Die Wurzeln des Terrorismus

Dieser Artikel enthält eine Analyse der Entstehung des israelisch-palästinensischen Konflikts, der heute auf tragische Weise im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit steht. Das Bemerkenswerte an diesem Text ist seine Herkunft und Datierung: die Zeitung “Potere operaio del lunedì” vom 12. November 1972. Es handelt sich also um einen Text, dessen Entstehung mehr als fünfzig Jahre zurückliegt, aber immer noch nützlich ist, weil er in der Methodik der “operaiistischen” Analyse sozialer Konflikte entstanden ist.

Machina

Die Theorie und Praxis gewaltsamer Kampfesformen, auch unabhängig von kontinuierlichen Guerilla-Aktivitäten, ist für das palästinensische Gebiet gewiss nicht neu, sondern charakteristisch für die politischen Gruppen in diesem Gebiet seit der Zeit des britischen Mandats. Sie hat ihre Wurzeln in der Praxis des antikolonialistischen Kampfes, den Juden und Araber getrennt gegen die Briten geführt haben. Er wird häufig mit Forderungen der Arbeiterbewegung vermischt, allerdings in doppeldeutiger Weise. Ebenso zweideutig vermischten sich die antikolonialistischen und nationalen Streitfragen mit den offeneren Konflikten zwischen den Arbeitern der beiden Gruppen.

Schon in den ersten Siedlungen hatten die jüdischen Einwanderer ausgeprägte Strukturen zur Arbeitsplatzverteidigung geschaffen, die von der Gründung von Gewerkschaften bis hin zum Aufbau von militärischen Verteidigungsstrukturen reichten, die denen einer regulären Armee ähnelten. Während es bei der Forderung nach Arbeitsplätzen um den Versuch geht, ein ausreichend hohes Lohnkostenniveau gegen den Druck durch gering qualifizierte einheimische Arbeitskräfte aufrechtzuerhalten, fungieren die militärischen Strukturen als Anspruch auf eine nationale Entfaltung gegen die Politik der Briten und als Verteidigung gegen arabische Angriffe auf dem Lande und in der Stadt, die sich in den Jahren des Mandats vervielfachen. 

In den ständigen Angriffen, die Beduinen und Palästinenser in den 1930er Jahren gegen jüdische landwirtschaftliche Siedlungen und jüdisch bewohnte Stadtviertel verübten, kann man das erste Kapitel der Tragödie des palästinensischen Proletariats lesen. Die Fellachen [Landarbeiter, proletarische Bauern, Anm. d. Red.], die von den Latifundien verdrängt wurden, die die abwesenden Grundbesitzer (die effendi [es war ein Titel des Respekts oder der Höflichkeit, entspricht dem englischen Sir, Anm. d. Red. ]) an die jüdischen Siedler abtraten, sind nicht in der Lage, auf dem Markt für landwirtschaftliche und industrielle Arbeitskräfte Fuß zu fassen, da sie zwischen dem Wunsch der jüdischen Arbeiter, ein bestimmtes Lohnniveau aufrechtzuerhalten, und der Konkurrenz von Saisonarbeitern aus Ägypten und Syrien, die durch die neue wirtschaftliche Dynamik, die die jüdischen Siedlungen hervorriefen, in großer Zahl auf den palästinensischen Markt strömten, unter Druck geraten. 

Die Marginalisierung der Palästinenser 

In dieser Situation fanden die Manöver des Effendi, die den Protest der palästinensischen Arbeiter gegen die jüdischen Arbeiter lenkten, reichlich Raum. Der arabische Aufstand von 1936  (1) ist sowohl die beispielhafteste Episode als auch der Kernpunkt einer proletarischen Niederlage, deren Folgen noch heute stark zu spüren sind. Zunächst konnte sich die Präsenz des städtischen und landwirtschaftlichen Proletariats durchsetzen und die Interessen der städtischen und ländlichen Bourgeoisie bekämpfen. Gegen die Bemühungen einiger palästinensischer Avantgardisten, die den anti-englischen Charakter des Aufstandes zu betonen suchten, gelang es dem Effendi in den folgenden Monaten jedoch, den Aufstand auf eine im Wesentlichen antijüdische Grundlage zurückzuführen. 

Der Guerillakrieg, der noch drei Jahre lang in den Bergen fortgesetzt wurde, konnte diese Knoten nicht lösen. Die Nationale Front war inzwischen unter der Führung des Effendi wieder aufgebaut worden, das palästinensische Proletariat war durch die industrielle Entwicklung des Gebiets, die die Briten während des Weltkriegs garantiert hatten, an den Rand gedrängt worden und blieb ohne politische Führung. 

Damit war der Grundstein für die Marginalisierung der Palästinenser auch von jeglicher politischen Verwaltung ihrer nationalen Ansprüche gelegt. 

1948 beendete der UN-Beschluss das Mandat und teilte das Gebiet in zwei Staaten auf. Um das den Palästinensern zugewiesene Gebiet konkurrieren der neue Staat Israel und die sieben Armeen der Arabischen Liga. 

Es entstehen Flüchtlingslager, die die Israelis und die arabischen nationalen Bourgeoisien noch zwanzig Jahre lang als ein ihnen fremd erscheinendes Problem betrachten werden. 

Die Besetzung der Gebiete im Westjordanland und im Gazastreifen nach dem Sechs-Tage-Krieg verändert diese Dynamik radikal. Die neue Aggressivität einer nunmehr voll strukturierten Staatswirtschaft und eine sozialökonomische Konfliktsituation zwischen der Bourgeoisie des Westjordanlandes und dem Haschemitischen Königreich sind die neuen Elemente in diesem Gebiet. 

Der palästinensische Widerstand wird geboren

Der Lebensanspruch der palästinensischen Flüchtlinge verbindet sich mit dem Protest der palästinensischen Bauern, Kleinbürger und Mittelschichten, die in der Besetzung der Gebiete eine Verschärfung der Unsicherheit des Arbeitsmarktes und des Konsums sowie der Unterdrückung durch eine ausländische militärische Besatzung sehen. Der palästinensische Widerstand entsteht: Generalstreiks in den besetzten Gebieten, in denen die städtische Mittelschicht massiv vertreten ist, werden von Guerilla-Aktionen und Terrorakten begleitet. Das massive Eingreifen des Staates Israel, dem es gelang, das Gleichgewicht zwischen den nationalen Allianzen wieder zugunsten der Herrschaft Husseins zu verschieben, bedeutete die Niederlage eines Projekts der nationalen Rehabilitierung, dem es noch nicht gelungen war, sich politisch zu strukturieren. 

Die politische Agenda, die die größte Widerstandsorganisation, Al Fatah, vertritt, zeigt alle Grenzen eines nicht programmatischen Nebeneinanders von Forderungen auf. Die Zustimmung der Massen zur Errichtung eines Nationalstaates und der bewaffnete Kampf sind die beiden nicht in einer Gesamtanalyse artikulierten Elemente, die Al Fatah als alternative Aufgabe zu dem von Israel und den arabischen Bourgeoisien verfolgten Normalisierungsprojekt für die anschließende intensive Entwicklung des Gebietes präsentiert. In demselben nationalstaatlichen Programm überschneidet sich der Anspruch der Flüchtlinge auf Souveränität über das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet mit der Forderung nach dem Rückzug der israelischen Besatzung aus den Gebieten des Westjordanlandes und dem Gazastreifen.

Das prekäre Gleichgewicht der Beziehungen innerhalb der arabischen Front, mit dem der Widerstand in Jordanien jongliert und das in den erbitterten bewaffneten Auseinandersetzungen mit der regulären Armee im Libanon (1969) dramatisch zutage trat, kann angesichts des ausgefeilten Plans zur Normalisierung des gesamten Nahen Ostens, den das internationale und lokale Kapital entwickelt, keinen Bestand haben. Die Tendenzen, die sich nun im zweiten Jahr des Widerstands innerhalb der Guerillaformationen abzeichnen, bringen den Charakter des Problems auf den Punkt, indem sie den Widerspruch aufzeigen, der darin besteht, dass dem Entwicklungsprojekt, zu dem Hussein nun gezwungen ist, ein Programm entgegengesetzt wird, das nicht nur nicht in einem sozialen Anspruch verankert ist, sondern den nationalen Konflikt mit Schattierungen des Panarabismus zu akzentuieren glaubt und ein breiteres, wenn auch undifferenziertes Bündnis des gesamten arabischen Volkes im Sinne der Solidarität mit dem Subproletariat in den Flüchtlingslagern fordert.

Zwei Linien der Tendenz

Aus dieser kritischen Reflexion haben sich zwei Tendenzlinien innerhalb des Widerstands herauskristallisiert. Die DFLP (2), die sich auf marxistisch-leninistische Prinzipien beruft, sieht im israelischen Kapital und der arabischen Bourgeoisie ihre Feinde und im neuen israelischen Proletariat einen notwendigen Verbündeten.

Die andere Tendenz, die in der Volksfront von Habbash, der PFLP, zusammengefasst ist, tendiert stattdessen dazu, die Grenzen der Fatah-Politik aufzuzeigen und ihre Kampfansätze und Widersprüche mit der haschemitischen Regierung zu verschärfen. Das palästinensische Problem muss der Weltöffentlichkeit ständig und in zugespitzter Form vor Augen geführt werden. Die “Strategie des Nichtvorhandenseins von Frontlinien” (Fatah, Beirut, April ’70 in Palästina; 1.-4. Mai ’70), die die Fatah auf der Grundlage der Anerkennung der militärischen Stärke des Gegners grob ausgearbeitet hatte, wird als Notwendigkeit verstanden, die Terrorakte auf ein größeres Gebiet auszuweiten. Die Normalisierung, die mit der internationalen Unterstützung einhergeht, die Akzeptanz des Rogers-Plans durch die arabischen Staaten, begleitet von einer erheblichen internationalen Isolierung der Palästinenser, markieren die Stunde des Massakers für die palästinensischen Widerstandskämpfer im Schwarzen September ’70 (3). 

Nach der Repression werden die internationalen Beziehungen zum jordanischen Bauernregime Husseins intensiviert (in diesem Zusammenhang bedauert die DFLP keine Agrarpolitik betrieben zu haben – DFLP-Bericht aus Jordanien, November ’70). Vor allem aber wird der jordanische Staatsapparat gestärkt: Armee, Polizei, Verwaltung, deren totale Unterstützung der Reaktion (viele Soldaten haben palästinensische Wurzeln, d.Ü.) für die palästinensischen Organisationen eine Überraschung ist.

Zwei Jahre später will sich die Strategie der über Europa verstreuten Anschläge brutal in die internationalen politischen Verhandlungen einmischen, um die Bedingungen der Vermittlung zwischen den kapitalistischen Interessen im Nahen Osten zu zerstören. 

Der Wunsch der palästinensischen Organisationen nach bewaffnetem Kampf verdichtet sich zu einzelnen Terrorakten, deren Ziele irgendwo zwischen dem Feilschen auf der Grundlage reiner Gewaltbeziehungen und der Veranschaulichung der Komponenten des laufenden Konflikts im Nahen Osten liegen. 

Tod des Genossen Zu’aiter in Rom

Die israelische Armee nagt an den letzten Rändern der politischen Koexistenz zwischen Palästinensern und arabischen Staaten: Mit Angriffen auf die reguläre Armee, auf Guerillastützpunkte und Flüchtlingslager im Libanon versucht sie, die Palästinenser in das Ghetto des syrischen Territoriums einzuschließen. Die Terroranschläge in Europa scheinen in der Tat ein Zeichen für eine wachsende Spannung auf Seiten der Palästinenser zu sein, vor allem aber für eine kämpferische Spannung, die kein anderes Ventil findet. Die wenig genutzten Guerillastützpunkte in Syrien, im Libanon, die in ein Hin und Her von bewaffneten Scharmützeln und Abkommen mit der libanesischen Regierung verwickelt sind, inmitten der desolaten Realität der Flüchtlingslager, lassen als einziges Ventil für das Zeugnis einer Tragödie die dunklen, und jetzt sieht man sogar unheilvollen, Straßen der europäischen Hauptstädte. Zu’Aiter, Repräsentant von Al Fatah in Italien, 6 Tote in Rom. Al Fatah kommentiert, dass “Ereignisse wie diese nur die Entschlossenheit der Guerilla stärken können, den Kampf fortzusetzen”. (4)

Fussnoten der Übersetzung

  1. Zum arabischen Aufstand in Palästina von 1936-39 siehe den ausführlichen Wikipedia Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Aufstand_in_Pal%C3%A4stina_1936%E2%80%931939
  2. Die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas vertrat von Anfang an, im Gegensatz zu allen anderen palästinensischen Gruppen, eine Zweistaatenlösung und ist die einzige palästinensische Gruppe, die maoistischer Prägung ist. Ihr Versuch am 1. September 1970 den jordanischen König zu liquidieren führte letztendlich zum Gemetzel des Schwarzen Septembers. Ihr 1975 erschienes neues Grundsatzprogramm auf deutsch beim Mao Projekt https://www.mao-projekt.de/INT/AS/NO/Palaestina_FDLP_1975_Das_politische_Programm.shtml
  3. Zum Schwarzen September 1970 siehe u.a. den Le Monde Diplomatique Artikel “Das Ende einer Revolte” https://monde-diplomatique.de/artikel/!5710506
  4. Zu’Aiter, Leiter der PLO Büros in Rom, ist das erste Opfer der nach dem Olympia-Attentat von München gegründeten Mossad Sondereinheit  Caesarea, die weltweit extralegale Hinrichtungen an palästinensischen Kadern durchführt. Die PLO bestreitet die Verstrickung von Zu’Aiter in Anschläge. Zu Caesarea siehe den Artikel im FOCUS https://www.focus.de/politik/ausland/focus-exklusiv-report-so-eliminierte-israel-muenchner-olympia-attentaeter-von-72_id_137449172.html

(Wieder)veröffentlicht am 6. November 2023 auf Machina, ins Deutsche übertragen und mit ergänzenden Fussnoten versehen von Bonustracks.