Khaled

Rasha Abbas

Ich durchsuche die Fotos, und wenn ich einen Verdacht hege, versuche ich mich an Details zu erinnern, an ein Muttermal auf der Wange, eine Wunde am Knie. Aber die Suche nach den Ertrunkenen oder den Toten und das Warten auf die Rückkehr der Verhafteten sind sinnlose Unterfangen, genauso sinnlos, wie in jenen Städten auszuharren, die nur darauf warten, als nächstes zerstört zu werden.

Khaled Khalifa

Wie lächerlich, wie unangemessen ist es, dir eine Grabrede zu schreiben.

Die vielen Liebesbekundungen für dich mögen überraschen, aber Tatsache ist, dass du immer nach klaren, tief empfundenen und unerschütterlichen Prinzipien gelebt hast. Du hattest ein Gespür für die angeborene Schönheit und beherrschtest sie wie kein anderer. Deshalb ist es nur angemessen, dass wir dich auf eine wirklich schöne Art und Weise ehren, z. B. durch eine Tätowierung auf der Handfläche, durch aufrichtige Worte inmitten verstreuter Rosenblätter oder durch einen Abend voller tiefer Gefühle und offener Geständnisse gegenüber unseren Liebsten.

Abschiede fühlen sich oft kalt an, ein erwartetes Ritual, das wir unzählige Male wiederholen müssen, eine bittersüße Norm unseres Lebens. Nehmen wir zum Beispiel jene vorhersehbare Nacht in Berlin, in der wir zum letzten Mal, während des Höhepunkts aller Klischees zusammenkamen – einer Techno-Party. Meine Sicht war verschwommen, vernebelt von Nebelmaschinen oder vielleicht Zigarettenqualm. Doch da warst du, standest an der Wand und beobachtest die Tanzfläche aus der Ferne. Ich bahnte mir den Weg durch den Nebel und sah deine leuchtenden Augen, die im schwachen Licht schimmerten. Die Musik war ohrenbetäubend, doch wir sprachen miteinander. Als du auf meinen Drink deutest, halte ich meine Wasserflasche hoch und erkläre dir, dass ich nur das trinke, um meine Figur zu halten. Du hast süffisant gelächelt. Du hattest diese Macht über mich, mich lächerlich zu machen, was ich seit dem Beginn meiner Freundschaft mit dir – vor sechzehn oder siebzehn Jahren – all die Zeit akzeptiert hatte. Es war gegen deine Prinzipien, so etwas zu tun, sein Temperament im Zaum zu halten, Diät zu halten, sich zu zensieren, sich um sein öffentliches Image zu sorgen.

Dies waren einige der intuitiven Weisheiten, die dein Leben geprägt haben. Jede Andeutung von Selbstbeschränkung, selbst wenn sie als Zuneigung getarnt war, hat dich schnell frustriert. Als wir in meinen frühen Zwanzigern miteinander zu tun hatten, hast du mich immer wieder ermutigt, Selbstvertrauen und Selbstachtung in den Vordergrund zu stellen, ohne Rücksicht auf äußere Kritik oder Spott. Du hast oft über vergangene Kritik nachgedacht, mit der du konfrontiert wurdest, und hast Kritikern gesagt: “Du wirst alle möglichen Geschichten über mich hören, sowohl gute als auch unangenehme, und die meisten davon sind wahr. Aber ihr solltet euch mit der Person beschäftigen, die ihr vor euch seht.”

Das Schreiben war nicht etwas, das du so leicht genommen hast wie diese spielerischen Sticheleien. Oft sah man dich in Cafés, wo du stundenlang in deine Arbeit vertieft warst. Du hast nicht gezögert, die Werke angehender und erfahrener Autoren zu rezensieren und warst immer bereit, deine Erkenntnisse mit ihnen zu teilen, sie aufzumuntern oder sie sogar für ihre vermeintliche Faulheit zu tadeln. Diese Beziehungen waren unkompliziert, frei von jeglicher Zweideutigkeit oder Nachsicht. So konnte es vorkommen, dass man aus heiterem Himmel eine spitze Botschaft von Khaled Khalifa erhielt mit der Bemerkung: “Ich habe heute etwas gelesen, das du geschrieben hast und das mir nicht gefallen hat.”

Ich habe eine solche Offenheit selbst erlebt. Deine Verachtung für Zurückhaltung und Schüchternheit war spürbar, nicht nur in deinen Schriften, sondern auch in der Art, wie du gelebt hast. Deine selbstbewusste Präsenz in unserem Leben war unverkennbar, du hast nie um Erlaubnis gebeten und immer die Führung übernommen. Viele von uns aus meiner Generation, die sich schon früh für das Schreiben und die Künste begeisterten, nannten dich bei unseren regelmäßigen Treffen in Cafés und Bars liebevoll “Onkel”. Es ist schade, dass du wahrscheinlich nie begriffen hast, wie viel Dankbarkeit wir für diesen unkonventionellen Mentor empfanden, den du für uns verkörpert hast. Du hast die Rolle des rebellischen Onkels gespielt, hast uns geholfen, der Schule und der elterlichen Aufsicht zu entkommen, warst unser Alibi für die heimlichen romantischen Ausflüge und hast uns gleichzeitig Werte vermittelt, die unsere Unabhängigkeit förderten. Du hast uns beigebracht, uns von gesellschaftlichen Fesseln und Traditionen zu befreien, familiäre und akademische Normen in Frage zu stellen und unsere Liebesaffären und Eskapaden furchtlos zu meistern.

Mit dir abzuhängen bedeutete, das Unerwartete zuzulassen – Gespräche mit Fremden am Nachbartisch, ein geplantes kurzes Treffen, das sich zu einem nächtelangen Streifzug durch die Stadt entwickelte, und spontane Übernachtungen bei dir, wenn es zu spät wurde, um die zahllosen Kontrollpunkte auf dem Weg nach Hause zu überwinden. An diesen Treffen nahmen oft Leute teil, die wir kannten, Neuankömmlinge, die wir gerade erst kennengelernt hatten, oder sogar ausländische Journalisten, die in unsere Mitte gestolpert waren und ursprünglich vorhatten, bei Tageslicht ein kurzes Interview mit dir aufzunehmen.

Ich erinnere mich an ein frühes Morgengrauen im Jahr 2012, als die Umgebung von Damaskus voller Kontrollpunkte war und ich vor der Kasabji Bar stand und hoffte, ein Taxi zu bekommen. Zufällig fuhr dein Auto vorbei, und als du mich erkannt hast, hast du angehalten und mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Da ich keinen Ausweis bei mir hatte, war ich angesichts der drohenden Kontrollen beunruhigt. Du hingegen trugst einen bandagierten Arm von einer Verletzung, die du dir am Tag deiner Verhaftung auf dem Friedhof von Dahdah zugezogen hattest. Als wir uns dem ersten Kontrollpunkt näherten, und bevor ich meine Nervosität verraten konnte, lehntest du dich an mein Fenster und riefst dem Soldaten entrüstet zu: “Erkennen Sie sie nicht? Das ist die bekannte Schriftstellerin Rasha Abbas!”

Der Wachmann nickte, obwohl er sich nicht sicher war, und murmelte, dass er den Namen schon einmal gehört habe. Das wiederholte sich auf unserem Weg mehrmals, aber dank dir schaffte ich es problemlos nach Hause.

“Ich bin zu spät zur Party gekommen, weil ich abgelenkt wurde.”

Als ich kürzlich einige Notizen und Zitate durchblätterte, stieß ich auf eine zufällige Notiz, die ich während der Lektüre deines Romans “Keiner betete an ihren Gräbern” gemacht hatte: “Kühne Figuren, die das Leben in vollen Zügen genießen – die Voreingenommenheit des Autors ist offensichtlich. Von Anfang an ist eine Wertschätzung für die mutigen Seelen zu spüren, die noch deutlicher wird, wenn von einem Raum im Schloss die Rede ist, der für diejenigen reserviert ist, die über Selbstmord nachdenken.” Wie so viele Dinge, die ungesagt und unvollendet bleiben, blieben auch diese Gedanken unveröffentlicht, und wir haben sie nie diskutiert.

In der intuitiven Weisheit, die du geteilt hast, waren unzählige Lektionen versteckt. Durch dich habe ich gelernt, wie man mit Meinungsverschiedenheiten anmutig umgeht und wie man echte Wärme zeigt. Ich lernte, dass Menschen sich auseinanderentwickeln, sich vielleicht sogar fremd werden können, ohne dass einer von ihnen im Unrecht ist. Wann immer wir uns trafen, ob nach Streitigkeiten oder einfach nach Jahren des Schweigens, war das erste Gebot der Stunde immer Freundlichkeit und das Festhalten am Prinzip der “Güte” – aber nicht an diesem erdrückenden Prinzip, gegen das du oft gewettert hast.

Das Leben hat dich reifer gemacht. Während die Jahre des Aufruhrs vergingen, wurden wir beide reifer. Die längste Zeit, die ich in letzter Zeit mit dir verbracht habe, war während einer kurzen Reise in die USA im Jahr 2016. Du nahmst an einer literarischen Konferenz in Boston teil, und ich besuchte dich. Als ich ankam, hattest du einen riesigen Topf mit gefüllten Zucchini für mich zubereitet, obwohl du, als ich ankam, schon vor Erschöpfung in den Schlaf fielst. Wir konnten nur ein kurzes Gespräch führen, in dem du erwähntest, wie sehr du Damaskus vermisst hast, das du überall, wohin du gereist bist, wieder aufleben lassen wolltest. Bald darauf zogst du dich für die Nacht zurück. In den nächsten Tagen hast du die Rolle eines Onkels übernommen, der sich plötzlich um eine Nichte kümmern muss. Trotz deiner eigenen Verpflichtungen hast du dich um mich gekümmert und oft unsere gemeinsamen Freunde in Boston, Taha und Muhammad, angerufen, damit sie mich in ihre Ausflüge einbeziehen, ähnlich wie jemand, der Spielkameraden für ein Kind findet. Schließlich hast du deinen Aufenthalt abgebrochen und bist nach Damaskus zurückgekehrt, einem Ort, den keine noch so zufälligen Treffen oder Gäste im Exil ersetzen können. Du kehrtest in dein langjähriges Zuhause zurück, wo zufällige Begegnungen auf der Straße an der Tagesordnung waren und du Gastgeber von Versammlungen warst, bei denen du Gerichte serviert hast, die mit so viel Liebe (und scharfem Pfeffer) gewürzt waren, dass den Gästen die Luft wegblieb. Du hast einmal gesagt, dass du ein Kochbuch schreiben willst, hast aber immer darauf bestanden, dass die Leidenschaft in der Küche wichtiger ist als das Fachwissen.

Du bist nach Damaskus zurückgekehrt und bist allem treu geblieben, woran du geglaubt und was du niedergeschrieben hast. Ein Triumph, der die Ideale der Befreiung, der Tapferkeit und der Liebe nicht in Frage stellte. Du hast allen die Hand gereicht und damit deine bedingungslose Liebe zu Syrien und seinem Volk gezeigt. Du hast dich entschieden, denen, die geblieben sind, und denen, die später gekommen sind, beizustehen, indem du deine Zuneigung, deinen Edelmut und deine Freude mit ihnen geteilt hast – vor allem die Freude, die für dich allein schwer zu ertragen war. Bei Deinem herzzerreißend schönen Abgang bist Du als der Geschätzte gegangen, als der liebe Verstorbene, umhüllt von Rosenblättern, Lachen, jubelnden Liedern und Geschichten von Liebenden und galanten Seelen. Selbst in deiner Abwesenheit teilen wir das Vermächtnis deiner liebevollen Erinnerung – ob es nun eine Ewigkeit gibt, in der wir dich wiedersehen werden oder nicht.

Anmerkungen der Übersetzung:

Erschienen am 3. Oktober 2023 auf englisch auf Al-Jumhuriya. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. Khaled Khalifa war ein syrischer Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor. Er lebte fast sein gesamtes Leben in Damaskus, wo er auch im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Ein Großteil seiner Werke wurden von der syrischen Zensur unterdrückt, während er international wiederholt für sein Werk ausgezeichnet wurde. Auf deutsch erschienen sind “Zum Lobe des Hasses”, “Keine Messer in den Küchen dieser Stadt”, “Der Tod ist ein mühseliges Geschäft” und “Keiner betete an ihren Gräbern”. Das Zitat von Khaled Khalifa am Anfang stammt aus einem Essay von ihm über Flucht und Bleiben im Angesicht der syrischen Tragödie und wurde von Bonustracks hinzugefügt.