Arrivederci und gute Arbeit [Toni Negri]

Kamo Modena

0. Jeder in diesem Land, der sich keinen Aufstand gewünscht hat, ist eine tote Seele, die nichts von den Leidenschaften der Geschichte erfahren hat – aus einem alten Flugblatt aus den Siebenundsiebzigern.

“Vor der Gruppe steht ein grauhaariger Mann in den Vierzigern mit einer runden goldenen Brille. Ein Gesicht auf halbem Weg zwischen einem russischen Terroristen des späten 19. Jahrhunderts und einem Geschäftsmann.” Hier ist er.

1. Als Achtundsechzig und dann Neunundsechzig ausbrachen, war er 35 Jahre alt, hatte aber bereits zehn Jahre Militanz hinter sich. Quaderni rossi, Classe operaia, die Potere operaio veneto-emiliano. Die Streiks der Elektromechaniker, der petrochemischen Fabrik von Porto Marghera, der Brenta-Fabriken. Versammlungen, Flugblätter, Streikposten mit den Arbeitern – ohne Arbeiterbewegung. Die conricerca (1) in Turin, mit Alquati. Die Diskussionen in Rom, mit Tronti. Die Intervention in der Emilia, mit Bianchini. Mit 35 Jahren hatte er einen angesehenen Posten an der Universität, eine Frau und zwei Kinder. Es gab genug, um die Ruder im Boot zu ziehen, um sich seiner Karriere zu widmen, dem Herd, respektablen Meinungen. Den Kampf hinter sich zu lassen – “meins habe ich schon gegeben”. Ein bereits festgelegtes bürgerliches Leben.

Unter diesen Bedingungen beginnt ein zweites Jahrzehnt der Militanz. Die 1970er Jahre.

2. Wie einer unserer Genossen sagt, sind (waren) sie in einer anderen Liga. Diese Art von Mann und Frau spielt in einer anderen Liga. Der Genosse, der jetzt etwas über 35 ist, mit etwas mehr als zehn Jahren Militanz, sagt, dass es nicht nur eine Frage der intellektuellen Vorbereitung ist, sondern der Fähigkeit, über die eigene Art zu leben, zu entscheiden. Um Gewissheit, Entschlossenheit, Unabhängigkeit von persönlichen Beziehungen. Es sind nicht wenige der richtigen Zutaten, die einen Revolutionär ausmachen.

“Es ist schwierig, den Leuten klarzumachen, was es nicht nur für Arbeiter und Studenten in ihren Zwanzigern, sondern auch für Männer in ihren Dreißigern bedeutet, ein militantes Leben zu führen. Es ist nicht nur ein totales zeitliches Engagement, ein riskantes und aufregendes Abenteuer: es ist eine Anstrengung der Selbstveränderung, verstandesmäßig und emotional, theoretisch und politisch”. Wird es weitere solche Männer und Frauen geben? Die Frage ist, wie man das heute möglich machen kann.

3. Wir glauben, dass er in den 1970er Jahren für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum wie Lenin war – oder besser gesagt, ein Lenin in nuce. Er war die Chiffre für diese revolutionäre Bewegung, für diese Klassenzusammensetzung. Die strategische Tiefe, die taktische Präsenz. Die Fähigkeit, den Wandel zu antizipieren, die Subversion zu leben. Die Aktualität der Revolution, nicht so sehr dort, wo der Grad der kapitalistischen Entwicklung am höchsten ist, sondern dort, wo die Subjektivität der Arbeiter am stärksten ist. Der Leninismus ist keine Tätigkeit für Heilige und schwache Mägen. Und diese Momente dauern nicht ewig. Das Fenster schließt sich. In der Tat wissen wir, wie es gelaufen ist. Kollektive und individuelle Parabeln, kollektives und individuelles Elend. Das unerbittliche Danach der besiegten Aufstände. Neue Wege, andere Wege. Die wir, da wo wir herkommen, noch nie befahren haben. Wir kamen nach diesem rot gefärbten Sonnenuntergang, wir sind auf der Suche nach dem Rot einer neuen Morgendämmerung. Darauf, auf das, was danach kam, wollen wir nicht näher eingehen. Stattdessen sollten wir zu den ungelösten Knoten der Niederlage zurückkehren. Der gesellschaftliche Arbeiter, das ungelöste Rätsel der Organisation.

4. In der Wut der Suche nach dem Jetzt vergessen wir die Zeit, die wir brauchen, um über die alten Bücher nachzudenken, die wir gelesen haben, die wir oft vergessen haben, die aber die entscheidendsten sind und immer noch Kraft haben. Die Bücher von damals, als das Fenster noch offen stand. Wir benennen zwei.

5. Crisi dello Stato-piano. (2) Die schwarze Magie der Operaisten. Ein Grimoire über die höllischen Kämpfe zwischen den Schulen der Geisterbeschwörer um die Macht über die Seelen der Kommunisten. Eine obskure Sprache, unergründlich für Sterbliche, die nicht in das arkane Wissen der Grundrisse eingeweiht sind, verbirgt Formeln und Alchemie, mit denen dämonische Geister der Tendenz, der Organisation und der Zusammensetzung beschworen werden können. Nur wenige können von sich behaupten, die mystischen Geheimnisse dieser dämonischen Schrift und die vergessenen Kräfte, die das Necronomicon enthält, vollständig verstanden zu haben. Ironischerweise sind es Texte wie diese, die historisch durch Kampfprozesse bestimmt sind, die in ihre eigene Zeit und die Aufgaben, die sie den politischen Subjektivitäten stellt, eingetaucht sind, in denen wir den Schatten und die Methode Lenins sehen. “Die Arbeiterklasse in Waffen, der Kommunismus in Aktion”.

6. La fabbrica della strategia. (3) Leninistische Methodik und Potenz, in 33 Lektionen, wiederbelebt in der realen Bewegung. Wenn man die Entwicklung verfolgt, gilt das Ausdrückliche auch heute noch. “Schreckliche Zeiten liegen vor uns. Die terroristische Ausnutzung der Krise durch das Kapital, die repressive Umwandlung des Staates, die endgültige Veränderung der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, der Fall des Wertgesetzes: All das sehen wir und wir werden sehen, wie es sich immer stärker gegen uns wendet. Wir werden Widerstand leisten müssen. Wir werden wiederentdecken, dass alle Waffen des Proletariats leninistisch eingesetzt werden müssen – vor allem jene, die uns eine Tradition der Niederlage und des Verrats am stärksten verwehrt. Nach diesen Ausführungen muss jedoch hinzugefügt werden, dass die marxsche und leninistische Definition unserer Aufgabe, den Staat für den Kommunismus zu zerstören, nur im Bewusstsein eines neu zusammengesetzten strategischen Projekts stattfinden kann – und innerhalb eines konsequenten internationalen Zyklus von Arbeiterkämpfen. Es ist eure Aufgabe, als Studenten und Arbeiter, als wir alle, die wir unter der Fahne des Kommunismus marschieren, das Problem des Aufstandes und der Befreiung in subversiver Praxis zu lösen.” Und boom.

7. Genug geredet. Erlaubt uns, diesen ausschweifenden Diskurs auf unsere eigene Art und Weise zu beenden. Die der Irregulären, der Unbeherrschbaren, der Unverbesserlichen – die Art von Männern und Frauen von Intellektuellen und Militanten, die mit 35 Jahren ein zweites Jahrzehnt der Militanz beginnen, mit all der Freude am Kampf und dem aufrichtigen Wunsch nach Revolution, eben deshalb, weil sie keine klassischen Intellektuellen sind und versuchen, Militante zu sein, innerhalb ihrer eigenen Zeit, die sich unerbittlich gegen sie richtet. Mit den Worten eines anderen Banditen, aus einer anderen Bande, aber aus der gleichen Bande. Natürlich ebenfalls aus den 1970er Jahren.

8. “In der Via Disciplini wimmelt es von Menschen – es ist die Redaktion einer Zeitung, die noch nicht erschienen ist – einer Zeitschrift ‘innerhalb der Bewegung’ – inmitten von tausend Stimmen führen sie uns in einen kleinen Raum voller Bücher und Papiere – sie platzierten uns dort – es sind sechs oder sieben von ihnen, ein großer, schlanker Mann in den Vierzigern – etwas mystisch in seiner Gestik – er hielt eine schwirrende Rede – fast fraktal – wurde mehrmals von den anwesenden Genossen unterbrochen – und gezwungen, seine mit zunehmender Entschlossenheit ausgedrückten Konzepte zu wiederholen – am Ende erlaubte er sich, zugänglichere Formulierungen zu verwenden – ‘Cuccetta [Capanna] – obwohl er nie durch Intelligenz glänzte – hatte er in einem Punkt recht – um eine politische Bewegung von einigen wenigen in eine Massenbewegung umzuwandeln, braucht man eine geschickte Miliz – von hervorragender Qualität – wir haben die Intellektuellen – wir sind unter den Studenten und Arbeitern präsent – wir müssen auch auf die Vorstellungskraft einwirken – um die stärkste Organisation in Mailand zu schaffen – und so dachten wir an euch’ – diese Anspielung auf Cuccetta und die Statisten kam gut an – ‘Noooh!’ – wir antworteten ihm gleichzeitig – ‘Wir waren nicht Cuccettas Statisten – wir werden nicht die Schauspieler eines Regisseurs sein – auch wenn wir die Hauptrolle spielen’ -antwortete ich ihm – ‘Wir sind niemandes Söldner’ – fügte Jack hinzu – dann gingen wir mit einem freundlichen ‘Arrivederci und gute Arbeit!’”

Ein letzter Punkt

9. Methodisch zu arbeiten, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es bedeutet auch, die eigene Geschichte in ihrer Gesamtheit anzunehmen – die Siege und die Niederlagen, die Begrenzungen und die Eroberungen, die Reichtümer und die Tragödien – und damit zu kalkulieren, denn nur so kann man die Arsenale von gestern plündern, um heute noch Schüsse abzufeuern. Über die Begrenzungen und Niederlagen nachdenken, die Reichtümer und Eroberungen assimilieren, sie zur Munition machen – bis zum Sieg. Also: Arrivederci und gute Maulwurfsarbeit, liebe Genossen.

Fussnoten der deutschen Übersetzung

  1. “Begleitende Untersuchung”, zum besseren Verständnis siehe “Der Operaismus als Objekt der historischen Forschung” von Sergio Bologna  https://www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/bologna.htm
  1. Deutsch: “Krise des Planstaats, Kommunismus und revolutionäre Organisation”, Merve-Verlag, Berlin 1973.
  2. In der englischen Übersetzung bei libcom https://libcom.org/article/factory-strategy-33-lessons-lenin-antonio-negri

Veröffentlicht am 20.12.2023 auf Kamo Modena, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.