“DIE ERDE IN BE’ERI UND IN GAZA BEBT AUF DIE GLEICHE WEISE”

Bericht einer Überlebenden des 7. Oktobers

Ich bin 19 Jahre alt.

Ich komme aus dem Kibbuz Be’eri.

Das Schlimmste – abgesehen davon, die Namen der Toten, Vermissten und Geiseln zu hören – ist es nicht, in einem dunklen Bunker zu liegen. Es ist nicht, Schüsse zu hören. Es ist nicht, in Echtzeit Benachrichtigungen von meinen Genossen im Kibbuz zu erhalten, von Leuten, die ich schon ewig kenne, die um Hilfe betteln, ohne dass jemand kommt.

Das Schlimmste für mich – abgesehen von den Toten, den Entführten und den Geiseln – war der Moment, als ich nach draußen ging, als wir evakuiert wurden und es dunkel war. Ich war barfuß. Ich trat auf Glas. Und ich sah – auf den Gesichtern der Menschen in meiner Nachbarschaft – überall – Angst. Eine schreckliche Angst. Diese Gesichter, die ich seit Ewigkeiten kannte – ich hatte sie noch nie so gesehen. Mit Tränen bedeckt. Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin – angsterfüllt.

Die Angst geht um, hier, unter uns. Ich bin gerade am Toten Meer angekommen. Ich sehe, wie die Angst über die Gesichter meiner Mitschüler im Kibbuz wandert. Sie versuchen, weiterhin morgens aufzustehen. Durchzuhalten. Ab und zu zu lächeln. Jeder so gut er kann.

Jeden Morgen aufstehen … Es gab nicht viele Morgen seit … Aber aufstehen … jeden Morgen … … das ist schwer, sehr schwer. Was uns passiert ist, ist, ja, erschreckend. Aber ich muss etwas sehr Wichtiges sagen. Was uns passiert ist, ist nicht neu; es ist nur schlimmer. Wir wurden jahrelang, viele Jahre lang, nicht beachtet. Sagen Sie nicht “Eisenkuppel” [Iron Dome)- das ist nur ein Pflaster. Sagen Sie nicht “eiserne Soldaten” – es ist ein Pflaster. Ein Mensch liegt im Sterben und Sie bringen ihm Heftpflaster. Schämen Sie sich. Schämen Sie sich. Seit Jahren, seit Jahren sprechen wir darüber. Sie ignorieren uns: Das ist der Stand der Dinge. Es ist nicht neu, es ist nur schlimmer. Und das ist nicht das Einzige in diesem Krieg, das nicht neu und nur schlimmer ist.

Ich versuche, Worte zu finden, denn ehrlich gesagt ist es schwer, sie zu finden, bei all der Wut und der Trauer, die mich im Moment durchströmen. Wie soll ich morgens aufstehen? Bürger Israels, Politiker, Menschen im Ausland – wer auch immer Sie sind, es ist mir egal – hören Sie mir gut zu. Wie soll ich morgens aufstehen, wenn ich weiß, dass es 4,5 Kilometer von Be’eri, von meinem Zuhause im Gazastreifen, Menschen gibt, für die es noch nicht vorbei ist? Für mich war es nach 12 Stunden vorbei, weil ich einen Ort hatte, an den ich mich flüchten konnte. Ich bin am Toten Meer in einem Hotel.

Diejenigen, die von Rache sprechen, schämt euch. Ja, es stimmt, der Schmerz ist unermesslich. Ich, nach allem, was ich erlebt habe… jedes Mal, wenn ich das Wort “Rache” höre, sacke ich zusammen. Dass Menschen sich darauf vorbereiten, das zu erleben, was ich erlebt habe, ohne dass jemand kommt, um sie zu retten, das ist …

Wir können nicht so weitermachen, wir können nicht …

Und nein: Weitere Pflaster werden das Problem nicht lösen. Die Leute fragen uns immer wieder: “Werden Sie in den Kibbuz zurückkehren?”, “Glauben Sie, dass Sie wieder dort leben können, ohne mehr Soldaten, ohne mehr Schutz?” Erzählen Sie mir nichts von Soldaten. Erzählen Sie mir nichts von Schutz. Erzählen Sie mir von politischen Lösungen. Seit Jahren fordern wir eine politische Lösung.

Ich bin 19 Jahre alt.

In den letzten Tagen sind Freunde von mir im Kampf gefallen, sie waren Soldaten.

Seit dem Kindergarten wussten sie, was sie in der Armee werden wollten. Und so soll ich meine Kinder erziehen? WAS FÜR EINE SCHANDE! Schande, Schande! Seine Kinder großziehen und sie dann, wenn sie fünf Jahre alt sind, fragen: “Mein Schatz, was willst du in der Armee werden?” Was wird uns noch alles abverlangt werden? Was müssen wir noch ertragen?

Wir, die Überlebenden, sind der lebende Beweis dafür.

Glauben Sie mir, wenn ich denen, die mir zuhören, sage, dass … Es hätte noch schlimmer kommen können. Es hätte…

Für mich das Wichtigste, was ich zu sagen habe… Und so ist es seit Jahren… Wenn wir mit Raketenbeschuss angegriffen werden, geschieht das letztendlich über unsere Köpfe hinweg. Nicht die Raketen. Sie fliegen nicht über unseren Kopf hinweg. Sie treffen uns ziemlich gut. Aber die Entscheidung, mit Raketen anzugreifen, fällt über unseren Kopf hinweg. Bibi, Hamas – das ist mir egal. Was ich weiß, ist, dass Be’eri leidet, Nahal Oz leidet, Kfar Azza, Sderot und Gaza leiden. Und – glauben Sie mir – für jede Rakete, die aus 4,5 km Entfernung abgefeuert wird, bebt die Erde in Be’eri und Gaza auf die gleiche Weise. Genau auf die gleiche Weise. Wir können nicht so weitermachen, wir können nicht.

Es gibt jetzt viel Wut auf Bibi. Ich spüre sie auch. Ich fühle sie sehr stark, wenn ich etwas fühlen kann – weil es in letzter Zeit etwas schwierig war. Ich spüre sie, weil ich mir denke: Wie viele Menschen müssen wegen ihm sterben? Äh? Wie viele Menschen müssen für sein Ego, für seine Ziele sterben? Ich weiß nicht, ob ich das schon einmal gesagt habe, aber… die Raketen, vor allem bei dem jüngsten Angriff… Wissen Sie – bevor die Terroristen kamen, hörte ich mehr Raketen als in den ganzen 19 Jahren meines Lebens zuvor. Auf einmal, bumm! bumm! bumm! bumm! bumm! bumm! bumm! bumm! Wieder und wieder. Wir wussten sofort, dass Krieg herrschte. Noch bevor die Terroristen kamen, vor all dem. Wir sind immer die Ersten, die es wissen, die Ersten, die es hören. Und ich kann Ihnen sagen, für mich: Die Raketen, die uns treffen, sehen aus wie die Raketen, die von meiner Regierung abgeschossen werden. Denn es ist die Regierung, die mich missachtet hat – mein ganzes Leben lang. Mein ganzes Leben lang. Und jetzt ist das Schlimmste passiert.

Und wenn es nicht das Schlimmste ist – dann weiß nur Gott, was auf uns zukommt.

Was über Bibi gesagt wird – “Bibi dies, Bibi das” – ist wahr. Ich gebe ihm hundertprozentig die Schuld, für absolut alles. Das ist die Wahrheit: Er hat sich dafür entschieden, uns unter diesen Bedingungen leben zu lassen. Er hat sich dafür entschieden, uns eine Eisenkuppel statt einer politischen Lösung zu geben. Und er hat noch viele andere Entscheidungen getroffen… Er hat unser Blut an seinen Händen. Aber er ist nicht der einzige Verantwortliche. Er ist die Ursache eines sehr tiefgreifenden Problems. Aber es ist nicht nur er.

Wenn meine Worte Sie berühren, dann schauen Sie in sich hinein, schauen Sie tief in sich hinein und fragen Sie sich, was Ihre Werte sind. Denken Sie über alles nach, was Sie sehen. Und fragen Sie sich, ob die Werte, die Sie tragen, für das, was Sie sehen, relevant sind. Stellen Sie sich diese Frage ganz genau. Fragen Sie sich, wen Sie wählen. Fragen Sie sich, was Sie von ihnen verlangen. Ich weiß, was ich verlange. Ich fordere einen gerechten Frieden. Ich verlange, dass die Beduinen Gemeinden im Negev die gleiche Unterstützung erhalten wie der Kibbuz Be’eri. Aber in Wirklichkeit haben wir selbst nicht viel Hilfe erhalten. Von Zivilisten! Ja, Zivilisten sind gekommen, um uns zu helfen. Aber der Staat war nicht zu entdecken.

Ich bin sehr dankbar, dass ich in einem Hotel am Toten Meer untergebracht bin. Aber jeder hier würde es im Handumdrehen aufgeben, wenn es die Geiseln zurückbringen würde. Nebenbei bemerkt: Die Regierung hat ihre Existenz nur zweimal zugegeben. Sie tut so, als würden sie nicht existieren. Sie bombardieren, obwohl sie wissen, dass die Bombardierung auch ihr Leben kosten wird. Die Geiseln zurückbringen, Frieden, Fairness und Gerechtigkeit…

Wenn Sie nicht mit offenen Ohren hören, was ich gerade gesagt habe, gibt es keine Hoffnung mehr.

Halten Sie inne, sammeln Sie meine Worte und hören Sie zu; auch wenn sie vielleicht schwer zu hören sind. Es ist schwer für mich zu sprechen, verstehen Sie? Es ist wirklich schwer. Es mag sein, dass diese Worte für einige von Ihnen schwer zu hören sind. Nach allem, was ich in Be’eri erlebt habe, schulden Sie mir das. Sie schulden mir das, und es sollte nicht um Schuldgefühle gehen; wir machen gerade eine schwierige Zeit durch. Machen Sie Pausen, kümmern Sie sich um sich selbst und Ihre Familien, aber Sie schulden mir Folgendes: Fragen Sie sich, wen Sie wählen, was Sie von ihnen verlangen, und gehen Sie keine Kompromisse ein.

Wenn Sie die Hoffnung sterben lassen, lassen Sie auch die Menschen in Gaza noch einmal sterben. Ich habe nichts weiter zu sagen.

Erschienen am 16. Oktober 2023 auf Lundi Matin. Übersetzt von Bonustracks.