisches Beispiel für die Heterogenität der Ziele. Der Slogan ce n’est qu’un début konnte nur für eine sehr kurze Zeit erfolgreich sein, vor dem Hintergrund einer Eruption in der gesamten westlichen Welt, die die Stärke der Bewegung ausmachte. Der Ruf “la lutte continue” war bereits ein Eingeständnis der Niederlage.
Auf lange Sicht war das Spiel verloren. Die Radikalisierung des Diskurses über die Autonomie des Politischen ab Anfang der 70er Jahre entstand aus diesem Scheitern der Aufstandsbewegungen, von den Arbeiterkämpfen bis zur Jugendrevolte, die sich über das Jahrzehnt der 60er Jahre erstreckt hatten. Was fehlte, war das entschlossene Eingreifen einer organisierten Kraft, das nur aus der bestehenden Arbeiterbewegung und damit von den Kommunisten hätte kommen können. Eine konzertierte Initiative hätte die zögernden sozialdemokratischen Parteien Europas zu einem historischen Wiederaufbau bewegen können, für den die Zeit reif war. Wir hätten auf eine neue “Politik von oben” innerhalb der Basisbewegungen drängen müssen, um dem impliziten Abdriften in die Antipolitik entgegenzuwirken und so das soziale und politische Kräftegleichgewicht zu stören, anstatt es zu stabilisieren. In diesem Moment war eine andere Welt möglich. Später, und zwar für lange Zeit, würde sie es nicht sein. Die Gelegenheit wurde nicht genutzt, der flüchtige Moment verging, und die Toten eroberten die Lebenden zurück. Reale Prozesse besiegten imaginäre Subjekte. In mancherlei Hinsicht lief es in den USA besser als in Europa. Dort wurde der amerikanische Goliath durch den vietnamesischen David gedemütigt. Hier ging es von der Pariser Rebellion zum Einmarsch in Prag, von den Quaderni rossi zu den nouveaux philosophes, von Woodstock zur Piazza Fontana und von den Blumenkindern zu den anni di piombo. “The times they are a’ changing”: Zehn Jahre nach 68 hatten sich die Zeiten wirklich geändert. Die Trilaterale Kommission diktierte die Grundsätze der neuen Weltordnung und ihrer bürgerlichen Religion.
In Italien war die Ära des klassischen Operaismus beendet. Classe operaia traf die umstrittene Entscheidung, ihr Projekt für beendet zu erklären. “Abonnieren Sie nicht”, teilte sie ihren Lesern in der letzten Ausgabe, die 1967 erschien, mit charakteristischer Ironie mit, “wir gehen jetzt”. Welche Rolle hätte die “politische Zeitung der kämpfenden Arbeiter” spielen können, wenn sie während der Ereignisse von 1968 noch am Leben gewesen wäre, mit ihrem kompakten, angesehenen Kern von Militanten? Hätte sie die Bewegung beeinflussen, ihr eine Richtung geben, ihr eine politische Orientierung geben können? Das glaube ich nicht. Die Entscheidung, sie zu schließen, wurde getroffen, um die Gefahr zu vermeiden, dass sie sich in eine “Gruppe” verwandelt, mit all den üblichen Deformationen: Minoritarismus, Selbstreferenzialität, Hierarchisierung, “Doppelschichten”, unbewusste Nachahmung der Praktiken des ” dualen Staates” und so weiter. Im besten Fall wurden kleine Gruppen auf fatale Weise dazu verleitet, die Untugenden größerer Organisationen zu wiederholen. Es gab also keine Kontinuität zwischen dem politischen Operaismus und den potenziell anti-politischen Bewegungen von 1968. Natürlich lächelten wir, als wir hörten, wie die Leute “Studentenmacht” skandierten, aber ich erinnere mich lebhaft an den Moment, als bei einem Studentenmarsch auf dem Corso in Rom unerwartet der Ruf “Arbeitermacht” ertönte. Wenn der Operaismus 68 gegenüber zurückhaltend war, so entdeckte 68 den Operaismus, und zwar lange vor dem “heißen Herbst” von 69. “Studenten und Arbeiter, vereint im Kampf” war ein mitreißender, mobilisierender Slogan, der dazu beitrug, eine großzügige Generation von Kämpfern zu formen, die immer noch still in den Poren der Zivilgesellschaft präsent ist.
Die Classe operaia wurde gerade zu dem Zeitpunkt still gelegt, als der Elfte Parteitag der PCI eröffnet wurde. Nie war das Zusammentreffen von Gegensätzen auffälliger. Ich war damals von der Partei suspendiert, aber die Parteimitgliedschaft – der Beitritt aus freien Stücken – war eine Selbstverständlichkeit: Das war schon vor der Erfahrung der operaista so und blieb so, solange il partito existierte. Aber wir mischten uns nicht ein in die erbitterten Kämpfe an der Spitze um die Führung, die nach Togliatti kamen. Wir waren gegen Amendola, ohne für Ingrao zu sein. Die Idee einer einzigen linken Partei für Italien, die eine ausdrückliche Sozialdemokratisierung der PCI bedeuten würde, gefiel uns nicht. Aber vor allem kämpften wir für die Rechte der Partei in der Frage ihrer Analyse des italienischen Kapitalismus. Wir vertraten in echter marxistischer Manier das Konzept des Neokapitalismus, das wir als eine fortschrittlichere – und daher produktivere – Form des Kampfes ansahen, während die andere Seite eine veraltete Sicht der italienischen Wirtschaft hatte, die durch eine ebenso rückständige sowjetische Orthodoxie verstärkt wurde. Denn auch der internationale Kontext hatte sich mit dem Beginn der Entspannung im Kalten Krieg und der “friedlichen Koexistenz” zwischen den beiden Systemen verändert. Das Kapital bräuchte eine neue Schar von politischen Fachleuten, die mit einer anderen kulturellen Tradition – die erst noch aufgebaut werden muss – und mit neuen intellektuellen Werkzeugen ausgestattet sind. Dies wäre eine für den Neokapitalismus aktualisierte Figur, ein Fachmann und Politiker in Personalunion, der in der Lage ist, geschickt mit den Unwägbarkeiten der Unordnung umzugehen.
Der italienische “heiße Herbst” von 1969 war eine spontane Bewegung: das war auch ihre Begrenzung, ihr flüchtiger Charakter mündete mittel- bis langfristig in die strukturierende Rolle der Modernisierung ohne Revolution. Der Operaismus war, zumindest in Italien, eine der Gründungsprämissen von 1968; gleichzeitig übte er aber auch eine substanzielle Kritik an 68 im Voraus. Das Jahr 1969 wiederum korrigierte vieles und sorgte für viel mehr Unruhe. Das war das eigentliche annus mirabilis. Neunzehnhundertachtundsechzig wurde in Berkeley geboren und in Paris getauft. Es kam in Italien an, noch jung und doch schon reif, zwischen Arbeitern und PCI, genau dort, wo wir uns positioniert hatten. Der Operaismus trieb 1968 über seine Grenzen hinaus. Im Jahr 1969 ging es nicht mehr um Antiautoritarismus, sondern um Antikapitalismus. Arbeiter und Kapital standen sich physisch Auge in Auge gegenüber. Mit dem autunno caldo wirkten sich die Löhne direkt auf die Gewinne aus; das Kräfteverhältnis verschob sich zu Gunsten der Arbeiter und zu Ungunsten der Bosse. Die Idee des lotta operaia erhielt eine allgemeine soziale Dimension. Dies zeigte sich in zwei Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Erstens, ein Sprung im nationalen sozialen Bewusstsein und eine politische Öffnung für einen Konsens in der größten Oppositionspartei, die sich formell immer noch als Partei der Arbeiterklasse verstand. Zweitens die heftige Reaktion des Systems, das alle seine Verteidigungsstrategien einsetzte, von rechtlichen Zugeständnissen bis zum Staatsterrorismus, vom Geheimdienst bis zum sozialen Kompromiss. Die aggressive Reaktion des Systems auf die Erschütterung durch den autunno caldo hat die Bewegung hinweggefegt – oder, was auf dasselbe hinauslief, sie zu einem Kurswechsel gezwungen. Es war dieser zweite Weg, der vorherrschend war und aus dem eine andere Geschichte hervorgehen sollte.
All dies war bereits in den ungelösten Widerspruch zwischen Kämpfen und Organisation – neue Kämpfe, also neue Organisation – eingeschrieben, der den Weg des Operaismus in seiner frühen Phase blockiert hatte. Alle Versuche, Mitte der 60er Jahre an die internen Entwicklungen innerhalb der KPI anzuknüpfen, scheiterten. Das außergewöhnliche “Menschenmaterial”, das in dem Experiment des Operaismus eine so große Rolle spielte, war nicht für ein politisches Spiel gemacht, war nicht für ein solches ausgelegt, bei dem die eigenen Hypothesen auf einem anderen Terrain getestet werden mussten als dem, das man selbst gewählt hatte. Die Idee des “Drinnen und Dagegen” – jenes ausgeklügelte, vielleicht zu komplexe Prinzip, das in seiner klassischen Form als politischer Operaismus zum Ausdruck kam – konnte sich nicht in den Individuen aus Fleisch und Blut festsetzen; sie blieb die Aussage einer Methode, unverzichtbar für das Verständnis, aber unwirksam als Grundlage für das Handeln.
Bleierne Zeiten
Der eigentliche Unterschied zwischen unserem Operaismus und dem formalen Arbeitertum der KPI lag in dem Konzept der politischen Zentralität der Arbeiter. Wir setzten diese Diskussion bis 1977 fort, als wir zusammen mit Napolitano und Tortorella in einem bleiernen Padua, das den nicht-pazifistischen Vorstößen der so genannten Autonomen ausgesetzt war, eine Konferenz zum Thema “Arbeitertum und Zentralität der Arbeiter” einberiefen. (8) Ich verzichte an dieser Stelle darauf, auf das Jahr 1977 als Schlüsseljahr ausführlicher einzugehen – das ist eher eine Entscheidung als ein Versehen. Ich stimme zu, dass 1977 im Vergleich zu 1968 ein größeres politisches Gewicht hat und einen entscheidenderen sozialen Wandel markiert; ein Großteil des negativen Verhältnisses zwischen den neuen Generationen und der Politik wurde dort, auf diesem Schlachtfeld, entschieden. Aber ich möchte sagen, dass die italienische Arbeiterbewegung der frühen 1960er Jahre nicht in diese Richtung führte. Aus heutiger Sicht war Classe operaia näher an den Quaderni rossi als an Negris Potere operaio oder an all jenen, die sich später an der autonomia operaia beteiligten. Die genaue Trennlinie verlief folgendermaßen: Die beiden ersten Projekte, zunächst die Zeitschrift und dann die Tageszeitung, sahen sich kritisch innerhalb der Arbeiterbewegung, während die späteren Bestrebungen – die mehr auf Selbstorganisation beruhten – sich gefährlich gegen diese Bewegung stellten. Toni Negris Intelligenz zeigt sich in der Theorie des Übergangs vom “Massenarbeiter” zum operaio sociale (9), aber zu diesem Zeitpunkt war der praktische Schaden bereits angerichtet, und eine gewaltige Verschwendung wertvoller menschlicher Ressourcen war hoffnungslos auf die falsche Seite geraten.
Negri spielte eine Schlüsselrolle in der Erfahrung von Classe operaia; er war wesentlich an der Entstehung der Zeitung beteiligt, und dann an der Redaktion und dem Vertrieb. Mit den Füßen fest in der strategischen Lage von Porto Marghera verankert, nahm er die Entwicklungen wahr und gab seiner Position Gestalt. Die Erfahrung des fordistisch-tayloristischen Arbeiters – und die spätere Kritik an dieser Figur – bildet die Grundlage für alle seine späteren Forschungen. “Arbeiter ohne Verbündete”, so lautete der Titel der Classe operaia vom März 1964, die einen Leitartikel von Negri enthielt. Das war ein Irrtum. Das Bündnissystem – Angestellte, Mittelstand, Rote Emilia -, das die offizielle Arbeiterbewegung auf der Grundlage eines fortgeschrittenen Frühkapitalismus aufgebaut hatte, musste sicherlich kritisiert und bekämpft werden. Doch im entwickelten Kapitalismus zeichnete sich ein neues Bündnissystem ab, mit den neuen Fachkräften, die aus dem Kontext der Massenproduktion, der damit einhergehenden Ausdehnung des Marktes und der Ausbreitung des Konsums sowie den zivilisatorischen Umwälzungen und kulturellen Veränderungen im Lande hervorgingen. In all diesen Punkten nahmen die Arbeiter von 1962 die Modernisierung von 1968 und die anbrechende Postmoderne von 1977 vorweg.
Was folgte, war die paradoxe Geschichte einer allgemeinen Niederlage, die von illusorischen kleinen Siegen unterbrochen wurde. So ging es bis Ende der 80er Jahre, als wir alle gezwungen waren, zu verstehen, wohin die Geschichte letztendlich geführt hatte. Die Führung der PCI erlitt in ähnlicher Art und Weise das gleiche Schicksal wie die herrschenden Klassen des Landes. Die Modernisierung erforderte eine Übergabe des Staffelstabes von den Generationen des Krieges und des Widerstandes an die Generationen des Friedens und der Entwicklung. Die 68er-Bewegung lieferte neues Personal für diese Übergabe. Was in der Partei geschah, geschah auch in den Kreisen der Macht: Es entstand keine neue politische Klasse, sondern an ihrer Stelle eine neue administrative Klasse, die sowohl auf der Regierungs- als auch auf der Oppositionsebene stets als Manager auftrat. Die gesamte Berlinguer-Führung – sowohl mit dem historischen Kompromiss als auch mit seiner Alternative – erwies sich als nichts anderes als eine stürmische Periode der Verteidigung, die den popolo comunista aufstellte, um die neobürgerliche Flut einzudämmen und zu bremsen. Aber zu diesem Zeitpunkt gab es kaum noch etwas zu holen. Im letzten Akt der Tragödie wurde die Kommunistische Partei in die Demokratische Partei der Linken umgetauft. Es folgte die Farce, als unter dem Druck des antipolitischen Populismus sogar das Wort “Partei” verschwand. Es gab keine Barrieren mehr. Nur die Flut.
Seit den 1980er Jahren hat die neoliberale kapitalistische Restauration die Fähigkeit der Arbeiter zur Opposition untergraben. Nachdem das schwächste Glied in der antikapitalistischen Kette – der Sowjetstaat – zerbrochen war, gab es keine Möglichkeit mehr, die wiederkehrende Hegemonialmacht daran zu hindern, das absolute Kommando zu übernehmen. Die neu erklärte Dominanz des Kapitals war nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, politisch und kulturell. Sie war zugleich theoretisch und ideologisch, eine Kombination aus intellektuellem und allgemeinem Menschenverstand. Es lohnt sich jedoch, eine letzte Tatsache zu betonen: Solange der postkapitalistische Horizont offen blieb, hatte der Kampf um die Einführung von Elementen sozialer Gerechtigkeit im Kapitalismus einen gewissen Erfolg. Sobald das revolutionäre Projekt gescheitert war, wurde auch das reformistische Programm unmöglich. In diesem Sinne könnte sich die jüngste Form des neoliberalen Kapitalismus ironischerweise als ähnlich reformunfähig erweisen wie die letzten Formen des Staatssozialismus.
Anmerkungen
(1) Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli, Hrsg., Briefe von Todeskandidaten der Resistenza italiana, 8 settembre 1943-25 aprile 1945, Turin 1952.
(2) Siehe auch Galvano Della Volpe, “The Marxist Critique of Rousseau”, nlri/59, Jan-Feb 1970, und “Settling Accounts with the Russian Formalists”, nlr i/113-114, Jan-April 1979.
(3) Tronti, La politica al tramonto, Turin 1998.
(4) Rita Di Leo, Operai e sistema sovietico, Bari 1970.
(5) Alberto Asor Rosa, Scrittori e popolo, Rom 1965.
(6) Zur internen Debatte der PCI, siehe nlr i/13-14, Jan-Apr 1962.
(7) Raniero Panzieri, “Sette tesi sulla questione del controllo operaio”, Mondo Operaio, Februar 1958.
(8) Für den Tagungsband siehe Tronti et al, Operaismo e centralità operaia, Rom 1978.
(9) Antonio Negri, Dall’operaio massa all’operaio sociale: intervista sull’operaismo, Mailand 1979.
Der englischsprachige Auszug aus ‘Noi operaisti’ erschien auf New Left Review No 73, Jan/Feb 2012 und wurde auf dem sehr empfehlenswerten Blog ‘My Blackout’ reproduziert. Diese Übersetzung von Bonustrack erfolgte aus dieser englischsprachigen Version.
“Es reicht nicht aus, die Lügen der Macht anzuprangern, wir müssen auch die Wahrheiten der Macht anprangern und aufbrechen. Wenn die Macht die Wahrheit sagt und so tut, als sei sie etwas Natürliches, müssen wir das Unmenschliche und Absurde in dieser Ordnung der Wirklichkeit anprangern, die durch die Ordnung der Sprache reproduziert, reflektiert und konsolidiert wird. Wir müssen den wahnhaften Aspekt der Macht entlarven.
Geben wir vor, an der Stelle der Macht zu sein, sprechen wir mit ihrer Stimme, senden wir Signale aus, als ob wir die Macht mit ihrem Tonfall wären. Aber es sind falsche Signale. Produzieren wir gefälschte Informationen, die enthüllen, was die Macht verbirgt, Informationen, die in der Lage sind, eine Revolte gegen die Kraft der Sprache der Macht zu erzeugen”
A/traverso, Februar 1976
Wenn wir uns entschieden haben, über die italienische Bewegung von 1977 zu sprechen, dann deshalb, weil dieses Ereignis, dessen niemand gedenkt, einen Teil unserer Gegenwart enthält, weil die Wünsche und Widersprüche, die damals auftauchten, zutiefst aktuell sind, und zwar in dem Maße, wie die Protagonisten dieser Bewegung immer noch verfolgt werden und ihnen nicht verziehen werden kann: einige von ihnen sind immer noch in Haft und es wurde keine Amnestie zu ihren Gunsten beschlossen.
Man könnte sogar von einem Überleben von 77 im warburgischen Sinne sprechen und feststellen, dass die Bilder und Energien aus dieser Zeit teilweise in unsere Zeit gewandert sind und sie gewissermaßen heimsuchen.
Die Erinnerung an diese Jahre ist ein sensibles Territorium; als Schauplatz von Konflikten, die noch immer im Körper der Gesellschaft toben, ist 77 ein schwieriger Raum für die Entfaltung kritischer Distanz und den Versuch, die Fakten zu interpretieren.
Die besondere Verflechtung zwischen dem, was gesagt wurde, und dem, was getan, beschlossen und verändert wurde, macht es fast unmöglich, die Energie und die Kraft des Augenblicks zu erfassen; es war eine Gegenwart, die daran arbeitete, als solche zu existieren, und die Zukunft im Namen ihrer einzigartigen Intensität ablehnte. Die Möglichkeit eines Nachruhms wurde sogar während der Ereignisse beschworen und verabscheut; in der Einleitung des kollektiven Buches mit dem Titel Bologna marzo 1977…Fatti nostri… [Bologna März 1977…Unsere eigene Sache…] heißt es: “Es wird keinen Historiker geben, wir werden nicht dulden, dass es einen Geschichtsschreiber gibt, der in der Sprache eine überlegene Position einnimmt, der Sprache der Macht seine Dienste anbietet und die Tatsachen rekonstruiert, indem er sich über unser eigenes Schweigen stülpt, ein ununterbrochenes, unendliches, wütendes, unbekanntes Schweigen”. Die Ordnung des herrschenden Diskurses musste sich von den wertvollen radikalen Experimenten fernhalten, denn ihre Stärke bestand darin, dass sie aus mehreren Gründen unmöglich in die beruhigende Sprache der Kritik zu übersetzen waren und sind.
Vielleicht war 77 trotz allem die Manifestation einer bestimmten Form des Schweigens. Das Wissen, dass die Zukunft für eine ganze Generation abwesend war, dass die Macht taub war, dass die Kämpfe von 1968 keine soziale Gerechtigkeit gebracht hatten, führte zu einer allgemeinen Erfahrung, sich nicht vertreten zu fühlen und nicht in der Lage zu sein, dem eigenen Leben Worte zu geben. Aus diesem enormen Mangel an politischer Präsenz, aus der “abgetauchten Gesellschaft “, entstanden die Partys auf der Straße, die Enteignungen in Geschäften und Kinos, die freien Radios und die neue Sprache, die genau das Schweigen, aus dem sie entstanden war, bewahren und in sich aufnehmen sollte. Ein anderes Gleichgewicht zwischen dem Persönlichen und dem Politischen stand für alle auf dem Spiel, nicht nur für die Feministinnen, für die es immer der Ausgangspunkt ihrer politischen Subjektivierung gewesen war. In einem unglaublich scharfsinnigen Dokument vom Juni 77, dem Bericht über die Gruppendiskussion zum Thema “Frauen und Politik” in der Besetzung der Universität von Rom, heißt es: “Diese Bewegung hat viele faszinierende und gefährliche Aspekte. Zum Beispiel schlägt sie uns eine männliche Version einer Reihe von Problemen vor, aus denen wir als feministische Bewegung entstanden sind, Themen wie das Persönliche ist politisch’ oder ‘nehmen wir unser Leben zurück’, Wiederentdeckung der Kreativität usw., die jedoch pervertiert werden, wenn sie nicht aus dem Mann/Frau-Widerspruch stammen und im besten Fall zu reinem Antiautoritarismus werden” [1]. [Die Haltung der männlichen Avantgarde war in eine Krise geraten, die mit dem Auftauchen neuer Subjektivitäten in der sehr expansiven und karnevalistischen Szene der Politik einherging; ein weiteres Dokument mit dem Titel “An die ehemaligen “Berufskämpfer” zirkulierte im selben Monat Juni 77: “Der Kampf der Frauen und der Jugend, die neuen Widersprüche, die versuchen, das Konzept des Kommunismus selbst zu verändern (…), die tiefgreifenden Veränderungen in der Zusammensetzung des Proletariats, die neuen Bedürfnisse, die aufgetaucht sind, die radikale und zerstörerische Kritik an jeder realistischen Konzeption über den Übergang zum Kommunismus und sogar die neue Form, die der Staat annimmt, und so viele andere Dinge tauchen vor den Augen der alten ‘Militanten’ auf (…). In unserer professionellen Militanz sind wir Gefahr gelaufen, den Kampf für die Befreiung der Klasse völlig von unserer eigenen Befreiung zu trennen; wir sind Gefahr gelaufen, eher zu Instrumenten als zu Subjekten zu werden; wir haben die Entdeckung des ‘Reichtums der Bedürfnisse’ durch die Proletarier verherrlicht und aufgrund ihres Kampfes, sich von den Bedürfnissen zu befreien, haben wir uns selbst unserer eigenen Möglichkeit des Reichtums beraubt; wir sind eher zu Mitgliedern eines Clans als zu Militanten einer Klasse geworden. Diese Situation hat die Diskussion zwischen den Genossen verarmt (…), sie hat ihr kollektives Wachstum gestoppt, sie hat einigen von ihnen eine väterliche und anderen eine kindliche Rolle gegeben, sie hat hinter dem politischen Konflikt den persönlichen Konflikt versteckt (…) und (höchste Ironie!) sie hat Machtkämpfe produziert” [2].
Die Bürokratie und ihre kranken affektiven und psychologischen Wurzeln wurden als ein unerträgliches Übel entlarvt, 77 ist eine Revolte, die viele andere beinhaltet, es ist ein Versuch, das Prinzip der Realität zu verändern, um die Realität selbst zu verändern. In dem Dokument “Mit all unserer Schwäche” von A/traverso vom Mai 1977 heißt es: “Es ist das Unbewusste, das im Klassenkampf spricht, wie andererseits der Klassenkampf im Unbewussten spricht. Deshalb müssen die Agenten der Unterdrückung, sobald sie den politischen Ort des Unterdrückten, des Gesellschaftsvertrags, übernommen haben, handeln, um das Subjekt zur Selbstzerstörung zu bringen, um die begehrenden Ströme in selbstzerstörerische Ströme zu lenken: den Terrorismus” [3].
Franco Piperno bezeichnete die neuen Subjekte, die jede Art von militanter Struktur und ihre Anhänger in eine tiefe Krise stürzten, als “soziale Individuen” [4], die zugleich eine neue und eine archaische Lebensform darstellten, da sie sinnlich in der animalischen Natur des sozialen Bandes verankert waren und im vollen Bewusstsein ihrer Bestimmung als Spezies etwas Biologisches lag. War für die Arbeiterbewegung die Quelle des Reichtums die abstrakte Arbeit, so handelte es sich für die Bewegung der Autonomen um einen sinnlichen Reichtum, der durch den allgemeinen Intellekt, durch den Grad der Kooperation, der in kollektiven Verhaltensweisen und sozialen Gewohnheiten enthalten war, erzeugt wurde.
Mit den neuen Lebensformen ging eine “sentimentale Transformation” [5] einher, die zu einer Sensibilität für die “warme und animalische Natur der Technik” führte, die als etwas angesehen wurde, das den Fabrikarbeiter und seine Lebensbedingungen endgültig abschaffen würde. Diese neuen Großstadtproletarier – so schrieb Primo Moroni – “entpuppten sich als eine sehr schwer zu disziplinierende Arbeiterschaft, gerade weil ihr vitales Bezugsuniversum nicht auf die Kategorien der Politik, auf eine Plattform von Forderungen oder auf Repräsentation reduzierbar war” [6] Es handelte sich um eine molekulare Bewegung, die unmöglich zu lenken und daher einfacher anzugreifen und zu unterdrücken war, aber erfüllt von einem neuen Sinn für ihre Potentialität und ihre Gegenwart. Lea Melandri schrieb damals: “Eine intelligente Barbarei, eine ironische Sinnlichkeit, eine kluge Genialität gibt es vielleicht noch nicht, aber es gibt Gründe zu glauben, dass sie möglich sind. Und für diese kleine Hoffnung lohnt es sich, das Traurige, das Langweilige, das Bedarfsorientierte, das Elendige zu bekämpfen: die roten Asketen.” [7]
Was geschah im Jahr 77? Wir müssen den Geschichten glauben, die bruchstückhaft, vielfältig und von Emotionen durchdrungen sind und in denen keine Unparteilichkeit zu finden ist. Die politische Klasse war finster, düster, alt. Die kommunistische Partei nähert sich der Christdemokratie, ihrem größten Feind, an, um eine gemäßigte Regierung der Mitte, den “historischen Kompromiss”, zu bilden. Die Landschaft war von staatlicher Gewalt geprägt, die so genannte Strategie der Spannung bestand darin, dass die Geheimdienste Bomben an öffentlichen Plätzen platzierten, die zahlreiche Opfer forderten, und dann die Schuld und die strafrechtliche Verantwortung auf außerparlamentarische linke oder rechte Aktivisten schoben. Einige der berühmtesten Ereignisse waren die Piazza Fontana (am 12. Dezember 1969 explodierte in Mailand eine Bombe in der Landwirtschaftsbank und tötete 88 Menschen), am 28. Mai 1974 explodierte eine Bombe auf der Piazza della Loggia in Brescia während einer Gewerkschaftsdemonstration und am 4. August 1974 explodierte eine Bombe im Italicus-Zug, der von Rom zum Brenner fuhr. Gelegentlich tauchen bei Demonstrationen auch Schusswaffen auf, meist als visuelles Symbol. Die illegalen bewaffneten Gruppen im Untergrund bildeten eine eigene Strömung neben den Mobilisierungen auf der Straße, an den Universitäten und in den Fabriken.
Die industrielle Umstrukturierung hatte die Produktivität dezentralisiert, die Produktionskette, die Quelle aller Konflikte und Schauplatz aller Kämpfe war, war in eine Reihe von physisch getrennten Produktionsstätten zersplittert. Sie wurde zu einem Gewirr von großen, mittleren und kleinen Fabriken, einer anderen Art von Produktionskette, die durch Tertiär- und Schwarzarbeit zusammengehalten wurde. Die italienischen Gewerkschaften – die stärksten der westlichen Welt – gerieten in eine tiefe Krise, und die schlechte Konstitution der außerparlamentarischen Vertretungsformen kündigte die Krise des Parteiensystems bereits an. Die Presse der extremen Linken dieser Zeit sprach von einer “diffusen” und “sozialen Fabrik”. Feministinnen definierten die Familie selbst als deterritorialisierte Fabrik: Hausfrauen wurden als prekäre Arbeitskräfte wie alle anderen betrachtet. Das Gefühl, dass Produktivität und Produktion nicht an der Schwelle der Fabrik beginnen und nicht an der Schwelle aufhören, ergriff die Massen, die “Klassenzersetzung” im Gegensatz zum operaistischen Konzept der Klassenzusammensetzung wurde zum Ausgangspunkt der neuen Revolte.
Moroni schrieb, dass die Piazza Maggiore in Bologna, der Campo dei Fiori in Rom, die Piazza Mercanti in Mailand und viele andere öffentliche Plätze tatsächlich temporäre autonome Zonen waren. Eco schrieb, dass die Arkaden von Bologna, die vollständig mit Graffiti und Zeichnungen bedeckt waren, wie die Gemälde von Cy Twombly aussahen: Die Wände waren der Spontaneität des Schreibens überlassen: Sie waren ein offener Raum, in dem keine Worte privilegiert waren, sie zogen die Aufmerksamkeit und die kollektive Beteiligung auf sich und boten eine unendliche Möglichkeit zur Nachahmung. Die Graffiti vervielfachten sich: “Zwei von ihnen haben eine Epidemie ausgelöst”. Toni Negri sagte: “Wer im Sommer 1976 nach Mailand kam, kam an Parco Lambro nicht vorbei, einem Park, in dem die proletarische Jugend kampierte und die Bewegung ein Friedensmusikfestival okkupierte, das sie in einen befreiten Raum verwandelte, indem sie am zweiten Tag den Imbisswagen stürmte und Supermärkte ausraubte, um das vorübergehende Indianerreservat zu versorgen” [8]. Die Städte waren voller besetzter Häuser, ganze Stadtteile weigerten sich, Rechnungen und Mieten zu bezahlen, und nicht nur Supermärkte wurden geplündert, sondern auch Luxusgeschäfte. Die Großstadtindianer traten damals zum ersten Mal in Erscheinung, doch einigen Quellen zufolge konnten indianische Verhaltensweisen bereits 1973 bei einem Streik in Mirafiori oder 1975 bei den größten Partys der Untergrundkultur beobachtet werden. In der Septemberausgabe 1975 von A/traverso erschien ein Artikel mit dem Titel “Nachrichten aus der Reservation”, in dem mit “indianischer” Sprache und Metaphern, die normalerweise den Indianern in Western zugeschrieben werden, die entfremdenden Lebensbedingungen der städtischen Jugend wie folgt beschrieben wurden: “Sie vegetieren in Reservaten am Rande der Städte” [9] Diese Indianer griffen die Funktionalität von Zeichen an, die kreativsten Slogans und Performances werden ihnen zugeschrieben, und natürlich konnte jeder sagen: Wir sind alle Großstadtindianer, so wie wir heute sagen können, dass wir alle Black Blocs sind. “Nach Marx April, nach Mao Juni”, “Mehr Atomkraftwerke/weniger sozialer Wohnungsbau”, “Freie Radios sind eine Illusion/alle Macht dem Fernsehen”, “Politiker sind Unschuldige/wir sind die wahren Täter”. Nach den Unruhen vom März 77 sah man die “Indianer” gemeinsam vor dem Rathaus in islamischer Haltung beten und dabei “Zangheri (der damalige Bürgermeister von Bologna), unser Bruder, vergib uns” wiederholen.
Am 17. Februar hielt Luciano Lama, der Generalsekretär der CGIL [Italienischer Allgemeiner Gewerkschaftsbund], eine Rede in der besetzten Universität von Rom, um die Studenten zu beschimpfen. In einer vorangegangenen Versammlung war beschlossen worden, Lama nicht an seiner Rede zu hindern, sondern das Eindringen der politischen Linie der Gewerkschaft in die Besetzung zu unterbinden. Als Lama zu sprechen begann, standen die Indianer zusammen mit 10.000 Studenten mit Plastikäxten und Kriegskostümen da, hielten eine Marionette des Gewerkschafters hoch und sangen, dass sie wirklich mehr Opfer für die Gewerkschaften bringen wollten. Der Ordnungsdienst der Gewerkschaft griff gewaltsam an, und das Chaos wurde total, Lama musste unter dem Geschrei der Leute “Bitte gehen Sie nicht weg! Wir wollen mehr Polizei” oder “Lamas leben in Tibet”, “Hütet euch vor den Lamas, sie spucken” den Rückzug antreten. Eco beschrieb diese Episode als den Schock zweier unterschiedlicher Perspektiven: “Lama betrat ein Podium (auch wenn es ein improvisiertes war) nach den Regeln einer frontalen Kommunikation, wie sie für die gewerkschaftliche Raumauffassung und die Arbeiterklasse typisch ist, vor einer studentischen Masse, die stattdessen verschiedene Formen der Ansammlung und Interaktion entwickelt hat, dezentriert, mobil, scheinbar unorganisiert. Es ist nur eine andere Art, den Raum zu organisieren, und an diesem Tag prallten in der Universität zwei Auffassungen von Perspektive aufeinander: eine von Brunelleschi, die andere vom Kubismus” [10].
Am 18. Februar erklärte Innenminister Francesco Cossiga in den TG1-Nachrichten: “Wir werden nicht zulassen, dass die Universitäten zu Horten von Großstadtindianern, Freaks und Hippies werden. Wir sind entschlossen, die Formen der Repression, wie sie es nennen, und die Formen der Ordnung und der demokratischen Legalität, wie ich es nenne, anzuwenden”. Die Großstadtindianer antworteten mit folgendem Brief an den Minister: “Lieber Cossiga, mit großer Genugtuung konnten wir in der magischen Box dein teutonisch aussehendes Bleichgesicht sehen, deine gespaltene Zunge zischen hören und deine metallische Stimme, die Gift auf die Bevölkerung der Menschheit spuckt. Solange das Gras auf der Erde wächst, solange die Sonne unsere Körper wärmt, solange das Wasser uns nass macht und der Wind in unseren Haaren weht, werden wir das Kriegsbeil niemals begraben!!!”.
Am 11. März versuchte eine Vereinigung rechter Katholiken (comunione e liberazione) in der Universität von Bologna eine Veranstaltung durchzuführen, Studenten kamen dorthin, um gegen sie zu protestieren, indem sie “Free Barabbas” und “Seveso Seveso” riefen – was der Ort einer kürzlichen Umwelt-Dioxin-Katastrophe war. Der Dekan der Universität rief die Polizei, um die Demonstranten zu vertreiben, in der Nachbarschaft kam es zu Unruhen, ein junger Carabiniere geriet in Panik und feuerte sechs Kugeln in die Menge. Der Student Francesco Lo Russo wurde getötet. Bis heute wurde niemand für den Mord verantwortlich gemacht, Innenminister Cossiga schickte die Armee und Panzer nach Bologna. Am 12. März um 23 Uhr drang die Polizei in die Studios des freien Radios Radio Alice ein und schloss sie. Am selben Tag fand in Rom eine Demonstration gegen die Repression statt, bei der es zu gewalttätigen Ausschreitungen kam. Die Christdemokratische Partei hielt eine öffentliche Trauerfeier für Francesco Lo Russo ab, untersagte aber seinem Bruder das Wort. Anfang April zeigt die Titelseite der Ausgabe 17/18 des Magazins Rosso bewaffnete Demonstranten, der Titel lautet “Ihr habt bezahlt, aber nicht für alles”, und man könnte sagen, dass sich das Spiel von diesem Zeitpunkt an änderte und zu einer eher klassischen binären Kampfsituation wurde.
Aber das war nicht der Ausgangspunkt dieser Bewegung, wie “Bifo” zu 77 treffend sagt, denn sie hatten verstanden, dass die politischen Kräfte das Verhältnis zwischen Arbeit und Technologie nicht mehr kontrollierten, dass die offizielle Politik ein kleines Theater war, das die Öffentlichkeit unterhielt und ablenkte, während die Kräfte des Liberalismus die Welt gestalteten und es schafften, die politische Sphäre als Ort der Diskussion und Entscheidungsfindung zu ruinieren. “Es gibt keinen Willen mehr, es gibt keine Vermittlung, keine Regierung mehr. Die Trennung der autonomen Lebensform von der Herrschaft der Wirtschaft. Die Abspaltung von Nomadenkolonien, das Experimentieren mit Produktionsformen, bei denen Technologie und Kreativität die Ökonomie und die sich wiederholende Disziplin der Arbeit ersetzen können. Das war der Weg, den die Bewegung zu erfinden begonnen hatte” [11], und das ist auch der Weg, so könnte man hinzufügen, auf dem der globale Kapitalismus lernte, neue Werte zu schaffen, während die Repression jede politische Aktion blockierte.
77 war keine politische Bewegung und auch keine ästhetische oder existenzielle: Es war zum ersten Mal ein Versuch, gemeinsam neue Kriterien dafür zu definieren, was Politik, Subjektivität, eine tatsächliche Bewegung entstanden aus Bewegungen heraus sein könnte.
77 war eine visuelle und verbale Erfahrung, die Fleisch wurde, ihre wahren Protagonisten waren die inneren Fremden unserer Städte, namenlos, wir können sie die Großstadtindianer nennen, prekär, marginalisiert, aber sie waren eine neue Masse, die Anonymität und Freude suchte, die den öffentlichen Raum, die Sprache, die Gewohnheiten veränderte und einen enormen ethischen und ästhetischen Einfluss auf Politik und Kultur hatte, aber vor Identität und Identifikation floh. Einige wenige Namen entkamen der vernichtenden Welle der Repression: Radio Alice, A/traverso, il Male, L’erba voglio, Re Nudo, Autonomia, aber man begreift schnell, dass das, was sie bezeichnen, hohl ist, wenn man es aus dem Zusammenhang reißt; das italienische Jahr 77 ist ein liquides Jahr, das sich jeder Klassifizierung entzieht und an dem kein Etikett haften bleibt. Seine sporadischen schriftlichen Spuren müssen als das genommen werden, was sie damals waren, und nicht als das, was sie heute sind. Die kreativen Aspekte der Bewegung waren nicht von allen anderen zu trennen, ihre unverwechselbare, respektlose Fantasie konnte nur in einem Klima des spielerischen Irrationalismus entstehen.
Umberto Eco schrieb kurz vor den Unruhen im März einen sehr kritischen Artikel im Corriere della Sera über das vom Kollektiv A/traverse herausgegebene Buch mit dem Titel Alice è il diavolo, sulla strada di Majakowski: testi per una pratica di comunicazione sovversiva [Alice ist der Teufel, auf den Spuren Majakowskis: Texte für eine neue Praxis der subversiven Kommunikation], in dem er sagte:
‘Wenn jemand dieses Buch in die Hand nähme, ohne zu wissen, was in Italien geschieht, oder wenn er es in dreißig Jahren in der Bibliothek lesen würde, hätte er einen sehr seltsamen Eindruck. Saisonarbeiter, die arbeitslos sind, und Hippies in den Wartesälen der Bahnhöfe, nackte Körper, die nach neuen Kontakten suchen, würde man hier nicht sehen. Im Gegenteil, er würde auf die Idee kommen, dass eine neue ‘kulturelle’ Gruppe über diese Dinge spricht und dafür neue Medien und neue Ausdrucksstile erfindet.” [12] Eco, der weit davon entfernt war, ein glühender Verehrer der revolutionären Dynamik zu sein, verstand dennoch, dass alle expressiven Konkretionen von 77 als Phänomene, als Sequenzen eines bewegten Bildes zu verstehen sind, die keine Sprache einfrieren kann. Eine vereinfachende “Lesart des Buches”, so Eco weiter, “wäre unklug, denn hinter dem Phänomen des freien Radios und dem Phänomen des Buches steht eine Wirklichkeit, die aus jungen Menschen besteht, die sich im Radio und im Buch ausdrücken”. Radio Alice war nicht die neueste Avantgarde, die neue Techniken zur Erzeugung von Intensität in Kommunikation und Sprache gefunden hatte. Es wäre sogar falsch zu sagen, dass Radio Alice Menschen am Rande der Gesellschaft dazu brachte, über sich selbst zu sprechen: Sie waren definitiv keine Gruppe von Ästheten, die eine problematische soziale Situation ausnutzten, um neue Ausdrucksformen zu erforschen, schreibt Eco. Das Begehren hatte dort eine Stimme gefunden, die Menschen waren eingeladen, nicht nur durch Metaphern, sondern auch durch Metamorphosen zu denken, aktiv gegen den Versuch der Macht anzukämpfen, politische Kreativität und befreiende Beziehungen zu kriminalisieren, eine transversale Form des Schreibens zu privilegieren, die das Begehren befreit. Denn – wie A/traverso sagte – man kann auch mit einem Radio und mit seinem Körper schreiben, und der einzige Weg, die Diktatur der Politik zu destabilisieren, besteht darin, die Diktatur der Sinne zu destabilisieren und den Irrationalismus, der unter jedermanns Haut verborgen ist, ans Licht zu bringen. Die Mao-Dadaisten haben die Beziehung zwischen Kunst und Leben auf den Kopf gestellt: “Das Leben wird zum Kunstwerk”. – Sie schrieben: “Das wahre Kunstwerk ist der unendliche menschliche Körper, der sich in Harmonie durch die unglaublichen Transformationen seiner einzigartigen Existenz bewegt.”
Die gesprochene, “schmutzige”, mundartliche Sprache war der treueste Botschafter des Zeitgeistes, und um ihn zu teilen und zu verbreiten, begannen die freien Radios zu wachsen. Einer der Hauptakteure und Interpreten dieses Phänomens war Radio Alice mit Sitz in Bologna, das von einer Gruppe von Leuten betrieben wurde, die auch die Zeitung mit dem Titel A/traverso (mehr oder weniger übersetzbar als “hindurch”) herausgaben. Sie verfolgten eine “Poesie der Verwandlung” und erfanden eine Sprache, die sie Mao-Dadaismus nannten und deren Ausgangspunkt die Idee war, dass Maos Erklärungen, wenn man sie im richtigen Licht liest, reiner Dadaismus sind. Diese Form des Schreibens ergab sich aus den neuen Lebensbedingungen, in denen sich die Jugend befand: die automatische Produktion, die durch die neuen Technologien hervorgerufene Einsamkeit, die Arbeitslosigkeit, die Marginalisierung und das Scheitern des vorangegangenen Kampfeszyklus. Um dieses sozioökonomische und emotionale Klima zu beschreiben, wurde eine andere Beziehung zur Sprache geschaffen; man sprach von intelligenten Maschinen, automatischem Wissen, gläsernem Informationsgeflüster und elektronischem Analphabetismus. Neutralität wurde verboten: selbst die Nachrichten wurden mit Emotionen und persönlichen Akzenten gelesen. Informieren reichte nicht aus, Information musste kreativ werden: Falsche Nachrichten führten zu Unruhen, Straßenfesten mit Clowns auf Fahrrädern und Hippies mit Drachen, spontanen Demonstrationen und politischen Aktionen. Es war üblich, tragbare Radiosender in den öffentlichen Raum zu bringen, Gruppen von Menschen versammelten sich um sie herum und hörten die freien Radiosendungen auf der Straße, dann stand jemand auf und rief von einem öffentlichen Telefon aus an, und ohne jeden Filter aus dem Studio konnten sich die Stimmen auf dem Sender Gehör verschaffen, egal, was sie sagten. Das Ziel des freien Radios war nicht die zentralisierte Verbreitung von Programmen, sondern die Umverteilung der Möglichkeit, sich zu äußern. In gewisser Weise war die Abwesenheit der nicht repräsentierten Menschen in jeder gesendeten Repräsentation enthalten.
Eco merkte an, dass die Sprache des geteilten Ichs, die Verbreitung von Botschaften, die auf der Grundlage neuer Codes organisiert wurden, von Gruppen verstanden und perfekt reproduziert wurde, die mit der Hochkultur völlig unvertraut waren, die weder Céline noch Apollinaire gelesen hatten, sondern diese Sprache durch Musik, Plakate, Partys, Konzerte erfahren hatten; andererseits verstand die Hochkultur, die die Sprache des geteilten Ichs zu verstehen pflegte, wenn sie in einem aseptischen Labor gesprochen wurde, sie nicht, wenn sie von der Masse gesprochen wurde. [Mit anderen Worten – so Eco – der kultivierte Mensch war es gewohnt, sich über den Bourgeois lustig zu machen, der im Museum vor einer Frau mit drei Augen und einem Graffiti ohne definierte Form sagte: “Ich verstehe nicht, was sie darstellt”. Jetzt steht derselbe kultivierte Mann vor einer Generation, die sich mit Frauen mit drei Augen und Graffiti ohne definierte Form ausdrückt, und er sagt: “Ich verstehe nicht, was das bedeutet”. Was als abstrakte Utopie, als Hypothese in einem Labor akzeptabel schien, erscheint inakzeptabel, wenn es sich in Fleisch und Blut darstellt.
Diese kubistische oder ungegenständliche Subjektivität ist das Ergebnis einer Bewegung der Loslösung vom Weltbild, die die 1960er Jahre kennzeichnete. Diese Loslösung nahm verschiedene Formen an, aber ihr Ziel war es, die Begriffe und Bilder zu zerstören, die damals die Ikonographie des stalinistischen kollektiven Imaginären ausmachten. Diese Subjektivitäten lösten sich von der Moral und den Werten der vorangegangenen Generation. In einem Text von 1978 schreibt Carla Lonzi: “Das Bewusstsein meiner selbst als politisches Subjekt entsteht aus der Gruppe, aus der Realität, zu der ich in einer kollektiven, nicht ideologischen Erfahrung Zugang hatte. (…) Wenn man sagt, dass die Politik vorbei ist, meint man, dass das Vertrauen in ein ideologisches Menschenbild vorbei ist, das die Politik verfolgte und für das sowohl die Restauration als auch die Revolution konzipiert wurden”.
Was zuvor das Vorbild für das Subjekt der Revolte gewesen war, wurde pulverisiert. An seine Stelle traten eine hartnäckige Weigerung, dieselben Bilder, dieselben Gesten, dieselben Forderungen zu reproduzieren, und der Wunsch nach sofortiger Veränderung in einem Leben, in dem die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Politischen gesprengt worden waren.
Außerhalb der reformistischen Perspektive waren zwei Tendenzen zu erkennen, die uns ein wertvolles Erbe hinterlassen haben: Die eine war die Frauenbewegung, die sich zur Dynamik der Integration äußerte und die Idee der Frauenrechte sowie die emotionale Erpressung durch demokratische Kämpfe ablehnte, die zu einer doppelten Militanz innerhalb der gemischten und der nicht gemischten Gruppen führte. Die andere war die Kritik an den politischen Gruppen als Machtmaschinen. Eine gemeinsame Analyse der Gruppendynamik begann zu kursieren, und ihre Autoren wurden beschuldigt, unter dem Vorwand emanzipatorischer Subjektivitäten Unterdrückung und Unterwerfung zu schaffen. Diese beiden Strömungen waren eindeutig durch ein Verlangen nach Unmittelbarkeit, eine Logik der Verweigerung von Aufschub und Opfern definiert, eine Position, die das ankündigte, was wir als “menschlichen Streik” bezeichnen. Der Begriff “menschlicher Streik” wurde geschaffen, um eine Revolte gegen das zu benennen, was auch – und vor allem – innerhalb der Revolte reaktionär ist. Er definiert eine Art von Streik, der das ganze Leben und nicht nur die berufliche Seite einbezieht, der die Ausbeutung in allen Bereichen und nicht nur am Arbeitsplatz anerkennt.
Sogar der Begriff der Arbeit selbst wird verändert, wenn man ihn durch das ethische Prisma des “menschlichen Streiks” betrachtet: Tätigkeiten, die scheinbar unschuldige Dienste und liebevolle Verpflichtungen sind, um die Familie oder das Paar zusammenzuhalten, entpuppen sich als vulgäre Ausbeutung. Der “menschliche Streik” ist eine Bewegung, die potentiell jeden anstecken kann und die die Grundlagen des gemeinsamen Lebens angreift, ihr Subjekt ist nicht der Proletarier oder der Fabrikarbeiter, sondern die wie auch immer geartete Singularität, die jeder ist. Diese Bewegung ist nicht dazu da, die Außergewöhnlichkeit oder die Überlegenheit einer Gruppe gegenüber einer anderen aufzudecken, sondern das Was-auch-immer eines jeden als das offene Geheimnis zu entlarven, das die sozialen Klassen verbergen.
Eine Definition des “menschlichen Streiks” findet sich in Tiqqun Nr. 2: Es handelt sich um einen Streik “ohne Ansprüche, der den politischen Raum deterritorialisiert und das Unpolitische als Ort der impliziten Umverteilung von Verantwortung und unbezahlter Arbeit enthüllt” [14].
Es scheint heute, dass die einzige Bewegung, die die gegenwärtigen Bedingungen verändern kann, diejenige sein wird, die die Irrationalität der Finanzwirtschaft ebenso ablehnt wie die der Umweltkatastrophe, die allgegenwärtig ist, aber von den Mächtigen nicht anerkannt wird. Es scheint, dass wir in diesem Sinne keine andere Wahl haben, als die Kinder von 77 zu sein, von den Menschen, die die Angst zu einem ihrer wichtigsten kollektiven Probleme gemacht haben. Jenem Volk, das die Einsamkeit und die Verzweiflung der Familientage, die Angst vor der grauen Zeitlichkeit der Fabrik benannte und sie überall entdeckte, auch in den endlosen Tagen der Arbeitslosen, der Obdachlosen, der psychisch Kranken. Die Ausbeutung befleckt die Zeit und das Wetter, wo immer wir hingehen, was immer wir tun, und es gibt nichts, was wir kaufen können, und auch keine Droge, die wir einnehmen können, die dies auslöschen könnte.
77 wandte sich gegen die Ersetzung des Lebens durch einen Wert, und zwar durch das Leben selbst und im Leben selbst.
Ein Zitat von Bifo kann diesen Text beenden, denn es gibt keinen wirklichen Schluss für ihn: “Vom Standpunkt ihrer Schlussbetrachtung aus erscheint die Bewegung der 77 als solche: ein klares Verständnis der Erschöpfung der Moderne, ein klares Verständnis der Tatsache, dass der Kapitalismus – ein System der Zerstörung des Menschlichen, der Absorption und Perversion von Intelligenz und Kreativität – keine Alternative mehr bereithält. An diesem Punkt begann die Durchquerung der Wüste, die noch nicht zu Ende ist. Ein langer Marsch durch die Menschheit hat dort begonnen.” [15]
Anmerkungen
[1] Sergio Bianchi and Lanfranco Caminiti (eds), ‘“Donne e politica” nell’occupazione dell’Università di Roma, Anna, Emanuela, Paola, Rossella (Commissione femminista Donne e politica dell’Università di Roma’ in Settantasette: La rivoluzione che viene, Rome: Derive Approdi, 2007, p. 241.
[2] Emilio Costantino, ‘Agli ex “militanti di professione”’, in Bianchi and Caminiti, pp. 246−249.
[3] A/traverso, ‘Quattro Frammenti’, in Bianchi and Caminiti, p. 187.
[4] Franco Piperno, ‘La parabola del ’77: dal “lavoro astratto” al “general intellect”’, in Bianchi and Caminiti, p. 103.
[5] Ibid., p. 104.
[6] Primo Moroni, ‘Un’altra vie per le Indie. Intorno alle pratiche e alle culture del ’77’, in Bianchi and Caminiti, p. 73.
[7] Lea Melandri, ‘Una barbarie intelligente’, in Bianchi and Caminiti, p. 245.
[8] Klemens Gruber, L’avanguardia inaudita: Comunicazione e strategia nei movimenti degli anni Settanta, Milan: Costa & Nolan, 1997, p. 122. [N. E. original version, Die zerstreute Avantgarde: Strategische Kommunikation im Italien der 70er Jahre, Cologne: Bohlau, 1989.]
[9] Ibid., p. 120.
[10] Umberto Eco, ‘Una foto’, L’Espresso (Milan), 29 May, 1977.
[11] Franco ‘Bifo’ Berardi, ‘Pour en finir avec le jugement de dieu’, in Bianchi and Caminiti, p. 180.
[12] Umberto Eco, ‘L’anno nove’, Corriere della Sera (Milan), 25 February, 1977.
[13] Umberto Eco, ‘Il laboratorio in piazza’, L’Espresso (Milan), 10 April, 1977.
[14] https://www.tiqqun.info/ [accessed 28 March 2011].
[15] Settantasette: La rivoluzione che viene, Rome: Derive Approdi, 2007 previously quoted, p.180
Dieser Text wurde aus dem englischen Original von Bonustracks ins Deutsche übersetzt.
“Das ist das Paradoxon des biopolitischen Staates: Sein Ziel soll es sein, für unsere Gesundheit zu sorgen, doch in Wirklichkeit macht er uns krank.”
Boris Groys, Philosophy of care
Das Konspirationistische Manifest bietet eine Analyse der Reihe von Machtoperationen, die seit dem Beginn der Covid-19-Epidemie im Gange sind. Die vertretene These ist, dass die Kohärenz dieser Operationen nur dann verständlich ist, wenn man versteht, dass die Seele der zentrale Schauplatz ist. Von der Seele, so Foucault, gehe es nicht darum zu sagen, dass sie nicht existiert; es gehe darum zu sehen, wie sie ständig konstruiert wird (1). Die sogenannte Gesundheits”krise” ermöglicht es, eine Schwelle in dieser Hervorbringung zu überschreiten (s. Kapitel 1 dieses Textes). Die wichtigste Frage ist natürlich, wie man darauf reagieren soll. Dazu muss man aber zunächst einmal wissen, wo man anfangen und sich verankern soll, um die Veränderungen, die sich vor unseren Augen abspielen, zu betrachten und zu verstehen (Kapitel 2). Dann können wir auf die durch die Veröffentlichung dieses Buches ausgelösten Diskussionen zurückkommen (Kapitel 3 und 4) und versuchen, ihren Schwerpunkt zu verlagern (Kapitel 5).
1 – DIE FABRIZIERTE SEELE
Die Seele zum Thema der Politik zu machen, ist keine Selbstverständlichkeit, aber man kann sich in diesem Punkt die eindringliche Aussage von Margaret Thatcher anhören: “Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu verändern” (zitiert auf S. 340). Das berühmte “Streben nach Profit” ist kein Ziel, sondern ein Mittel. Für die Klasse der Kapitalisten geht es darum, ihre Macht zu erhalten. Dazu muss sie um jeden Preis die Initiative behalten. Und um die Initiative zu behalten, muss man die Seele der Wirtschaftssubjekte kontrollieren.
Dank der Arbeiten von Foucault, die insbesondere von Grégoire Chamayou weitergeführt wurden, konnten wir besser verstehen, auf welche Weise das neoliberale Denken eine unerhörte Entwicklung der Gesamtheit der Prozesse ermöglicht hat, die die Menschen von ihrem Beziehungsumfeld abschneiden und sie an die Strukturen ketten, die durch das Projekt der Kapitalexponenten geschaffen wurden. Es geht nicht so sehr, nicht zuerst, nicht hauptsächlich darum, zum Handeln zu zwingen; es geht darum, zum Handeln zu bringen, das Subjekt sanft dazu zu bringen, selbst die freie Entscheidung zu treffen, die wie durch ein Wunder der optimalen Wahl aus der Sicht der Regierenden entspricht. Und dazu muss man das Lebensumfeld des Individuums in der richtigen Weise konfigurieren (2).
Das Manifest führt diese Analysen weiter aus, indem es insbesondere drei Arten von Operatoren nennt, die für die Arbeit an dieser Konfiguration und die Vertiefung der Erkenntnisse in der aktuellen Situation entscheidend sind: technologische, epistemologische und psychologische Operatoren.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Seele immateriell ist, dann müssen wir Technologien berücksichtigen, die es ermöglichen, über Materialitäten auf das Immaterielle einzuwirken. Diese Materialitäten sind jedoch vor uns selbst angesiedelt und fügen sich so alltäglich in unsere Handlungen ein, dass sie nicht mehr für sich selbst wahrgenommen werden, zumal sie gerade dazu gemacht sind, dass man sich nicht an ihnen aufhält. Die Infrastruktur hat die Aufgabe, das Lebensumfeld der Menschen herzustellen, bevor sie es bewusst wahrnehmen können. Wie sehr diese Gestaltung eine politische Funktion hat, hat sich beim Krisenmanagement gezeigt. “Es genügte ein Fingerschnippen, es genügte, dass eine Gruppe von Perversen mit Wohnsitz im Élysée-Palast ‘den Krieg’ erklärte, um unseren Zustand zu realisieren: Wir lebten in einer Falle, die lange offen war, aber jederzeit zuschnappen konnte. Die Macht, die uns festhielt, verkörperte sich weit weniger in den hysterischen Kaspern, die zu unserer größten Ablenkung die politische Bühne bevölkern, als vielmehr in der Struktur der Metropole selbst, in den Versorgungsnetzen, an denen unser Überleben hängt, im städtischen Panoptikum, in all den elektronischen Wanzen, die uns dienen und uns umzingeln, kurz: in der Architektur unseres Lebens” (S. 200).
Neben der unsichtbaren Materialität der Infrastruktur gibt es auch die Immaterialität dessen, was wir für wahr halten. Dass die Epistemologie keine akademische Region der Universitätsphilosophie, sondern ein wichtiges politisches Kampffeld ist, glaubt man seit langem zu wissen, macht sich aber nicht mehr wirklich die Mühe, es zu untersuchen. Es würde uns jedoch helfen, zu erkennen, warum Verschwörungstheorien (sagen wir die von QAnon oder Trump) so hartnäckig auf die Wissenschaft zielen. Die Ursache des Problems könnte in der mittlerweile weit verbreiteten Vorstellung liegen, dass “die Trennung zwischen Realität und Illusion, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge hinfällig geworden ist”, dass “die Realität nicht existiert” und “die Realität erfunden wird” (S. 184).
Die Herstellung von Realität ist jedoch nicht nur eine Abfolge von performativen Aussagen oder theoretischen Konstruktionen, sondern eine Abfolge von Regierungstechniken. Diese sind an eine globale Vision der Welt gebunden, die als eine Reihe von quantifizierbaren Positivitäten betrachtet wird. Die “objektorientierte Ontologie” (object-oriented ontology) mag die Hoffnung auf eine Überwindung des menschlichen Standpunkts geweckt haben, hat sich aber letztlich als Symptom einer Welt erwiesen, die tatsächlich immer mehr ihrer Beschreibung gleicht, nicht weil die Wissenschaften immer besser angepasst wären, sondern weil sie es ermöglichen, das Objekt zu produzieren, das ihrer Beschreibung entspricht. Die weitverzweigten Regierungstechniken wurzeln in dieser den Wissenschaften verliehenen Macht, die Welt, die sie kennen, zu erzeugen.
Dass die Realität durch den wissenschaftlichen Ansatz, der sie erkennen will, erzeugt wird, gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem, was erzeugt werden soll, um menschliches Verhalten handelt. Hier vermischen sich Epistemologie und Psychologie oder werden zumindest untrennbar miteinander verbunden. Es gibt durchaus ein “social engineering”, das insbesondere über die Verhaltenswissenschaften läuft (S. 165). Ein NATO-Bericht betont die “kognitive Ebene”, die alle anderen Ebenen durchdringt (S. 106 ff.), ein anderer, von der CIA, unterstreicht die Bedeutung des “Kampfes um den Geist der Menschen” (S. 110). In jedem Fall wird die Idee, dass Macht durch die Manipulation des Geistes erreicht wird, in der Zeit des Kalten Krieges in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Die These des Buches zu diesem Punkt lautet, dass dieses Projekt nicht mit der Sowjetunion endete, sondern sich bis heute weiterentwickelt und stetig an Bedeutung gewonnen hat. Während des Kalten Krieges ging es darum, das liberale demokratische Subjekt als Gegenmodell zum Subjekt der totalitären Welt zu produzieren (S. 147 ff.). Heute geht es darum, das Subjekt zu produzieren, das für den Gehorsam geeignet ist, der in einer Zeit zunehmender Instabilitäten erforderlich ist, wenn man die Auswirkungen dieser Instabilitäten kontrollieren und verhindern will, dass sie zum Sturz der technokapitalistischen Herrschaft führen (3). Die Tatsache, dass der Kalte Krieg seit dem Krieg in der Ukraine derart auf die Tagesordnung zurückgekehrt ist, bestätigt, dass wir weit davon entfernt sind, auch nur ansatzweise mit der Befreiung von diesem Projekt begonnen zu haben.
Zum Abschluss dieses Überblicks über die Thesen des Buches seien nur zwei Beispiele für operative Theorien genannt, mit denen das Verhalten von Menschen gesteuert werden kann. Da ist zunächst die These aus Kieslers Psychologie des Engagements (1971), die sich während der Gesundheitskrise so gut bewährt hat, dass Reden auf Handeln folgt: “Die anthropologische Annahme Kieslers und der gesamten Sozialpsychologie ist, dass Menschen nicht aufgrund dessen handeln, was sie denken und sagen. Ihr Bewusstsein und ihr Reden dienen lediglich dazu, die Handlungen, die sie bereits vorgenommen haben, im Nachhinein zu rechtfertigen” (S. 168). Man muss also nur dafür sorgen, dass Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden (im Freien eine Maske tragen, einem Freund nicht mehr die Hand geben, sich impfen lassen), und die Subjekte dieser Entscheidungen werden rückblickend dazu gebracht, sie zu rationalisieren.
Das zweite Beispiel ist das “Bemühen, den anderen in den Wahnsinn zu treiben”, indem man in ihm “einen emotionalen Konflikt” fördert, “sein Vertrauen in die Zuverlässigkeit seiner eigenen affektiven Reaktionen und seiner eigenen Wahrnehmung der äußeren Realität untergräbt”, wie Harold Searles schreibt (zitiert auf S. 178-179). Das ist es in der Tat, was wir erlebt haben: “Wer kann schon sagen, dass wir nicht seit zwei Jahren systematisch einer Folge von Angstreizen ausgesetzt sind, die darauf abzielen, einen Zustand gefügiger Regression zu erzeugen, einer methodischen Verengung unserer Welt, widersprüchlichen Befehlen, die darauf abzielen, uns suggestibel zu machen” (S. 174-175). Wenn nach den aktuellen Daten der WHO die Fälle von Depressionen und Angstzuständen im Zuge der Gesundheitskrise weltweit um 25 % gestiegen sind, so ist dies nicht nur auf die Angst vor dem Virus zurückzuführen, sondern mindestens ebenso sehr auf all die Zwangsmaßnahmen, die keinerlei Rücksicht auf die psychischen Schwächen der Menschen genommen und ein gigantisches “Gaslighting” (in Anlehnung an Cukors großartigen Film Gaslight) erzeugt haben, das die Bereitschaft, an sich selbst zu zweifeln, verallgemeinert hat. Von diesem Standpunkt aus kann man nicht umhin, Dankbarkeit für einen Text zu empfinden, der es einigen seiner Leser ermöglicht hat, nicht in einer verheerenden Einsamkeit gefangen zu bleiben.
2 – DER PERSPEKTIVENSTANDPUNKT
Dann müssen wir auf die Frage nach der Position der Aussage des Buches zu sprechen kommen. Das Verständnis dessen, was der Begriff “Seele” bedeutet, fällt in den Bereich der ethischen Wahrnehmung. Nun wird man dieses Manifest nicht verstehen, wenn man nicht sieht, dass es versucht, eine Perspektive oder einen Standpunkt zu konstituieren, den die für den Lauf der Dinge Verantwortlichen ihrerseits am liebsten aus der Welt schaffen würden. Wenn wir von diesem ethischen Standpunkt sprechen, müssen wir zugeben, dass es den Autoren dieses Buches nicht darum geht, ihn zu definieren, da eine ethische Theorie vermieden werden soll, wie Wittgenstein es einst lehrte. Denn wenn es nach Wittgenstein eine Denkweise gibt, die abzulehnen ist, dann ist es die, die dazu führt, eine solche Theorie vorzuschlagen, die als strukturierte Gesamtheit von in guter Ordnung aneinandergereihten Sätzen gedacht ist. Nicht weil eine solche Theorie unweigerlich dogmatisch wäre, sondern im Gegenteil, weil sie ihre eigenen Prinzipien auf die Kontingenz von Argumentationen und Begründungen zurückführen würde, denen natürlich andere Argumentationen und Begründungen entgegenstehen könnten.
Ein Jahrhundert vor Wittgensteins Ausführungen findet sich eine ähnliche Verurteilung der ethischen Theorie in der Phänomenologie des Geistes, und zwar ganz am Ende von Kapitel IV (dem entscheidenden Moment, in dem sich der Übergang von der Untersuchung der Formen des Selbstbewusstseins zu der der Formen des Geistes vollzieht): das, was Hegel die ethische Substanz nennt, wird als solche erkannt, oder genauer gesagt, sie kann unsere Erfahrung nur insofern beleben, als sie nicht auf die Kontingenz von Demonstrationen verwiesen wird und als eine Gesamtheit von Wahrheiten getragen wird, die nicht in Frage gestellt werden können. Die Autoren des Manifests könnten hier von einer gemeinsamen Nutzung ethischer Selbstverständlichkeiten sprechen, die nicht in Formeln gefasst, sondern vorausgesetzt werden sollen. In der tatsächlichen Umsetzung dieser Vorannahme ist ihrer Meinung nach die einzige wirkliche Konsistenz einer lebendigen Gemeinschaft zu sehen.
Natürlich ist die so bezeichnete ethische Substanz in Hegels Gedankengang nur ein Schritt: Um vollständig moralisch zu werden, muss die Gemeinschaft zunächst den Gegensatz zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz dialektisieren (d. h. hier überwinden) – dies ist der Beginn von Kapitel 5, wo der Gegensatz von Kreon und Antigone erwähnt wird. Die ethische Substanz bleibt dem göttlichen Gesetz verhaftet, und Antigone ist seine Kämpferin. Lassen wir Hegels dialektischen Optimismus beiseite und betrachten wir die gegenwärtige Situation aus dem Blickwinkel, den seine Beschreibung nahelegen könnte, den er selbst aber nicht in Betracht ziehen wollte: Der Gegensatz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Gesetz ist nunmehr unumkehrbar erstarrt und nicht mehr ‘dialektierbar’. Auf der einen Seite gibt es die Bürgerinnen und Bürger, die sich an die Vorschriften der Gesetzgeber halten, d. h. an die geschriebenen Gesetze, die angeblich auf das Universelle ausgerichtet sind und die es ermöglichen, in jedem Menschen eine Seele zu schaffen, die den laufenden Veränderungen in der Welt des Kapitals gerecht wird. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die am göttlichen, ungeschriebenen Gesetz festhalten, das nicht formuliert und bewiesen werden muss. Das von den Regierenden und ganz allgemein von den Herren der Weltwirtschaft verkündete Gesetz auf der einen Seite; und auf der anderen Seite das nicht-irdische Gesetz, das wie bei Antigone weiterhin mit der Erde und den Lebenden der Vergangenheit verbindet.
Dieser Umweg über die Frömmigkeit Antigones (eine Figur, die all jenen in Erinnerung geblieben sein mag, die insbesondere in der Anfangszeit der Pandemie ihre Verstorbenen nicht begraben konnten) mag eine Disqualifizierungsstrategie vorzubereiten scheinen, die darauf abzielt, den “Mystizismus” des Manifests zurückzuweisen – ebenso vielleicht die Anspielung auf eine ethische Substanz zu einer Zeit, in der jeder die unüberwindbare Dekonstruktion jeglicher Substanz anerkannt haben soll. Doch bevor wir die Meinungsverschiedenheiten untersuchen, geht es im Folgenden (Kapitel 2 und 3) vielmehr darum, den Standpunkt dieses Buches und die Forderung, die es vermittelt, nämlich unwiderruflich Partei gegen das Gesetz der neuen Ordnung der globalisierten Welt zu ergreifen, die uns als universell gilt, genauer zu bestimmen.
Wir wollen ein für alle Mal betonen, dass der Begriff “Gesetz” in der Syntagma “menschliches Gesetz” hier ein Bild ist, in dem nicht nur die als solche erlassenen Gesetze oder vielmehr die unzähligen von den Regierungen erlassenen Dekrete, sondern auch die medialen oder wissenschaftlichen Vorschriften und die von ihnen geförderten Verhaltensmodelle zusammengefasst werden müssen. Jede ethische Konsistenz in dem Sinne, den die Autoren diesem Wort geben, und somit, weil es für sie das Gleiche ist (wir werden darauf zurückkommen), jede politische Konsistenz, kann nur radikal außerhalb des Gesetzes in diesem erweiterten Sinn aufgebaut werden. Auch das “göttliche Gesetz” ist also ein Bild, das auf die Formen verweist, die eine Gemeinschaft gefunden hat, die in der Lage ist, außerhalb des anerkannten Gesetzes zu existieren, um eine Erfahrung des Lebens aufrechtzuerhalten oder zu erfinden, die das offizielle Gesetz, das “menschliche Gesetz”, zu verschleiern versucht. Das göttliche Gesetz ist ein informelles Gesetz, ein Gesetz, das nichts mit der Form des Gesetzes zu tun hat und das die versammelten Lebenden von innen heraus belebt, die es nicht als eine Reihe von Vorschriften, sondern als eine Reihe von geteilten Gesten anerkennen.
Der Standpunkt des Manifests ist also der einer Gemeinschaft der Ablehnung, die an einer gemeinsamen ethischen Substanz festhält, die stillschweigend bleibt, die sogar zumindest teilweise informell ist und deren formulierbare Prinzipien nicht mit den Gründen (den ethischen Selbstverständlichkeiten), die dazu führen, ihr anzugehören, verwechselt werden können. Um diese ethische Gemeinschaft, dieses “ethische Wir” entstehen zu lassen, muss man eine Seele wiederfinden oder einführen, die sich nicht vom globalen Gesetz – dem Gesetz der globalisierten Welt – erzeugen lässt. Und dazu muss man eine Beziehung zum göttlichen Gesetz aufrechterhalten, aber einer Gottheit, die der Welt immanent bleibt und sich nicht mit diesem Ersatz für einen theologischen Horizont, der Gesundheit, vereinigt. “Das Streben nach Gesundheit ist in einer Welt, die keine Erlösung mehr verspricht, an die Stelle der Erlösung getreten, weil zwar der christliche Glaube verloren gegangen ist, aber die Erkenntnis, dass ‘es auch hier unten Götter gibt’, wie Heraklit sagte, nicht an Boden gewonnen hat” (S. 234). Wir müssten nun dafür sorgen, dass diese Wahrnehmung eines nicht-religiösen Göttlichen, eines teilbaren Lebensbereichs, der auf keiner Transzendenz beruht, an Boden gewinnen kann. Ein Göttliches, das nicht mehr eine über das Leben hinaus projizierte Welt ist, sondern die Form, die sich das gemeinsame Leben selbst in seiner vollen Entfaltung geben kann, die es erreichen kann, wenn man aufhört, es mit dem Erkenntnisobjekt der Wissenschaften, insbesondere der Medizin, oder dem Gegenstand der Regierungsverwaltung zu verwechseln.
Man wird also zustimmen, dass man zunächst einmal vermeiden sollte, zu denjenigen zu gehören, “die sich all den gestern und nirgends erfundenen Normen unterwerfen, in der Hoffnung auf eine ‘Rückkehr zur Normalität’, die aus eben diesem Grund nie eintreten wird” (S. 30). Das neue menschliche Gesetz verhindert in der Tat, dass jeder Gedanke an eine Rückkehr zur Normalität ernst genommen wird, selbst wenn der Gesundheits- oder Impfpass für einige Zeit ausgesetzt würde. Das für diese Pandemie geschaffene Ausnahmearsenal steht nunmehr vollständig zur Verfügung und wird sicherlich reaktiviert werden, um künftige Pandemien (Covid, Grippe, neue Krankheiten oder Krankheiten mit einem neuen Verbreitungsmuster wie die Affenpocken) und andere Katastrophen, die uns versprochen werden, zu bewältigen. Aber auch wenn das neue Gesetz seine Autorität bereits in die Zukunft ausdehnt, die es uns entwirft, müssen wir sehen, dass es seine Wurzeln auch in der Vergangenheit hat. Auch wenn es in dieser Krise durchaus etwas Neues gab, ist die gegenwärtige Situation nicht nur das Ergebnis einer Notstandsbewältigung eines unvorhersehbaren Ereignisses.
Den Autoren des Manifests zufolge ist diese Bewältigung, auch wenn sie zweifellos nicht zu einer generellen Absprache der Regierenden geführt hat (aber es genügt, dass diese darauf trainiert sind, dieselbe Logik zu vertreten – und darin verschwören sie sich: S. 22), vor allem als Antwort auf die Bewegungen zu verstehen, die das Ende der 2010er Jahre geprägt haben und deren Symbol in Frankreich die Gelbwesten sind, die aber auch in Hongkong, Katalonien, Chile, im Libanon, im Irak und in Kolumbien ausgebrochen sind (S. 83-89). Diese Bewegungen skizzieren durchaus eine Gemeinschaft der Verweigerung – die, um eine zu sein, ihre Form finden muss, um (zunächst vor sich selbst) als solche zu erscheinen.
Die ganze Frage ist jedoch zunächst, wie man diese Gemeinschaft zum Bestehen bringt, oder besser gesagt, wie die Autoren vielleicht sagen würden, wie man dafür sorgt, dass sie ihre Ebene der Konsistenz findet. Ob es gelungen ist oder nicht, das Buch hat auf jeden Fall versucht, ein Instrument zu sein, das die Schaffung eines solchen Plans ermöglicht. Ein Buch über Interventionen zu einem politischen Instrument zu machen, bedeutet, anzunehmen, dass eine bestimmte Art der Äußerung (4) in der Lage wäre, das zu bewirken, was es beschreibt, zumindest das, was es als “reales Potenzial” aufruft: die Einheit und damit die vervielfachte Macht dieser Gemeinschaft der Verweigerung.
3 – DIE FRAGE DES “STILS”
Doch dann stoßen wir auf den ersten Einwand, der im Laufe der Rezensionen, von denen die meisten dem Text gegenüber sehr feindselig eingestellt sind, aber im Allgemeinen wenig darauf bedacht sind, das Gesamtprojekt wiederzugeben, formuliert wurde. Dieser Einwand betrifft genau dieses Bestreben, eine Form der messianischen Aussage zu finden, die für viele Leser ein Hindernis darstellt. Eine Äußerung, die dazu führen würde, eine klare Trennlinie zwischen den Schwachen, die sich unterwerfen, und den Starken, die die Unterwerfung ablehnen, zu ziehen; außerdem wären letztere nur deshalb stark, weil sie den Luxus haben, sich dafür entscheiden zu können, sich den Machtmechanismen zu entziehen. Die messianische Aussage wäre somit die Stütze einer aristokratischen Position, von der aus man nur gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Schwachen bleiben kann. Dies würde durch die Tatsache belegt, dass das Buch nicht ausreichend auf das Schicksal der Menschen hinweist, die unter der kriminellsten Verwaltungspolitik leiden, von den Bewohnern der Slums in Modis Indien bis zu denen der Favelas in Bolsonaros Brasilien.
Die messianische Aussage würde also eine Trennlinie voraussetzen, die diejenigen, die sich unterwerfen und diejenigen, die sich nicht unterwerfen, klar voneinander trennt, aber auch diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen oder nicht wissen wollen. Die Ablehnung dieser Ausführungen hat sich daher oft oder sogar ausschließlich auf den Stil des Buches konzentriert – einen Stil, der als dogmatisch empfunden wird, weil er Vorschläge macht, ohne sie zu belegen oder mit echten Argumenten zu untermauern. Wir müssen also auf die oben skizzierten Fragen unter dem Gesichtspunkt der Epistemologie zurückkommen und erneut mit der Frage des Standpunkts beginnen – also dessen, was die Autoren nicht “Subjektivität” nennen möchten, was aber vielleicht so bezeichnet werden könnte, um zumindest anzudeuten, dass es darum geht, den herrschenden Objektivismus auf Distanz zu halten.
Jeder “freie Geist” im Sinne Nietzsches kann in diesem Punkt nur auf der Seite dieses Manifests stehen, da es für eine Leserschaft, die an der Universität gelernt hat, was “seriös” ist, von Tag zu Tag schwieriger wird, ein Werk zu akzeptieren, das seine Referenzen nur teilweise angibt, das sich erlaubt, aus vermeintlich unterschiedlichen “Feldern” (Politik, Soziologie, Psychologie und sogar Biologie) heraus zu sprechen, und das sich nicht darum kümmert, seine Behauptungen zu belegen. Ein Vorgehen, das in jeder Hinsicht dem widerspricht, was sich als “spontane Philosophie der Wissenschaftler” durchgesetzt hat, nämlich dem, was die Autoren des Manifests als Positivismus bezeichnen, und das weit über die allgemein als solche bezeichnete philosophische Strömung hinausgeht. Tatsächlich kann man die Haltung eines jeden Intellektuellen als “positivistisch” bezeichnen, dessen Hauptanliegen es ist, die Anerkennung seiner Kollegen zu gewinnen und zu bewahren, und zwar weit über die “harten” Wissenschaften hinaus. Das hat sich in dieser ganzen Zeit gezeigt, in der die meisten “engagierten” Intellektuellen sich mutig von jeglicher Polemik fernhielten und sogar eine etwas groteske Zurückhaltung bei dem Gedanken an den Tag legten, in irgendeiner Weise mit denjenigen in Verbindung gebracht zu werden, die es wagten, eine Interpretation der politischen Vorgänge vorzuschlagen, die als unzulässig betrachtet werden konnte. Und selbst unter denen, die seit langem glaubten, den Positivismus zu dekonstruieren, selbst in den konstruktivistischsten Denkkreisen, haben sich die Nachfolger von Stengers und Latour ebenfalls jeder riskanten Stellungnahme enthalten, obwohl sich die Situation beispielhaft für die Umsetzung ihrer Problematiken und Methoden zu eignen schien (Untersuchung wissenschaftlicher Kontroversen, wie sie konstruiert werden, was sie ausschließen; Stellung der Wissenschaft in der öffentlichen Debatte usw.).
Aber vielleicht ist das kein Zufall, vielleicht ist der Konstruktivismus, auch wenn er “spekulativ” ist, im Grunde selbst nur eine Variante des Positivismus. Denn weder die rigiden Positivisten noch die subtilen Konstruktivisten haben jemals angefangen zu verstehen, was der Begriff der Politik selbst bedeuten könnte; sie wissen also nichts über die Beziehung zwischen Politik und Wahrheit. Mario Tronti hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder betont: Die Voreingenommenheit des politischen Wissens ist nicht das, was seiner Wahrheit im Wege steht, sondern die Voraussetzung dafür. Um beispielsweise die kapitalistische Welt in den 1960er Jahren zu verstehen, muss man den Standpunkt der Arbeiter einnehmen, der niemals den Standpunkt der Unternehmer hätte übernehmen können. Dasselbe gilt für jede “große Politik”: “Man macht eine große politische Kultur nur aus einem kollektiven Selbst, aus einem partiellen, nicht individuellen Standpunkt, aus einem Grund oder aus mehreren Gründen für den Kontrast zwischen zwei Teilen der Welt, zwei Arten von Menschen, zwei sozialen Präsenzen, zwei Zukunftsperspektiven” (5). Das hier verwendete Bild der Dualität menschliches Gesetz/göttliches Gesetz ist eine Möglichkeit, diesen Hinweis zu erweitern.
Aber es ist für viele Menschen, die den Beruf des Denkers ausüben, sehr schwierig geworden, diese wahre Voreingenommenheit vollständig anzunehmen. Daher rührt zweifellos die dumpfe und zugleich sprachlose Panik unter den Intellektuellen, von denen es nur wenige Ausnahmen gibt: Es gibt durchaus etwas Inakzeptables in dem, was sich heute anlässlich des Krisenmanagements durchsetzt; aber wenn man es beispielsweise wagt, die Empfehlungen der WHO in Frage zu stellen, ohne Arzt oder Epidemiologe zu sein (oder manchmal sogar, wenn man es ist), wird man potenziell verdächtigt, die Hintergründe der Wissenschaft nicht zu verstehen und seine Stellungnahmen durch die Tatsachen widerlegt zu sehen – obwohl die Universität uns so gut gelehrt hat, einer solchen Prüfung auszuweichen. Um dieses Gespenst zu bannen, ist es verständlicherweise besser, sich einfach zu enthalten.
Aber abgesehen von der gewöhnlichen Feigheit von Akademikern und “radikalen” Denkern, die sich um ihren Platz sorgen, mussten wir feststellen, dass die Wahrheit getrübt ist. Es war in der Tat ein Problem epistemologischer Art, das sich den Akademikern selbst stellte, die “vor lauter konkurrierender Spezialisierung, vor lauter Wissen über fast nichts” jeden Bezug zu einer möglichen Verwendung ihrer “Wissenschaft” verloren hatten (S. 101-102). Aber gerade innerhalb jeder Familie (einschließlich der aktivistischen Familien) hat man immer wieder mit Erschrecken die außerordentliche Umkehrbarkeit der Argumente festgestellt. Nach dieser Verblüffung wurde meist versucht, diese Erkenntnis zu verbergen und die Selbstsicherheit zu verdoppeln, indem man versuchte, auf einer Seite der Verleugnung zu bestehen – zum Beispiel: “Die Krankheit ist nicht so schlimm” versus “Es gibt keine Nebenwirkungen der Impfung”. Das Manifest geht manchmal in die Richtung der ersten Verleugnung; vielleicht als Antwort auf diejenigen, die die zweite übertrieben haben. Auf jeden Fall verzerrt diese doppelte Übertreibung die klare Wahrnehmung, die wir von der Situation aufbauen sollten, die uns von den Scheindebatten, die sie verursachen, und von dem, was sie uns an Zeit, Energie und manchmal auch an Freundschaft kosten, befreien würde.
Das Erstaunen über die Tiefe dieser Störung in der Beziehung zur Wahrheit rührt daher, dass man anlässlich dieser “Krise” gesehen hat, wie wenig der wissenschaftliche Ansatz, der angeblich allein die Funktion des Wahrheitsanspruchs verkörpert, dem gerecht werden kann, was man von ihm verlangt. Wie im Manifest hervorgehoben wird, wurde die gewöhnliche Funktionsweise der Wissenschaft jenseits der konstruktivistischen Zirkeln endlich erkannt. Man erkannte, dass wissenschaftliche Wahrheiten eng lokal begrenzt sind, dass sie von der Definition ihres Gegenstandes und ihres Untersuchungsfeldes abhängen, die notwendigerweise begrenzt sind; man erkannte, dass die Vielfalt der Arten, einen bestimmten Gegenstand in einem bestimmten Untersuchungsfeld zu befragen, zu unvereinbaren Beschreibungen führen kann. Man hat dies zwar erkannt, aber man wollte nicht die notwendige Schlussfolgerung daraus ziehen: Unsere Gesellschaften (und noch mehr unsere politischen Gemeinschaften) leiden darunter, dass sie die gesamte Wahrheit dem wissenschaftlichen Ansatz anvertraut haben; und dass sie so die Idee verdrängen müssen, dass ein wissenschaftlicher Ansatz nicht ausreicht, um eine historische und politische Situation in ihrer Gesamtheit zu verstehen – und bestenfalls etwas anderes als verstreutes Material hervorbringen kann.
Um eine politische Situation zu verstehen, muss man über einen politischen Standpunkt verfügen, der nicht auf das reduziert werden kann, was objektives Wissen (die notwendigerweise verstreute, untotalisierbare Summe objektiver Erkenntnisse) darüber aussagen kann. Allein die Tatsache, dass dieser außerwissenschaftliche Standpunkt bei der Suche nach der Wahrheit der Situation verschwindet, ist selbst ein Sieg für unseren Gegner; und das ist keineswegs ein Zufall, denn sein politischer Wille besteht gerade darin, den Raum der Politik als solchen verschwinden zu lassen.
Es gibt jedoch eine Schwierigkeit: Es wurde oft darauf hingewiesen, dass die Regierenden, zum Beispiel in Frankreich, gerade nicht den Empfehlungen der Wissenschaftler gefolgt sind. Eine Einheit von politischer Macht und wissenschaftlicher Verifikation darf also nicht postuliert werden – und genau dann gilt es zu erklären, wie einerseits der Bezug auf die Wissenschaft funktionierte und andererseits, welcher Logik die Macht in den meisten Ländern folgte (ich komme in Kapitel 4 darauf zurück).
Es ist eine Sache, dass die Macht einer eigenen Logik folgt, die sich nicht aus der genauen Befolgung wissenschaftlicher Aussagen ergibt. Dass sie jedoch das Gewicht, das diesen Aussagen in unserer Gesellschaft beigemessen wird, dazu nutzt, jede andere Art von Diskurs zu disqualifizieren, ist eine andere Sache. Man verlangt vom Leser keine übertriebene intellektuelle Gymnastik, wenn man ihm sagt, dass die Macht in Frankreich wie anderswo die unbestreitbare Eminenz des wissenschaftlichen Diskurses im Umgang mit Krankheiten in Erinnerung gerufen hat, um ihre potenziellen Gegner zu disqualifizieren, eben um den politischen Raum für sich selbst frei zu haben; eben um ihre Politik betreiben zu können, die, sobald die Anfechtung erloschen war, durchaus einer anderen Logik folgen konnte und sogar musste als die der WHO oder des wissenschaftlichen Rates. In Machtspielen besteht die Funktion der Wissenschaft nicht darin, zu diktieren, was zu tun ist, sondern darin, das zum Schweigen zu bringen, was nicht wissenschaftlich ist.
Damit es eine politische Präsenz gibt, muss zunächst einmal die Gesamtheit dessen, was existiert oder was ist, nicht auf das reduziert werden können, was die Wissenschaften darüber sagen können. Den Autoren des Manifests zufolge hat der Sieg des Feindes in seinem Bestreben, die politische Wahrheit als solche zum Verschwinden zu bringen, seine Wurzeln in der Art und Weise, wie die Biowissenschaften das Leben betrachtet haben, ein wesentliches Räderwerk für die Einschreibung des Lebendigen in den Raum der biopolitischen Gouvernementalität. Vielleicht hätte man die heterodoxen Ansätze erwähnen sollen, die innerhalb der Biowissenschaften selbst existieren, aber man kann auf jeden Fall zugeben, dass es das den Wissenschaften zugestandene Monopol des Wahren ist, das schließlich dazu geführt hat, dass sich diese “molekulare Vision des Lebens” (S. 304), der zufolge jedes Wesen als ein Vorrat an quantifizierbaren physikalisch-chemischen Reaktionen betrachtet werden muss, sehr weitgehend durchgesetzt hat. Der Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, dass die Wesen auf diese Weise perfekt formbar werden. Menschen mit derselben Wissenschaft zu steuern, mit der auch Teilchen, Gene oder Raumfähren gesteuert werden können, ist das Projekt der zeitgenössischen Biomacht, das in den Dokumenten, die auf den Seiten des Buches zitiert werden, als solches formuliert wird.
4 – DIE FRAGE NACH DEN TOTEN
Der soziale Stellenwert, der dem wissenschaftlichen Diskurs in unseren Gesellschaften eingeräumt wird, ist also ein zentrales Rädchen im Getriebe der biopolitischen Macht. Was die Beschreibung dieser Biomacht betrifft, so wird das, was in diesem Buch gesagt wird, den Lesern von Foucault und Agamben ziemlich vertraut sein, zwei Autoren, die ein wertvolles Verständnis dafür aufgebaut haben, wie das Leben in die Dispositive der Macht eingeschrieben wird, und so die politischen Herausforderungen dieser Einschreibung beleuchtet haben. Wenn man sich die Mühe macht, Foucault zu lesen oder erneut zu lesen, sieht man deutlich, dass der Begriff “Biopolitik” immer die Sorge um das Leben als Mittel zur Steigerung des Wohlstands bezeichnet hat. “Biopolitik” hat für ihn nie etwas anderes bezeichnet als die Einordnung des Lebens in den Horizont der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Gesundheit der Bevölkerung und des Einzelnen ist in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten zu einem wichtigen Anliegen geworden, aber nur in dem Maße, in dem sie ein wesentliches Rädchen im Getriebe dieser Entwicklung sein kann. Die Möglichkeit, diejenigen sterben zu lassen, die diese Funktion nicht mehr erfüllen, oder auch die Möglichkeit, Menschen durch Krieg in den Tod zu schicken, standen nie im Widerspruch zur “Sorge um die Gesundheit” der Bevölkerung (S. 238). Generell ist das biopolitische Management strukturell mit der notwendigen Sortierung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben konfrontiert. (6) Es gibt jedoch auch eine Reihe von Faktoren, die das biopolitische Management beeinflussen.
In diesem Zusammenhang muss jedoch noch einmal auf die schärfste Kritik an den Verfassern des Manifests eingegangen werden, denen vorgeworfen wurde, den biopolitischen Standpunkt zu übernehmen, den sie eigentlich kritisieren wollten, oder selbst zu Verfechtern einer neuen Eugenik zu werden. So wurde ihnen beispielsweise vorgeworfen, sie seien gleichgültig gegenüber den Toten von Covid, weil sie diese nicht erwähnten. Man könnte sagen, dass es sich auch hier um eine Frage des “Stils” handelt. Es wäre ein Fehler, wenn die Autoren andeuten würden, dass sie die Auswirkungen der Krankheit herunterspielen, aber sie würden genau in diesem Punkt antworten: Wenn sie die Covid-Toten nicht direkt erwähnen, dann nicht, weil sie diese Realität leugnen, sondern weil sie sich weigern, die übliche Vorsichtsmaßnahme zu übernehmen, die zu einer ungeschriebenen Regel geworden ist: Über die Gesundheitskrise zu sprechen ist nur möglich, wenn man zunächst die Zahlen der Toten und im weiteren Sinne die Zahl der von der Krankheit betroffenen Menschen nennt.
Wenn es erlaubt ist, diese Vorsichtsmaßnahme abzulehnen, dann deshalb, weil sich das Wesentliche hier sehr wohl auf der Ebene der Äußerung abspielt, nicht auf der Ebene der Aussage. Zu sagen, dass die Krankheit ernst ist, zu zeigen, dass man die “Daten” kennt, ist nicht nur die Anerkennung von Tatsachen, sondern auch die Bestätigung der Moral, die sie enthalten sollen. Diese Moral bezieht sich nicht auf die Toten (man muss nicht zeigen, dass man sie beklagt, um über sie traurig zu sein), sondern verlangt, dass man seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Aufgeklärten, fernab der dunklen Verschwörerkreise, zur Schau stellt. Umgekehrt bedeutet die Weigerung, sich dieser Moral zu unterwerfen, nicht, einen eugenischen Standpunkt einzunehmen (Schwache, Alte, Kranke sind egal), sondern sich zu weigern, andere Tote oder andere psychisch oder physisch schwer behinderte Menschen als weniger wichtig zu betrachten, auch wenn sie weniger zahlreich sind: Menschen, die die Einsamkeit oder die Unmöglichkeit, das zu verwirklichen, was ihnen am Herzen lag, nicht ertragen haben, Menschen, die nicht behandelt werden konnten, weil sie an etwas anderem litten, oder Menschen, die Impfstoffversuche nicht verkraftet haben, neben anderen Beispielen.
Der grundlegende Einwand lautet immer, das Buch mit einer faschistischen Geste in Verbindung zu bringen, und in der Tat scheint die Perspektive des Buches von der extremen Rechten bestätigt zu werden (Soral hat eine Rezension verfasst, die genauso schlecht ist wie alles, was er sonst noch schreibt), was unabhängig von den Absichten der Autoren zeigen würde, dass es mit dieser politischen Haltung vereinbar ist. Das Problem ist umso akuter, als es seit den jüngsten populären Aufbrüchen – denken wir an die Gelbwesten, die Bewegung gegen den Gesundheitspass oder die Konvois für die Freiheit – eine neue Tragweite gewonnen hat. Man muss der extremen Rechten zugute halten, dass sie weiterhin Trennlinien zieht, wo die Tradition der Linken eben Trennlinien seit einigen Jahrzehnten immer wieder verwischt oder sogar verschwinden hat lassen. Das Problem ist, dass ihre Führer diese Linie ziehen, indem sie das Schlimmste, was es in diffusen subjektiven Dispositionen geben kann, aufgreifen: Rassismus, Virilismus, Transphobie, “ländliche” Traditionen etc. Sie verlassen sich nur auf diese Kräfte der Reaktion, die noch schneller in den Abgrund führen werden als die Kräfte eines ebenso glatten wie kriminellen Macronismus. Sie verstellen sich den Blick dafür, wie beispielsweise der Feminismus und ganz allgemein die Versuche, die Geschlechterbinarität zu überwinden, heute eine fruchtbare Matrix politischer Subjektivierung für die neuen Generationen darstellen können.
Angesichts der auf diesen Seiten entfalteten Intelligenz ist anzunehmen, dass das Manifest nicht darauf abzielt, die verstopften Gehirne der rechtsextremen “Denker” anzusprechen, sondern einen Denkraum zu schaffen, der den von ihnen besetzten Raum ersetzen kann, um sich dann an die Teilnehmer der genannten Bewegungen (Gelbwesten usw.) wenden zu können. Dazu müssen wir die richtige Trennlinie ziehen: nicht eine, die ein identitäres Wir von einer Figur der Andersartigkeit (Migranten, Transgender usw.) trennt, sondern eine, die ein politisches Wir von den Verantwortlichen für die globale Katastrophe trennt – sagen wir die Klasse der Technokapitalisten und ihrer Diener, all jene, die die Initiativen ergriffen haben, die zu dieser Katastrophe führen. Über den Verlauf dieser Trennlinie wird diskutiert, denn das ist das zentrale Thema (Kapitel 5).
Die genannten Einwände haben dazu beigetragen, einige wütende Rezensionen zu füllen, deren Haupteffekt darin bestand, das eigentliche Thema der Diskussion, nämlich die klare Identifizierung der beiden feindlichen Lager, aus dem Blickfeld zu rücken. Um diese doppelte Identifikation zu erreichen, müssen wir auf die politische Logik eingehen, die die Entscheidungen der Regierenden geleitet hat, die, wie bereits erwähnt, weit davon entfernt sind, systematisch den wissenschaftlichen Empfehlungen zu folgen. Eine scheinbar gebrochene, gespaltene und je nach Land unterschiedliche Logik, die jedoch in Wirklichkeit relativ einheitlich ist.
Karl Heinz Roth, ein ehemaliger Autonomietheoretiker, der auch Arzt und Historiker ist, hat kürzlich eine Analyse des Umgangs mit der Gesundheitskrise verfasst (7). Seine Ausführungen sind mit einigen Ideen vergleichbar, die in Frankreich von Barbara Stiegler vertreten werden, wenn auch aus einem anderen politischen Blickwinkel, aber sie überschneiden sich auch manchmal mit den Analysen des Manifests, z. B. in Bezug auf die Rolle der Bill- und Melinda-Gates-Stiftung bei den Forschungsprogrammen zur Bekämpfung von Pandemien. Diese Rolle wird hauptsächlich darin bestanden haben, die Idee eines Krisenmanagements auf der Grundlage des “Worst-Case-Szenarios” zu fördern, das bei diesem Krisenmanagement verfolgt wurde, aber nicht zur tatsächlichen Form der Pandemie passte. Roth spricht von einer Krankheit “mäßigen Schweregrades” (vorbehaltlich neuer Mutationen, die immer möglich sind), was keineswegs eine Provokation ist, sondern seiner Meinung nach die angemessene gesundheitspolitische Einstufung für eine Krankheit, die von einem Virus übertragen wurde, das tatsächlich viel schwerer war als die saisonale Standardgrippe, und bei etwa der Hälfte der Menschen mit Symptomen nach einer gezielten Behandlung verlangte: Die am stärksten gefährdeten Personen hätten von einem besonderen Schutz profitieren können – was auch die Aufnahme von Fällen schwerer Formen, die sich bei Personen entwickelt haben, die nicht als “gefährdet” eingestuft wurden, besser ermöglicht hätte. Das Wichtigste ist jedoch nicht die Klassifizierung selbst, sondern das Paradoxon, dass die Annahme des “Worst-Case-Szenarios” angesichts dieser Situation keineswegs, wie man meinen könnte, zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung geführt hat, sondern im Gegenteil.
Denn die Herren der Welt wollten, nachdem sie ihren Titel durch das Einsperren fast der gesamten Weltbevölkerung bewiesen hatten, dieses Worst-Case-Szenario mit der Aufrechterhaltung der “Errungenschaften” der neoliberalen Ära um jeden Preis im Management der Pflegeeinrichtungen kombinieren. In dem Interview erklärt Roth, dass er nach der Prüfung der verschiedenen Pläne zur Bekämpfung der Pandemie, die in verschiedenen Ländern vorgeschlagen wurden, feststellen musste, dass “diese Pläne alle auf die Aufrechterhaltung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur ausgerichtet waren, aber nichts für den Gesundheitssektor vorsahen”. Dies führte zu der vollkommenen Absurdität, mit der wir leben mussten: Einerseits wurde eine Panik verbreitet, die die groteskesten Notfallmaßnahmen rechtfertigte, andererseits wurde aufgrund der strukturellen Mängel der Gesundheitssysteme nicht genug getan, um die am meisten gefährdeten Menschen zu schützen. Man musste also andere Schuldige als die Regierenden benennen, einige Sündenböcke (diejenigen, die man ohne Witz “die Ungeimpften” nannte), und die so entstandene Spaltung in der Bevölkerung durch die Pass-Politik, der eine große Zukunft vorausgesagt wurde, noch verstärken.
Man könnte es seltsam finden, dass nur wenige Wochen, nachdem diese Hysterisierung ihren Höhepunkt erreicht hatte, sich alle beeilten, die offizielle Verdrängung der Krankheit zu akzeptieren. Es stellte sich heraus, dass das groß angelegte Experimentieren mit dem Worst-Case-Szenario (vorläufig?) zu Ende gegangen war. Die Alternative zwischen einem ‘vernünftigen’ und bürgerlichen Umgang nach europäischem Vorbild und faschistischen Wetten à la Trump oder Bolsonaro schien sich abzuschwächen: Man war sich nunmehr überall darüber einig, dass man “mit dem Virus leben” müsse. Denn das Wichtigste war erreicht: Man hatte die Pandemie bewältigen können, indem man das beibehielt, was ihre Ursache war, nämlich genau die Politik, die für die allgemeine Verschlechterung der Lebensumstände (durch den Klimawandel, die Zerstörung der Lebensräume von Wildtieren, die Massentierhaltung) verantwortlich ist, die diese Pandemie und künftige Pandemien verursacht hat und verursachen wird. Und die somit logischerweise auch für den desolaten Zustand der Pflegeeinrichtungen verantwortlich ist. Der Witz ist, dass “wir”, die guten Bürger, die wir uns darum kümmern sollten, gute Bürger zu sein, durch einen Zaubertrick zu den Verantwortlichen für den guten Gesundheitszustand der Krankenhauseinrichtung geworden sind. Als die Impfpolitik angesichts des angekündigten Vorhabens, das Virus auszurotten, ihre Grenzen aufzeigte, ging es für jede(n) darum, die richtigen Handlungen zu ergreifen, um die Krankenhäuser nicht zu überlasten (Manifest, 245). Das war die “Erpressung des Krankenhauses: Entweder Sie fügen sich, oder das Krankenhaus bricht zusammen. Die Gaunerei hat es in sich: Dass eine Abteilung jederzeit kurz vor dem Zusammenbruch steht, ist die Definition ihres optimalen Zustands aus der Sicht ihres neoliberalen Managements” (S. 245). Es ist möglich, dass diese Erpressung in den kommenden Wochen erneut mobilisiert wird. Es ist anzumerken, dass die Leugnung der aerosolischen Ansteckungsfähigkeit über ein Jahr lang und im weiteren Sinne die fehlende Berücksichtigung der Zirkulation des Virus durch die kontaminierte Luft ebenfalls ein Element dieser Logik der individuellen Verantwortung ist; denn diese Berücksichtigung müsste logischerweise dazu führen, die globale Verschlechterung der Lebensbedingungen aufzuhalten, aber genau das konnten die Regierenden bislang verhindern.
Die Feststellung des durch die neoliberale Politik organisierten Verfalls der Pflegeinfrastrukturen sollte jedoch nicht dazu führen, dass die Rede von der Verteidigung der Institution Krankenhaus, so wie sie “früher” war, übernommen wird. Die Verfasser des Manifests haben nicht Unrecht, wenn sie an die wesentliche Kritik an dieser Institution und an den medizinischen Institutionen im Allgemeinen erinnern, die von Foucault in den 1970er Jahren oder unter einem anderen Blickwinkel von Ivan Illich formuliert worden war. Zumal diese Kritik in der Krisensituation nicht mehr akzeptiert wurde (“die Kritik am Quasi-Monopol der Krankenhäuser für medizinische Ressourcen, ja sogar an der grundlegenden Fehlentwicklung dieser Institution ist eine der unhörbar gewordenen Banalitäten”), während gleichzeitig der wohlwollende Blick auf Pflegeversuche aus der “alternativen” oder traditionellen Medizin verschwand: Angesichts der Dringlichkeit ging es darum, seriös zu sein. Und seriös zu sein bedeutet bekanntlich, rational und “positiv” zu sein.
Es wäre absurd zu sagen, dass man in einer solchen Situation aus den Krankenhäusern hätte desertieren müssen; aber es war zweifellos wesentlich, das zu berücksichtigen, was außerhalb der medizinischen Institutionen oder an deren Rändern und auf jeden Fall außerhalb der staatlichen Politik stattfand. Roth betont, was man als eine Form der außerhalb von Institutionen vergemeinschafteten Care bezeichnen könnte, und zwar durch die Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, die spontanen kollektiven Formen der Solidarität, die sich in mehr oder weniger großem Maßstab außerhalb jedes staatlichen Rahmens in allen Ländern entwickelt haben. Es war nicht verwunderlich, diese Formen innerhalb der zapatistischen Gemeinschaft in Chiapas zu finden; erstaunlicher war es, sie in den brasilianischen Favelas aufkommen zu sehen (8). Die Vernachlässigung dieser populären Formen der Selbsthilfe durch die Regierenden (mit Ausnahme von Japan und Dänemark laut Roth) hat die Katastrophe nur noch vervielfacht.
5 – DIE POLITISCHE LEHREN
Kehren wir zum Problem des Standpunkts zurück, dem der Gemeinschaft der Ablehnung. “Dieses Buch ist anonym, weil es niemandem gehört; es gehört der laufenden Bewegung der sozialen Dissoziation” (S. 11). Das Problem ist, dass diese Bewegung derzeit disparat und ohne Einheit ist. Ich verstehe zwar, dass es nicht ausdrücklich das Ziel der Autoren ist, sie zu vereinen, sondern eher, sie zu verstärken, aber der Singular hier (eine Bewegung) ist aufschlussreich und scheint mich zu dieser Alternative zu zwingen: Entweder weist das “eine” genau auf ein Ziel hin, und dann kann man sich die Frage stellen, wie die Einheit der Bewegung als nicht gegeben konstruiert werden kann; oder aber es gibt bereits eine Bewegung, und wenn man den Autoren folgt, könnte man glauben, dass sie als solche Ausdruck ihrer Epoche – oder der kommenden Epoche – ist. Das würde voraussetzen, dass die Epoche, ob gegenwärtig oder zukünftig, nach einer Stimme sucht. Mir scheint jedoch, dass es nicht “die Epoche” ist, die die Quelle dieser disparaten und potenziell vereinten politischen Rede ist, es ist nicht sie, die spricht. Was spricht, sind heterogene politische Subjekte.
Wenn es eine Stimme auf unserer Seite geben kann, wenn also eine Einheit nicht nur beschworen, sondern konstruiert werden muss, dann muss es die eines politischen Prozesses sein. Wenn sie gesucht werden muss, dann kann sie nicht durch Zuhören gefunden werden. Wenn es einen Prozess gibt, dann insofern, als er die Zusammensetzung heterogener Elemente beinhaltet, die als solche erhalten bleiben müssen; wenn es eine Einheit gibt, dann deshalb, weil sie nicht durch die Auslöschung oder gar Subsumtion des Heterogenen – in diesem Fall: heterogener Formen der politischen Subjektivierung – errungen werden kann.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Frage der Auseinandersetzung mit der bestehenden Welt nicht, wie bei Hegel, darin besteht, sich mit dem Gesetz, das sie strukturiert, abzustimmen. Hier müssen wir voll und ganz auf der Seite der revoltierenden Antigone bleiben – aber einer Antigone, die ihre Tat nicht bereuen würde. Die Frage der Komposition des Heterogenen hängt an den Überresten des göttlichen Gesetzes, wenn wir das eingangs gegebene Bild aufgreifen, d. h. an dem Ziel eines Lebens, das von den ihm auferlegten Erniedrigungen und Verstümmelungen befreit ist und deshalb in einem nicht reduzierbaren Konflikt mit dem menschlichen Gesetz steht, das als Gesetz der inneren Welt des globalen Kapitalismus verstanden wird.
Mit dem Bestehenden zurechtzukommen, bedeutet, mit den unterschiedlichen Formen der Ablehnung und den unterschiedlichen Arten, ein so befreites Leben zu betrachten, zurechtzukommen. Es ist wahr, dass die Autoren des Manifests die Pluralität dieser Formen und Weisen zur Kenntnis nehmen. In dem Satz “Es gibt ethische Wir” (S. 269) ist der Plural wesentlich: Man kann eine Vielfalt von Formen annehmen, die der ethischen Konsistenz zugeordnet werden, eine Vielfalt von Lebensformen. Die Frage ist jedoch zweifach: Zum einen geht es darum, wie die Vereinbarkeit des Heterogenen umgesetzt werden kann. Andererseits ist sie die Frage, ob das, was die kompostierbaren Unterschiede verbindet, die Verbreitung selbst ist, also gerade ihre Pluralität im Hinblick auf die Einheit der globalen Welt. Wenn wir diese zweite, etwas einfache und abgenutzte Annahme verwerfen und davon ausgehen, dass wir nach einer eigenen Einheit suchen müssen, einer Einheit, die sich nicht nur im Negativen sagen lässt, dann muss etwas hinzugefügt werden, um den gemeinsamen Raum, den diese Unterschiede zusammensetzen, zu verbinden und zu benennen.
Die Hypothese, die ich aufstellen würde, ist, dass dieser gemeinsame Raum nicht durch eine ethische Konsistenz, sondern durch eine spezifisch politische Konsistenz gegeben ist. Anders ausgedrückt: Vielleicht muss man sich vorstellen, dass ein politischer Raum zusätzlich zu den ethischen Konsistenzen entstehen muss. Ich sage nicht, dass diese nicht politisch sind, sondern dass sie nicht das Ganze der Politik sind. Im Manifest wird die ethische Substanz, die ihrer Positivität überlassen wird, im Hinblick auf den politischen Raum, dem sie sich entzieht, negativ gedacht, und das ergibt sich aus der Informabilität der ethischen Sätze. Es ist nicht diese Informabilität, die ich in Frage stelle, sondern die Fähigkeit der ethischen Konsistenz, allein den Raum für eine der globalen Situation angepasste Politik zu entwerfen. Nun ermöglicht der als zusätzlicher Raum betrachtete eigentliche politische Raum ein Denken der Positivität der Ablehnung, das heißt, er ermöglicht es, die Ablehnung selbst als Affirmation in sich zu tragen. Nicht die Behauptung einer bestimmten Welt gegen die des Kapitals, noch eine einfache Ansammlung heterogener Welten gegen die globalisierte Welt, sondern die Behauptung von etwas anderem als einer Welt: eine politische Zielsetzung, die ihre Strategie gefunden hat. Eine Kameradschaft, die zu den ethischen Freundschaften hinzukommt.
Das oben Gesagte schlägt also eine dialektische Artikulation vor, aber nicht mit “dem menschlichen Gesetz”, dem Gesetz des Kapitals. Der politische Standpunkt zur gegenwärtigen Situation kann nicht nur der Standpunkt der ethischen Substanz sein. Der politische Standpunkt setzt eine dialektische Artikulation mit der Welt, wie sie ist, über die pluralen Formen der Verweigerung voraus, und nicht eine radikale Loslösung. Das Manifest hat nicht Unrecht, wenn es auf die Sackgassen hinweist, in denen sich feministische oder dekoloniale Bewegungen verfangen können – eine Identitätsfalle, wohl wissend, dass plurale Identitäten als solche perfekte Verwaltungsobjekte sein können; wohl wissend auch, dass diese Bewegungen in ihren Sackgassen das Gruppen-Über-Ich innerhalb der militanten Kreise wuchern lassen, was nie eine gute Nachricht ist. Aber es scheint schwierig zu sein, einen konsequenten politischen Raum aufzubauen, ohne sich auf all jene zu stützen, die sich innerhalb dieser Bewegungen nicht in diese Fallen locken lassen. Denn auch auf diesem Weg formiert sich heute ein “ethisches Wir”.
Anders ausgedrückt: Das Motiv des Bündnisses lässt sich kaum umgehen, und über dieses Motiv lässt sich die Zusammensetzung des Heterogenen begreifen. Es stimmt, dass dieses Motiv völlig leer oder rein beschwörend sein kann, wenn die Allianz als reine Aggregation des Disparaten betrachtet wird, ohne jeglichen Wesenszug eines als solchen Gedachten; wenn sie nicht durch ein Objekt, einen Horizont vereinheitlicht wird, d.h. wenn sie nicht Träger einer zusätzlichen politischen Hypothese ist. Die Katastrophe der radikalen militanten Welt besteht darin, dass sie unfähig geworden ist, solche Hypothesen zur Diskussion zu stellen, also zu erarbeiten, oder nur auf die zögerlichste Art und Weise. Sie hat so sehr gelernt, ihren Dogmatismus zu dekonstruieren, so sehr die irreduzible Pluralität der “Terrains” des Kampfes und der Lebensformen integriert, dass sie bei dem Gedanken, etwas zu vertreten, das auch nur entfernt einem neuen Einigungswillen ähneln würde, in Panik zu geraten scheint. Auf diese Weise homogenisiert sie sich vollkommen mit der pragmatistischen Weltsicht, ohne zu verstehen, dass diese genau das ist, was ihrem Feind ermöglicht, seinen Sieg dauerhaft zu sichern.
Um es nicht bei der reinen Beschwörung zu belassen, weise ich hier nur darauf hin, dass eine politische Hypothese, die geeignet wäre, einen verbindenden Bogen über völlig unterschiedliche Situationen und Kampfformen zu spannen, aus Jason Moores Analysen über die Ausbeutung der natürlichen Wesen durch die Weltökonomie hervorgehen könnte, die es ermöglichen, rückblickend den Zusammenhang des Prozesses der Weltökonomie und seine zerstörerische Kraft auf die natürlichen Lebensräume und ihre Bewohner besser zu erkennen – die Quelle der Vernichtung wilder Arten ebenso wie der Pandemien und der Klimaveränderung, aber auch der Ausbeutung der Völker der ganzen Welt durch die Arbeit. Arbeit ist keine “realisierte Abstraktion”, sondern entspricht der Gesamtheit der konkreten Arbeitszwangsmaßnahmen, die für alle Naturwesen, ob Menschen oder nicht, und unter den Menschen gelten, unabhängig davon, ob die Arbeit als solche anerkannt wird oder nicht (“Hausarbeit”, Sklavenarbeit usw.). Er entspricht auch der Gesamtheit der ebenso konkreten Vorrichtungen zur Vereinnahmung der “freien” Tätigkeit als Arbeit, insofern sie in den Verwertungskreisläufen des Kapitals (Datenmarkt) gefangen ist. Der Zwang zur Arbeit und die Vereinnahmung der freien Tätigkeit als Arbeit sind der Fokus der Operationen der Kontrolle und des subjektiven Angenähtwerdens an die Wirtschaftsordnung. Denn auch das Kapital hat seine ungeschriebenen Gesetze. Das wichtigste davon betrifft die Erwünschtheit der Arbeit: Es ist ein Gesetz im Raum des Kapitalismus, dass man dort nur aus der Position heraus existiert, die man auf dem Arbeitsmarkt – oder allgemeiner: als produktives Subjekt – einnimmt. Die Arbeit im Kapitalismus ist der Name der Subjektivierung für das Kapital. Daher die Herausforderung der Telearbeit heute, die darin besteht, einen Fortschritt in der Ununterscheidbarkeit von Leben und Arbeit zu erzielen. Die Abriegelung der subjektiven Dispositionen ist unumkehrbar, wenn diese Ununterscheidbarkeit selbst dazu führt, dass sie als solche gewünscht wird.
Noch vor einigen Jahren gehörte es in bestimmten Aktivistenkreisen zum guten Ton, zu zeigen, dass man die “alten Konzepte”, darunter auch das Konzept der Arbeit, überwunden habe. Vielleicht kann diese Überwindung nun selbst überwunden werden. Ich halte es für möglich, zu Marx oder Tronti zurückzukehren und daran zu erinnern, dass der Kampf gegen den Kapitalismus ein Kampf gegen die wirtschaftliche Entwicklung als solche ist, d.h. (mit Jason Moore) gegen die Ausbeutung aller Naturwesen für das Kapital. Nicht so sehr, um “Degrowth” anzustreben, was allzu oft ein ethischer Vorschlag ohne große Konsequenzen bleibt, sondern um auf das Herz des Feindes zu zielen. Ein Bild mag die Bedeutung des Vorschlags, den es zu entfalten gäbe, andeuten: Wenn wir uns auflehnen, sind wir keine Arbeiter, sondern wilde Tiere, deren Territorium täglich kleiner wird. Das Problem besteht jedoch nicht darin, von Klassenkämpfen zu territorialen Kämpfen überzugehen; das Problem besteht darin, den Klassenkampf selbst zu verwildern.
Dass die Klassen nicht verschwunden sind, ich meine die Klassen als Operatoren der politischen Subjektivierung, das hat dieses Krisenmanagement auch gezeigt: nicht nur, weil die Ärmsten im globalisierten Raum am stärksten exponiert waren, sondern auch, weil die einzige wichtige Bewegung in diesem Zeitraum, rund um Black Lives Matter, auch ein Ausdruck dieser Klassenrealität war. Wenn man dies anerkennt, ist man vielleicht in der Lage, die richtige Trennlinie zu ziehen. Aber diese wird, nachdem sie verwischt wurde, jeden Tag mehr von einem Zustand der Welt überlagert, der scheinbar nur die Wahl lässt zwischen den Kräften des Kapitals in seiner autoritären neoliberalen Version und den Kräften des Kapitals, die in den abscheulichsten Formen der Reaktion verankert sind. Auf diese Weise werden auf verschiedenen Ebenen ständig neue Schichten der Verwirrung hinzugefügt, die uns auffordern, das weniger Schlimme gegen das wirklich Schlimme zu wählen, aber in jedem Fall wissen wir nur, dass diese Wahl selbst nur eine weitere Stufe unserer Entfremdung darstellt.
Man müsste also eine spezifisch politische Ergänzung zu den Räumen mit ethischer Konsistenz in Betracht ziehen. Wir werden zugeben, dass die Politik ohne ethische Substanz rein formal bleibt. Aber diese ethische Substanz, die immer notwendigerweise begrenzt ist, muss ergänzt werden. Die Verfasser des Manifests könnten hier eine letzte Ausflucht vermuten, um den Zeitpunkt für den Sprung in die radikale Entscheidung, die sie vorschlagen, hinauszuzögern. Eine Entscheidung, die dazu führen würde, dass die einzige Frage, die einzige Dringlichkeit darin bestünde, die Trennung von allem, was den neuen Raum des menschlichen Gesetzes organisiert, zu organisieren. Radikale Abtrennungsarbeit ohne dialektische Artikulation. Begrüßen wir einen letzten Aspekt des Buches: Im Herzen der Aussage des Manifests steht die Forderung, sich nicht selbst zu belügen. Die Frage ist, ob die Suche nach dialektischen Artikulationen an dieser Lüge teilhat. Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist, aber es ist genau das, was vorrangig diskutiert werden sollte. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Vertreter der gegnerischen Positionen in dieser Frage bereit wären, über das Spiel der gegenseitigen Beschuldigungen, Absichtserklärungen und Rivalitäten hinaus miteinander zu sprechen, durch das sich insbesondere das radikale Milieu, so wie es ist, die Illusion gibt, lebendig zu sein.
Anmerkungen
Surveiller et punir (Überwachen und Strafen), Gallimard, 1975, S. 34.
Siehe Michel Foucault, Naissance de la biopolitique (Geburt der Biopolitik), Seuil-Gallimard, 2004; und Grégoire Chamayou, La Société ingouvernable (Die unregierbare Gesellschaft), La Fabrique 2018.
Wenn ich hier von “technokapitalistischer Herrschaft” spreche, dann mit Blick auf das, was Tronti sagt: ‘Die Arbeiterbewegung war die einmalige Chance, die Technik zu zivilisieren, aber diese Chance ist verstrichen.’ Siehe Mario Tronti, Nous opéraïstes, L’Éclat, 2013, S. 120-121
sagen wir es “messianisch”, in der Bedeutung, die diesem Begriff insbesondere von Agamben in Le Temps qui reste, Payot, 2000, gegeben wurde.
La politique au crépuscule, L’Éclat, 2000 S. 98.
siehe Agamben, Homo sacer, Le pouvoir souverain et la vie nue, (Homo sacer, Die souveräne Macht und das nackte Leben), Seuil, 1995.
Blinde Passagiere: Die Corona-Krise und ihre Folgen, Kunstmann, 2022; ein englisches Interview mit dem Autor über sein Buch ist online auf der Website der Zeitschrift Endnotes verfügbar, sowie eine französische Übersetzung auf dndf.org.
Der Beitrag erschien auf französisch Ende September 2022 auf Terrestres und am 27. Mai 2023 in der englischen Übersetzung auf Ill Will Editions. Bonustracks fügt nun hiermit die deutsche Übersetzung hinzu.