GRAUE MIENEN IN DEN LABOREN DER PO-EBENE…

Ohne auf die alte Debatte zwischen Marxisten und Anarchisten zurückzukommen, ob „Individuen das bloße Produkt der Geschichte“ sind oder ob es umgekehrt „Individuen sind, die die Geschichte machen“, gibt es ein kleines Gedankenspiel, dem sich einige vielleicht schon hingegeben haben. Nicht die – sicherlich angenehme – Frage, welche Superkraft man wählen würde, wenn man nur eine davon annehmen könnte, sondern die – ebenso angenehme – Frage, welche Person aus der Vergangenheit man gerne mit einer Zeitmaschine vom Angesicht der Erde entfernen würde. Viele würden wahrscheinlich die Namen Stalin oder Hitler nennen, während andere, die eher ikonoklastisch sind, nicht zögern würden, die Namen von angesehenen Atomwissenschaftlern wie Albert Einstein oder Marie Curie auszusprechen. Aber wenn die Katastrophe nicht nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, sondern in der ewigen Gegenwart, in der alles so weitergeht, dann könnte man sich auch für ein paar Menschen interessieren, die vor nicht allzu langer Zeit geboren wurden. Eine Frage der individuellen Verantwortung.

Vor vier Jahren, auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie, veröffentlichte eine anarchistische Zeitung einen etwas unbeachteten Artikel mit der Überschrift „Der Nobelpreis ist Abschaum“ (1), der nicht ohne Bezug zu dem oben erwähnten kleinen Spiel ist. Darin wurden die Co-Preisträgerinnen der im Oktober 2020 in Stockholm verliehenen Chemie-Trophäe für die Entwicklung eines universellen Genom-Editierung Systems („CRISPR-Cas9“) im Jahr 2012 in den Mittelpunkt gestellt, das nichts weniger als ein „Werkzeug zum Umschreiben des Codes des Lebens“ ist, für das „nur die Vorstellungskraft die Grenze der Nutzung festlegen kann“, wie die Nobelpreis-Jury selbst sagt. Das von Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entwickelte CRISPR-Cas9[a), das prosaischer als „Schweizer Taschenmesser für das Genom“ bezeichnet wird, ermöglicht es, die DNA aller lebenden Arten auf einfache Weise zu verändern, indem ein Teil entfernt oder ein anderer hinzugefügt wird, d. h. das Erbgut jeder beliebigen Pflanzen- oder Tierzelle nach Belieben zu verändern (2).

Dystopie 2024: Emmanuelle Charpentier, Mitglied der Akademie der Wissenschaften des Vatikans und Mitschöpferin der molekularen Schere mit dem ringförmigen A…

Wir überlassen es Ihrer Phantasie, wie viele Laboratorien auf der ganzen Welt diese Genschere seit einem Jahrzehnt einsetzen, und sagen einfach, dass derzeit fast 900 Experimente mit Pflanzen durchgeführt werden, darunter nicht weniger als 838 mit CRISPR-Cas9. Diese neuen Möglichkeiten der genetischen Veränderung werden von ihren Versprechern schamhaft „Assisted Evolution Techniques“ (AET) oder „New Genomic Techniques“ (NGT) genannt, um sie von OgM [b] zu unterscheiden, unter dem Vorwand, dass es sich nicht mehr um Transgenese (Einfügen einer fremden DNA in einen Organismus, z. B. Fisch) handelt, (z. B. Fisch in der Erdbeere), sondern um gerichtete Mutagenese (Veränderung des Genoms selbst durch Veränderung oder Inaktivierung bestimmter Genomfragmente) oder Cisgenese (Einfügung einer Genomsequenz der gleichen Art oder einer geschlechtskompatiblen Genomsequenz). Was natürlich nichts an der Tatsache ändert, dass sie weiterhin künstlich und genetisch verändert werden, und zwar meist, um sie an die intensive Nutzung oder die chemischen Gifte der Agrarindustrie anzupassen.

Kurzum, wir werden hier auf die Frankenstein-artigen Details dieser OgM-Dreckschleudern der zweiten Generation eingehen, wie z. B. die Tatsache, dass die Genschere CRISPR-Cas9 nicht so präzise ist, dass sie ganz nebenbei sogenannte „Off-target“-Mutationen erzeugen kann, oder generell, dass es unmöglich ist, genetisch auf Pflanzenindividuen einzuwirken, ohne zufällig mit dem gesamten Leben zu interagieren, aber immerhin: Wissenschaftler und Industrievertreter arbeiten seit Monaten daran, diese neuen NGTs [c] in vivo nach Europa einzuführen, und fordern, dass sie nicht unter die OgM-Gesetzgebung fallen.

13. Mai 2024. Vittoria Brambilla, Forscherin an der Universität Mailand und Leiterin des Projekts „RIS8imo“, für das sie gerade dabei ist, die ersten Chimären zu pflanzen, indem sie die Mauern ihres Labors auf die ganze Welt ausdehnt.

Und da ein erstes europäisches Land mitmachen musste, hat sich Italien an die Arbeit gemacht, mit einem Reis, der in RIS8imo umbenannt wurde und von Forschern der Universität Mailand mithilfe der CRISP-Cas9-Technik entwickelt wurde, also einem Reis, bei dem drei Gene (Pi21, HMA1 und HMA2) ausgeschaltet wurden, um ihn „resistenter“ gegen einen Pilz zu machen. Denn für die industriellen Monokultur Bauern der Po-Ebene bedeutet dieser abscheuliche Pilz Pyricularia oryzae in einigen Fällen einen Rückgang ihrer Reisgewinne um 10 bis 30 %, während sich die Folgen der globalen Erwärmung seit einigen Jahren zunehmend auf ihre Ernten auswirken ( mit dem drastischen Austrocknen des Po-Flusses wie im Jahr 2022, wie übrigens auch im Ebro-Delta in Katalonien, der anderen großen Reisregion Europas).

Am 13. Mai 2024 wurde RIS8imo in Mezzana Bigli (Provinz Pavia) zum ersten Mal im Freien gepflanzt, dank einer Änderung, die im Juni 2023 in ein Notgesetz zur Dürre eingefügt wurde und die NGTs auf wundersame Weise für das ganze Jahr 2024 von dem Gesetz befreite, das seit über zwanzig Jahren OgM-Feldversuche verbietet. Das Hauptargument für den Versuch, diese zweite Generation von OgMs überall zu verbreiten, ist nicht mehr die Erpressung wegen eines „überbevölkerten, zu ernährenden“ Planeten, sondern die Anpassung der Lebewesen an den Klimawandel, indem sie noch mehr ausgebeutet und zerquetscht werden. Sich gegen NGT auszusprechen, hieße sogar, der „Finsternis des antiwissenschaftlichen Alarmismus“ nachzugeben, wie die großen Gehirne von 37 Nobelpreisträgern und 1500 Wissenschaftlern in einem offenen Brief vor einigen Monaten noch verkündeten.

Was denken Sie, was geschah, als ein oder mehrere Unbekannte in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni nach Mezzana Bigli kamen und die 200 RIS8imo-Pflanzen, die einen Monat zuvor auf der 28 Quadratmeter großen Fläche gesät worden waren, ausrissen und zerstörten, nachdem sie die Videoüberwachungskamera ausgeschaltet und den Zaun zerschnitten hatten? Und zudem hinterließen sie weder eine Botschaft vor Ort noch eine Online- Bekennung, um ihre Tat zu erklären? Es folgte schlichtweg ein Halali mit blumigen Epitheta wie „gemeiner Akt gegen den wissenschaftlichen Fortschritt“, „Sabotage der Forschung… in Bereichen, die unser Leben, unsere Nahrung und unsere Zukunft betreffen“, “Ökoterroristen”, “feige Kriminelle”, “Rückkehr der obskurantistischen und antiwissenschaftlichen Gewalt”, in einem Chor der Ablehnung, dem sich auch große Umwelt- und Bauernverbände anschlossen, obwohl sie offiziell gegen die NGT sind, aber sehen Sie, wer angesichts des herzzerreißenden Schreis der entwurzelten RIS8imo-Pflanzen, die unter den Sternen liegen, alles mitmacht?

Dies führt z. B. zu folgenden Worten aus dem Mund einer Verantwortlichen von Legambiente: „Selbst harte Kritik an den Risiken, die Feldversuche mit sich bringen, kann nicht in einen Akt der Verwüstung umgesetzt werden. Mit der Zerstörung eines Experiments lassen sich die Risiken, die mit der Vermarktung neuer OgM verbunden sind, nicht begrenzen.“ Aber auch eine Verurteilung von Seiten des italienischen Bauernverbands (ARI, der Partner der französischen Confédération paysanne in der europäischen Koordination Via Campesina), der nicht zögerte, denselben tragikomischen Weg einzuschlagen: „Diese Aktion ist sehr kontraproduktiv zu einem Zeitpunkt, an dem … die Bürgerkampagne gegen den Dürreverordungszusatz in vollem Gange war und auf positive Resonanz stieß“.

Was den Inhalt betrifft, so ist der Aufschrei der Politiker und Organisationen, die die Katastrophe mitverursachen, indem sie Dämme (auch lexikalische) gegen diejenigen errichten, die ihr ein Ende setzen wollen, irrelevant. Es bleibt die Tatsache, dass in dieser letzten Frühlingsnacht der erste europäische Freilandversuch mit den neuen OgMs sabotiert wurde. Und während die Labore in der Po-Ebene grau verhangen sind, lacht man sich bei den Freiheitsliebhabern ins Fäustchen…

Pyricularia nigra,

18. Juli 2024

Anmerkungen

  1. anarchie! n°8, novembre 2020, S.4
  2. 2. für diejenigen, die es genauer wissen wollen: Die CRISSPR-Cas9-Molekularschere besteht aus zwei Komponenten: auf der einen Seite ein RNA-Strang, dessen Sequenz homolog zur DNA ist, die man herausschneiden will, und auf der anderen Seite ein Enzym, Cas9. In der Zelle wird der RNA-Strang die homologe Sequenz auf der DNA erkennen und sich dort platzieren. Das Enzym Cas9 übernimmt dann die Aufgabe, die zu diesem RNA-Strang komplementäre DNA-Kette zu durchtrennen. Die durch den Crispr-Cas9-Durchgang entstandene Lücke kann dann mit jedem beliebigen neuen DNA-Fragment gefüllt werden. Nur, wie Emmanuelle Charpentier selbst, die französische Co-Nobelpreisträgerin für die Entwicklung dieser Schere, erklärte: „Bei manchen Anwendungen gibt es noch das Problem der sogenannten ‚Off-Target‘-Mutationen – d. h. der unbeabsichtigten Mutationen -, die wahrscheinlich nie ganz ausgeschlossen werden können. Um diese Effekte zu verstehen, muss man wissen, dass Cas9 als Endonuklease (ein Enzym, das die Nukleotide in der DNA schneidet) Doppelstrangbrüche in der DNA (DSB) verursacht.  In den meisten Fällen haben diese DSBs keine Folgen für die Zelle, da sie repariert werden. Anders sieht es aus, wenn die Doppelstrangbrüche z. B. zusammenhängend auf verschiedenen Chromosomen vorkommen und zu einer Neuanordnung der Gene führen. Ein solches Ereignis kann zu einer signifikanten Gentoxizität oder sogar zu Onkogenität (Krebsentstehung) führen, wenn die Genmutation in der Nähe eines Onkogens (Gen, dessen Expression die Entstehung von Krebs begünstigt) auftritt“ (Interview in Sciences & Avenir, 5. Oktober 2016).

Fussnoten der deutschen Übersetzung

  1. zu CRISPR siehe

https://www.keine-gentechnik.de/dossiers/neue-technologien-1#c13371

  1. Oligonukleotid-gerichtete Mutagenese/OgM, s.a.

https://keine-neue-gentechnik.ch/de/technik/neue-gentechnik-verfahren/120-oligonukleotid-gerichtete-mutagenese

  1. NGT – Neue genomischen Techniken, s.a.

https://www.transgen.de/aktuell/2880.ngt-regulierung-eu-kommission-crispr-gentechnik.html

Veröffentlicht am 19.7.24 auf sans noms, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.  

Politische Militante an der Basis: Die Banlieusards und die Politik [2005]

Emilio Quadrelli

Nach der Wahl von Präsident Sarkozy unter dem Motto „Mit dem Hochdruckreiniger den Abschaum von den Straßen entfernen“ sind die französischen Städte wieder in Flammen aufgegangen. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, solange die Faktoren, die die Massenrevolte vom November 2005 auslösten, in Frankreich und anderswo bestehen bleiben. Dieser Text, der auf den Interviews von Emilio Quadrelli in den Pariser Banlieues während und nach den Ereignissen von 2005 basiert, stürzt das gesamte Spektrum der Verleumdungen gegen die rassifizierte, pathologisierte ‘Racaille’. Der Mythos eines reinen Aufstands von jungen Männern wird von weiblichen Anführern der Kämpfer zerschlagen, und linke Gemeinplätze werden besonders verächtlich gemacht, vor allem die über den unartikulierten Hilfeschrei der „sozial Ausgegrenzten“.

Go home, white boy, we don’t need you – Henry Hampton und Steve Fayer, Voice of Freedom

Inschrift. Dinge und Worte

25. Oktober 2005, Argenteuil, Departement Seine-Saint-Denis, früher Abend. Innenminister Nicolas Sarkozy, der die Banlieue besucht, spricht ganz offen: „Sie können diesen Abschaum nicht mehr ertragen? Keine Sorge, wir werden ihn bald loswerden“. Das Versprechen richtet sich an die „französische“ Minderheit in den „Arbeitervierteln“, die gegen ihren Willen gezwungen ist, mit der Racaille zu leben.

27. Oktober, Clichy-Sous-Bois, die Sonne ist gerade untergegangen. Etwa zehn Jugendliche – black/blanc/beur [Anmerkung des eng. Übersetzers: diese drei Begriffe werden im italienischen Originaltext in dieser sprachlichen Kombination und ohne Geschlechtsunterschiede verwendet] – haben gerade das Fußballspiel beendet und machen sich auf den Heimweg. Vielleicht, um den Weg zu verkürzen, gehen sie abseits der Straßen über das Gelände. Auf dem Weg dorthin entdecken sie eine Baustelle und überqueren sie. Jemand, wahrscheinlich einer der vielen Spione, die von der Polizei bezahlt werden, bemerkt sie und verschwendet keine Zeit damit, zum Telefon zu eilen und den Alarm auszulösen. Ein allgemeiner Alarm: „eine Gruppe von Jugendlichen auf einer Baustelle“, mehr nicht, aber genug, um eine Polizeistreife mit zwei Beamten zu alarmieren. Bevor sie das Auto verlassen, rufen die beiden noch Verstärkung an. Einige Minuten später gesellen sich drei weitere Streifenwagen zu dem ersten hinzu. Die Zahl der Polizisten erhöht sich auf 11. Nun kann die Jagd beginnen. Als sie die Polizei sehen, wissen die Jugendlichen sofort, womit sie es zu tun haben. Sie haben zwar nichts getan, aber die Polizei braucht keinen Grund für eine ihrer typischen Razzien. Wenn sie angehalten werden, können sie bestenfalls darauf hoffen, dass sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden festgehalten, durchsucht, identifiziert und dann vielleicht wieder freigelassen werden, aber es könnte auch schlimmer kommen. In diesem Fall ist eine Fahrt zum Revier so gut wie sicher, und wenn man erst einmal drin ist, kann alles passieren. Ein alltägliches Szenario in den Banlieues, und die einzige Lösung ist, wie immer, die Flucht zu ergreifen.

Für sechs von ihnen ist die Flucht kurz. Sie werden gefasst, umzingelt und von einem Teil der Polizei in Gewahrsam genommen. Die anderen Beamten nehmen die Jagd wieder auf. Drei der Opfer sind geflohen. Muttin Altun, 17 Jahre, türkischer Herkunft, Zyed Benna, 17 Jahre, Sohn von Tunesiern, und Bouna Traoré, 15 Jahre, aus Mali, sind ihnen durch die Lappen gegangen und immer noch auf der Flucht. Die drei durchqueren ein kleines Wäldchen, an dessen Ende sie auf eine ziemlich hohe Mauer stoßen, drei Meter. Sie lassen sich nicht entmutigen und klettern hinauf. Sie befinden sich in einem der kleinen Umspannwerke der französischen Elektrizitätsgesellschaft. Es scheint schon fast zu reichen. Es ist jetzt dunkler; wenn sie nur für eine Weile ein gutes Versteck finden, dann sollte es mit Hilfe der Nacht einfach genug sein, sich den Fängen der Polizei zu entziehen. Jedenfalls haben sie nichts getan. Es gibt keinen Grund, nicht damit zu rechnen, dass die Jagd in kurzer Zeit eingestellt wird. Das einzige Problem besteht darin, einen Ort zu finden, an dem sie von den Polizisten, die noch nicht aufgegeben haben, nicht gesehen werden können. Vielleicht haben die drei Flüchtigen Glück, denn der Raum ist genau dort, in unmittelbarer Nähe. Ohne groß darüber nachzudenken, erreichen sie ihn in einem Augenblick. Das ist ihr Ende. Die drei wissen nicht, dass sich in dem Raum, der sie vor den Blicken der Polizisten verbergen könnte, ein großer elektrischer Transformator befindet. Der Stromschlag trifft sie. Bouna und Zyed sind auf der Stelle tot, während Muttin, schwer verletzt, überlebt und es schafft, Hilfe zu rufen. Sarkozy hat sein Wort gehalten.

Clichy, 29. Oktober. Tausende von Jugendlichen nehmen an der Beerdigung von Bouna und Zyed teil. Die meisten tragen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Tot für nichts“. Kurz darauf beginnt die Revolte. Die ersten Vorzeichen gibt es in Clichy-sous-Bois in der Nähe der Beerdigung der beiden Jungen. Für die Menschen in den Banlieues sind die Todesfälle kein Zufall, sondern ein von der Polizei vorsätzlich begangener Doppelmord. Außerdem ist der Vorfall weder zufällig noch außergewöhnlich. Die Namen Bouna und Zyed verlängern lediglich die Liste der Toten, die für viele Menschen auf den 17. Oktober 1961 zurückgeht, als die Leichen von über 200 von den Sicherheitskräften gefolterten und massakrierten Algeriern in die Seine geworfen wurden. Sie hatten an einer Demonstration gegen die von der Pariser Polizei gegen alle Araber verhängte Ausgangssperre teilgenommen, und die Reaktion der République ließ nicht lange auf sich warten

Offensichtlich hat Sarkozy nichts Neues erfunden, und bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung kann er sich einiger illustrer Präzedenzfälle rühmen, angefangen bei Maurice Papon, dem Pariser Polizeichef zur Zeit des Massakers. An Papons Eifer für die Einhaltung der Gesetze und die Aufrechterhaltung der Ordnung mangelte es auch einige Jahre zuvor nicht. Während der Nazi-Besatzung war er für die Massenverhaftung von Tausenden von Juden und ihre Deportation in die Vernichtungslager verantwortlich. Die Regierungen wechseln, aber die Polizeikräfte bleiben letztlich dieselben.

Die Bewohner der Banlieues scheinen sich dessen sehr wohl bewusst zu sein. Innerhalb weniger Stunden schließen sich die schwarzen Viertel des nördlichen Gürtels der Pariser Peripherie mit den Aufständischen von Clichy-sous-Bois zusammen. In schneller Folge beginnen Le Courneuve, Le Blanc Mesnil, Argenteuil, Aulnay-sous-Bois und Montfermeil zu brennen. Das ist erst der Anfang. Bald gesellen sich Rouen, Dijon, Lille, Lyon, Toulouse, Straßburg und in geringerem Maße auch Marseille dazu. Ein Klang aus einer anderen Zeit scheint in einer anderen Form wiederzukehren: Ce n’est qu’un debut, continuons le combat, auch wenn der Mai ’68 im Vergleich dazu wie ein von übermütigen Studenten erdachter Unfug aussieht. Seit mehr als 20 Tagen schläft keine französische Peripherie mehr ruhig. [Anmerkung des eng. Übersetzers: Periferia wird im Englischen manchmal mit ‘Vorstadt’ übersetzt. Peripherie’ wird hier bevorzugt, weil ‘Vororte’ in der englischsprachigen Welt eine ökonomisch-sozial-kulturelle Konnotation trägt, die vom Leben in der Banlieue so weit entfernt ist, dass stereotypische ‘Banlieue’-Phänomene manchmal als ‘Innenstadt’ oder ‘urban’ (wie in ‘blight’) bezeichnet werden. Die Verwendung des Begriffs „Peripherie“ unterstreicht auch die soziale und geografische Distanz der Banlieue zur Welt der „Bürger“ oder „Geschäftsleute“]. Tausende von Bränden werden gelegt, Hunderte werden verletzt, ein Mensch stirbt, und die Zahl der Festnahmen und Durchsuchungen ist unbekannt.

9. November 2005. In 25 französischen Départements wird eine Ausgangssperre verhängt, mit allem, was dazugehört: Durchsuchung aller Gebäude zu jeder Zeit ohne Durchsuchungsbefehl, Verbot von Versammlungen, Demonstrationen und Zusammenkünften, keine Bewegungsfreiheit für all jene, die die Tätigkeit der Beamten behindern könnten. Das Szenario erinnert an das Jahr 1955 und den Algerienkrieg. Es scheint nicht übertrieben, diese Verbindung herzustellen, denn wenn der heiße französische Herbst kein Krieg war, so war er doch sicher kein bloßes Scharmützel. Doch niemand hatte auch nur die geringsten Anzeichen dafür gesehen, was in den Randgebieten der französischen Städte und in geringerem Maße auch in den Randgebieten bestimmter anderer Teile Europas unter der Oberfläche lag.

Was sich im vergangenen Herbst in den französischen Randgebieten ereignete, wurde schnell als unpolitisches Ereignis abgetan, dessen Dynamik in einem wiederauflebenden Sektierertum in den Gemeinden, in der ethnisch-religiös-kulturellen Identifikation, in der Kriminalität oder in den sinnlosen und verzweifelten Gesten der Opfer der sozialen Ausgrenzung, des städtischen Verfalls und der soziokulturellen Entbehrungen, die für die Randgebiete der Großstädte typisch sind, zu suchen sei. Diese Versionen entzogen den Ereignissen jegliche politische Bedeutung. Meine Arbeit vor Ort während einer Reihe von Aufenthalten in der französischen Hauptstadt, einer davon inmitten der émeutes, scheint etwas anderes zu offenbaren.

Politische Militante an der Basis/Bewohner der Peripherie

Der Begriff „politische Basismilitante“ ist durch die Arbeiten des italienischen Soziologen Danilo Montaldi bekannt geworden. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist daher eine Klarstellung erforderlich. Montaldi beschrieb im Wesentlichen die Spannung und den manchmal erheblichen Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, aber unser Fall ist weit von seiner Welt entfernt. Für Montaldi bezeichnen die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ das konfliktreiche Verhältnis innerhalb von Parteien und politischen Bewegungen, zwischen den Führern und Insidern auf der einen Seite und den zahllosen Militanten an der Basis, die ohne Hoffnung auf Karriere oder Prestige handeln, auf der anderen Seite. Die Peripherie ist für Montaldi der ideale Raum, um die zerstreute Partei wiederzuentdecken, die in all seinen Werken präsent ist und die auf das Zentrum eine ständige kritische Funktion ausübt, manchmal sogar mehr. Trotz ihrer ständigen Spannung existieren die Beziehungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie bei Montaldi jedoch immer innerhalb einer einzigen Welt. Durch ihre fast immer dramatischen Geschichten repräsentieren seine „politischen Volkskämpfer“ die wahre, „rohe“ Seele der „Klasse“, so dass sein Diskurs oft die der Politik eigenen Räume zu verlassen scheint, um in Bereiche vorzudringen, die näher an der Welt der Moral liegen. In unserem Fall ist das Szenario völlig anders, und wenn man einen „geistigen Vater“ sucht, sollte man sich vielleicht an Fanon wenden, dessen analytisches Raster sowohl auf den Widerspruch zwischen den politischen Kämpfern an der Basis und den verschiedenen politischen Spezialisten als auch auf den radikalen Bruch zwischen den Bürgern der städtischen Zentren und den gesichtslosen Massen der Peripherien angewandt werden kann. Dieses Szenario ist weit entfernt von Montaldi, dessen historisch-politischer Rahmen ganz und gar dem inklusiven Modell des Nationalstaates verhaftet ist.

Zwischen den Bewohnern des Zentrums (z. B. dem ‘kleinen Paris’) und der Peripherie (dem ‘großen Paris’) besteht eine Kluft, die wenig oder gar nichts mit dem traditionellen Konflikt bzw. Gegensatz zu tun hat, der lange Zeit als gesellschaftlicher Hintergrund diente oder zumindest diente. Im Wesentlichen hat dieser Zentrum-Peripherie-Konflikt dem Vokabular des „Urbanismus“ lediglich den Gegensatz zwischen Arbeitervierteln auf der einen und bürgerlichen Wohngebieten auf der anderen Seite hinzugefügt. Dieser Gegensatz zieht sich durch die gesamte Geschichte des letzten Jahrhunderts. Die beiden verfeindeten Welten teilten eine grundlegende politische Sprache; sie bekämpften sich durch und kraft einer gegenseitigen Anerkennung. Davon ist in den „französischen Ereignissen“ nichts mehr zu spüren. Daher die Rückbesinnung auf den fanonischen Diskurs, der trotz aller Komplikationen und Vorbehalte am geeignetsten erscheint, um nicht nur das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu beschreiben, sondern auch das Erscheinungsbild und die Merkmale eines politischen Diskurses, der der Welt des Algerienkriegs näher zu stehen scheint als den herkömmlichen Gesellschaftsmodellen, selbst jenen, in denen die Emanzipation ihre tragischsten Formen angenommen hat. Dieser Text versucht, die Rückkehr eines Diskurses zu thematisieren, der in vielerlei Hinsicht der „kolonialen Welt“ nahe zu stehen scheint.

Der Text enthält Auszüge aus Interviews mit sozialen Akteuren, die eine Art „führende“ Rolle in der Bewegung der Banlieuesards gespielt haben und die über die Metapher hinaus die drei Farben „black, blanc, beur“ verkörpern, die Kombination, die an den französischen Ereignissen beteiligt war. Außerdem gibt es ein Interview mit einem jungen „weißen“ Intellektuellen, dessen Standpunkt am ehesten die Distanz zwischen den Bewohnern des „kleinen Paris“ und den Bewohnern der „Arbeiterviertel“ zu verkörpern scheint, sowie den „Standpunkt“ eines „blanc banlieue“-Bewohners und Straßensozialarbeiters, der die Widersprüche, die zwischen den „banlieuesards“ und vielen der an der Anti-CPE-Bewegung im Frühjahr 2006 beteiligten Studenten entstanden sind, scharf analysiert.

Die folgenden Texte sind keineswegs repräsentativ für die „durchschnittliche Sichtweise“ der Bewohner der Banlieues; etwas anderes zu behaupten, wäre nicht nur wissenschaftlich unredlich, sondern auch naiv. Tatsächlich handelt es sich bei den sozialen Akteuren, die in dem Text eine große Rolle spielen, um schwarze politische Militante, doch erweist sich diese Wahl als weniger exzentrisch, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn es sich bei den „erzählenden Stimmen“ um „militante Stimmen“ handelt, bedeutet dies nicht, dass ihre Position und ihr Standpunkt dem in den schwarzen Vierteln weit verbreiteten Gefühl fremd oder äußerlich sind. Vielmehr stellen sie eine aufschlussreiche Synthese dar und können mit Recht als das Spektrum der in den betrachteten sozialen Welten am weitesten verbreiteten Ansichten betrachtet werden. Es ist leicht zu erkennen, dass ihre Version der émeutes nicht nur weit von derjenigen entfernt ist, die in der „legitimen Gesellschaft“ akzeptiert wird, was an sich nur von begrenztem Interesse wäre: Sie liefert auch eine Erklärung, die schwerlich nicht als „politisch“ eingestuft werden kann. 

Wäre der „Banlieue-Fall“ nichts weiter als die jüngste periodische und endemische Explosion des „Ghettos“, würde er letztlich keine anhaltende Aufmerksamkeit erfordern. Die Geschichte der Städte und Großstädte ist voll von Unruhen unterschiedlicher Intensität und Radikalität: gewiss keine Ereignisse, die man unterschätzen sollte, aber wenn der Lärm der Barrikaden erst einmal verklungen ist, kann sich das Interesse an ihnen ruhig auf Bereiche der Human- und Sozialwissenschaften wie die Soziologie der Abweichung, die Stadtsoziologie, die Kriminologie und die Kulturanthropologie beschränken. Der „Fall Banlieue“ hingegen scheint etwas anderes darzustellen. Wenn, wie selbst bei oberflächlicher Betrachtung des französischen Präsidentschaftswahlkampfs offensichtlich wird, die Wahl zu einem großen Teil in den Banlieues ausgetragen wird, muss etwas ganz anderes als der übliche großstädtische Aufruhr des „französischen Herbstes“ in Gang gesetzt worden sein, so dass die ursprünglich darauf angewandte Zensur schließlich zurückgenommen werden musste.

Aus verschiedenen, letztlich übereinstimmenden Gründen wurde ein Großteil der Wahrheit über den Ursprung der französischen Feuersbrünste zum Zeitpunkt ihres Auftretens bequemerweise verschwiegen. Sie wurde von der Regierung verschwiegen, die in Wirklichkeit dank der von den Sicherheitskräften erhaltenen Informationen schon bald ein im Wesentlichen realistisches Bild des Kontextes hatte, in dem die Ereignisse stattfanden, es aber aus offensichtlichen Gründen vorzog, sie nicht zu enthüllen Die Medien kannten die Wahrheit damals weitgehend nicht, da sie sich auf die Meldungen der Regierung beschränkten. Viele Intellektuelle ignorierten die Wahrheit oder interpretierten sie schlecht, einfach weil sie ihnen nicht bekannt war.In gewisser Weise unterstützten sie schließlich alle die Version der Macht von der Wahrheit.

Die émeutes wurden als ein Phänomen gelesen, dem es im Wesentlichen an politischem und sozialem Inhalt fehlte, ausgehend von der Trias Fundamentalismus/sektiererische Community/Identität, um bald bei der Paarung Kriminalität/Verzweiflung zu landen. Dies sollte sich am deutlichsten in der Art und Weise zeigen, wie sich die Revolte manifestierte: undeutlich und wahllos, eine zerstörerische ludditische Kraft, die manchmal an das beunruhigende, inkohärente und irrationale Handeln der aufgebrachten Menge erinnerte. Wahllose Brände dienten als Beweis dafür. Als schließlich versucht wurde, die Ereignisse in irgendeiner Form zu erklären, konzentrierte sich die Debatte in der legitimen Gesellschaft auf die Frage, ob es eine Krise des „französischen Modells“ der Eingliederung gab oder nicht, und auf den Vergleich mit dem „angelsächsischen Modell“. Diese Debatte schien die Bewohner der „Arbeiterviertel“ völlig gleichgültig zu lassen: Ihre Aussagen betonten ganz andere Dinge und bestätigten mehr denn je die Aussage Gramscis, dass das reale Land nicht dem legalen Land entspricht.

Unter Berücksichtigung aller erfahrungsbezogenen Einschränkungen erzählen die vor Ort gesammelten Informationen eine ganz andere Geschichte. Es scheint sich zu lohnen, den Worten derjenigen zuzuhören, die in verschiedenen Rollen die Ereignisse aus nächster Nähe beobachten konnten.

Die diskursive Ordnung

Die Reise in die Banlieue beginnt mit M.B., einer nicht mehr jungen schwarzen Frau, die seit einiger Zeit in den Banlieues politisch aktiv ist.

Zunächst sind die zentralen Ziele der Revolte zu nennen. Davon war in den verschiedenen Medien nicht die geringste Spur zu finden. Was gezeigt wurde, so möchte ich betonen, war der irrationale Aspekt der Revolte. Aber in Wirklichkeit war es nicht so. Es wurde viel von brennenden Autos gesprochen, als ob dies das einzige Ziel gewesen wäre, aber in Wirklichkeit waren die Hauptziele andere Dinge, die Polizei und die Polizeistationen natürlich, und darüber wurde ein wenig gesprochen, zum Teil, weil, als man anfing, von einem kriminellen Kommando [der Unruhen] zu sprechen, das es nicht gab, die Rede von einem Angriff auf Polizeistationen diese These hätte unterstützen können. Aber nicht nur die Polizei wurde angegriffen. Zeitarbeitsfirmen und „staatliche Gemeinschaftszentren“ wurden ebenso angegriffen und zerstört wie die Polizeistationen. Davon war in der Presse und im Fernsehen keine Spur zu finden, oder wenn, dann nur als Nebeneffekt. Wenn es eine Explosion gibt, wird auch alles drum herum in die Luft gejagt, das meine ich mit Nebeneffekt. Aber die Zeitarbeitsfirmen und die Gemeindezentren wurden nicht zufällig angezündet, sie wurden bewusst angegriffen, nicht mehr und nicht weniger als die Polizeistationen.

Jeder weiß, was Zeitarbeitsfirmen sind. Sie regeln den Zugang zum Arbeitsmarkt auf zeitlich begrenzter Basis und zu Bedingungen, die die Unternehmen begünstigen. Sie sind auch Organisationen der Erpressung und der sozialen Kontrolle durch Polizei und Gewerkschaften, denn wenn man jemand ist, der den Kampf und den Konflikt am Arbeitsplatz organisiert, oder auf jeden Fall jemand, der aus der Reihe tanzt, wird man rausgeschmissen, und man kann sicher sein, dass es sehr schwer für einen ist, einen neuen Vertrag zu bekommen. Man landet bei den Unerwünschten und wird nie wieder arbeiten. Die Agenturen sind die wichtigsten Waffen, die der Kapitalismus einsetzt, um die Arbeiter unschädlich zu machen. Neben den Agenturen gab es auch eine ganze Reihe von Unternehmen, die ausschließlich auf illegale oder halb erzwungene Arbeit zurückgreifen, die in Flammen aufgingen. Davon gibt es eine ganze Reihe, die vor allem weibliche Arbeitskräfte ausbeuten, indem sie Akkordarbeit im Haushalt verrichten. In anderen, nicht seltenen Fällen werden Lagerhallen und Keller für die Arbeit hergerichtet, in denen Frauen fast unter “KZ-Bedingungen” [der deutsche Übersetzer tut sich schwer mit dieser Analogie, auch wenn er das Motiv der Verdeutlichung versteht] arbeiten, ohne Sicherheit, ohne Belüftung, in Schichten von nicht weniger als 10 Stunden, unter der Kontrolle von körperlich gewalttätigen und arroganten Chefs.

Einige Frauengruppen, und das kann ich garantieren, denn ich habe einige von ihnen organisiert, rechneten noch während des Kampfes auf der Straße mit unseren Chefs und Vormündern ab. Wenn es nicht möglich war, die Lagerhäuser zu stürmen, haben wir uns ihre Autos und Wohnungen vorgenommen. Einige Caïds verunglückten. Dies sollte zumindest ein etwas anderes Bild vom Aufstand und von der Rolle der Frauen vermitteln, die keineswegs untergeordnet oder gar unsichtbar war. Aber das scheint mir nicht das zu sein, was am meisten betont werden muss. Es scheint mir wichtiger zu sein, über das Schweigen zu sprechen, das von den linken Parteien und Bewegungen ausgegangen ist.

Im Zentrum der Revolte bzw. eines ihrer wichtigsten Ziele war die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsorganisation, die völlig unbeachtet blieb, was sehr bezeichnend ist […] Sie zeigt zum Beispiel, dass Arbeit für den einen Teil der Gesellschaft etwas völlig anderes ist als für den anderen. Es handelt sich um zwei Welten, die unterschiedliche Sprachen sprechen, in denen es für den einen Chancen und Möglichkeiten gibt, während der andere in einer starren Unterordnung, Beherrschung und Erpressung lebt. […] Aber das ist nicht etwas Neues, das erst gestern passiert ist. Um das zu verstehen, reicht es, zu sehen, was [in der Vergangenheit] bei Märschen und Demonstrationen passiert ist. Die linken Bewegungen – und das ist sehr auffällig, wenn man bedenkt, dass es in den Jugendbewegungen noch mehr der Fall ist – wollen nicht von den jungen Banlieuesards kontaminiert werden, sie tun alles, um sie fernzuhalten, und haben in einigen Fällen mit der Polizei zusammengearbeitet, um sie davon abzuhalten, im Zentrum von Paris zu agieren. Ohne allzu komplizierte Erklärungen zu suchen, glaube ich, dass der Ursprung des Problems im sozialen Hintergrund der beiden Gruppen zu suchen ist. Die Jugendlichen der linken Bewegungen sind zumeist Studenten, während die anderen Arbeiter, Diebe, Räuber und, da es keinen Grund gibt, dies zu verbergen, auch kleine Drogendealer sind. Das, werden Sie sagen, ist doch nichts Neues, und das stimmt auch. Diejenigen, die wie ich auf eine lange Geschichte politischer Militanz zurückblicken, wissen sehr gut, dass die Dinge schon immer so waren, aber das ist nicht der Punkt.

[…] Das eigentliche Problem besteht heute darin, dass sich die Welt in ihrer materiellen und strukturellen Grundlage radikal verändert hat, was erhebliche Auswirkungen hat. Es ist, als ob es zwei Welten gäbe, die von verschiedenen Arten bewohnt werden. Und diese beiden Welten sind, soweit ich sehen kann, nicht mehr nur durch unterschiedliche Positionen in der sozialen Hierarchie innerhalb eines einzigen Gesellschaftsmodells getrennt; sie gehören jetzt zu zwei verschiedenen Realitäten, schwarz und weiß gefärbt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsorganisation einem Großteil der Linken fremd ist, denn schließlich ist es eine weiße Organisation, also ist es auch die ihre. […] Die Erklärung der Angriffe auf die ‘staatlichen Gemeinschaftszentren’ scheint mir sehr wichtig zu sein, denn sie verdeutlicht – wieder einmal, könnte man sagen – unseren Standpunkt zu diesen Ereignissen. Eine Geschichte, die nicht von gestern ist, sondern in die Vergangenheit zurückreicht. Das ist auch eine Antwort an all diejenigen, die, unabhängig von Ideologie und Politik, in Paris leben und denken, wenn es uns gut gehen soll, dass wir hier in der Peripherie nur eines wollen: von ihnen integriert werden. Wir sind nicht in die Republik integriert und wir wollen es auch gar nicht sein, das ist nicht unser Problem. Ein Desinteresse oder, um es deutlicher zu sagen, eine Verweigerung, die unter anderem nicht erst im letzten Herbst entstanden ist, sondern schon seit der Ära Mitterrand und der Entstehung von SOS Racisme.

[…] Ja, denn gerade damals wurden viele Dinge verstanden und abgesteckt, die sich im Laufe der Zeit fortgesetzt haben und zu einem unversöhnlichen Bruch geführt haben. Auf der einen Seite gibt es den Weg, der zu den Institutionen führt, auf der anderen Seite den Weg auf die Straße. Diese beiden Wege können nicht nebeneinander bestehen.

Was wollten diejenigen, die mit SOS Racisme verbunden sind, tun? Berge von Francs auftürmen, weil Mitterand sich nicht um die Kosten kümmerte. Für viele, vor allem für die Schwarzen, die sich dem Projekt anschlossen, war es eine gute Gelegenheit zur individuellen Emanzipation. […] Sie wurden, wenn auch nicht auf sehr hohem Niveau, in irgendeine Organisation, ein Projekt oder ähnlichen Blödsinn einbezogen und gingen umher wie die Blume der Republik. Der edle Wilde, dem die weiße Zivilisation eine Chance bot, all das, denn das war der Einsatz, die Aufgabe der politischen und organisatorischen Autonomie, um es einfach auszudrücken, die Aufgabe, Klasse für sich selbst zu sein. Auf der anderen Seite gab es die anderen, uns.

Für uns besteht das Problem nicht darin, in die Republik integriert zu werden und die guten Diener des weißen Chefs zu werden. Wir sind die Araber, die Schwarzen und, wie man in letzter Zeit gesehen hat, die bösen Weißen – denn viele Weiße in den Banlieues haben sich in nicht geringem Maße an den Unruhen beteiligt -, die gefährlich sind, weil wir dem weißen Boss und seiner Herrschaft die Kehle durchschneiden wollen, so wie wir es unter der kolonialen Herrschaft getan haben, aus der wir in gewisser Weise nie herausgekommen sind. Der Bruch zwischen uns und unseren Führern, die sich krampfhaft an die Weißen verkauft haben, ist etwas, das man zur Kenntnis nehmen sollte. […] Wir wollen nicht, dass sie uns sagen, was wir sein sollen, wir wollen wir sein und nicht, was sie wollen. In diesem Punkt kann man deutlich sehen, dass es keine Vermittlung geben kann. […] Aus unserer Sicht sind die ‘staatlichen Gemeinschaftszentren’ also nicht mehr als ein weiteres Gesicht der Herrschaft, kein Vehikel der Emanzipation. Jeder, der auch nur die geringste Erfahrung hat, wird sofort erkennen, dass sie das andere Gesicht der Polizei sind, mit der sie, auch wenn man in Paris vermeidet, dies zu sagen, kooperieren und zusammenarbeiten. Die Polizeistationen anzugreifen und die „Zentren“ zu verschonen, wäre ein reiner Widerspruch gewesen. [M.B.]

Die Zeitarbeitsfirmen und die „staatlichen Gemeinschaftszentren“ waren strategische Ziele, auf die sich die praktische Kritik der Banlieue-Bewohner konzentrierte. Wie die oben zitierte „Militante“ erklärte, handelte es sich dabei nicht um eine Improvisation, sondern um das Produkt eines Diskurses, der in den schwarzen Vierteln einen bedeutenden Einfluss und eine Legitimität besaß und in gewisser Weise ein Modell der „Stadtguerilla“ darstellte, mit dem diese Ziele angegriffen werden konnten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Art des „militärischen Modells“, das im Verlauf der Revolte verwendet wurde, und die Art und Weise, wie die Beziehung zu den Sicherheitskräften gehandhabt wurde, zu beobachten. All dies führt zu einem Punkt: Wie wird die Polizei von der Bevölkerung in den Banlieues wahrgenommen? Dieser Aspekt erlaubt es, etwas Wichtiges über die Banlieue und ihr Verhältnis zur legitimen und respektablen Gesellschaft zu sagen. Darüber sprechen wir im folgenden Interview mit J.B., einem 29-jährigen beur, einem prekären Arbeiter und einem aktiven Teilnehmer an den émeutes, nicht mehr und nicht weniger als andere.

Die Polizei ist der Feind, ohne Ausnahme. Und das nicht nur, weil man sie offensichtlich gegen sich hat, wenn man handelt, sondern sie ist immer gegen einen. Das ist keine politische Frage, sondern eine des täglichen Lebens. Der Tod von Bouna und Zyed, der, wie Sie wissen, keine Ausnahme war, sondern der letzte in einer langen Reihe von Morden, die von der Polizei in den Banlieues begangen wurden, war nicht die nächste Folge einer Rebellion. Sie waren die Folge dessen, was für uns normale Routine ist. Die Polizei hat die Angewohnheit, dich ohne Grund anzuhalten, dich zu durchsuchen, zu beleidigen, zu schlagen, einfach weil du du bist und sie sie sind. Für uns ist es normal, dass du an deiner Tür von Polizisten wie in einer amerikanischen Fernsehserie empfangen wirst; sie gehen hinein, halten dich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden fest und schmeißen alles durch die Gegend. Du bist ein Feind, einfach weil du existierst. Du brauchst nichts zu tun, um schuldig zu sein, du bist die Schuld. Für uns hat das Problem der Polizei also nicht mit bestimmten Ereignissen zu tun, es ist immer ein Problem. Wenn es schon ein Problem sein kann, wenn du zu Hause bist, dann stell dir vor, was es bedeutet, auf die Straße zu gehen. Jedes Mal, wenn man rausgeht und herumläuft, kann ein Problem entstehen.

[…] Vielleicht müssen einige Leute daran erinnert werden oder wissen gar nicht, dass die BAC, die Brigades Anticriminalité, in der Banlieue operieren. Diese Spezialeinheiten wurden nur für uns geschaffen. Sie agieren wie eine Expeditionstruppe im Feindesland. Die Brigaden sind das genaue Bindeglied zwischen Armee und Polizei und stellen auf lokaler Ebene die Instrumente dar, die der Westen in seiner Außenpolitik einsetzt. In Bezug auf die Banlieues wenden sie in voller Kontinuität dieselbe Logik an, die an der äußeren Peripherie bereits ausgiebig getestet wurde. Innerhalb der Metropole sind wir das Äquivalent von Schurkenstaaten. Jedenfalls hat Sarkozy das ganz offen gesagt. Es ist ein weitreichender Diskurs, der hier nicht gelöst werden kann. Aber man muss ihn im Hinterkopf behalten, sonst wird es schwierig, Ihre Fragen zu beantworten.

[…] Um die Dimensionen des Konflikts in unseren Gebieten zu verstehen, muss man sich in die koloniale Realität hineinversetzen und seine Vorstellungskraft bemühen. Das ist notwendig, um das Modell der Guerilla zu verstehen, das sich sehr von dem unterscheidet, das allgemein bekannt ist und von den verschiedenen linken Bewegungen, vor allem in der Vergangenheit, praktiziert wurde. Diese Bewegungen kämpfen, indem sie eine gegnerische Armee ins Feld schicken, die frontal mit der Polizei zusammenstößt. Natürlich gab es innerhalb dieses Schemas Varianten, Anpassungen, aber die Essenz war dieselbe. Insbesondere gab es die Idee des militärischen Korps, der Kampftruppe, die die streng militärischen Aufgaben erfüllte, und dann den Rest der Kämpfer, der so etwas wie das Äquivalent der Zivilbevölkerung war. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten war ziemlich klar. Innerhalb der verschiedenen Organisationen bildete die Kampftruppe eine von der politischen Sektion unabhängige Struktur. Eine Miniaturausgabe der traditionellen Trennung zwischen Militär und Politik. Es gab die Politiker, die Militärs und dann all die anderen, die die Bevölkerung repräsentierten.

[…] In den Banlieues nahm der Guerillakrieg völlig andere Formen an. Die Partisanen und nicht die Armee – ob regulär oder nicht – waren das operative Modell. Kleine Gruppen bewegten sich, schlugen zu, zerstreuten sich und gruppierten sich neu, um kurz darauf an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Die tatsächliche Zahl der Guerillas ist begrenzt, auch wenn sie nicht unterschätzt werden sollte, was auf den ersten Blick auf eine Isolierung von der Bevölkerung hindeuten könnte. Aber wenn die Zahl der Guerillas begrenzt ist, dann aus genau dem gegenteiligen Grund. In dem Guerillakrieg, der sich in den Banlieues entwickelte, spielte die gesamte Bevölkerung, abgesehen von Spitzeln und Zuhältern, eine kämpferische Rolle. […] Auf jeden Fall ist dies nur bis zu einem gewissen Punkt ein neues Phänomen, denn wenn man genau hinsieht, bringt es nur das Modell der Kolonialkriege in die Gegenwart. In diesen Kriegen hat die Bevölkerung nie die Rolle von Zivilisten gespielt, sie war nie eine hypothetische neutrale Partei, sie war immer an der Front. […] Hier gibt es keinen Platz für Neutralität. Bei der Polizei ist diese Logik ohnehin gang und gäbe, ohne dass eine Ausnahmesituation vorliegen muss. Sie hat nie anders gehandelt. Sie haben nie die Leute verhaftet, die materiell für die Taten verantwortlich waren, sie haben einfach jeden genommen, den sie in die Finger bekamen. Sie folgten der Logik der Ratissage, aber das war für uns nichts Neues, daran haben wir uns gewöhnt, und es hat niemanden besonders beeindruckt.

In Wirklichkeit haben sie nicht die Schuldigen verhaftet, sondern Tausende von Menschen deportiert: Sie haben das getan, was sie jeden Tag tun, nur in einem größeren Maßstab. […] Die Beantwortung dieser Frage gibt mir eine weitere Gelegenheit, einige Mythen über die Banlieues zu widerlegen, die sich wie Unkraut verbreitet haben. Der offensichtlichste und verbreitetste ist der, der die Banlieues als Orte ohne soziales Leben darstellt. Wir werden als reine Nichtigkeit dargestellt: Wenn wir uns in irgendeiner Form äußern, können wir höchstens Chaos verursachen. Aber in einer solchen Realität wird die Existenz eines Netzes von Spionen und Informanten unverständlich. Wie und warum die Nichtigkeit ausspionieren? Warum ein Netz von Informanten an Orten organisieren, die es gar nicht gibt? In der Realität sieht es ganz anders aus, und in den Banlieues ist das Netz von Spitzeln und Informanten etwas, worauf die Polizei großen Wert legt. Das allein sollte schon die Theoretiker der Nichtigkeit – oder vielleicht noch schlimmer, der präsozialen Dimension, in der wir leben – zum Nachdenken bringen.

Wenn sie uns ausspionieren, dann hat das offensichtlich einen Grund. Damit wird zumindest eines anerkannt: dass wir existieren. Und diese erste Bestätigung führt unweigerlich zu einer weiteren. Wenn die Spitzel identifiziert sind, bedeutet das, dass es in unseren Territorien ein mehr oder weniger organisiertes soziales Modell geben muss, in dem Tausende von Fäden in einer Untersuchung verfolgt werden können, die zur Identifizierung und Entlarvung des an den Feind verkauften Netzwerks führt.

[…] Wenn ich von Spitzeln spreche, meine ich nicht die kleinen Informanten, die jeder kennt und die der Polizei manchmal etwas verraten, um ihre eigenen kleinen Operationen zu schützen. Was sie vorhaben, ist bereits bekannt, und sie sind ohnehin nicht in der Lage, viel Schaden anzurichten. Sie können jemanden verpfeifen, so wie sie selbst auch schon mal verpfiffen wurden, aber nur wegen Kleinkriminalität, die letztlich ein Randaspekt unseres Lebens ist. Nein, ich spreche nicht von ihnen. Ich spreche von denjenigen, die in völliger Anonymität und ohne den geringsten Verdacht zu erregen als Informanten auftreten. Diese Leute geben sich nicht zu erkennen, sie müssen in die Öffentlichkeit getrieben werden. Sie zu enttarnen bedeutet, ein organisiertes Netzwerk aufzubauen, es gibt keine Alternativen. […] Und es ist klar, dass diese Leute im Laufe der Ereignisse ins Visier genommen wurden, und es scheint mir nicht übertrieben zu sagen, dass die meisten der internen Opfer, die von den Demonstranten angegriffen wurden, zum Netz der für die Polizei arbeitenden Spione gehörten. […] Sie sehen also, dass man ernst nehmen muss, dass wir immer so leben, als ob wir im Krieg wären. (J.B.)

Vor diesem Hintergrund nimmt die Rückbesinnung auf diese Geschichte insbesondere für Gruppen mit kolonialem und dekolonisatorischem Hintergrund eine zentrale Rolle in ihren Überlegungen zur Gegenwart ein. In einem Moment, in dem die Rhetorik des globalen Kapitalismus und die pensée unique die „kulturellen Käfige“, durch die die Individuen ihre Existenz in der Welt wahrnehmen, zu homogenisieren und zu vereinheitlichen scheinen, taucht unter den Elenden der Metropolen paradoxerweise eine diskursive Ordnung auf, die, ausgehend von der Rückbesinnung auf ihre eigenen historisch-politischen Erfahrungen, nicht nur die Gegenwart kritisiert, sondern auch Schlüsselstellen der Weltgeschichte und der westlichen Kultur angreift. Diese Kritik richtet sich gegen alle Standpunkte, von denen aus dieselben (d.h. „wir“) die anderen (sie) betrachtet, klassifiziert und geordnet haben, was O.S. mit großer Einsicht erklärt, ein „schwarzer Schläger“, der jedoch ein kultivierter Absolvent der Universität Saint-Denis in Sozialwissenschaften ist. Nachdem er einige vom Humanismus gewöhnlich ignorierte Aporien seziert hat, konzentriert sich sein Interview auf die Erinnerungen und die Praktiken der Dekolonisierung und zeigt, wie selbst innerhalb desselben hypothetischen Feldes – der historisch-politischen Welt der Linken – „Weiße“ und „Schwarze“ am Ende zwei unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte narrative Ordnungen produzieren. Im Kern der Frage ist für die „Weißen“ die Geschichte, auch die der Kämpfe und Revolutionen, eine „Geschichte der Weißen“, weil sie aufgrund ihrer objektiven Überlegenheit nur den Weg nachzeichnet, den der andere notwendigerweise gehen muss. Ein Unterschied der „Macht“ an der Grenze des „Naturalismus“, den wir heute, mit aller gebotenen Einschränkung, gerade bei den Elenden der Metropolen antreffen. 

Das Vorhandensein einer Geschichte und eines Gedächtnisses von Schwarzen und Weißen zeigt sich deutlich, wenn man sich das Geschichtsbewusstsein linker Aktivisten ansieht. Es ist recht einfach, Experten für die russische Revolution, die gescheiterte Revolution in Deutschland, den spanischen Bürgerkrieg zu finden, aber was Vietnam oder Algerien betrifft, findet man fast nichts, da diese Kämpfe immer nur wegen der Auswirkungen, die sie auf die westlichen Länder gehabt haben könnten, als interessant angesehen werden, nicht aber als solche. Dies ist ein altes Laster des Westens, das auf den Humanismus zurückgeht. Während der Mensch innerhalb des Westens erscheint, nimmt der Nicht-Mensch außerhalb seiner Grenzen Gestalt an. Wenn man genau hinsieht, beruht die gesamte Geschichte des Kolonialismus und später des Imperialismus auf dieser Kluft zwischen der menschlichen und der nicht-menschlichen Welt, zumindest im westlichen Denken und vor allem in der Praxis. […] Im Laufe der Jahrhunderte hat sich diese Logik vielleicht ein wenig abgeschwächt, aber sie wurde nie wirklich aufgegeben. In gewisser Weise sind wir immer das Nicht-Menschliche, das vor uns erscheint. Um das zu verstehen, genügt es, sich anzusehen, wie Weiße im Allgemeinen auf Massaker, Folter und Übergriffe verschiedener Art reagieren. […] Dies zeigte sich auch in jüngster Zeit bei den Folterungen im Irak und dem Einsatz von Chemiewaffen in Falludscha, um nur einige bekannte Beispiele zu nennen. Was hat das westliche Gewissen wirklich erschüttert? Das Schicksal der Gefolterten oder das der lebendig Verbrannten? Ganz und gar nicht. Was Besorgnis erregte und kritisiert wurde, war etwas anderes: die negativen Auswirkungen, die diese Ereignisse als Formen der Barbarei auf die westliche Zivilisation haben könnten. Das Problem ist also nicht, was mit den Anderen geschieht, die nicht ohne Grund Andere sein müssen, sondern die Verluste und Kosten, die die westliche Gesellschaft am Ende zahlt, wenn sie Methoden anwendet, die, wie man zwischen den Zeilen lesen kann, offiziell nicht zu ihr gehören und sie in die Nähe nicht-westlicher Barbaren rücken.

[…] Wenn Weiße Schwarze töten, ist das eigentliche Problem nicht die Haut des Schwarzen, sondern die Auswirkungen der Tötungen auf verschiedenen Ebenen für die Weißen. Diesen mentalen Kolonialismus findet man, in verschiedenen Ausprägungen, in allen weißen Milieus, unabhängig von der ideologischen und politischen Zugehörigkeit. […] Fragt man einen politisch engagierten Weißen nach Sabra und Schatila , ist es sehr unwahrscheinlich, dass er oder sie darauf antworten kann, und die Beispiele dafür ließen sich endlos fortsetzen. Wenn man sich mit der Geschichte afrikanischer Völker befasst, schlägt das Ausbleiben von Antworten in Panik um. Es ist wahrscheinlicher, dass sich jemand an den Tag erinnert, an dem ein paar Steine auf die Polizei geworfen und ein paar Fensterscheiben eingeschlagen wurden, als an den Mau-Mau-Aufstand, wahrscheinlicher, dass er den Namen eines lokalen Führers kennt als eine Figur wie Patrice Lumumba. Aber um auf unseren Punkt zurückzukommen, geschieht dies nicht aus Unwissenheit, sondern weil all dies außerhalb der ersten Welt, der Welt der Weißen, geschah und daher immer als zweitrangig angesehen wurde. Revolutionären Kämpfen ist es nicht besser ergangen. Selbst in der Revolution gibt es eine Hierarchie, die zu respektieren ist, und Weiß kommt vor Schwarz, und alles hing von einer Tatsache ab: Die Produktivkräfte der ersten Welt waren fortgeschrittener als die der anderen, sie waren weiter fortgeschritten, daher waren ihre Kämpfe von höherer Qualität. Niemand ist auf die Idee gekommen, diese Gewissheit in Frage zu stellen, auch wenn es in der weißen Welt nie zu einer Revolution gekommen ist.

[…] Heute hat sich die Szene verändert, da der Kreislauf der Warenproduktion jede Art von Barriere übersprungen hat und es die dritte Welt ist, die für die erste produziert, aber diese Gewissheit, diese Überzeugung ist geblieben, auch wenn sie verschiedene Formen angenommen hat. Die Rechte und die weiße Linke verwenden sie, vielleicht mit unterschiedlichem Tonfall, aber mit demselben Sinn: die objektive Unterlegenheit der Schwarzen. […] Im Zeitalter der Globalisierung ist der Mythos/das Dogma der Produktivkräfte zu der diskursiven Ordnung geworden, die von den Weißen, von allen Weißen, benutzt wird, um das Volk der „Schwarzen“ zu beherrschen und ihre Kämpfe und ihren Widerstand zu delegitimieren: Hier bezeichnet „Schwarze“ all diejenigen, die von der Ausübung der Herrschaft ausgeschlossen sind, unabhängig von den Abstufungen der Hautfarbe. Das Schweigen oder die Lügen über die Banlieues scheinen mir der beste Beweis für all dies zu sein. […] Über die Banlieues wurde allgemein geschwiegen, obwohl die Revolte in Bezug auf die Anzahl der Teilnehmer, die Dauer und die Ausdehnung größer war als der Mai ’68. (O.S.)

Gender und Banlieue

Während ein Großteil der Banlieues in Flammen aufging, „entdeckten“ viele Teile der so genannten „Zivilgesellschaft“ plötzlich die beklagenswerten Zustände, in denen der in den Banlieues herrschende Sexismus die Frauen dort zu leben zwang. Frauen, die jeder Form von Brutalität und Frustration durch männliche Banlieuesards ausgesetzt waren, die sie in einem ständigen Testosteronüberschuss betrachteten, so wie sie ihre Autos betrachteten. Immer wieder wurde die völlig untergeordnete Rolle der Frauen in der Banlieue hervorgehoben. Diese Rhetorik schien die meisten Menschen zu überzeugen und machte jeden erfahrungsbezogenen Ansatz in dieser Frage überflüssig. Ein alltäglicher „Polizeivorfall“, dessen Zeuge der Autor wurde, schien zumindest einen konzeptionellen Rahmen zu sprengen, der allgemein als unangreifbar galt. Blanc Mesnilin, Ende November 2005, 16 Uhr. Plötzlich kommt ein metallicgrauer BMW des neuesten Modells mit Höchstgeschwindigkeit um eine nicht ganz einfache Kurve. Die Kurve ist anspruchsvoll und die Geschwindigkeit des Wagens hilft nicht, und der Fahrer scheint die Kontrolle zu verlieren. Das Heck des Wagens gerät in eine klassische Drehung. Ein Unfall scheint unausweichlich. Dann, mit viel Geschick und Ruhe, gewinnt der Fahrer die Kontrolle über den Wagen zurück und lenkt ihn in eine Seitenstraße. Während das Geräusch der Bremsen noch in der Luft liegt, springt der Beifahrer schnell heraus und richtet eine großkalibrige Pistole, die wie eine Browning bifilar 9mm Parabellum aussieht, beidhändig auf die Straße. Unmittelbar danach steigt der Fahrer aus und die beiden verschwinden in einer der angrenzenden Straßen. Wenige Sekunden später tauchen drei Polizeiautos auf, die beim Anblick des BMW eine Vollbremsung hinlegen. Die schnellsten der Polizisten springen noch während der Fahrt heraus, ziehen ihre Waffen und umzingeln den BMW. Aber es nützt nichts, es ist niemand mehr drin. Fluchend rennen sie in die umliegenden Straßen, um nach den Flüchtigen zu suchen. Aber sie kehren bald zurück; die Jagd war nicht erfolgreich. All dies könnte uninteressant erscheinen, eine gewöhnliche storia sbagliata, wie [der italienische anarchistische Liedermacher Fabrizio] De Andre gesagt hätte, wäre da nicht die recht überraschende Tatsache, dass es sich bei den Flüchtigen um zwei verschleierte Frauen handelte: Zwei Mädchen, die sehr jung aussahen, gekleidet in Armeestiefel, Sweatshirts und Bomberjacken, aber mit dem Schleier. Die verschleierten Flüchtlinge schienen objektiv nicht sehr „fundamentalistisch“ oder gar religiös zu sein, und es wäre schwer vorstellbar, dass sie sich irgendjemandem unterordnen oder unterwürfig waren. Es ist ganz offensichtlich, dass die „Frauenfrage“ in der Banlieue, wie auch andere Aspekte, nur schwer durch die Brille der weißen Macht/Wissenschaft betrachtet werden kann; es bedarf eines anderen „Werkzeugkastens“.

In Wirklichkeit spielten die Frauen bei den Ereignissen des „Französischen Herbstes“ eine Rolle, die alles andere als zweitrangig war. Jedem, der auch nur das geringste Wissen über das soziale und wirtschaftliche Leben in den Banlieues besitzt, ist klar, dass der Einfluss der Frauen in der konkreten Organisation des Alltagslebens strategisch ist und dass diese Rolle wenig oder gar nichts mit den Debatten zu tun hat, die die legitime Gesellschaft und die Frauenforschungsinstitute beschäftigen. Frauenquoten und Chancengleichheit“ bedeuten den Frauen der Banlieues nicht viel, und ihre ‚Wahlverwandtschaften‘ haben wenig mit den theoretischen Überlegungen von Judith Revel gemein, dafür aber viel mit den Praktiken von Assata Shakur, weshalb hier eine Untersuchung ‚on the road‘ von Interesse ist. Die Beobachtungen und Überlegungen der Frauen aus den Banlieues vermitteln einen Blick auf die „schwarzen Viertel“ in Frankreich, der weit von dem entfernt ist, an den uns die Medien, das politische Establishment und ein Großteil der Intelligenz gewöhnt haben. Nicht nur hat sich die gesamte Bewegung der Banlieuesards als weit weniger unpolitisch erwiesen, als sie von der legitimen Gesellschaft dargestellt wird, auch die Frauen, oder eine beträchtliche Anzahl von ihnen, scheinen weit davon entfernt zu sein, die Rolle der grimmigen Unterordnung unter die männliche Macht zu verkörpern und zu akzeptieren. Vielmehr scheinen sie in gewisser Weise den Kern des Widerspruchs klar erfasst zu haben, indem sie die zentralen Elemente des Problems in den Transformationen der kapitalistischen Arbeitsorganisation und der Rückkehr eines Machtverhältnisses kolonialen Typs identifizierten. Aber die Frauen, oder zumindest einige von ihnen, scheinen auch eine wichtige Rolle im „militärischen Aspekt“ gespielt zu haben, eine Tatsache, die angesichts der weit verbreiteten Rhetorik über Frauen in der Banlieue gelinde gesagt unglaublich erscheint. Eine ausführliche Darstellung all dessen findet sich bei Z., einer jungen schwarzen Französin, die in der Banlieue von Argenteuil lebt und sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt hat. In diesem Zusammenhang drängt sich die „Frauenfrage“ geradezu auf. Als Frau sah sich Z. oft mit Vorgesetzten und Chefs konfrontiert, die sie gerade wegen ihres Geschlechts ablehnten. Dieser Umstand sollte nicht unterschätzt und schon gar nicht als nebensächliches Problem abgetan werden. In Wirklichkeit ist das Verhältnis zur „Frauenfrage“ für jede Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand abschaffen will, entscheidend, denn alle wesentlichen Probleme des Machtkonzepts drehen sich um sie. Die Autorität einer revolutionären Anführerin nicht anzuerkennen, weil sie eine Frau ist, läuft darauf hinaus, dieselbe faschistische Mentalität zu verinnerlichen wie die des Polizisten, der in die Banlieue kommt und erwartet, das Sagen zu haben, weil er weiß und Franzose ist, als ob er deshalb „von Natur aus“ zum Herrschen bestimmt wäre.  Diese Logik unterscheidet sich in keiner Weise von derjenigen, in der der Mann die Frau „natürlich“ dominiert.

Es ist von gewisser Bedeutung, dass Z. in diesem speziellen Fall ihre Autorität nicht so sehr dadurch durchsetzte, dass sie betonte, eine Frau zu sein, sondern durch ihre „umfassende politische und militärische Führung“, womit sie nicht nur die formale Gleichstellung der Geschlechter durchsetzte (obwohl dies nicht unterschätzt werden sollte), sondern die „Frauenfrage“ als eine ganz und gar interne Frage der Emanzipation der subalternen sozialen Klassen darstellte. Sie forderte nicht das abstrakte Recht einer Frau, sondern das konkrete Recht einer weiblichen „Militärführerin“, die schwersten und heikelsten Funktionen der politischen Führung auszuüben. So konnte sie, wie Z. ausführlich beschreibt, einige der kleinen Führer und Bosse, die sich ihr widersetzten, vor ihren eigenen Gruppen unterminieren, so dass diese die Situation akzeptieren oder am Rande der Ereignisse bleiben mussten. Dieser Aspekt zeigt, dass die „Machtfrage“ niemals als ein für alle Mal gelöst angesehen werden kann: Sie erfordert ständige Aufmerksamkeit, da niemand vor der Logik der Herrschaft gefeit ist. Indem sie der Rolle, die sie übernommen hat und wahrscheinlich auch weiterhin innehaben wird, treu blieb, stellte sich Z. den Problemen, die sie zu bewältigen hatte, ausgehend von dem politisch-militärischen Rahmen, in dem sie agierte, wobei sie darauf achtete, die Komplexität der Situation, in der sie sich befand, nie aus den Augen zu verlieren.

[…] Gleichzeitig müssen die Dinge ein wenig erklärt werden, sonst bekommt man eine sehr verfälschte Vorstellung von dieser Realität. Wir mussten die Guerilla-Aktion an zwei Fronten organisieren, einer äußeren und einer inneren. Ich denke, das ist etwas, das immer passiert. In gewisser Weise war die interne Front fast wichtiger als die andere. Die Bullen müssen Informationen mit einer gewissen Präzision bekommen, um uns zu treffen, aber das ist nicht alles. In etlichen Fällen mussten sie auch den Weg für sich freimachen. Zum Beispiel könnte es für sie von grundlegender Bedeutung sein, Zugang zu Personen zu haben, die Desinformationen verbreiten, denn dadurch bewegt man sich genau in die von ihnen gewünschte Richtung. Gleichzeitig ist es für sie von entscheidender Bedeutung, Informationen darüber zu erhalten, wo sie zuschlagen wollen oder wie sie ein Ziel erreichen, es angreifen und hochgehen lassen wollen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Information über unseren internen Organisationsgrad. Da wir uns in einem praktisch unüberschaubaren Gebiet wie dem unseren bewegen können, ist es von entscheidender Bedeutung, unsere Zufluchtsorte und logistischen Strukturen zu entdecken und zu identifizieren. Diese Arbeit kann nur durch ein gutes Netz von Spionen und Informanten in unserem Gebiet geleistet werden. Dann mussten wir uns, wenn auch später, mit einigen Versuchen der Faschisten auseinandersetzen, eigene Guerillagruppen zur Aufstandsbekämpfung in der Banlieue aufzubauen. 

Soweit wir erkennen konnten, handelte es sich um eine inoffizielle Initiative. (Anmerkung des eng. Übersetzers: un’iniziativa più ufficiosa che ufficiale: ohne formale Absegnung, aber mit stillschweigender institutioneller Unterstützung) Sie begann spontan unter einigen rechtsextremen Elementen innerhalb der Polizei, von denen die offiziellen Kräfte vorgaben, nichts zu wissen. Wenn es funktionierte, war es gut; ansonsten hatte es nichts mit den Institutionen zu tun. Entweder waren die klassischen schmutzigen Operationen erfolgreich, oder niemand wusste etwas davon. Aber wie gesagt, das geschah erst in einem zweiten Schritt und war vielleicht auch das kleinere Problem. Das eigentliche Problem war, wie man das Netz von Spionen und Informanten neutralisieren konnte, was, wie man vielleicht leicht erraten kann, absolut keine, sagen wir, technische Angelegenheit war […]. Ja, ich denke, Sie haben die Frage richtig formuliert: Um mit einem solchen Netz fertig zu werden, musste eine Struktur geschaffen werden, die in der Lage war, eine Reihe von Schritten zu unternehmen. Aber vielleicht ist es besser, einige Beispiele zu nennen, als die Frage so abstrakt anzugehen.

Als Erstes mussten wir die unzähligen Informationsfragmente, die wir erhalten hatten, für alle zugänglich machen. Dies war die erste Etappe, die nicht nur ein technischer Prozess war. Um zu diesem Punkt zu gelangen, mussten wir mit der sektiererischen Logik brechen, die die Banden und einige Gruppen mitgebracht hatten. Bei vielen Menschen gab es die Tendenz, ständig die eigene Identität zu behaupten, getrennt von den anderen, mit denen man allenfalls Bündnisse eingehen konnte, aber nicht auf Kosten der eigenen Identität. Das war natürlich Blödsinn, denn auf diese Weise spielt man nur das Spiel des Feindes mit, der alles Interesse daran hat, dass man gespalten bleibt. Natürlich kann man sich nicht vereinen, indem man die verschiedenen Realitäten einfach zusammenfügt, als ob es nichts gäbe: Wir mussten ein kollektives Modell schaffen, in dem sich die verschiedenen Erfahrungen wiedererkennen konnten. Neben diesem Problem eines allgemeinen Gefäßes gab es noch ein weiteres, das nicht weniger wichtig war. Der Widerstand gegen unsere Vereinigung und die Bündelung unserer Kräfte beruhte in Wirklichkeit nicht nur auf vermeintlichen Unterschieden, sondern auch auf dem Widerstand der kleinen Führer und Chefs, die in gewisser Weise ihre Mikromacht schwinden sahen, und in vielen Fällen auch auf der offen geäußerten Abneigung, sich der Führung durch Frauen zu unterwerfen. Dieser Aspekt hat mich besonders getroffen, und ich muss ein paar Worte dazu sagen […].

Eine Frau in der Banlieue zu sein, ist nicht immer einfach. Und eine militante Frau zu sein, die sich am Kampf beteiligt, ist noch weniger einfach, obwohl das vielleicht in gewissem Maße immer der Fall ist. Es kann sein, dass in der Banlieue alles noch akzentuiert wird, weil die Schwierigkeit, eine Handlungsweise, die Ausbeutung und Unterdrückung aufheben kann, erst zu bestimmen und dann in die Praxis umzusetzen, die Reproduktion faschistischer und autoritärer Mechanismen begünstigt. Solange also der Kampf nicht die Kruste der Unterdrückung durchbricht und die Menschen sich im Kampf vereinen, neigt diese Situation im Allgemeinen dazu, die typischen Mechanismen der Macht in sich selbst zu reproduzieren. Männer gegen Frauen, Junge gegen Alte, Weiße gegen Schwarze, Franzosen gegen Einwanderer und so weiter. Aber das ist es, was wir sind, und nur durch den Kampf können wir diesen Zustand überwinden. Nur wenn wir zeigen, dass es möglich ist, Widerstand zu leisten und zu gewinnen, können wir daran denken, unsere gewohnten Lebensbedingungen an der Wurzel zu packen. Im Kampf, im Kampf gegen die Herrschaft, müssen wir, während wir alles zerstören, was uns unterdrückt, auch im positiven Sinne neue soziale, politische und kulturelle Modelle konstruieren, die eine neue Art zu sein und zu existieren vorgeben. 

Die Revolution ist ein ständiger Prozess der Zerstörung und des Aufbaus, und das gilt umso mehr in einer Situation, in der der Kampf lang, schwierig und schmerzhaft zu sein verspricht. […] Es macht keinen Sinn, es bringt nichts, einen Kampf für die Gleichheit in einem abstrakten Sinn zu führen, auch wenn das Prinzip ständig wiederholt werden muss: Es muss nicht nur Propaganda sein, sondern etwas, das in der Praxis durchgesetzt wird. Es gibt diejenigen, die sich die Nase zuhalten, die nicht von einer Frau oder, in unserer Situation, von mehreren Frauen geführt werden wollen. In diesen Fällen kann man nicht abwarten, sondern muss die Marionette, die vor einem steht, vom Sockel stoßen, ohne halbe Sachen. Das kann man nur, indem man vor aller Augen demonstriert, dass man in der Lage ist, Dinge zu tun, von denen das Schicksal vieler Menschen abhängt, während der Gegner nur reden kann. Politische Führung wird nur durch die wirkliche Autorität, die Effektivität und Effizienz, die jemand demonstrieren kann, durchgesetzt. Ich, wir, haben jeden dummen Sexismus zerschlagen, sobald er auftauchte, indem wir uns als politische und militärische Führer durchgesetzt haben. So wurden viele von denen, die es nicht nur als unvernünftig, sondern sogar als unehrenhaft ansahen, von einer Gruppe von Frauen geführt zu werden, schließlich zu den diszipliniertesten. 

[…] All dies sollte nicht als ein besonderer Aspekt betrachtet werden, der vom Rest des Kontextes, in dem wir uns befanden, getrennt ist. Der Prozess des Aufbaus einer revolutionären Struktur, wenn es denn eine solche sein soll, kommt nicht umhin, das in Frage zu stellen, was in ihr vor sich geht, und aufzuzeigen, wie die Logik der Herrschaft und der Macht selbst unter denen, die bereit sind, gegen die Beherrscher zu kämpfen, Fuß gefasst hat. Ausgehend von einem scheinbar technischen Problem mussten wir uns also mit sehr viel komplexeren Fragen auseinandersetzen, die viele Menschen dazu zwangen, sich ihren Widersprüchen zu stellen und Entscheidungen zu treffen. Dieser Prozess war nützlich, weil er es uns ermöglichte, innerhalb der Bewegung Klarheit zu schaffen und diese Menschen zu einem Sprung nach vorn zu zwingen. Aber um auf unser Problem zurückzukommen: Viele der Spione, die man in Wirklichkeit nicht so nennen kann, weil jeder weiß, dass sie auf der Seite der Bullen stehen, sind die Rassisten in der Banlieue. Aber die sind das geringere Problem. Wir haben ihre Autos verbrannt und sind in einige ihrer Häuser eingedrungen, andere haben wir auf der Straße erwischt, aber die konnten nicht viel ausrichten.

Das eigentliche Problem waren die Unbekannten, die über jeden Verdacht erhaben waren. Diese waren mitten unter uns, und sie trugen sicherlich nicht die französische Kokarde. Wie Sie wissen, basiert ein Teil der Wirtschaft in den Banlieues auf dem Kleinhandel, und in diesem Bereich rekrutiert die BAC die meisten derjenigen, die sie unter uns einschleust. Denn diese Leute sind am anfälligsten für Erpressungen. Das bedeutete, dass wir eine Reihe von Ermittlungen unter uns durchführen mussten, die nie einfach waren, unter anderem, weil es in solchen Situationen einige Leute gibt, die versuchen, jemanden zu diskreditieren, indem sie ihn als Spion bezeichnen, um persönliche Angelegenheiten, alte Streitigkeiten oder noch dümmere Dinge zu regeln. Diese Arbeit war nie einfach, und in einigen Fällen führte sie dazu, dass wir Fehler machten und Personen beschuldigten, die sich dann als völlig unschuldig herausstellten. Aber das lässt erahnen, dass in dem Moment, in dem man in den wirklichen Kampf, in die Praxis eintritt, wenn man sich nicht mehr mit dem Geschwätz begnügt, das die Pariser Linke in ihren Salons liebt, die Situationen, mit denen man zu tun hat, alles andere als einfach sind: Man kann nur lernen, wie man einen Krieg führt, wenn man ihn führt. […].  Schließlich hatten wir es mit dem Versuch zu tun, die Bewegung von innen heraus durch paramilitärische Gruppen anzugreifen. Diese Operation war nicht sehr erfolgreich, weil die Versuche, die unternommen wurden, zerschlagen wurden, bevor sie beginnen konnten. Wie jeder weiß, ist die Araberfeindlichkeit in Frankreich ein weit verbreitetes Phänomen, das von rechtsgerichteten Gruppen mit Verbindungen zu Le Pen gefördert wird, die in den Banlieues eine gewisse Stärke haben und auf die Unterstützung und den Schutz der BAC zählen können. Die Verbindung zwischen der BAC und den Nazigruppen ist sehr eng, und in gewisser Weise sind sie dasselbe. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die eine legalisiert ist und die andere nicht.

Diese paramilitärischen Gruppen wurden auf zwei Arten eingesetzt. Die erste war die legale, die dank des Fernsehens und der Zeitungen von allen gesehen wurde. Es handelte sich um die so genannten Bürger, die dank präziser Absprachen zwischen der Polizei und den Medien eilig interviewt und gefilmt wurden. Dort wurden die Anhänger von Le Pen als aufrechte Bürger dargestellt, was den Eindruck erweckte, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung der Banlieue repräsentierten, die die Wiederherstellung der Legalität, der Ordnung und die Unterdrückung der Revolte forderten. Wie wir in einem ausführlichen Gespräch mit einem der Organisatoren dieser Inszenierung erfahren haben, war der Ton der Clips und Interviews bewusst gemäßigt und auf das ausgerichtet, was man gemeinhin als den gesunden Menschenverstand des Durchschnittsbürgers betrachtet. Alle Reden sprachen sich gegen Gewalt aus und betonten die Distanzierung der Bevölkerung von den Brandstiftern, mit der klaren Absicht, den Guerillakrieg als das Werk winziger Minderheiten ohne jegliche Legitimation in den Gebieten erscheinen zu lassen. Sobald diese Version weit verbreitet war, war es ein Leichtes, mit schweren Repressionen fortzufahren. Die Tatsache, dass die Medien einen regelrechten Propagandakrieg gegen uns geführt haben, gibt einen Eindruck von der großen Einigkeit, die die verschiedenen Mächte in ihrem Widerstand gegen uns erreicht haben. Die Zeitungen und das Fernsehen haben nichts anderes getan, als Interviews mit Einwohnern der Banlieues zu führen, die sich über die Vorgänge ärgern. Dies sollte der Beginn einer weitreichenderen Operation sein, bei der in einer zweiten Phase als Bürger getarnte paramilitärische Gruppen zur Wiederherstellung der Ordnung mobilisiert werden sollten.

Zuerst wurde die Propaganda verbreitet, die den Boden für die Zustimmung hätte bereiten sollen, dann wären diese Gruppen in Aktion getreten. Dieses Vorhaben ist aus mindestens zwei Gründen gescheitert. Der erste Grund war das rechtzeitige Eingreifen militanter Kräfte, die durch eine Reihe von gezielten Aktionen alle oder zumindest viele der Stützpunkte zerstörten, die die Paramilitärs in den Banlieues vorbereiteten, was unter anderem eine beträchtliche Geldsumme einbrachte. Viele Dinge, viele Mittel, die für die Konterrevolution verwendet werden sollten, gingen in die Logistik des Guerilla-Aufstandes über. Die BAC waren wahrscheinlich stinksauer! Der zweite, in jeder Hinsicht deutlich wichtigere Aspekt war die absolut eindeutige Abneigung der meisten Einwohner gegen diese Initiativen. Wenn die Guerillagruppen und -zellen ihre logistischen und militärischen Strukturen hart getroffen haben, kann man ohne Triumphalismus sagen, dass die Massen sie politisch lähmten, denn als sie versuchten, irgendeine Art von öffentlicher Initiative zu starten, stellte sich heraus, dass sie unter den drohenden Augen so vieler so wenige waren, dass sie es aufgeben mussten. Außerdem, und das ist ganz wichtig, wurden einige von denen, die sich interviewen ließen und die Revolte in Interviews anprangerten, spontan von Gruppen aus dem Volk bestraft, die sich genau deshalb organisiert hatten, um diese so genannten mündigen Bürger daran zu hindern, ihr Erbrochenes über den Kampf auszuspucken. (Z.)

‘Schwarz’ und ‘weiß’

Das Bild, das sich aus den Interviews ergibt, scheint weit von der Rhetorik entfernt zu sein, die von Politikern, Medien, Intellektuellen und Literaten verschiedenster Couleur und politischer und kultureller Couleur verbreitet wird und die überraschenderweise auch von einem Großteil der Linken zu hören war. Das folgende Interview ist ein gutes Beispiel für Letzteres. Es handelt sich um F.C., eine junge Pariser Wissenschaftlerin, die einem Kartell radikaler Intellektueller angehört, das im „weißen“ Paris einen beneidenswerten Ruf genießt und in den Salons der französischen und internationalen Intelligenz besonders gefragt ist. Ihre Aussagen bedürfen keines großen Kommentars.

Um zu verstehen, was gerade geschehen ist, muss man zunächst eine ganze Reihe von Hinterlassenschaften des 20. Jahrhunderts loszuwerden. Realistisch betrachtet bedeutet dies, nicht nach Klassenkonflikten oder – noch absurder – nach neokolonialen Konflikten zu suchen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es diese nicht mehr gibt und die Suche nach ihnen nur eine nostalgische Operation ist, bei der die Welt mit Kategorien aus dem vergangenen Jahrhundert betrachtet und gedacht wird. Die Idee einer Klassengesellschaft führt zurück zu einer Welt, in der die manuelle Arbeit im Mittelpunkt stand, aber in unseren Gesellschaften ist diese Arbeit, wie jeder sehen kann, verschwunden oder auf dem Weg, auszusterben, und es kann hinzugefügt werden, dass die Arbeit selbst nur noch ein Rest ist. Unsere Gesellschaften beruhen auf immaterieller, genauer gesagt kognitiver Arbeit, die sich nur schwerlich auf eine Einteilung der Gesellschaft in Klassen zurückführen lässt, oder zumindest auf die Vorstellung von Klassen, wie sie im 20. Jahrhundert vorherrschte.”[48] Das bedeutet nicht, dass unsere Gesellschaften keine Konflikte und Widersprüche in sich tragen, sondern dass diese nicht mit alten und völlig überholten Begriffs- und Organisationsapparaten und Kampfmodellen angegangen werden können.

Um es ganz klar zu sagen: Es hat keinen Sinn, von einem Bruch mit der gegenwärtigen Welt zu sprechen, zu denken oder vorzuschlagen, wenn eine Klasse auf der historischen Bühne erscheint, die in der Lage ist, die Welt von ihrem eigenen Standpunkt aus zu organisieren, denn diese besondere Klasse, die nach der Logik des 20. Jahrhunderts die Arbeiterklasse und die proletarische Klasse war, ist heute historisch nicht existent oder nur ein Rest. In Wirklichkeit müssen wir, wenn wir den Begriff „Klasse“ heute weiterhin unzulässig verwenden wollen, dies im Sinne einer universellen Klasse tun. Und diese Klasse existiert und handelt. Es sind die Massen, die mit ihrem Wissen und ihren Wünschen die Menschheit von den Beschränkungen befreien können, die das Imperium ihr ständig aufzuerlegen pflegt [sic!]. Die Revolution, wenn wir sie so nennen wollen, ist möglich, aber nicht durch die äußere Intervention einer nicht existierenden Phantomklasse, sondern durch einen Prozess der Befreiung und Aushöhlung von innen durch Subjekte, die durch Vernetzung, Vergesellschaftung und Zusammenarbeit von Wissen kontinuierlich Teile der Macht des Kapitals aushöhlen und es zwingen, sich ständig zu modifizieren und zu transformieren, um nicht zu implodieren. Doch diese Transformation, die sich vor aller Augen abspielt, hatte und hat eine radikale Umgestaltung der politischen Praktiken zur Folge.  Erstens stellt es die Beziehung zwischen Kämpfen und Kommunikation in den Mittelpunkt und damit den primär symbolischen Aspekt, den politisches Handeln annehmen muss. Zweitens bedeutet dies, jede Logik, die auf direkter Konfrontation beruht, und alles, was daraus folgt, hinter sich zu lassen. Wenn es kein Außen gibt, weil alles innen ist, dann muss die Aktion zur Transformation geduldig von innen heraus arbeiten, um neue Normen der partizipativen Demokratie von unten zu entwickeln, die auf neuen Bürgerrechten basieren. 

[…] In den Peripherien wird der soziale Exzess eingegrenzt und sich selbst überlassen, und es ist nicht schwer zu verstehen, wie es an diesen Nicht-Orten, den wahren Konzentrationen der Verzweiflung, zu solchen sinnlosen Explosionen kommen kann. Was in den Peripherien ausgebrütet wird, ist soziale Nichtigkeit und kulturelle Nichtigkeit. Der Rückgriff auf Gewalt ist in gewisser Weise ein Beweis dafür. Alle radikalen politischen Bewegungen distanzieren sich seit geraumer Zeit von den Modellen und Praktiken des 20. Jahrhunderts und projizieren sich mit einer neuen Art und Weise, politisches Handeln zu konzipieren, in die Zukunft. […] Weil man aber sonst die Opfer beschuldigen würde, anstatt die Peiniger ins Visier zu nehmen, [muss man sagen, dass] das, was passiert ist, nichts anderes ist als die perverse Wirkung der neoliberalen Politik. Diese Bevölkerungsgruppen werden allein gelassen, ohne dass ihnen jemand hilft. Die neoliberalen Regierungen haben die Sozialarbeit komplett abgeschafft, und das hat die Peripherien zur Implosion verurteilt. […] Nein, den Ereignissen irgendeine politische Bedeutung zuzuschreiben, ist völlig sinnlos, und so zu denken, ist nur eine Art, die gleichen alten Ideen in anderer Form wieder aufzugreifen. Dies sind keine neuen Konfliktherde, sondern Orte des Exzesses.  In gewisser Weise sind sie Teil der humanitären Notlage, mit der sich der Westen heute nicht befassen zu wollen scheint. Von den Peripherien der Großstädte hört man kein Echo der Revolution, sondern nur die verzweifelten Stimmen der Marginalität und des sozialen, oder vielleicht sollte man besser sagen, menschlichen Exzesses. […] Das Geschehen schien mir von großem Interesse zu sein, weil es auf dramatische Weise und in seiner Gesamtheit die Frage der Peripherie aufgeworfen hat, eine Frage, die offensichtlich nicht nur französisch ist, sondern die, wie jede Realität, lokale Aspekte aufweist, die nicht verallgemeinert werden können. […] Auf jeden Fall ist es nicht möglich, mit der Polizei und dem massiven und wahllosen Einsatz der Polizei auf diese Situation einzugehen. Es ist nicht mehr absehbar, ob sich die Verwüstungen, Plünderungen und Brände auf das französische Staatsgebiet beschränken werden, mit sporadischen ähnlichen Episoden in anderen Ländern, oder ob es schlimmere Folgen geben wird. Es lohnt sich jedoch, die Aufmerksamkeit auf die einfache Tatsache zu lenken, dass es eine gewisse Ausbreitung in Belgien, Deutschland und Griechenland gab. Das bedeutet, dass sich ein Notstand mit Übermaß auf europäischer Ebene abzeichnet.

Auch wenn die Verantwortung der nationalen Regierungen nicht vergessen werden darf, stellt dies das Sozialmodell, das in Europa Gestalt angenommen hat, in Frage. Was in Frankreich geschehen ist, ist die unmittelbare Folge des wirtschaftlichen Neoliberalismus und der „Nulltoleranz“ in der Sozialpolitik, aber was in Frankreich seinen Höhepunkt erreicht hat, ist nicht der Auftakt zu einer Revolution, sondern vielmehr der konkrete Ausdruck der verzweifelten Lage, in der sich Ausgrenzung und soziale Marginalität befinden. Die Brände in den Banlieues sollten als das verstanden werden, was sie sind, nämlich ein Hilferuf der Ausgegrenzten und Marginalisierten, aber der Kern der politischen Frage liegt sicherlich nicht darin. Das Herz, wenn wir diese extrem veraltete Sprache verwenden wollen, ist der Ort, an dem der General Intellect in Aktion ist, das ist der Ort, an dem sich das Spiel abspielt. Denn dort ist die einzige wirklich revolutionäre Kraft in Aktion, die in der Lage ist, Veränderungen zu bewirken; dort kann die Vielzahl von Wissen, Verstehen und Begehren die imperiale Herrschaft behindern und kontinuierlich Veränderungen und Befreiung herbeiführen. (F.C.)

Die Rhetorik, die dem Diskurs des jungen Wissenschaftlers zugrunde liegt, ist nichts anderes als eine Art Vulgarisierung von Theorien, die in eleganterem Gewand in vielen intellektuellen Kreisen einen beträchtlichen Einfluss genießen. Das Interesse an diesen Theorien könnte ruhig ignoriert oder der Freimaurerei nutzloser Gelehrsamkeit zugeschrieben werden, wenn sie nicht ein – wenn auch etwas spezieller – Spiegel des vorherrschenden Gesellschaftsmodells wären. Diese Spaltung scheint keinen Raum für eine mögliche Vermittlung zu lassen, wie der Bericht von G.Z., einem jungen black/blanc, der eine gewisse Zeit lang Teil von Bewegungen und Gruppen der „respektablen weißen Linken“ war, deutlich macht.

Im Laufe der 1990er Jahre erfuhr die politische und soziale Arbeit rund um die Banlieue eine bemerkenswerte Fragmentierung. Dies war in erster Linie die Folge allgemeiner Umwälzungen, die wichtige Auswirkungen auf unsere Gebiete hatten, die erst später verstanden wurden. […] Zu diesem Zeitpunkt entstand eine Debatte über die Notwendigkeit einer engeren Beziehung zu den politischen Kräften innerhalb des [eher sozialen als geografischen] Bereichs, der in unseren Gebieten aktiv ist. Vereinfacht gesagt, stellte sich das Problem, ob wir in der Banlieue bleiben und autonom einen Diskurs führen sollten, der sich ganz auf die Besonderheiten unserer Gebiete konzentrierte, oder ob wir die Banlieue in einen breiteren politischen Diskurs einbringen sollten. Viele von uns entschieden sich für die zweite Option. Obwohl wir einen Großteil der Kritik an der institutionellen Politik weiterhin für gültig hielten, veranlasste uns der Mangel an Möglichkeiten, auf den unsere autonome Arbeit nun offensichtlich stieß, dazu, unser Verhältnis zu mehreren aufkommenden Phänomenen neu zu überdenken. Viele von uns beschlossen daher, einen Stützpunkt außerhalb der Banlieue zu gründen. Für mich war diese Erfahrung besonders enttäuschend, aber sie hat mir auch geholfen, viele Dinge über die heutige Welt zu verstehen, die Art der Widersprüche, die sich aufgetan haben, und ihre Natur. Denn das ist etwas ganz anderes als in der Vergangenheit.

Die alte Opposition zwischen denen, die an den Projekten der institutionellen Linken festhielten, und denen, die einen anderen Weg einschlugen, war nicht mehr als eine Opposition zwischen denen, die eine so genannte realistische und reformistische Linie verfolgten, und denen, die an einem kritischeren und radikaleren Projekt arbeiteten. Die endlosen Diskussionen – die ich für Sie ein wenig banalisiere, damit Sie sie verstehen können – drehten sich um Mittel, Methoden, Zeitplan, aber, auch wenn dies wieder eine starke Vereinfachung ist, schien dies alles eine Diskussion zwischen Leuten zu sein, die in die gleiche Richtung gehen wollten, die die gleichen Ziele hatten, aber uneinig darüber waren, wie sie diese verfolgen sollten. Nun, heute gibt es diesen gemeinsamen Horizont nicht einmal mehr auf dem Papier. Wenn der Unterschied zwischen uns und ihnen früher ein politischer war, kann man heute meiner Meinung nach von einem Unterschied auf einer ganz anderen Grundlage sprechen. Das Problem ist nicht die Frage, wie wir uns einmischen oder wie wir in der Banlieue leben, sondern ob wir Banlieuesards sind oder nicht.

Ich erkläre das anhand eines Beispiels, das dies sofort deutlich macht. In der Vergangenheit bedeutete das Leben in der Banlieue eine Art Mehrwert. In der reformistischen politischen Welt konnte man als Banlieuesard seine Karriere vorantreiben. Natürlich musste man sich in einem bestimmten Rahmen bewegen, aber wenn man erst einmal im Spiel war, war der Banlieuesard-Status fast schon ein Vorteil. Für einen bestimmten Teil der Linken gab es so etwas wie einen Mythos des Bewohners der Peripherie. Nicht wenige nutzten ihre Herkunft, um Zugang zu einer, wenn auch kleinen, Karriere zu bekommen. Sie betonten fast paroxysmusartig einige Züge des Banlieuesard. Der Banlieuesard war ein Kultobjekt, begehrt und umschmeichelt. […] Ja, es ist wahr, was Sie sagen. In gewisser Weise ist und war dies eine Form des Rassismus. Der Banlieuesard mit seinem etwas ruppigen, nicht respektablen Verhalten wurde von den Intellektuellen und den linken Mittelschichten als der edle Wilde, der reine Nullpunkt der Klasse, vorgestellt. Der Banlieuesard befriedigte ihr Bedürfnis, dem Volk zu begegnen, und der Vertreter des Volkes hatte viel mehr Chancen, sich zu behaupten, indem er zumindest teilweise „Volk“ blieb und sich so verhielt, wie es sich der fortschrittliche Bourgeois von einem Mann oder einer Frau des Volkes vorstellte. Man könnte mit gutem Grund einwenden, dass es jemandem an persönlicher Würde mangelt, der die Maske des „Volkes“, die sich die fortschrittliche Bourgeoisie vorstellt, bis an die Grenze der Possenreißerei annimmt, aber das ist ein anderes Thema.

Natürlich war ich nie bereit, diese Rolle zu spielen, und ich stand diesem Verhalten immer sehr kritisch gegenüber, aber ich habe Ihnen auch nicht von diesen Dingen erzählt, um dieses Verhalten zu befürworten. Ich habe es angesprochen, um zu zeigen, dass es für eine bestimmte Zeit und bei allen Widersprüchen, die es gab, nicht verwerflich war, ein Bewohner der Banlieue zu sein. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass ich dieses Modell nicht verteidige, ich sage nur, dass die Banlieue nicht unsichtbar war; im Gegenteil, sie litt unter einem Übermaß an sozialer Sichtbarkeit. Für alle [in der bürgerlichen Linken] war es die sprichwörtliche Blume im Knopfloch, einen Banlieuesard zu präsentieren, der urbanisiert war, aber nicht zu sehr – und das war, wie Sie sehen werden, der springende Punkt -. Und nicht nur das. Der Banlieuesard, der die ganze Banlieue verkörpern konnte, wurde zu einer Art Kultobjekt. Ein Banlieuesard als Individuum machte keinen Sinn und konnte als solcher auf keinerlei Erfolg oder Bestätigung hoffen; er oder sie musste immer der Ausdruck, der Repräsentant der Banlieue sein. Das bedeutete eine bestimmte Art und Weise, jederzeit zu sein und zu handeln, öffentlich, aber auch privat. In dieser Hinsicht drehte sich alles um die Repräsentation, um das, was jemand verkörperte. Für die Gesellschaft gab es also in gewisser Weise eine Anerkennung eines ganzen sozialen Körpers oder Blocks. Das Volk hatte in diesem Sinne das volle Recht zu existieren und aufzutreten. Diejenigen, die in irgendeiner Form Karriere machten, taten dies, indem sie damit spielten. All dies ist nützlich, um Ihnen zu zeigen, dass das, was heute geschieht, das genaue Gegenteil von dem ist, was ich konkret am eigenen Leib erfahren habe.

[…] Wenn einige Leute, wie ich, irgendwann beschlossen, diese Art von Experiment abzubrechen und in die Banlieue zurückzukehren, blieben andere, um in bestimmten Umgebungen zu arbeiten. Diese Leute haben, wenn auch in kleinem Rahmen, ein bisschen Karriere gemacht. Aber sie taten dies, indem sie Verhaltensweisen und Einstellungen annahmen, die genau das Gegenteil von denen waren, die ihnen vorausgingen. Um es einfach auszudrücken: Wenn es früher einen positiven Mythos des Banlieuesard als Inkarnation des Volkes gab, so hat sich dieser Mythos heute in reine Negativität verkehrt: Der Banlieuesard ist nicht mehr die Personifizierung des Volkes, heute ist der Mythos der Schläger, der Verfluchte, der Unsichtbare, der Vormoderne, der Vorsoziale, der Marginalisierte, der Vorglobale oder was weiß ich noch. Auf jeden Fall ist es etwas, das nicht dargestellt, sondern nur unsichtbar gemacht werden kann. Um an diesem Punkt akzeptiert zu werden, muss man bis zur Übertreibung zeigen, dass man jede Verbindung zu seiner Vergangenheit, zu seinen Ursprüngen völlig hinter sich gelassen hat. Man muss als Banlieuesard sterben und als Individuum wiedergeboren werden. Dies ist das Spiel, dem sich einige verschrieben haben. Jetzt ist ihr ganzes Leben eine ständige Annullierung dessen, was sie gewesen sind. Sie schämen sich ihrer Herkunft, sie setzen kaum einen Fuß in die Banlieue, und wenn sie über uns sprechen, sagen sie: ‘diese Leute dort’. Ihr Verhalten ist typisch für alle Renegaten [Anm. des eng. Übersetzers: rinnegati, diejenigen, die abschwören oder sich verleugnen]. Vielleicht mehr als alle anderen halten sie uns für einen reinen Auswuchs, für eine gesellschaftliche Nullnummer.

All dies sagt viel darüber aus, wie sich die Zeiten geändert haben. Die Peripherie ist nicht mehr eine Welt, eine Realität, der das Zentrum Rechnung tragen muss, sondern das Unbekannte. Was Sarkozy gesagt hat – dass wir einfach eine Angelegenheit für den Kärcher [die industrielle Reinigungsmaschine, auf die sich Sarkozys berühmt-berüchtigter Ausspruch bezog] sind – nur drücken, ein bisschen drücken – das denken sie alle, auch wenn sie nicht alle zu seinen praktischen Schlussfolgerungen kommen. Aber was ist die Banlieue, wenn nicht der Ort, an dem sich die am schlechtesten bezahlte und am wenigsten attraktive Arbeit konzentriert? Was ist die Banlieue, wenn nicht der Ort, an dem die Ausbeutung am intensivsten ist? Millionen von Menschen leben in den Banlieues, und das Märchen besagt, dass die Banlieues unproduktiv, parasitär, völlig abhängig und unfähig sind, auf eigenen Füßen zu stehen. Das bedeutet, dass es in Frankreich Millionen von Menschen gibt, die keinen Reichtum und keinen Profit erwirtschaften: Wo sind dann diejenigen, die diese Dinge produzieren? In welchen Stadtvierteln leben sie? Wo sind sie? Es stimmt, die Statistiken zeigen, dass die Arbeitslosigkeit in den Banlieues konzentriert ist, aber das ist nur eine Teilwahrheit. In Wirklichkeit ist die Banlieue der Ort mit der größten Konzentration an unregulierter Arbeit, so dass das eigentliche Paradoxon darin besteht, dass niemand so hart arbeitet wie die offiziell Arbeitslosen. 

Dies gilt vor allem für die weibliche Bevölkerung, von der oft die gesamte Familienwirtschaft getragen wird. Aber genau das ist der Punkt. Die Banlieue ist der Ort, an dem sich die Art von Arbeit konzentriert, die in der heutigen Gesellschaft keine Legitimität und keine soziale Anerkennung mehr genießt. Der Mythos, unter dem vor nicht allzu langer Zeit die Menschen der Banlieue weithin gesehen wurden, führte zurück zur Anerkennung der Arbeiterklasse und der proletarischen Arbeit in der Gesellschaft. Heute wird sie nicht anerkannt, sondern ist Gegenstand von Vorurteilen und Stigmatisierung. Wenn man nach Paris kommt und sagt, man sei Umzugsarbeiter, Maurer, Schweißer, Barkeeper, Kellner, Textilarbeiter oder was auch immer, wird man sofort als gescheitert, verflucht, marginalisiert und so weiter katalogisiert. Es ist, als ob ein ganzer Berufszweig, obwohl er nach wie vor das Schicksal von Millionen von Menschen ist, jede Würde verloren hätte. Die Isolation in der Banlieue ist in Wirklichkeit das genaue Abbild der Bedingungen, in die die nicht respektable Arbeit geraten ist. (G.Z.)

Epilog: ‘Die Leute’ und ‘das Individuum’

Die Standpunkte der verschiedenen sozialen Akteure, die hier zu Wort kommen, ergeben eine Version der französischen „Arbeiterviertel“, die sich objektiv von der üblicherweise gehörten unterscheidet. Es entsteht eine ganze soziale Welt, die aus Millionen von unsichtbaren Individuen besteht, von denen die legitime Welt der „Weißen“ wenig oder gar nichts weiß, auch wenn ständig von ihnen gesprochen wird. Ohne große Schwierigkeiten haben wir etwas gefunden, das sich von den verschiedenen [Klischees] des Fundamentalismus, des Sektierertums der Community, der ethnischen Identifikation, der kriminellen Hegemonie oder der metropolitanen Nichtigkeit unterscheidet. Die Banlieuesards kämpften nicht für jemanden oder etwas, sondern gegen klar definierte Organisationen, Strukturen und Institutionen: die Agenturen für prekäre Arbeit, die staatlichen Gemeinschaftszentren und die Polizei. Wenn es Berührungspunkte mit der kriminellen Unterwelt gab, dann nur, um sie abzuschütteln. Die Organisation der Arbeit, das Modell der Sozialverwaltung und die Armee waren die Ziele der Revolte. Kaum ein Echo davon war draußen zu hören, und noch weniger wurde in den Welten der „weißen Linken“ aufgegriffen.

Der Diskurs scheint erst dann interessant zu werden, wenn die Rhetorik der Politiker, der Medien und der verschiedenen Intellektuellen beiseite geräumt ist. Das letzte Interview spricht genau die „materiellen“ Aspekte des Lebens der Banlieuesards an, die weitgehend ignoriert wurden. Die Position, die der Einzelne in der gegenwärtigen sozialen Situation einnimmt, lässt sich im Wesentlichen dadurch veranschaulichen, dass man ihn sich zwischen zwei Linien vorstellt, einer horizontalen und einer vertikalen. Auf der horizontalen Achse befinden sich diejenigen Bevölkerungsgruppen, deren Zukunft zwischen Gelegenheitsjobs mit niedrigem Status, prekären und flexiblen Arbeitsplätzen oder dem weiteren Abtauchen in die informelle und/oder illegale Wirtschaft schwankt. Diese Bewegungen werden durch einfache Zufälligkeiten bestimmt, seien sie „strukturell“ (steigende oder sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften mit niedrigem Status) oder „individuell“ (Gelegenheiten, die sich gelegentlich in einem der vielen Sektoren der informellen Wirtschaft bieten). Im besten Fall können diese Menschen eine „würdige“ Existenz im Dienste eines privaten oder öffentlichen, einzelnen oder kollektiven „weißen“ Chefs anstreben, und wenn sie ernsthafte und treue Diener sind, werden sie wahrscheinlich nicht in allzu viele Missgeschicke verwickelt und können, wie im viktorianischen London, immer auf das Wohlwollen des Herrn zählen, der ihnen seine abgelegten, aber noch gut erhaltenen Kleider nicht verweigern wird.

Für die Menschen auf der vertikalen Achse, der Welt der „Weißen“, sind die Lebensumstände und Möglichkeiten anders. Es handelt sich nicht um eine homogene Gruppe: In ihr sind die verschiedenen Einkommens-, Prestige- und Machtpositionen Gegenstand einer zwanghaften sozialen Schichtung, und der Kampf um den individuellen Erfolg ist erbittert, skrupellos und unaufhörlich. Das Wichtigste ist jedoch, was sie gemeinsam haben: Die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, sind, wenn nicht unendlich, so doch zahlreich und alle Teil eines „Lebensstils“, der umfassend und respektabel ist. Gewiss, Flexibilität, Prekarität und „fehlende Gewissheiten“ sind in gewisser Weise der Hintergrund des Lebens der „Weißen“, aber während für die „Schwarzen“ die Gesellschaft der Ungewissheit nur ein Alptraum ist, scheint sie für die „Weißen“ eher ein Abenteuer zu sein, bei dem das Gleichgewicht zwischen Risiken und Vorteilen ganz auf der Seite der Letzteren zu liegen scheint. Für die „Weißen“ wird im schlimmsten Fall alles durch virtuelle und symbolische Todessprünge gelöst, die meist mit starken Sicherheitsnetzen versehen sind. Für die „Schwarzen“ sind die Sprünge ebenso tödlich, aber drastisch real, materiell und ohne jedes Sicherheitsnetz. All dies wird sehr deutlich, wenn man sieht, was im Frühjahr 2006 im Kampf gegen den CPE geschah: M.T., eine ‘weiße’ Straßensozialarbeiterin, die durch ihre Arbeit viel über die Vorgänge in der Banlieue weiß, beschreibt dies sehr gut.

Nur in wenigen Momenten herrschte Einigkeit, und das war vielleicht auf das Verhalten der Regierung gegenüber den Studenten zurückzuführen. Um die Wahrheit zu sagen, war diese Einheit sehr prekär: manchmal hielt sie, manchmal nicht. Andererseits distanzierten sich die reichen oder wohlhabenden Studenten von Anfang an von den anderen. So wurden zum Beispiel die Berufsschüler von Anfang an von den Treffen ausgeschlossen. Auch als die Berufsschüler und einige der Banlieue-Jugendlichen begannen, sich zu beteiligen, war ihr Verständnis des Kampfes gegen den CPE ein ganz anderes als das der anderen Gymnasiasten und Universitätsstudenten. Anders in der Form, anders im Inhalt. Die Art und Weise, wie die Berufsschüler den Konflikt mit den Sicherheitskräften interpretierten, war sehr bezeichnend. Die Konfrontation war ansonsten von Anfang an auf einer symbolischen Ebene, rituell und virtuell, konzipiert. Die Universitäts- und Gymnasialschüler haben sich das Problem der militärischen Konfrontation mit der Polizei nie gestellt, das hingegen für die Berufsschüler und ihre älteren Geschwister bis zu einem gewissen Grad zentral war, und zwar aus dem einfachen Grund, dass ihr Leben in der Banlieue ständig von dieser Art von Konflikten geprägt ist, die – und das ist der Punkt – nichts Symbolisches an sich haben. Das ist kein Randaspekt, sondern definiert sehr realistisch zwei Lebensumstände, die in völlig entgegengesetzte Richtungen weisen.

[…] Für die Berufsschüler und ihre älteren Geschwister bedeuteten selbst die Ziele des Kampfes wenig, denn für sie ist das, was den Mittelschülern heute droht, nicht nur eine etablierte Realität, sondern die Bedingungen sind seit einiger Zeit noch härter. Paradoxerweise wären für diesen Teil der Bevölkerung die Nicht-Garantien des CPE sogar ein wünschenswerter sozialer Gewinn. Das sagt alles. Als diese Leute ankamen, brachten sie also eine Sichtweise mit, die sich nur schwer mit der der Universitätsstudenten vereinbaren ließ.

[…] Wie jeder weiß, gab es nicht nur wenig Sympathie zwischen den beiden Gruppen, sondern es kam zu offenen Zusammenstößen. Die Banlieuesards griffen die Universitätsstudenten an, verprügelten sie und raubten sie aus. Letztendlich gab es für sie keinen großen Unterschied zwischen den Kindern der Mittelschicht und der Polizei. Wenn es sogar eine Art Respekt für die flics gibt, weil die ständige physische Konfrontation eine gegenseitige Anerkennung erzeugt, ist der Hass auf die Kinder der Mittelschicht noch größer. Die Vorstellung der Banlieuesards, die im Grunde gar nicht so falsch ist, besteht darin, dass die Polizei nur diejenigen sind, die materiell eine Praxis ausführen, die die Rechte und Privilegien der wohlhabenden Mittelschicht aufrechterhalten und erweitern soll. Für sie sind die Studenten und Schüler noch schlimmer als die flics, weil sie sich nicht einmal die Hände schmutzig machen müssen, um ihre Privilegien zu erhalten. Da ist es nur natürlich, dass man mit denen, die die Drecksarbeit machen, mehr Mitleid hat. Wenigstens ist das, was sie tun, nicht heuchlerisch. […] Ja, obwohl das nicht neu ist, sondern schon lange zurückliegt, denke ich, dass es schwierig ist, von einer Studentenbewegung im klassischen Sinne zu sprechen. 68 ist schon lange tot und begraben und es gibt keine gemeinsame Verbindung mehr innerhalb der Studentenwelt.

Es gibt keine Kultur, keine politische Philosophie und keine Ideologie, die Studenten zusammenführt: In der Praxis reproduzieren sie lediglich die sozialen Differenzierungen, in die sie eingebettet sind. Wenn zu einer bestimmten Zeit das Studentendasein bedeutete, dass der Einzelne sich in einer schwebenden sozialen Zone befand, in der die Tatsache, Student zu sein, ein verbindendes Element darstellte, so ist dies heute und seit langem nicht mehr der Fall. Studenten argumentieren sehr pragmatisch auf der Grundlage ihrer sozialen Lage und der sich daraus ergebenden Lebenserwartungen. Deshalb kann man nichts von dem verstehen, was geschah und geschieht, ohne zu betonen, dass es keine Infragestellung der Ungleichheiten gibt, sondern nur den Kampf um ihre Aufrechterhaltung. […] Die Banlieuesards stellen ein Problem dar, das dem der Jugend der Mittelklasse genau entgegengesetzt ist, nämlich das der Situation derjenigen, die in unserer Gesellschaft keine Individuen sind, keine Klasse, keine Vergangenheit und keine Zukunft haben und die die großen Unterdrückten der heutigen Gesellschaften darstellen. (M.T.)

Was die Revolte der Banlieues offenbart hat, ist nichts anderes als die Wahrheit einer Welt, in der sich ein harter Gegensatz zwischen denjenigen, die das geschäftstüchtige Individuum verkörpern sollen, einerseits und denjenigen, die in vielerlei Hinsicht an die gesichtslosen Massen der kolonialen Welt zu erinnern scheinen, andererseits herausbildet. Wie Bauman deutlich gezeigt hat, wird das gegenwärtige Zeitalter vollständig von der individuellen Dimension beherrscht, von der jedoch bedeutende Teile der Bevölkerung ausgeschlossen bleiben müssen, so dass sie in einen Zustand völliger Fremdheit/Opposition zur Welt der unternehmerischen Individuen geraten. All dies ist weit davon entfernt, als Aporie zu erscheinen: Im Gegenteil, es scheint eine der objektiven und sorgfältig gesteuerten Auswirkungen des globalen Kapitalismus zu sein, und das ist es, was der Werkzeugkasten der Sozialforschung und der kritischen Theorie angehen muss.

Ursprünglich veröffentlicht im Mute Magazine. Aus dem Italienischen ins Englische übersetzt von Matthew Hyland. Die Übersetzung dieses hochaktuellen Textes, denkt man an die Riots im letzten Jahr in Frankreich oder zu Silvester in Berlin in den beiden letzten Jahren, ins Deutsche , erfolgte von Bonustracks aus der vorzüglichen englischsprachigen Version.

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Die neue amerikanische NatC-Partei

Vicky Osterweil

Wie viele von euch vielleicht gesehen haben, hat der RNC gestern Abend Schilder für seine Delegierten gedruckt, auf denen neben „Make America Strong Again“ [1]  auch „Mass Deportation Now!“[2], „Strength Through Peace“ [3] und „American Oil From American Soil“ [4] stand.

Der Neusprech „ Kraft durch Frieden“ mag ein Rückgriff auf Reagan sein, aber ich denke, dass er in einem Kontext mit den direkten Aufrufen zur ethnischen Säuberung und zur Blut- und Bodenwirtschaft seinen Platz hat.

Es gibt nichts mehr zu sagen über ihre Absichten. Die republikanische Partei ist komplett nazistisch geworden. Sie bezeichnen sich selbst sogar als Nazis, oder zumindest als NatCs, National Conservatives [5] (was, wie uns versichert wird, etwas ganz anderes ist als National Socialists [6], ja ganz anders).

Es gibt nichts mehr zu debattieren, zu streiten oder zu analysieren. Das ist nicht irgendein Spinner auf einer Trump-Kundgebung mit einem selbstgebastelten Schild oder ein Discord-Server voller Neonazi-Gangster, das ist die Massenproduktion einer Botschaft für die Kameras der Weltpresse. Ihre Plattform fordert Konzentrationslager, die Todesstrafe für Drogenkonsument*innen (und damit für die Wohnungslosen), volle strafrechtliche Immunität für Präsident*innen, die totale Deregulierung der Macht von Unternehmen, eine offizielle staatliche Klimaleugnung usw. usw. usw. Sie haben ihre Maske vollständig abgenommen, es gibt keinen leisen Teil mehr. Sie setzen alles auf die totale Diktatur, und sie setzen alles auf diesen einen Schlag im November.

Es bleibt abzuwarten, ob es eine erfolgreiche Wahlkampfstrategie ist, sich als Nazi zu inszenieren, obwohl die Medien und die Demokraten alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um ihre Botschaft in eine vernünftige und schmackhafte Form zu bringen. Aber es bedeutet, dass wir unser Verständnis davon, was als Reaktion auf die Republikanische Partei und ihre Führung legitim und angemessen ist, entsprechend kalibrieren sollten. Es gibt keine wahlpolitische Antwort auf die Gewalt des Faschismus.

In den letzten Wochen war ich bei den Nachrichten hellwach, fast zwanghaft, als würde sich etwas Neues durchsetzen und alles verändern. Ich erinnere mich an diesen Effekt von 2016 bis 2020. Permanenter Kampf oder Flucht. Es steht alles so viel auf dem Spiel, und alles ist so schnell vergessen.

Das hat damals nicht geholfen. Es machte mich nicht zu einem besseren Antifaschist*in, zu einem glücklicheren Menschen oder zu jemandem, der besser Widerstand leisten kann. Manchmal brachte es mir einige Einsichten und Taktiken, aber meistens erschöpfte es mich nur, machte mich wütend und frustriert. Wenn jedoch die Maske fällt, wenn jeder Versuch, Legitimität zu erlangen, beendet ist, wenn sie sich ganz der NatC verschrieben haben, wird auch diese Hypervigilanz wirkungslos. Es gibt hier nichts zu sehen, was wir nicht schon gesehen haben. Der Einsatz ist klar.

Der Weg nach vorne ist etwas weniger klar, aber ich denke, dass es zwingend notwendig ist, unseren Fokus weg von dem zu bewegen, was sie sagen, was die Medien sagen, und damit zu beginnen, außerhalb der Räume des diskursiven politischen Manövers zu bauen. Die Faschisten leben in einem völlig halluzinatorischen Raum des Fabelhaften und des Mythischen. Sie haben wirklich Schwierigkeiten, zwischen Nancy Pelosi und Assata Shakur zu unterscheiden. Sie haben ihr Regime der Deutung völlig destabilisiert, jede konsensuale Realität zertrümmert, was es ihnen unmöglich macht, auf dem diskursiven Terrain zu kämpfen, aber sie haben es zuerst mit sich selbst gemacht, so dass sie zutiefst verwirrt sind.

Das bedeutet nicht, dass wir auf Lernen, Schreiben, Denken oder Analysieren verzichten sollen, aber es fordert uns auf, über unsere Zielgruppen und unsere Absichten nachzudenken. Richten wir unsere Analysen spontan und reflexiv auf einen breiten landesweiten Dialog und einen kulturellen Massenbereich aus, den es nicht mehr gibt?

Dieser Zusammenbruch der diskursiven gemeinsamen Basis gibt ihnen Stärke im Bereich des Spektakels, aber es ist eine enorme Schwäche auf der Straße und gibt uns viel Raum, um uns im Schatten zu bewegen, um aufzubauen, bereit zu sein und Gegenorganisation zu betreiben. Um im Verborgenen stärker zu werden. Um Netzwerke und Beziehungen aufzubauen, die in der Lage sind, gegen ein Trump Gestapo oder ein Harris [7] FBI zu kämpfen.

Ich bin ziemlich optimistisch, dass diese Clowns ihre Karten viel zu früh auf den Tisch gelegt haben, um irgendetwas anderes zu erreichen, als Unterstützung zu verspielen. Der größte Teil des Landes ist nicht voll von blutrünstigen, grobschlächtigen Antisemiten wie JD Vance. Aber andererseits könnten weiße Boomer-Siedler in einer kombinierten Pandemie-Klimakollaps-Todesspirale sogar noch freudiger nihilistisch sein, als ich es mir vorstellen kann.

In gewisser Weise spielt das keine Rolle. Sieg oder Niederlage bei der Stimmenauszählung, Erfolg oder Misserfolg eines Staatsstreichs, diese Leute werden nicht verschwinden, bis wir sie zerschlagen haben. Um das zu erreichen, müssen wir eine echte Gegenmacht aufbauen, die in der Lage ist, ihre Machtbasis und ihre Organisationen zu stören, aber es wird auch bedeuten, dass wir uns so umeinander kümmern, dass ihre legalen Manöver und Polizeitaktiken uns nichts wirklich Wertvolles wegnehmen können. Was immer dir bei einem möglichen Sieg von Trump am meisten Sorgen bereitet, fang an zu überlegen, was du in deinem Leben tun könntest, um diese Auswirkungen zu verringern oder sogar bedeutungslos zu machen. Spiele das Szenario durch: Was wird passieren? Welche Schritte werden unternommen, welche Maßnahmen werden der Staat und die Herrschenden ergreifen? Werden sie ihre Schläger in die Gemeinschaften schicken? Werden sie die Menschen auffordern, sich freiwillig zu registrieren? Werden sie eine große Anzahl von ihren Leuten einstellen oder etwas aufbauen?

Wie kannst du und deine Community vorbereitet, bereit und in der Lage sein, sich dagegen zu verteidigen oder diese Schritte auszuhebeln? Wenn Trump verliert, habt ihr immer noch die Grundlage für eine echte lokale Gegenmacht geschaffen, unabhängig davon, was der Staat tut.

Wenn dir jemand zeigt, wer sie sind, dann glaube ihm. Und handle entsprechend.

Fußnoten

[1] Make America Strong Again -> Macht Amerika wieder stark

[2] Mass Deportation Now! -> Massenabschiebungen jetzt! oder auch Massendeportationen jetzt!

[3] Strength Through Peace -> Stärke durch Frieden

[4] American Oil From American Soil -> Amerikanisches Öl aus amerikanischem Boden

[5] National Conservatives -> Nationalkonservativen

[6] National Socialists -> Nationalsozialisten

[7] Kamala Harris , Vize-Präsidentin unter Joe Biden und möglichen Präsidentschaftskandidatin für die Demokratische Partei, wenn Joe Biden sich zurückziehen sollte.

Übersetzt von R.T. für Bonustracks. Im Original erschienen am 18. Juli 2024 auf All Cats Are Beautiful

Der eiserne Determinismus

n+1

Das Hauptthema des Telemeetings am Dienstagabend war der Artikel “Wargame. Zweiter Teil”.

Der Text befasst sich mit den Dynamiken, die einer hypothetischen Besetzung eines Platzes in einer Großstadt zugrunde liegen, in Anlehnung an die Ereignisse bei Occupy Wall Street (OWS) im Zuccotti Park in New York. In den letzten Jahren hat sich bestätigt, dass man ein “abstraktes” Modell braucht, um die Realität zu verstehen, ohne sich in den Details zu verlieren. Es ist nicht wichtig, was die Demonstranten über sich selbst sagen, sondern was sie zu tun gezwungen sind, und es ist von entscheidender Bedeutung, die Kontinuität im Zyklus der Aufstände, Zusammenstöße und des Ansturms auf die Straße zu begreifen, der mit dem Brand in den Banlieues 2005 beginnt und 2022 mit der populistischen Welle als Reaktion auf die Gesundheitspolitik der Staaten zur Bekämpfung der Pandemie endet. Wir können also ein erstes Element festhalten: Die Invariante, die im Laufe der Zeit erhalten bleibt, ist die Massenbewegung und nicht das Motiv, das sie hervorbringt.

Seit 2010 sind verschiedene Bewegungen entstanden: vom Arabischen Frühling über OWS bis hin zu der jüngsten Bewegung, die in Kenia unter dem Ruf “Occupy Parliament” entstand. Vor dem Ausbruch dieser Massenmobilisierungen reifte in der Gesellschaft etwas heran, was aber nicht zu erkennen war: alte politische Vorstellungen gerieten unweigerlich in Konflikt mit einer Welt, die sich tiefgreifend verändert. Aus den Arbeiten von Marx und der Linken wissen wir, dass die zukünftige Gesellschaft bereits gegenwärtig ist und materielle Vorwegnahmen hervorbringt. Im Fall des “Occupy”-Memes ging es irgendwann viral und verbreitete sich über das Internet, ohne dass jemand in der Lage war, es zu stoppen. Marx schrieb in Louis Bonapartes 18. Brumaire (1852):

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht willkürlich, unter Umständen, die sie selbst gewählt haben, sondern unter den Umständen, die sie unmittelbar vorfinden und die durch Tatsachen und Traditionen bestimmt sind.”

Es sind also die materiellen Fakten, die den Menschen zwingen, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. An einem bestimmten Punkt kommt es zu einem offenen Kampf zwischen den sozialen Klassen, der, wenn er nicht in irgendeiner Form zu einem Kompromiss führt, die Tendenz hat, sich auszuweiten und zu verschärfen. Ab einem bestimmten Punkt kommt es auf die Verteilung der Kräfte vor Ort und auf die Strategien an, die den zu erreichenden Zielen entsprechen.

Wie wir in dem Artikel “Notwendige Auflösung” geschrieben haben, findet eine gigantische Umstellung statt zwischen der alten Art, den Klassenkampf zu verstehen, und der neuen, nämlich zwischen dem politischen Menschen, der von der politischen Ideologie hervorgebracht wird, und dem Menschen, der von der modernen Industrie hervorgebracht wird. Aus der Lektüre der Thesen zur Taktik der Kommunistischen Partei (Rom, 1922) geht hervor, dass die Ursachen, die zur Katastrophe der Kommunistischen Internationale geführt haben, keineswegs auf Einzelpersonen, auf das Wirken unvorbereiteter oder schlechter Führer, sondern auf historische Bestimmungen zurückzuführen sind. Trotz der Konterrevolution, die in den 1920er Jahren begann, gelang es der Linken, eine Bilanz des Geschehenen zu ziehen und einen Anker für die Zukunft zu setzen. Die Thesen zur Taktik sind ein auch heute noch gültiges “Wargame”, ein nützliches Instrument zur Orientierung im Heute und Morgen. Der Inhalt der Thesen wurde von der Internationale nicht verstanden, auch nicht von den vielen, die sich heute auf die Strömung beziehen, die sie geschrieben hat.

Das Wargame ist eine Maschine, um die Dynamik eines Krieges wie auch eines Gewerkschaftskampfes zu verstehen, aber es ist auch ein Werkzeug, um übergreifende soziale Dynamiken zu verstehen (siehe Euler-Venn-Diagramme):

Im Allgemeinen muss jeder “Spieler” seine Strategie wählen, indem er die Möglichkeit von Koalitionen (kooperative oder nicht-kooperative Spiele) bewertet, die möglichen Reaktionen der anderen Spieler berücksichtigt und mögliche Züge gegen die Erwartungen abwägt. Die möglichen Entwicklungen reichen von den einfachsten Situationen wie endlichen Nullsummenspielen (bei denen die Gewinne jedes Spielers proportional zu den Verlusten des anderen sind) bis hin zu unendlichen Nicht-Nullsummenspielen, bei denen alle in der realen Welt vorkommenden Parameter auftreten, eine Welt, die durch eine Reihe sich überschneidender Mengen dargestellt werden kann.

Für uns ist das globale Netzwerk eine grundlegende Voraussetzung für die laufende Revolution. Das Internet ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein mächtiges Koordinationsinstrument, da es die Unentwegten aus der ganzen Welt miteinander verbinden kann. Dank sozialer Netzwerke können junge Kenianer mit wütenden Jugendlichen aus allen Kontinenten in Kontakt treten und in Echtzeit interagieren. Man hat inzwischen erkannt, dass ein Aufstand, der an einem Ort ausbricht, durch das Tamtam im Netz andere Länder mit einbeziehen kann; darüber haben wir in der Broschüre “Tausend Städte” geschrieben, die das Ergebnis einer Reflexion über die internationale Demonstrationswelle vom 15. Oktober 2011 ist. Was heute einen Unterschied machen kann, ist die Botschaft, die von den Plätzen ausgeht: Wenn sie universell ist (z. B. 99 % gegen 1 %), hat sie eine bessere Chance, sich zu verbreiten und Wurzeln zu schlagen.

OWS hatte auch sein Wargame, rudimentär in der Theorie, aber fortschrittlich in den Mitteln. Die Bewegung entschied sich für eine führerlose Organisation und nutzte das Potenzial von Netzwerken, in denen das Prinzip der Autorität ohne Machthierarchien und ergebnislose Debatten funktioniert. Die Spielzüge von OWS verhinderten zum Beispiel, dass der Staat die Anführer vereinnahmen konnte, da es keine gab, und ermöglichten den Kontakt mit breiten Schichten des Proletariats, angefangen von der Basis, von lokalen Gewerkschaftssektionen, bis hin zu einem denkwürdigen Hafenstreik an der Westküste.

Innerhalb des Netzes ist kein Knotenpunkt “extern”, da alle mit den anderen in zwei Richtungen verbunden sind. In den “Überlegungen” von 1956 heißt es: “Wir reklamieren alle Formen der Tätigkeit, die den günstigen Momenten eigen sind, soweit es die tatsächlichen Kräfteverhältnisse zulassen”. Heute zeigen die Kräfteverhältnisse, dass die Möglichkeiten, die soziale Wirklichkeit zu verändern, auf ein Minimum reduziert sind. Aus diesem Grund haben wir es abgelehnt, eine weitere internationalistische Kleinpartei zu gründen, was uns jedoch nicht daran hindert, eine präzise Arbeitsmethode zu wählen, die auf häufigen Treffen, der Veröffentlichung von Texten und der Bewahrung des historischen Archivs (digital und auf Papier) beruht. Wir legen großen Wert auf die Treffen und die Korrespondenz mit den Lesern, denn sie ermöglichen es uns, die soziale Temperatur mit unserem Detektor zu messen.

Wenn man von “Programmerhaltung” spricht, denkt man vielleicht an eine kulturelle, intellektuelle und akademische Tätigkeit; es handelt sich jedoch um eine praktische Tätigkeit. In der Realität gibt es Auslöschungen, so dass wir die Verantwortung haben, die Ausarbeitung am Faden der Zeit fortzusetzen, indem wir den Genossen einen “physischen Ort” bieten, an dem sie sich treffen und die Texte konsultieren können. Es ist eine kleine “Umkehrung der Praxis”, die mit den vorhandenen Kräften möglich war.

Das jüngste Wahlergebnis in Frankreich ist sowohl ein Produkt als auch ein Faktor der Instabilität. Statt zur Bildung regierungsfähiger Exekutiven zu führen, bewirken Wahlkonsultationen heute das Gegenteil. Das Problem der Unregierbarkeit betrifft nicht nur Europa, sondern auch die USA, das wichtigste kapitalistische Land, das sich derzeit mit einem komplizierten Wahlkampf (vor allem für die Demokraten) auseinandersetzen muss. In Frankreich ist die Wahlbeteiligung gestiegen: Der Antifaschismus spielte eine wichtige Rolle beim “Sieg” der Neuen Volksfront. Diese Wahlbeteiligung ist allerdings ein Spiegelbild der zunehmenden Wahlenthaltung in Italien; in beiden Fällen zeigt sich die Fragilität des Systems. Das Vereinigte Königreich, wo die Labour-Partei die letzte Wahl gewonnen hat, befindet sich in einer technischen Rezession: die Immobilienpreise steigen und die Armut breitet sich aus. Auch Deutschland ist “gespalten”, Limes betitelte seine Ausgabe vom April 24 bezeichnenderweise mit “Deutschland ohne Qualität”. Im Iran hat ein Reformist gewonnen, der jedoch zum Establishment gehört, und die Wahlbeteiligung war so niedrig, dass sie bisherige Negativrekorde übertraf. Ob nun eine rechte, linke oder zentrale Kraft an der Spitze eines Landes steht (oder eine technische Regierung eingesetzt wird), macht keinen großen Unterschied: Es gibt keine Zauberstäbe, die die Probleme des Kapitalismus lösen können.

Jedes geo-historische Gebiet hat seine eigenen Merkmale (politisch, kulturell, religiös usw.), aber es gibt nur eine Ursache für das weltweite Chaos. Der Verlust der Effizienz von Staaten und ihren Regierungen geht Hand in Hand mit dem Verlust der Vitalität des gesamten Wirtschaftssystems. Das Anwachsen der populistischen Bewegungen ist auf die allgemeine Verarmung der Mittelschichten zurückzuführen (das Gesetz des wachsenden Elends, das Marx als das absolute Gesetz der kapitalistischen Akkumulation bezeichnet), die sich radikalisieren. Die Kräfte innerhalb des Systems können nicht anders, als zusammen mit dem System selbst zu kollabieren. Der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand abschafft, er arbeitet unaufhörlich an der Erosion der Struktur der gegenwärtigen Produktionsweise und verursacht tiefe Risse auch auf der überstrukturellen bourgeoisen Ebene.

Erschienen im italienischen Original am 9. Juli 2014, übersetzt von Bonustracks. Der erste Teil findet sich hier Die links entstammen aus dem Originalartikel.

Die Analyse der Gesellschaft anhand von ‘Wargame’

n+1

Das Telemeeting am Dienstagabend begann mit einem Kommentar zu dem Artikel “Wargame. Non solo un gioco” (rivista n. 50), der für das Verständnis aktueller Kriege und gesellschaftlicher Konflikte und für die Vermeidung logischer Fehler bei der Analyse besonders nützlich ist.

In “Wargame” finden wir Überlegungen zur “Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg”, eine Losung der Kommunistischen Internationale. Historisch gesehen ist der Krieg kein Dilemma des Imperialismus, sondern die (vorübergehende) Lösung seiner Krise. In der Tat bestätigt unsere Strömung, dass in der modernen Epoche, auch aufgrund der Art und Weise, wie Konflikte ausgetragen werden, entweder der Krieg endet oder die Revolution vorübergeht. Heute sind die Bestimmungen eines klassischen Krieges, die ihn von der Rettung der kapitalistischen Produktionsweise zu einem Element ihrer Zerstörung machen würden, nicht mehr als Hypothesen zu betrachten, da die Wirtschaftskrise längst chronisch geworden ist. Das Elektroenzephalogramm des Kapitalismus ist völlig abgeflacht.

Das heißt, solange es Krieg gibt, gibt es keinen Defätismus und somit auch keine Revolution. Die Revolution muss also ausgelöst werden, bevor der Krieg die Weltbühne erobert, bevor er zu einer totalen Tatsache wird, zumal er von Systemen auf der Grundlage künstlicher Intelligenz “verwaltet” werden wird, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen könnten. Denken wir an die Fabrik: Der Roboter, der die Fähigkeiten des Arbeiters genau erfasst, wird ihn ersetzen.

“Wargames” sind in vielen Bereichen (Militär, Wirtschaft usw.) von grundlegender Bedeutung, da sie es ermöglichen, Situationen zu studieren, während sie entstehen, die Züge und Gegenzüge des Gegners zu analysieren, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, und zu versuchen, subjektive Festlegungen zu vermeiden, die zu Fehlern führen können. Die “Kriegsspiele” sind Experimente, um Informationen zu erhalten, die noch nicht verfügbar sind, sie sind Gehirnimplantate, Wissensmaschinen.

Gegen Ende unseres Artikels haben wir ein gesellschaftliches Szenario entworfen, in dem es zwei Parteien gibt, die blaue Partei (Reform/Konservierung) und die orange Partei (Anti-Reform):

“Die blaue Partei, die die alten politischen Trennungen als gegeben ansah, hatte beschlossen, dass eine orangefarbene Partei, d.h. der Feind, den Platz besetzen würde. Aber es hat sich etwas geändert. Die Blaue Partei hat auch bei den Demonstrationen und auf dem Platz Wurzeln geschlagen. Von der sozialen Zusammensetzung her gibt es eine große blaue konservative Partei, die sich zwischen den Verteidigern des Staates und den Protestierenden gegen den Staat aufteilt. Die Orangene Partei gibt es, aber sie tritt im Moment noch nicht in Erscheinung: ‘Sie entsteht und entwickelt sich, wenn die Forderungen der Lehre und der Aktion zusammenkommen’ (These von Rom). Wenn das der Fall ist, denken die Akteure im Wargame-Raum der Questura, dann ist die Radikalisierung noch weit entfernt. Die gegensätzliche Einheit der beiden Parteien muss sich auflösen und die wahre Orangene Partei muss zum Vorschein kommen”.

Die Wahlergebnisse in Frankreich, die politische Lage in Deutschland und England sowie die Situation vor den Wahlen in den USA lassen sich nur durch ein stark abstrahiertes Modell der Realität verstehen. Der Staat hat auch unzufriedene Mitglieder seiner eigenen Partei auf der Straße gesehen (die Orangene Partei ist derzeit nicht als organisierte Kraft auf der Szene präsent). Man erinnert sich an die ‘No vax’/’No Green pass’-Demonstrationen während der Pandemie, die vom staatlichen Repressionsapparat mit Samthandschuhen angefasst wurden. In Städten wie Turin und Mailand wurden jeden Samstag spontane Demonstrationen organisiert, an denen sich alle Bevölkerungsschichten beteiligten und bürgerliche Slogans wie “Freiheit, Freiheit” riefen. In Frankreich war etwas Ähnliches bei den Mobilisierungen der Gilets Jaunes zu beobachten, einer klassenübergreifenden Bewegung, die von den extremen Rändern der Non-Klassen angeführt wurde und an der sich auch proletarische Teile beteiligten. Im Jahr 2019 ließ die Polizei in Hongkong die Besetzung des Stadtparlamentsgebäudes zu, damit die Demonstranten ihrem Ärger Luft machen konnten. Im Jahr 2021 drangen in den USA Trump-Anhänger gewaltsam auf den Capitol Hill ein. In Brasilien wurde 2023 der Nationalkongress gestürmt, als Reaktion auf die Niederlage des damaligen Präsidenten Bolsonaro.

Der Staat verliert an Kraft, und die sozialen Kräfte (die so genannten schweigenden Mehrheiten), die ihn in der Vergangenheit unterstützt oder ihm zumindest nicht im Wege gestanden haben, sind mit dem Zustand, in dem sie sich befinden, nicht zufrieden und haben Angst vor der Zukunft. Die Blaue Partei ist stark zersplittert. Auch wenn die gleichen Bedingungen, die 1921 zur Gründung der PCd’I und 1922 zur Formulierung der Tesi sulla tattica führten, nicht mehr gegeben sind (in der Zwischenzeit sind die Produktivkräfte enorm gewachsen), so gibt es doch invariante Elemente, von denen aus man mit der Ausarbeitung von Modellen beginnen kann, ohne die es unmöglich wäre, Wissenschaft zu betreiben.

Um die Invarianten in den Transformationen zu finden, müssen wir gedanklich in die 1920er Jahre zurückgehen, eine Zeit, in der es viele, auch bewaffnete, Auseinandersetzungen zwischen den Klassen gab. Mit der Konsolidierung des Faschismus konnte die italienische Bourgeoisie ihr System in Ordnung bringen, während zuvor selbst nationalistische Kräfte wie die Legionäre von D’Annunzio ein Problem für den Staat darstellten (siehe Artikel “Il movimento dannunziano”, Prometeo, 1924). Heute zeigt der Korporatismus sichtbare Risse. Der Kapitalismus verlangt nach einem globalen Faschismus, aber gerade der Weltgendarm, die Vereinigten Staaten, befinden sich in der Krise und haben Mühe, den sozialen Marasmus einzudämmen, da die wirtschaftliche Polarisierung die soziale Polarisierung unumkehrbar verschärft. Seit Jahren schlagen Ökonomen wie Paul Krugman besorgt Alarm über das Aussterben der Mittelschicht in Amerika. In dem Artikel “Who will defend a depressed America?” fragt Limes (“Mal d’America” – Nr. 3, 2024) angesichts der Tatsache, dass immer weniger junge Amerikaner bereit sind, die Uniform zu tragen: Wer wird den Krieg der Zukunft führen?

Die Menschen kommen nicht durch das Studium von wirtschafts- oder politikwissenschaftlichen Texten zu der Erkenntnis, dass eine Veränderung notwendig ist, sondern aufgrund der materiellen Bedingungen, in denen sie sich befinden. Ideologische, politische oder moralische Impulse sind ein Spiegelbild materieller Impulse, und nur gemeinsam können sie in einen kollektiven materiellen Antrieb verwandelt werden. Aus diesem Grund schreibt Marx dem psychologisch frustrierten Kleinbürgertum die Macht zu, einen sozialen Bruch auszulösen, ohne dass man es auffordern muss, seine Wut zu definieren:

“Die Menschen geben nie auf, was sie erobert haben, aber das bedeutet nicht, dass sie nie die gesellschaftliche Form aufgeben, in der sie bestimmte Produktivkräfte erworben haben. Ganz im Gegenteil. Um nicht ihrer Errungenschaften beraubt zu werden, um die Früchte der Zivilisation nicht zu verlieren, sind die Menschen gezwungen, alle ihre traditionellen Gesellschaftsformen zu ändern, sobald die Art ihres Handels nicht mehr den Produktivkräften entspricht, die sie erworben haben.” (Brief an Annenkow, 1846)

Das Kleinbürgertum, ein Kochtopf zwischen zwei eisernen Gefäßen, dem Proletariat und der Bourgeoisie, sieht seine Garantien in Frage gestellt und bringt hybride soziale Bewegungen hervor, die verwirrt zwischen den beiden Polen hin und her schwanken.

In dem Video “Alles brennt!”, das auf dem YouTube-Kanal Parabellum veröffentlicht wurde, werden Konfliktsituationen in der Welt aufgelistet, die sich in einem sozialen Chaos zu befinden scheinen und außer Kontrolle zu geraten drohen. Es gibt keinen geopolitischen Sektor, der nicht von den allgemeinen Unruhen betroffen ist, von Libyen bis Kenia, von der Ukraine bis Israel, über Bolivien und Myanmar. Was in dem Video, wie üblich, nicht erklärt wird, ist die Ursache für die weltweit grassierenden Unruhen.

In Kenia hat die Regierung das umstrittene, vom IWF auferlegte “Tränen- und Blut”-Haushaltsgesetz zurückgezogen, aber die Demonstrationen reißen nicht ab, und aus dem anfänglichen #OccupyParliament ist mittlerweile #OccupyEverything geworden. Das System als Ganzes kann sich nicht mehr selbst revitalisieren. Die herrschenden Klassen schuften sich ab, sie haben keine Argumente mehr, um die Unentwegten zu überzeugen, weitere Opfer zu akzeptieren. Um diese Situation zu beschreiben, bietet sich das Schema der Kommunistischen Linken von der Umkehrung der Praxis an (“Theorie und Aktion in der marxistischen Lehre”, 1951): Die Bildung der revolutionären Partei ist das Ergebnis von Vorstößen von unten (Bottom-up), soziale Moleküle werden aufgewühlt und bringen in ihrer Bewegung neue Organisationen hervor, einige von ihnen überspringen Schritte, indem sie direkt zum kommunistischen Programm kommen und zu Agenten des Einflusses werden. Es werden keine neuen Kategorien aus dem Nichts geschaffen: Es ist die bürgerliche Gesellschaft selbst, die die Formen hervorbringt, die der sozialen Union entgegenstehen.

Die hochgradig entropische kapitalistische Produktionsweise kollidiert mit einer im Entstehen begriffenen anti-entropischen Gesellschaftsform (“Das zweite Prinzip“, “Notwendige Auflösung“, “Anti-entropische Revolution“). Die konservativen Kräfte, vom Parteiensystem über den Staat bis hin zur Kirche, verteidigen überholte Verhältnisse wie die Lohnarbeit, die von demselben Kapitalismus negiert wird, der tote Arbeit (Maschinen, Computer usw.) vervielfältigt, um die Ausbeutung zu steigern. Das System verteidigt die alten sozialen Beziehungen, aber diese werden verschwinden müssen, weil sich die materielle Struktur der Produktion in eine andere Richtung entwickelt.

In “Wargame” wird der Artikel “Activismo” (Battaglia comunista, 1952) zitiert, in dem es heißt, dass der Staat von innen heraus zusammenbrechen und die Kommandostruktur der Bourgeoisie kollabieren kann, dass aber die Situation in jeder Hinsicht konterrevolutionär bleibt, wenn es kein politisches Gremium mit einer klaren Vision der historischen Dynamik gibt. Die historische Partei, wie die Linke sie versteht, ist das Programm, das der Aktion vorausgeht, die formale Partei ist ihre organisatorische Materialisierung.

Mit dem Faschismus hat die Bourgeoisie zum ersten Mal versucht, sich eine einheitliche Klassendisziplin zu geben, sowohl für das Funktionieren des Wirtschaftssystems als auch für die Festigung ihrer Herrschaft, aber als dies erreicht war, kam ihr Wettlauf zum Stillstand. Heute wird die Bourgeoisie durch die Entwicklung der Produktivkräfte überflüssig, und das Kapital entzieht ihr auf zweierlei Weise die Kontrolle: entweder, indem es sie in den Parlamenten plappern lässt, ohne dass sie Schaden anrichten darf (in diesem Fall ist es umso besser, je dümmer ihre großen politischen Führer sind), oder indem es ihr sogar diese fiktive Funktion nimmt und sie durch technische Führungskräfte ersetzt (in diesem Fall ist es umso besser für die Aufgabe, die sie zu erfüllen haben, je rationaler, klarer und rücksichtsloser sie sind). Le Pen, Macron oder Meloni können im Vergleich zu den anonymen und unpersönlichen Entscheidungen des Marktes wenig ausrichten.

Wenn du fortschrittlich sein willst, sei nicht demokratisch, sei faschistisch! Die geschichtliche Abfolge des sozialen Fortschritts, so Amadeo Bordiga, lautet nicht: Faschismus-Demokratie-Sozialismus. Im Zeitalter des Imperialismus kommt der Faschismus nach der Demokratie und die fortschrittliche Abfolge ist daher Demokratie-Faschismus-Sozialismus. Wenn der Faschismus schon da war, mit Italien als Laboratorium, was kann dann noch kommen? Ein technokratisch-kybernetischer Faschismus? Einige der Hightech-Superkapitalisten, die feststellen, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert, behaupten, es sei notwendig, auf andere Planeten oder in andere Realitäten (Metaverse) auszuwandern, was an Science-Fiction grenzt. Offensichtlich ist diese Produktionsweise an Grenzen gestoßen, die sie nicht überschreiten kann.

Veröffentlicht im italienischen Original am 2. Juli 2024, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. Die wesentlichen Verlinkungen des Originals wurden übernommen. 

Der Stier der Pasiphae und die Technologie

Giorgio Agamben

Der Mythos von Pasiphae, der Frau, die sich von Daidalos eine künstliche Kuh bauen lässt, um sich mit einem Stier zu paaren, ist ein Paradigma der Technologie. In dieser Perspektive erscheint die Technologie als das Mittel, mit dem der Mensch versucht, die Animalität zu erlangen – oder wieder zu erlangen. Aber genau das ist das Risiko, das die Menschheit heute durch die technologische Hybris eingeht. Die künstliche Intelligenz, der die Technologie ihr äußerstes Ergebnis anzuvertrauen scheint, will eine Intelligenz hervorbringen, die wie der tierische Instinkt sozusagen von selbst funktioniert, ohne das Eingreifen eines denkenden Subjekts. Es ist die daidaloistische Kuh, durch die die menschliche Intelligenz glaubt, sich glücklich mit dem Instinkt des Stiers paaren zu können, indem sie zum Tier wird bzw. wieder zum Tier wird. Und es ist nicht verwunderlich, dass aus dieser Vereinigung ein monströses Wesen mit menschlichem Körper und dem Kopf eines Stieres hervorgeht, der Minotaurus, der in einem Labyrinth eingesperrt ist und sich von Menschenfleisch ernährt.

In der Technologie – das ist die These, die wir vertreten wollen – geht es tatsächlich um die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Die Anthropogenese, die Menschwerdung des Homo Primus, ist in der Tat kein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt ein für alle Mal abgeschlossen ist: Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess, in dem der Mensch nicht aufhört, Mensch zu werden und gleichzeitig Tier zu bleiben. Und wenn die menschliche Natur so schwer zu definieren ist, dann gerade deshalb, weil sie die Form eines Zusammenspiels zwischen zwei heterogenen und doch eng miteinander verflochtenen Elementen annimmt. Ihre beharrliche Verflechtung ist das, was wir als Geschichte bezeichnen, an der das gesamte westliche Wissen, von der Philosophie bis zur Grammatik, von der Logik bis zur Wissenschaft und heute bis zur Kybernetik und Informationstechnologie, von Anfang an beteiligt war.

Die menschliche Natur – das sollte man nicht vergessen – ist kein Datumswert, der je nach eigenem Willen erworben oder normativ fixiert werden kann: Sie ist vielmehr in einer historischen Praxis begründet, die – insofern sie das Innere und Äußere des Menschen, das Lebendige und das Sprechende, das Menschliche und das Tierische unterscheiden und miteinander in Beziehung setzen muss – nicht anders kann, als sich unablässig zu verwirklichen und jedes Mal zu verwerfen und zu aktualisieren. Das bedeutet, dass in ihr ein grundsätzlich politisches Problem auf dem Spiel steht, bei dem es um die Entscheidung geht, was menschlich ist und was nicht. Der Ort des Menschen liegt in dieser Kluft und Spannung zwischen Mensch und Tier, Sprache und Leben, Natur und Geschichte. Und wenn er, wie Pasiphae, seinen eigenen Lebensort verkennt und versucht, die Extreme, zwischen denen er in Spannung verbleiben muss, zu nivellieren, wird er nur Ungeheuer erzeugen und sich mit diesen in einem Labyrinth ohne Ausweg gefangen wiederfinden.

8. Juli 2024

Übertragen aus dem italienischen Original von Bonustracks. 

Ich hasse Faschisten. Es fühlt sich gut an, das auszusprechen.

Louisa Yousfi 

Wie viele meiner Freunde und Genossen musste ich mich seit Beginn dieser politischen Phase mehrmals zusammenreißen. Es gab die Idee, dass dies nicht die Zeit wäre, um zu starke Emotionen zu pflegen oder eine zu genaue Analyse zu machen, sondern dass es vielmehr darum ging, sich die allgemeine Dynamik, zugegebenermaßen mit etwas verschwommenen Konturen, die als “Antifaschismus” bekannt ist, zu eigen zu machen. Es ging, wie immer, darum, unsere Würde zu zeigen angesichts der fehlenden Würde von 12 Millionen Menschen (und vielen anderen), die nicht mehr die gleiche Luft atmen wollen wie wir, die schmutzigen Schwarzen und Araber dieses Landes, atmen.

Wie es im Drehbuch stand, sollte es heißen, dass “sie unseren Hass nicht bekommen werden”, dass ihre Hässlichkeit uns nicht beschmutzen wird. Wir, die wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, haben die Pflicht, ein Beispiel zu geben. Wir, die wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, haben die Pflicht, ein Exempel zu statuieren, um zu zeigen, dass sie uns zu Unrecht hassen, wir, die wir nicht einmal diejenigen hassen, die uns am liebsten tot sehen würden, die uns am liebsten an den Ort zurückschicken würden, an dem wir unterworfen sind, oder die uns in unsere Herkunftsländer zurückschicken würden.

Um dies zu erreichen, haben wir selbst jede mögliche “Anbiederung” betrieben. Wir haben uns sagen lassen, dass diejenigen, die für den “Rassemblement National” gestimmt haben, dies nicht unbedingt aus Rassismus getan haben, oder vielmehr, dass dieser Rassismus gar nicht wirklich Rassismus war, da er eine Erklärung außerhalb seiner selbst fand: zum Beispiel in der Prekarisierung der weißen Arbeiterklasse, im Ruin der öffentlichen Dienste, in der von den Medien orchestrierten Gehirnwäsche…

Wir haben uns also sagen lassen, dass der Rassismus keine eigene Logik, keine historische Dichte hatte, dass er sicherlich die Folge einer Heterogenität von Ursachen war und dass er sich noch nicht zu einer definierten politischen Realität herauskristallisiert hatte. Aber die gesamte Geschichte unserer Familien zeugt von der materiellen Konkretheit des Drecks, den Rassismus darstellt. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mir sagen zu lassen, dass Rassismus kein echter Rassismus ist: Er ist fehlgeleitete Wut, Entfremdung, Dummheit, Ressentiment… schön und gut, aber wann genau beginnt Rassismus, Rassismus zu sein? Gibt es ihn wirklich oder ist er immer die Projektion eines falschen Problems? Leiden wir also unter einem falschen Problem, sterben wir an einem falschen Problem? Und noch einmal: Existieren wir wirklich oder sind wir nur die Folge einer Abweichung von “echten” Klasseninteressen?

Es war dieses Gefühl, mit einem Gespenst zu kämpfen, das mich dazu brachte, in der dekolonialen Bewegung Politik zu machen, deren Hauptbeitrag gerade darin bestand, die “Rassenproblematik” ernst zu nehmen, ohne sie zu verdrängen, ohne nach einer Lösung Ausschau zu halten. Wir mussten dem Ungeheuer ins Gesicht sehen, all seine abscheulichen Eigenschaften ertragen, sie genau analysieren und niemals den Blick senken. Es ist kein Zufall, dass wir paradoxerweise zu denjenigen gehörten, die Vermutungen über die “Beaufs”, das kleine weiße Proletariat, anstellten und uns auferlegten, sie trotz der Beweise für ihre ideologische Anhänglichkeit niemals für den Faschismus zu verurteilen.

Aber wir sollten uns von Anfang an darüber im Klaren sein, dass es sich nicht um eine Anbiederung an das Mitleid handelt, das glaubt, die Dämonen der kleinen weißen Leute einlullen zu können, indem es ihre eigenen Ideen übersetzt (“Sie sagen, Sie haben Angst vor Muslimen, aber in Wahrheit wollen Sie ein besseres Gehalt”, “Sie fühlen sich kulturell unsicher, aber das liegt daran, dass du die Verödung des Gesundheitswesens erlebst”), wozu unsere eigenen Dämonen nie das Recht hatten, wir, deren Exzesse, Fehler und Unzulänglichkeiten sofort zu unüberwindbaren Grenzen für die Linken werden, um uns auf der Stelle zu verurteilen (Barbarei). Nein, es geht nicht so sehr darum, ein Tyrann zu sein und mehr Mut zu haben als der Henker, sondern vielmehr darum, das Böse, das wir bekämpfen wollen, zu “respektieren”. Denn um einen Feind wirklich bekämpfen zu können, muss man erst einmal anerkennen, dass es ihn gibt, man muss in der Lage sein, alle seine Gesichter und vor allem alle seine möglichen Bewegungen zu erkennen. Wir müssen wissen, dass der “Rassenpakt”, der die Zivilgesellschaft, die politische Gesellschaft, die weißen Arbeiterklassen und die Bourgeoisie dieses Landes zusammenhält, keine selbstgefällige Bevormundung der weißen Jungen, die dem Rassismus zum Opfer gefallen sind, erfordert, sondern gerade den Respekt vor der Verantwortung eines jeden von uns, unseren Genossen und unseren Feinden. Ich sage “Feinde”, weil sie Feinde sind.

Ich bin unter Faschisten der schlimmsten Sorte aufgewachsen (an der Côte d’Azur), ich habe meinen Alltag als Kind und junge Frau in Kontakt mit diesen rücksichtslosen Wesen und ihrer entsetzlichen Grausamkeit gelebt, und ich habe eine unauslöschliche Erfahrung mit ihnen: die der Wut, des Hasses. Ich hasse sie. Es fühlt sich gut an, das zu sagen. Es ist gut, es zu schreiben, wenn es immer noch diejenigen gibt, die ihre kleinliche Feigheit als Eleganz der Seele tarnen wollen.

Wenn uns der Faschismus etwas gelehrt hat, dann dies: Angesichts einer Armee von Faschisten brauchen wir eine Armee von gut disziplinierten Antifaschisten, die entschlossen sind, nicht nachzugeben, nicht zu verraten, entschlossen und keineswegs “sanft”, wie Brecht schrieb. Nicht sanftmütig, aber “den Boden für die Sanftheit bereiten”. Wir sollten also nichts überstürzen. Güte ist der Horizont. Heute gilt, wie es im Partisanenlied heißt, ‘der Alarm’.

Louisa Yousfi ist Verfasserin von ‘Rester barbare’, für das sich hoffentlich irgendwann ein deutscher Verlag findet. Zu ihrem Werk und ihrer Bedeutung gab es schon 2 Übersetzungen auf Bonustracks, die sich hier und hier finden. Dieser Beitrag erschien in der italienischen Übersetzung auf Machina.

Éric Hazan: Freund, Genosse, Verleger

Tariq Ali

Traurige Nachrichten gestern Morgen an einem Tag, der einst ein glücklicher Tag war (der Geburtstag meines verstorbenen Vaters). Ein Freund in Paris rief mich an und teilte mir mit, dass Eric Hazan gestorben sei. Das ist immer ein Schock, obwohl ich nur zu gut wusste, dass er in den letzten Jahren ernsthaft krank war. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er den Lebenswillen verloren. Stella Magliani-Belkacem, seine Co-Nachfolgerin bei La Fabrique Editions (dem Verlag, den Eric 1998 zusammen mit Jean Morisot gegründet hatte), bat mich, einen Brief zu schreiben, den sie ihm vorlesen könnte, um ihn zu ermahnen, nicht aufzugeben. Ich tat dies. Die Bitten vieler anderer unterstützten unser kollektives Beharren darauf, dass er noch nicht sterben sollte. Dadurch wurde ihm bewusst, wie sehr er gebraucht wurde und dass er trotz seiner Unhöflichkeit und Jähzornigkeit (vor allem gegenüber Feinden) Bücher zu schreiben und Versprechen einzuhalten hatte, und dass es egoistisch sei, mit dem Leben aufzuhören. Er erholte sich bis zu einem gewissen Grad.

Seltsamerweise habe ich gerade sein letztes Buch ‘Balzac’s Paris: Die Stadt als menschliche Komödie’ gelesen und wollte ihm noch gestern eine Nachricht schicken. Aber er ist nicht mehr da und hinterlässt einen wunderbaren kurzen Text, in dem er seine unendliche Liebe zum alten Paris, und seine Entfremdung von dem, was aus ihr geworden ist, weiterschreibt. Es war diese Geschichte, die ihn nie losgelassen hat. Ich werde nie vergessen, wie er mich eines Tages, vor vielen Jahren, zu einer Veranstaltung in einer Buchhandlung am linken Ufer begleitete, wo ich mein Buch über den Irak vorstellte, das La Fabrique ins Französische übersetzt hatte. Wir waren spät dran. Auf dem Weg dorthin erzählte er mir auf wunderbare Weise von den Straßen und Gebäuden, die es noch gibt: “Ah. Das war der Club Jacobin”. Wie konnten wir da nicht eine Pause für einen kleinen Vortrag einlegen? “Ja, und dort waren einst die Cordeliers. Camille Desmoulins.” Das Treffen begann mit Verspätung, aber mein Wissen über die Lokalitäten und die Architektur der französischen revolutionären Clubs verzehnfachte sich. Selbst ihm war klar, dass es jetzt zu weit war, um die Place de la Concorde zu besuchen, wo sich einst die Hauptguillotine befand, ein Hinweis, auf den die Gilets Jaunes in jüngster Zeit wieder die Aufmerksamkeit der französischen Bourgeoisie lenkten. Hat jemand mit ihm einen Film über die Straßen des alten Paris und ihre Geschichte gedreht? Ich hoffe es, denn er kannte sich in der Stadt bestens aus.

Eric Hazan war von Haus aus Chirurg. Sein Vater war ein sehr angesehener Kunstbuch-Verleger, und als ich Eric das erste Mal traf (ich glaube 2002), fanden sich einige der alten Bücher im Wohnzimmer. Alles andere als Kaffeetisch-Bände – schön produziert, intelligente Autoren.

“Warst du nicht versucht, weiterzumachen?”

“Nein. Ich war nicht sachkundig genug. Ich verkaufte an jemanden, der sich damit auskannte, und mit dem Geld gründete ich La Fabrique”. Die Fabrik. Aber der Fordismus war nicht der gewählte Modus. Es war eher eine Art Handwerksbetrieb. Es werden ständig zehn bis ein Dutzend Bücher pro Jahr produziert. Der Instinkt von Eric hat in jenen frühen Jahrzehnten die Wahl getroffen und den Verlag als radikale, temperamentvolle Präsenz in Paris etabliert.

Mir ist aufgefallen, dass die Schlagzeile des gestrigen Nachrufs von Le Monde ihn als Herausgeber der “extremen Linken” bezeichnete. Ihm hätte das nichts ausgemacht. Er stand sicherlich auf der extremen Linken der französischen Revolution. Aber es ist die fast vollständige Vereinnahmung der französischen Mainstream-Kultur durch die extreme Mitte, die einige der Titel von La Fabrique als ultralinks erscheinen lässt. In Wirklichkeit ging es Hazan darum, den Stimmen Raum zu geben, die durch die Konformität, die das Land erstickt, unterdrückt werden. Zu Zeiten des gleichnamigen Verlags von François Maspero kämpften viele Mainstream-Verlage mit Händen und Füßen um einige dieser Bücher. Aber das ist vorbei. Vieles von dem, was heute als “radikal” bezeichnet wird, ist ziemlich harmlos, verärgert einige wenige, beleidigt aber niemanden. “Warum sich die Mühe machen?”, fragte Eric oft. Er sprach oft mit mir über den Zusammenbruch der französischen Linken und den Übergang von einer einst ausgeprägten marxistischen Kultur zu einer schalen und stumpfsinnigen gallischen Version des Atlantizismus.

Er verabscheute die fabrizierten Medien-“Intellektuellen” und ihre Mätzchen. Und einiges von diesem Hass fand seinen Weg in sein letztes Buch. Insbesondere die Beschreibungen von Balzacs extremer Abneigung sowohl gegen die “Herrschaft der Anwälte, Bankiers und Journalisten” unter den letzten Bourbonen als auch gegen das Regime nach 1830, das auf den Sturz von Louis-Philippe folgte. Der Romancier schrieb über die Nachfolger: “Die Gesellschaft in ihrem großen Maßstab wurde zerstört, um eine Million kleiner Gesellschaften nach dem Vorbild der untergegangenen zu schaffen. Diese parasitären Organisationen offenbaren die Verwesung; sind sie nicht das Schwärmen von Maden im toten Körper?” Ich kann mir vorstellen, dass Hazan lächelte, als er dieses Zitat in sein Buch einfügte und an einige seiner Zeitgenossen dachte.

Ich weiß, dass seine Kollegen ihm erzählten, dass einer von ihnen, Ernest Moret, der zur Londoner Buchmesse 2023 anreiste, von der britischen Anti-Terror-Polizei am Bahnhof St. Pancras verhaftet und festgehalten wurde, während sie seinen Computer und sein Telefon beschlagnahmten, während sie sich damit brüsteten, dass sie in der Lage waren, das zu tun, was in Frankreich illegal ist. Morets Name war ihnen von ihren französischen Kollegen mitgeteilt worden, die sie gewarnt hatten, dass er ein “Extremist” sei, der an den jüngsten Anti-Macron-Demonstrationen teilgenommen habe. Ein britischer Anwalt, Richard Parry, von einer Kanzlei, die auf Menschenrechtsverletzungen spezialisiert ist, holte ihn am nächsten Tag wieder heraus. Die Presse berichtete weitgehend kritisch über diese Aktion, und La Fabrique erlangte in Großbritannien einige Berühmtheit. Die Polizei, beunruhigt durch die Reaktionen, zog sich zurück, einigte sich außergerichtlich und es folgte ein Entschuldigungsschreiben des Polizeichefs an Ernest Moret – ein Brief, der einen Tag vor Erics Tod eintraf und der ihn sehr gefreut hätte:

Commander Dominic Murphy

SO15 Counter Terrorism Command Counter Terrorism Operations Centre

Lillie Road

London

SW6 1TR 

5th June 2024 

Dear Mr. Moret, 

Re. Schedule 7 TACT 2000 Stop of Ernest Moret 

I write to you as the Commander of SO15, the Metropolitan Police Service’s Counter Terrorism Command in connection to an incident which took place at London St Pancras station on 17 April 2023. This incident resulted in Border Officers from my Command using police powers under Schedules 7 and 8 of the Terrorism Act 2000 which resulted in your subsequent arrest. 

I am aware that your claim in connection with these events has been settled without the need for further legal recourse. I would like to take this opportunity to offer my sincere apologies to you for your arrest and detention and for any distress that you have suffered as a consequence. 

The public rightly expects that use of police powers is always carefully considered and used in a way that is consistent with individual rights and the wider public interest. We remain fully committed to ensuring that these powers are used proportionately and responsibly. Whilst the MPS constantly strives to maintain the highest professional standards, the level of service we provide occasionally falls below that standard. On this occasion the level of service did not meet the high standards we expect and I am committed to ensuring that lesson are learnt from this incident. 

Yours sincerely, 

Dominic Murphy QPM 

Commander  Counter Terrorism Command 

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Gegen Ende von Balzacs Paris schreibt der Autor:

“Der einzige Ort im Osten von Paris, der in Die menschliche Komödie mehrmals auftaucht, ist der Friedhof Père-Lachaise. Auf diesen Höhen erleben wir Rastignacs berühmte Herausforderung am Ende des alten Goriot … und die Beerdigung von Ferragus’ Tochter, deren Sarg von zwölf Fremden in jeweils einer schwarz drapierten Kutsche auf die Anhöhe des Friedhofs gefolgt wird.”

Bei einer Sache bin ich mir sicher. Es werden keine Fremden sein und viel mehr Freunde als “zwölf Leute”, wenn Eric beigesetzt wird und sich zu den Kommunarden und vielen anderen Genossen auf dem Friedhof gesellt. Das ist der angemessenste Ort, um von dem Historiker der Stadt Abschied zu nehmen, einem stolzen Intellektuellen und Verleger, dessen Werke noch lange weiterleben werden. Sie sind unvergleichlich.

Tariq Ali

6. Juni 2024

Erschienen auf dem Blog von Verso Books, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Italien: Die Geschichte der Achtundsechziger [Auszug]

Michele Brambilla

Eine Außenperspektive auf die Entwicklung in Italien von 1968 bis 1978, im Kern bürgerlich und teilweise denunziatorisch, aber trotzdem sinnvoll zu übersetzen zum besseren Verständnis jener Entwicklung in Italien, gerade für deutsche Leser. Der übersetzte Auszug stammt aus dem Buch ‘Dieci anni di illusioni: Storia del Sessantotto’ und wurde auf archivio autonomia veröffentlicht. Die Bilder und Videos wurden von uns hinzugefügt. Bonustracks 

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„Wo der Himmel von Gott entleert ist, ist die Erde mit Götzen bevölkert

Karl Barth

XIII – DEM ENDE ENTGEGEN

1976 war das Jahr, in dem Achtundsechzig in die Agonie eintrat. Zwar waren die meisten Kämpfe, die acht Jahre zuvor begonnen hatten, gewonnen worden: Die Ehescheidung war staatliches Recht geworden, das Arbeiterstatut war 1970 verabschiedet worden, das Familienrecht war 1975 reformiert worden, Schulen und Universitäten waren entscheidend verändert worden. Und natürlich hatten sich viele der Lebensstile und Ideen der Achtundsechziger inzwischen in der allgemeinen Mentalität verankert: vom Sexualverhalten über die Sprache bis hin zur Einstellung gegenüber Autoritäten. Sogar der so genannte Apparat war von der „Revolution“ von 1968 betroffen, wofür der starke Einfluss der linken Richterströmung „Magistratura democratica“ und das Phänomen der „stürmenden Richter“ im Justizwesen vielleicht das beste Beispiel sind. Von all diesen Veränderungen der Sitten und Gebräuche ist im Übrigen bis heute eine Spur geblieben, die unauslöschlich zu sein scheint. Was jedoch das Hauptziel der Achtundsechziger anbelangt, so sind sie unbestreitbar gescheitert. Von all diesen Veränderungen der Sitten und Gebräuche ist bis zum heutigen Tag eine Spur geblieben, die unauslöschlich erscheint. Was jedoch das Hauptziel der Achtundsechziger anbelangt, so sind sie unbestreitbar gescheitert. Das erklärte Ziel der Demonstranten, insbesondere nach der ideologischen Kanalisierung des Protests, war eine radikale Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems, eine Ablehnung des Kapitalismus, die Errichtung einer Demokratie „von unten“. Viele Achtundsechziger haben tatsächlich die Macht ergriffen, wie man heute leicht erkennen kann, wenn man einen Blick auf viele Organigramme wirft: Aber dafür mussten sie ihrem alten Glauben abschwören und akzeptieren, Instrumente des Kapitalismus zu sein, den sie zerstören wollten.

DIE KRISE DER GRUPPEN

Es gab bereits 1976 mehr als nur ein paar Vorzeichen für diese Niederlage. Die wichtigste Warnung war die Krise der organisierten revolutionären Gruppen, die daraufhin ihre eigene Auflösung einleiteten. Die Gruppen hatten an allen Fronten versagt: Es war ihnen nicht gelungen, die Arbeiterklasse von ihrer Bindung an die Kommunistische Partei und die traditionelle Gewerkschaft abzubringen, und umgekehrt waren sie nicht in der Lage gewesen, den „movementistischen“ Geist der letzten Generation vollständig zu interpretieren. „Die Gruppen“, schreibt Paul Ginsborg, „waren sektiererisch, beherrscht von den revolutionären Modellen der Dritten Welt, unfähig, realistische Schlussfolgerungen aus den Signalen der italienischen Gesellschaft zu ziehen.“

Sie sagten, sie kämpften gegen den Autoritarismus, versuchten aber, ihre Kampfformen, ihren Lebensstil und ihre politischen Ideen allen aufzuzwingen: „Der Arbeiter“, hieß es 1972 in einem programmatischen Dokument von CUB Pirelli, „muss sich als Produzent begreifen und sich seiner Funktion bewusst werden, er muss ein Klassenbewusstsein haben und Kommunist werden, er muss erkennen, dass das Privateigentum ein totes Gewicht ist, eine Last, die beseitigt werden muss“.

Sie sagten, dass sie die Parteiform verabscheuten, aber fast alle erlagen der Versuchung, die Organisation der Parteien, die sie auslöschen wollten, in Fotokopie zu reproduzieren. Eines der auffälligsten Beispiele war 1973 die Ernennung von Adriano Sofri zum Sekretär der „bewegungsorientierten“ Lotta continua. Und es ist 1976, als sich die Lotta continua, die vielleicht wichtigste der Achtundsechziger-Gruppen, auflöst.

Am 20. Juni waren politische Wahlen abgehalten worden, die für die extreme Linke katastrophale Ergebnisse brachten. Die Democrazia proletaria, die einzige Liste, die die Erben des Achtundsechziger-Protests repräsentieren sollte, hatte nur 557.000 Stimmen erhalten, 1,5 Prozent, weniger als die Hälfte der erhofften Stimmen. Und die Partito Radicale waren trotz ihres erstmaligen Einzugs ins Parlament nicht über 1,1 Prozent hinausgekommen. Mehr noch als die Erkenntnis der Bescheidenheit ihrer Stärke bedrückte die revolutionäre Linke jedoch die außerordentliche Zustimmung der Wähler – und damit der Bevölkerung – zu den Christdemokraten, die mit 38,7 Prozent 3,7 Prozent mehr als bei den Kommunalwahlen im Vorjahr erhielten. Ein Ergebnis, das die oft geäußerte Vorhersage des baldigen Zusammenbruchs der DC Lügen straft und eine Verschiebung der Revolution auf unbestimmte Zeit erzwingt. 

Natürlich hatte auch die PCI zugelegt und war von den bereits sehr bedeutenden 33 Prozent am 15. Juni 1975 auf 34,4 Prozent am 20. Juni 1976 angewachsen. Aber das war für die extreme Linke kein Trost. Im Gegenteil: Wie Luigi Bobbio von Lotta continua in Erinnerung ruft, „öffnete das weitere Erstarken der KPI nicht den Weg zu einer Machtalternative zur Christdemokratie, sondern nahm vielmehr einen Stabilisierungsprozess vorweg, der sich an zwei großen, konvergierenden Polen abspielte. Das Bild, das sich nach dem 20. Juni ergibt, ist nicht das der ‘Regierung der Linken’, sondern eher das des ‘historischen Kompromisses’“ (Storia di Lotta Continua). Die Brüskierung war so groß, dass Adriano Sofri vor dem Nationalkomitee von einer „politischen Niederlage“ sprach und die Wahlprognosen von Lotta continua als „den größten Fehler in unserer Geschichte“ bezeichnete. Noch drastischer äußerte sich Marco Boato, der einen Vorgeschmack auf die bevorstehende Selbstauflösung gab: „Wir befinden uns an einem historischen Wendepunkt, an dem über Leben und Tod von Lotta continua entschieden wird. Wir haben alles falsch gemacht. Eine revolutionäre Partei, die in der Phase, die sie als historisch und entscheidend für den Klassenkampf in unserem Land definiert hat, alles falsch macht, kann es sich nicht leisten, mit ein paar Korrekturen aus dieser Phase herauszukommen”.

DIE EUTHANASIE VON LOTTA CONTINUA

Die Wahlniederlage der Democrazia proletaria ist nicht das einzige Problem für Sofri und seine Genossen. Der Dissens innerhalb der Bewegung wächst, auch und vor allem, weil die Nachahmung der traditionellen Parteien, die, wie bereits erwähnt, den ursprünglichen Geist der Bewegung entstellt hat, nicht geduldet wird. Es ist wieder Luigi Bobbio, der daran erinnert: „Die Partei … wird zur Hauptzielscheibe der Militanten, nicht so sehr wegen der getroffenen Entscheidungen, sondern weil sie sich als übergeordnete Autorität konstituiert und sie deshalb in diese abenteuerliche Spaltung hineingezogen hat. Der Begriff ‘Enteignung’ ist derjenige, der am häufigsten in den oft mit Vorwürfen gespickten Anklagen der Genossen von der Basis auftaucht”. Und um die interne Situation zu verschärfen, kam die Frage der Frauen und der Arbeiter hinzu. Erstere – wir befanden uns nun inmitten eines feministischen Klimas – hatten sich ein Jahr lang allein getroffen und „Selbstbewusstsein“ praktiziert. Letztere warfen der Führung vor, dass sie die „Zentralität der Arbeiter“ verloren habe. Frauen und Arbeiterinnen hatten sich also an die Spitze der Revolte gegen die Linie der Lotta continua -Führung gestellt.

In diesem Klima wurde am 31. Oktober 1976 in Rimini der zweite nationale Kongress von Lotta continua eröffnet, an dem etwa tausend Militante teilnahmen. Vergeblich versucht Sofri, die Kräfte zu bündeln. Frauen und Arbeiterinnen treffen sich auch während des Kongresses weiterhin in getrennten Versammlungen. Der Genosse Vichi aus Turin ergreift das Wort und fordert die Arbeiter auf, „sich selbst in Frage zu stellen, angefangen bei ihren sexuellen Beziehungen und ihrem Leben“, und die Genossin Laura, ebenfalls aus Turin, erklärt, dass „zu diesem Zeitpunkt kein Bündnis zwischen Arbeitern und Frauen möglich ist“. Der Kongress endete ohne eine Neuzusammensetzung. Die Zeitung „Lotta continua“ bezeichnete ihn am Tag nach seiner Beendigung als eine „außergewöhnliche politische und menschliche Erfahrung“. Die Schlagzeile der Zeitung vom 6. November 1976 lautete: „Öffnen wir unsere Widersprüche überall. Lasst uns den Reichtum unseres Kongresses überallhin mitnehmen. Doch das Schicksal von Lotta continua war besiegelt. Die Bewegung löste sich auf, ohne dass ein offizieller Akt erfolgte. Das nationale Komitee tritt nicht mehr zusammen, die Leitungsgremien werden nicht erneuert, die Ortsgruppen werden sich selbst überlassen. Die Zeitung blieb am Leben und wurde bis 1982 weiter herausgegeben; bei Demonstrationen waren immer noch Transparente mit der Aufschrift „Lotta continua“ zu sehen.  Viele junge Menschen haben sich weiterhin zu dieser Bewegung bekannt. Aber die Bewegung, verstanden als Organisation, gab es nicht mehr. Es ist viel darüber diskutiert worden, warum sich Lotta continua auflöste. Sicherlich wurde die Struktur als Partei von einem großen Teil der Basis abgelehnt. Sicherlich hatte die feministische Frage ein erhebliches Gewicht. Aber die Tatsache, dass die Lotta continua – Führung nach Rimini keinen Versuch unternahm, die Bewegung zu retten, sondern sie im Gegenteil bewusst sterben ließ, verleiht der Version Glaubwürdigkeit, wonach der wahre Grund für die Selbstauflösung von Lotta continua in der Unruhe vieler Militanter lag, die auf einen entschiedenen Übergang zum bewaffneten Kampf „drängten“. Sofri, der die Entscheidung für die Roten Brigaden bereits drastisch verurteilt hatte, versuchte, diese Bestrebungen einzudämmen und diejenigen zu isolieren, die Lotta continua in eine klandestine terroristische Gruppe umwandeln wollten. Aber es gelang ihm nicht. Also löste er die Bewegung auf. Dies ist eine Version, die nie offiziell gemacht wurde und auch von den Führern der Lotta continua geleugnet wird, die das Ende der Bewegung immer mit der „Frauenfrage“ in Verbindung bringen. Dass der Impuls zum bewaffneten Kampf jedoch vorhanden war, zeigt die Tatsache, dass ein großer Teil der Mitglieder der entstehenden Prima linea aus Lotta continua kam.

DIE BEWAFFNETE PARTEI BREITET SICH AUS

Es war nicht nur ein Problem von Lotta continua. Die bewaffnete Partei missioniert fast überall und trägt ihren Teil zum Auseinanderbrechen der verschiedenen Bewegungen bei. In der Tat schien es keinen Sinn mehr zu machen, sich „revolutionäre Gruppen“ zu nennen, sich von den Parteien der traditionellen Linken abzugrenzen und die Revolution nicht zu machen. Eine klare Entscheidung schien logischer: entweder so, mit der PCI, oder so, mit den Roten Brigaden. Und in der Tat, im selben Jahr 1976, als sich die Gruppen auflösten, haben sowohl die PCI als auch die Aktionen der Linksterroristen Auftrieb bekommen.

Zu Beginn des Jahres hatten sie mit der Festnahme von Renato Curcio und Nadia Mantovani (in Mailand) einen schweren Schlag erlitten. Aber in denselben Monaten hatten sie sich aus dem großen Meer der „Enttäuschten“ der Gruppen vom Typ „Lotta continua“ gestärkt. Zu den wichtigsten Aktionen des Jahres 1976 gehörten eine Reihe von Anschlägen auf Fabriken (die schwerwiegendste war vielleicht der Brand bei Fiat Mirafiori am 3. April, der damals einen Schaden von einer Milliarde Dollar verursachte), der die Arbeiter vieler Unternehmen dazu veranlasste, Ostern in den Fabriken zu verbringen, um „freiwillige Wachen“ zu organisieren.

Und dann die Liquidierung des Mailänder MSI-Provinzrats Enrico Pedenovi durch Militante der Autonomia, die im Begriff waren, die Prima linea zu bilden (29. April); die Ermordung des Generalstaatsanwalts von Genua, Francesco Coco, und zweier Carabinierie der Eskorte, die von den Roten Brigaden am 8. Juni in Genua durchgeführt wurde; die Ermordung des Vize Polizeichefs, Francesco Cusano, am 1. September in Biella, ebenfalls ein Opfer der Roten Brigaden; der Überfall von NAP (Nuclei Armati Proletari) auf den Leiter des Anti-Terror Zentrums von Latium, Alfonso Noce (in Rom, am 14. Dezember), der in einer Schießerei endete, bei der der Agent Prisco Palumbo und der Terrorist Martino Zichitella getötet wurden; die andere tragische Schießerei am folgenden Tag in Sesto San Giovanni, bei der Walter Alasia (1) von den Roten Brigaden den stellvertretenden Polizeipräsidenten Vittorio Padovani und den Polizeioffizier Sergio Bazzega tötete, bevor er seinerseits von den Polizisten getötet wurde. Die bewaffnete Partei – und insbesondere die BR (Brigate Rosse), die unter der Führung von Mario Moretti eine entscheidende Rolle gespielt hatte – bereitete den „Quantensprung“ vor, der sie in den folgenden Jahren mehrmals in die Lage versetzen sollte, den Staat in die Knie zu zwingen.

Walter Alasia

BERLINGUER UND DER GEMÄSSIGTE KOMMUNISMUS

Zu einem Zeitpunkt, als die revolutionären Gruppen ihren Bankrott erklärten und die BR immer effizienter wurden, stand die Kommunistische Partei so kurz vor der Machtübernahme wie nie zuvor und wie nie wieder. Die Wahlen von 1975 bescherten der PCI nicht nur einen prozentualen Zuwachs von 6,5 Punkten (im Vergleich zu den Kommunalwahlen von 1970), sondern brachten die Kommunisten auch in die Regierungen der Lombardei, des Piemont und Liguriens sowie in den bereits „roten“ Regionen wie Emilia Romagna, Toskana und Umbrien. Und nicht nur das: Alle großen italienischen Städte, mit Ausnahme von Palermo und Bari, wurden von linken Stadtregierungen verwaltet. Die politische Linie ihres Sekretärs Enrico Berlinguer, der sich das Wohlwollen eines diskreten Teils der Bourgeoisie erworben hatte, indem er den Realsozialismus ausdrücklich ablehnte und sich zur Zusammenarbeit mit den Katholiken bereit erklärte, hatte wesentlich dazu beigetragen, diesen großen Sprung der PCI zu begünstigen. Bereits im Oktober 1973 hatte Berlinguer in einem Artikel in „Rinascita“ den „historischen Kompromiss“ zwischen den beiden Volkskräften des Landes, der Linken und den Katholiken, vorgeschlagen. Diese Idee war nach dem Staatsstreich in Chile gereift, der die sozialistische Regierung von Salvador Allende hinweggefegt hatte: Berlinguer war überzeugt, dass der Staatsstreich durch die mangelnde Einheit der demokratischen Parteien begünstigt worden war. 

Der Artikel in „Rinascita“ trug den Titel „Überlegungen zu Italien nach den Ereignissen in Chile“. Nach dieser vorgeschlagenen Umarmung mit der DC  schlug Berlinguer zusammen mit den Sekretären der französischen und spanischen kommunistischen Parteien die Schaffung eines „Eurokommunismus“ vor, d. h. eines westlichen Weges zum Sozialismus, der sich deutlich von den rücksichtslosen Diktaturen des Ostens unterscheidet. Das Dokument, das die kommunistischen Sekretäre Italiens und Spaniens am 12. Juli 1975 gemeinsam unterzeichneten, war eine echte Abkehr vom Marxismus-Leninismus.

Doch während in Italien ein Teil der Bourgeoisie aufhörte, die PCI mit dem Schreckgespenst der Roten Armee in Verbindung zu bringen, wurde der Eurokommunismus in den Vereinigten Staaten nicht gut aufgenommen. Im Gegenteil, er wurde als äußerst gefährlich und destabilisierend angesehen. Am 14. Juni 1976, wenige Tage vor den politischen Wahlen, veröffentlicht die angesehene amerikanische Wochenzeitschrift „Time“ ein Foto von Berlinguer auf ihrer Titelseite mit der bezeichnenden Schlagzeile: „Italien: die rote Gefahr“. Berlinguer bemüht sich sofort, die Italiener zu beruhigen, und gibt am nächsten Tag Giampaolo Pansa im „Corriere della Sera“ ein Interview, in dem er sich verpflichtet, Italien im Falle eines Wahlsiegs in der NATO zu halten. Ich fühle mich sicherer, wenn das so bleibt”, sagte er. Eine historische Aussage für den Sekretär einer kommunistischen Partei.

Die traditionelle Abneigung der Italiener gegen den Kommunismus blieb dennoch sehr ausgeprägt, und wenn es stimmt, dass einerseits ein gewisser Teil der Bourgeoisie glaubte, dass die PCI nun eine sozialdemokratische Partei sei, so errichtete sie andererseits eine Mauer gegen die „rote Gefahr“. Die DC wurde von allen als die wirksamste, ja die einzig mögliche Barriere angesehen: auch dank der Kampagne von Indro Montanelli (“Das sind keine Wahlen, das ist ein Referendum: Rümpfen wir die Nase und wählen wir die DC”, schrieb er im ‚Giornale‘) (2), der Mobilisierung der ‘Katholiken der Gemeinschaft und der Befreiung’ und der Übertragung von Stimmen von der extremen Rechten (die MSI verlor 3 Prozent, die offensichtlich an die christdemokratischen Listen flossen), gelang es der DC, den Vormarsch der PCI einzudämmen und die relative Mehrheitspartei zu bleiben. Trotz der Wahlherausforderung begann unmittelbar danach die Zeit der Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten und Kommunisten, die in den verschiedenen Regierungen des “non sfiducia“ und der „nationalen Solidarität“ gipfelte: DC-geführte Exekutivorgane, die von der PCI extern unterstützt wurden.

DIE AUTONOMIA BETRITT DIE BÜHNE

Nach dem Ende der organisierten Gruppen war die Linke, wie wir gesehen haben, zweigeteilt: auf der einen Seite die PCI, die sich dank der Eroberung der meisten lokalen Verwaltungen und der Zusammenarbeit der Regierung mit der DC an der Macht etabliert hatte, auf der anderen Seite die bewaffnete Partei. Doch der Abstand zwischen der KPI und den BR war zu groß, und in der Mitte blieb eine Lücke. Eine Lücke, in die die „Autonomia“ schlüpfte, ein sehr komplexer Bereich, der in Wirklichkeit oft an die eigentlichen terroristischen Formationen angrenzte. Im Gegensatz zur BR entschied sich die „Autonomia“ nicht ausdrücklich für den bewaffneten Kampf, war nicht in den Untergrund gezwungen und konnte bei Tageslicht agieren. Sie war jedoch, wie man zu sagen pflegte, „das Wasser, in dem die Fische schwimmen“: das Umfeld also, in dem die bewaffnete Partei ihre Kämpfer rekrutieren und wichtige Unterstützung und Deckung erhalten konnte. Einigen Beobachtern zufolge war die Besetzung von Fiat Mirafiori im Jahr 1973 die Keimzelle der Autonomia: zum einen, weil sie sich der Führung der Gewerkschaft und der PCI völlig entzog, zum anderen, weil sie von jungen Leuten aus dem Turiner „Gürtel“ geführt wurde, die fünf Jahre zuvor Protagonisten von Achtundsechzig in den Schulen gewesen waren, und nicht von den traditionellen Fiat-Arbeitern, die aus dem Süden emigriert waren. 

 „Die zweckfreien Rufe, keine Slogans mehr, keine Drohungen oder Versprechungen der jungen Arbeiter mit dem roten Tuch auf der Stirn, der ersten Großstadtindianer, diese Rufe kündigten an, dass eine neue Zeit für die revolutionäre Bewegung in Italien anbricht. Eine Phase ohne fortschrittliche Ideologien oder den Glauben an den Sozialismus, ohne jegliche Zuneigung zum demokratischen System, aber auch ohne Respekt vor den Mythen der proletarischen Revolution, zeichnet sich ab. In dieser veränderten Situation nimmt das neue politisch-kulturelle Phänomen der Autonomia operaia Gestalt an”, schreiben Nanni Balestrini und Primo Moroni. Ein weiteres Vorzeichen der Autonomia waren Protestformen wie die „Selbstreduzierung” und “proletarische Enteignungen “. Die Selbstreduzierung entstand im August 1974 auf Initiative einiger Fiat-Rivalta-Arbeiter, die sich weigerten, die neuen Bustarife zu zahlen, und dem Verkehrsbetrieb den Gegenwert der alten Abonnements schickten, um die öffentlichen Verkehrsmittel weiterhin ohne Fahrschein zu benutzen. Von den Bussen gingen sie dazu über, ihre Strom- und Telefonrechnungen selbst zu reduzieren.  Von den Bussen ging es weiter zum Selbstreduzierung von Strom- und Telefonrechnungen. Diese Praxis breitete sich dann auf andere Städte aus und wurde oft zu einem reinen Vorwand, um die Fahrkarte nicht zu bezahlen: nicht nur in den Bussen, sondern zum Beispiel auch im Kino, wo Gruppen von Extremisten die ersten Vorführungen besuchten, indem sie 500 Lire bezahlten, und die Theaterleiter dies aus Angst vor Repressalien mit weitaus größerem Schaden durchgehen ließen. Ebenso waren die „proletarischen Enteignungen“ von Ladenbesitzern (einige gingen so weit, sie als „Wiederinbesitznahme“ zu bezeichnen) in Wirklichkeit echte Diebstähle oder sogar Raubüberfälle, wenn sie mit Drohungen und Gewalt durchgeführt wurden.

Großstadtindianer

Eine Kartographie des autonomen Raums zu erstellen ist weitaus schwieriger als eine der nach 1968 entstandenen Gruppen. In der Tat ist es ein unmögliches Unterfangen, da die Autonomen per definitionem von jeder Organisation losgelöst sind. Man kann jedoch schematisch drei Stränge aufzählen. Die erste ist die so genannte „kreative“, „spontane“ Gruppe, die sich jeder Form von Hierarchie entzieht. Die repräsentativsten Elemente dieses Strangs waren die „Großstadtindianer“, junge Leute, die ihre Gesichter genau wie die der amerikanischen Ureinwohner bemalten und sich unter anderem weigerten, als „links“ bezeichnet zu werden. Der zweite Strang ist der der „Eierköpfe“: Intellektuelle, die die neue Botschaft theoretisierten und die vor allem an der Universität Padua und in einer Reihe von Buchhandlungen in den Großstädten zu finden waren. Der dritte Strang ist der der Autonomia operaia organizzata (mit einem großen A; wenn wir Autonomia mit einem kleinen Anfangsbuchstaben schreiben, meinen wir stattdessen den gesamten Bereich, der zwischen der PCI und der BR lag; kurz gesagt, den Bereich, der alle drei Stränge umfasst, von denen wir sprechen). Die  Autonomia operaia organizzata vertrat eine leninistische und militaristische Linie und sprach sich ausdrücklich für eine Kultur der Gewalt und die Organisation des „Kampfes gegen den Staat“ aus. Dieser dritte Strang, der eng mit dem zweiten verbunden ist, hatte ehemalige Potere operaio-Vertreter wie den Universitätsprofessor Toni Negri und Oreste Scalzone als Führer. Die organisierte Arbeiterautonomie wiederum hatte verschiedene Nuancen, die sich in einer unüberschaubaren Anzahl von Strömungen ausdrückten, darunter die Römischen Autonomen Komitees, die Revolutionären Kommunistischen Komitees, die Autonomen Arbeiterversammlungen, die CPS, die Studentischen Politischen Kollektive, und die Autonomen Kollektive, die in den großen Städten präsent waren (berühmt ist das in der Via dei Volsci in Rom).

Das Territorium der Autonomie brachte auch eine Vielzahl von Zeitungen hervor: Einige waren fabrikgebunden wie „Senza Padroni“ bei Alfa Romeo, „Lavoro Zero“ in Porto Marghera, „Mirafiori Rossa“ in Turin; andere hatten eine größere Auflage wie „Aut Aut“, „Primo Maggio“, „Rosso“ und „Senza Tregua“ in Mailand, „Potere Operaio per il Comunismo“ (später in „Autonomia“ umgewandelt) in Venetien, „Rivolta di Classe“ (später „I Volsci“), „Metropoli“ und „Pre-print“ in Rom. Am erfolgreichsten war „A/traverso“, das in Bologna von der Gruppe um „Bifo“ Francesco Berardi hergestellt wurde und im Jahr 77 eine Auflage von 20.000 Exemplaren erreichte. Dieser im Entstehen begriffene Bereich der autonomia stand in starkem Kontrast zur PCI, der sie vorwarf, zum „System“ geworden zu sein. Die Linke ist gespalten in die „Garantierten“ und die „Nicht-Garantierten“, d.h. in diejenigen, die in den Fabriken auf den „Schirm“ der PCI zählen können, und die Jugendlichen, die umgekehrt keine Arbeit finden oder das verlieren, was sie gerade gefunden haben. Die PCI, die nun im „Palast“ angekommen war, wollte oder konnte nicht auf dem Rücken des Protestes der „Nicht-Garantierten“ reiten und ging sogar mit eiserner Faust gegen diese neuen Demonstranten vor: Sie unterstützte zum Beispiel die Erneuerung des Reale-Gesetzes zur öffentlichen Ordnung, gegen das sie 1975 mit „Nein“ gestimmt hatte.

Der Konflikt zwischen den Autonomen und der PCI sollte sich 1977 dramatisch zuspitzen und sich letztlich als noch ernster und gewalttätiger erweisen als der zwischen der Kommunistischen Partei selbst und den Achtundsechzigern.

XIV – DIE SIEBENUNDSIEBZIGER

Während es heute üblich ist, an kanonischen Jahrestagen der Achtundsechziger zu erinnern, wird an die Bewegung des Jahres 1977 kaum noch erinnert.

Dabei war es das turbulenteste Jahr des Jahrzehnts. Die Besetzungen von Schulen und Universitäten kehrten in einem Tempo zurück, das dem von 1968 sehr nahe kam; und im Vergleich zu 1968 waren die Straßendemonstrationen viel gewalttätiger: Es genügt zu sagen, dass am Ende des Jahres vierzigtausend Anzeigen erstattet, fünfzehntausend Menschen verhaftet, viertausend verurteilt und Dutzende getötet und verletzt wurden. Autonome und Großstadtindianer fühlten sich von allem und jedem abgeschnitten. Nicht nur von der PCI, die den Slogan „Die Arbeiterklasse wird zum Staat“ geprägt hatte und ihren Mitgliedern Arbeitsplatzsicherheit bieten konnte, sondern auch von den Achtundsechzigern, die als pathetische Veteranen galten, die sich die Medaillen einer nie stattgefundenen Revolution auf die Brust steckten und nun selbst von dem neuen System profitierten. An der Università Statale in Mailand hatte die aus der Studentenbewegung hervorgegangene Arbeiterbewegung für den Sozialismus wichtige Machtpositionen, aber auch Arbeitsplätze erlangt, indem sie die Leitung der Buchhandlung und der Universitätsgenossenschaft übernahm.

Dies ist nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie sich die „Siebenundsiebziger“ nicht nur vom Staat vergessen und verraten fühlten, sondern auch von jener Linken – PCI und den 68er-Gruppen -, die einen Wandel versprochen hatte und sich stattdessen in ihren Augen darauf beschränkt hatte, Positionen innerhalb des verhassten „Regimes“ zu erlangen. Aus diesem Grund entlud sich ihre Wut so heftig.

DER STURZ VON LAMA

Der Aufschwung der Straßenkämpfe ’77 hatte einen Vorläufer am 7. Dezember ’76 in Mailand, als die Circoli proletari giovanili und die Circoli giovanili (der Leser sollte nicht an einen Irrtum denken: es handelte sich um zwei verschiedene Formationen) die traditionelle „Premiere“ der Scala boykottiert hatten. Wie schon acht Jahre zuvor wollten sie gegen die Geldverschwendung des Mailänder Großbürgertums protestieren, das sich mitten in der Beschäftigungskrise hunderttausend Lire für eine Eintrittskarte zur Saisoneröffnung (diesmal stand Othello auf dem Spielplan) und wer weiß wie viel mehr Geld für die Schneiderkosten gönnte. Diesmal beschränkten sich die Demonstranten an der Sant’Ambrogio jedoch nicht auf das alles in allem harmlose Werfen von Eiern durch Capanna und seine Genossen; diesmal handelte es sich um einen Guerillakrieg, an dem fünftausend Polizisten und Carabinieri beteiligt waren und der mit 250 Festnahmen, 30 Verhaftungen, 21 Verletzten und Dutzenden von in Brand gesetzten Straßenbahnen und Autos endete.

Im Jahr ’77 verlagerten sich die Spannungen jedoch hauptsächlich nach Rom und Bologna. In Rom war die Universität am 1. Februar besetzt worden. Der Vorwand war ein Rundschreiben des christdemokratischen Bildungsministers Franco Maria Malfatti, das den Studenten verbot, mehr als eine Prüfung im selben Fach abzulegen. Dass es sich dabei um einen Vorwand handelte, zeigt die Tatsache, dass die Besetzung auch dann noch fortgesetzt wurde, als Malfatti selbst das Rundschreiben zurückzog. Die Besetzer waren sich jedoch nicht einig. PCI, Democrazia proletaria und Avanguardia operaia widersprachen der autonomia– Bewegung, die bei den Zusammenstößen mit Rechtsextremen und der Polizei in der Stadt die Hauptrolle spielte. Doch gerade die autonomia war es, die die Besatzung in ihrem Griff hatte. Am 9. Februar debütiert die Bewegung ’77 mit einem Umzug von dreißigtausend Studenten durch die Straßen Roms. Nach der Kritik von „Il Manifesto“ („Die Autonomen sind das negativste und alte Gesicht der neuen Linken“) organisieren die CGIL und die PCI für den 17. Februar eine Kundgebung von Luciano Lama in der Universität, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Doch Lama konnte am 17. kaum sprechen. Die Autonomen hinderten ihn daran und lieferten sich einen erbitterten Kampf mit dem Sicherheitsdienst der PCI, wobei sie „Weg, weg, die neue Polizei“ riefen.

Nach äußerst heftigen Zusammenstößen mit Dutzenden von Verletzten mussten die Kommunisten die Universität verlassen. Das Manöver der PCI war gescheitert, die Autonomen hatten sich als „unkontrollierbar“ erwiesen: Für die Leitung von Botteghe Oscure waren sie „die neuen Squadristi“. (3) Der Rauswurf Lamas aus der Universität gab der Bewegung der Autonomen Auftrieb, die sich Ende Februar bereits auf viele italienische Städte ausgebreitet hatte, insbesondere auf Padua, wo die Universität besetzt war. Am 5. März demonstrierte die Bewegung mit einem vierstündigen Guerillakrieg auf den Straßen Roms gegen die Verurteilung von Fabrizio Panzieri wegen des Mordes an dem MSI-Studenten Mikis Mantakas ihre Stärke. Die Angriffe der Extremisten wurden von einem privaten Radiosender, Radio Città Futura, koordiniert, der damit eine Strategie einleitete, die sich im Laufe des Jahres noch mehrmals wiederholen sollte. Dank des Radios wussten die Autonomen, wo sich die Polizei aufhielt, wo sie ihre Genossen treffen konnten, wo es günstig war, Barrikaden zu errichten und die Ampeln auszuschalten.

GUERILLAKRIEG IN BOLOGNA

Noch schlimmer war der Guerillakrieg, der am 11. März in Bologna ausbrach. Im Anatomischen Institut der Universität war eine Versammlung der Katholiken von „Communione e Liberazione“ geplant. Dies war für eine Bewegung, die das Wort „Demokratie“ in den Mund nahm, aber keine anderen Gedankengänge als die eigenen zuließ, absolut untragbar. Tatsächlich wurden die Ciellini belagert und gezwungen, sich im Institut zu verbarrikadieren. Bis heute kursiert die Version, dass die Vorfälle ausbrachen, weil die Ciellini einige Studenten der Bewegung verprügelt hatten, die sich einfach am Eingang des Saals, in dem die Versammlung stattfand, eingefunden hatten. Aber was auch immer man über die Ciellini sagen mag oder nicht, man hat nie von Schlägereien durch sie gehört. Erwähnenswert ist das Flugblatt, das am selben Nachmittag von der PCI und der CGCI in Umlauf gebracht wurde und in dem von einer „unzulässigen Entscheidung einer Gruppe der so genannten autonomia zur Verhinderung der CL-Versammlung“ die Rede war. Das war jedoch die Realität: Die Ciellini verbarrikadierten sich in einem Hörsaal, und von draußen griffen bewaffnete und weitaus zahlreichere Studenten die Versammlung an. Das Eingreifen der Carabinieri war unvermeidlich, gegen die die Autonomen mehrere Molotow-Cocktails warfen, was zeigte, dass die Studenten nicht unvorbereitet gekommen waren. Der Kampf weitete sich aus, und am Ende wurde das junge Mitglied von „Lotta continua“, Francesco Lorusso, bei den Zusammenstößen getötet. Damit begann die „Plünderung“ des Zentrums von Bologna. 

Francesco Lorusso

So begann die „Plünderung“ des Zentrums von Bologna. Die „Autonomen“, die neben Molotowcocktails auch die berüchtigten „P38“-Pistolen besaßen, lieferten sich überall Schießereien; sie zerstörten Dutzende von Geschäften, errichteten Barrikaden und legten Brände. Der Bahnhof wurde besetzt; zwei Polizeistationen, die Redaktion des „Resto del Carlino“ und die Provinzzentrale der DC wurden angegriffen; die CL-Buchhandlung „Terra Promessa“ wurde verwüstet. Die Guerilleros verpflegten sich, und das offensichtlich nicht schlecht, im „Cantunzein“, einem der bekanntesten Restaurants der Stadt, dessen Vorräte mit einer proletarischen „Enteignung“ ausgeräumt wurden. Auch hier wurden die Vorfälle über den Äther koordiniert: Die Justiz ordnete die Verhaftung von Francesco Berardi, genannt „Bifo“, an, dem 28-jährigen Literaturlehrer und Animateur von Radio Alice. Er war es, der über die Mikrofone die Angriffe und Zerstörungen veranlasst hatte, so die Staatsanwaltschaft. Radio Alice wurde geschlossen, aber Bifo gelang es, der Verhaftung zu entkommen und nach Paris zu fliehen.

Die Plünderung von Bologna dauerte drei Tage, und um die Ordnung wiederherzustellen, mussten gepanzerte Fahrzeuge eingreifen – etwas, das nicht einmal 1968 geschehen war – und dreitausend Mann das Zentrum bewachen. Am Ende dieser drei Tage gab es 131 Verhaftungen. Es war eine historische Brüskierung für die PCI, die „ihr“ Bologna als Aushängeschild, als Demonstration einer kommunistischen, effizienten, geordneten und glücklichen Stadt rühmte. Am 12. März, dem Tag nach Lorussos Tod, wird auch Rom zum Schlachtfeld: Die Autonomen plündern zwei Waffenlager und stürmen die Stadt. Sie stürmten die chilenische Botschaft im Vatikan, den Sitz der christdemokratischen Zeitung „Il Popolo“, die Kaserne der Carabinieri auf der Piazza del Popolo, das Hauptquartier des Golfs, ein Fiat-Autohaus und einige Banken. Hunderte von Schaufenstern wurden eingeworfen. Schießereien und Brände hielten bis in die Nacht an. Am 12. März kam es auch in Neapel, Padua, Florenz, Palermo und Mailand zu schweren Zwischenfällen, als Schüsse aus P38’s die Fensterscheiben der Assolombarda, dem regionalen Hauptsitz der Industriellen, zersplitterten.

EIN PROBLEM FÜR DIE LINKE

Als die Universität von Rom am 16. März wieder geöffnet wurde, war sie von der Polizei besetzt. Der Betrieb konnte trotzdem normal weitergehen. Aber die Studenten der Bewegung wollten ihre eigenen Bedingungen durchsetzen: sofortige Entfernung der Beamten, Öffnung der Universität von 8 bis 22 Uhr, freie Wahl des Prüfungsfachs und 27 Dreißigstel als garantierte Mindestnote. Angesichts des klaren Neins zu diesen Forderungen besetzten die Autonomen die Universität erneut. Am 21. April griff die Polizei ein und konnte die Besetzung am Vormittag ohne besondere Vorkommnisse auflösen. Am Nachmittag gingen die Autonomen jedoch zum Gegenangriff über. Sie stürmten mit Molotowcocktails und P38 bewaffnet die Universität, töteten einen Polizeibeamten, Settimio Passamonti, dreiundzwanzig Jahre alt- und verletzten zwei weitere schwer. Am nächsten Tag verbot die Regierung angesichts der außergewöhnlich ernsten Lage der öffentlichen Ordnung alle öffentlichen Demonstrationen in Rom für einen Monat. Ungeachtet dieses Verbots organisierten die Radikalen am 12. Mai in Rom eine öffentliche Demonstration anlässlich des dritten Jahrestages des Sieges im Scheidungsreferendum. Die Polizei griff ein, und es kam zu weiteren Zusammenstößen, die bis in den späten Abend andauerten. Dabei wurde eine Demonstrantin, die 20-jährige Giorgiana Masi, eine Sympathisantin der Radikalen Partei, durch einen Schuss eines Polizisten getötet.

Zwei Tage später töteten die Autonomen in Mailand während eines Protestmarsches gegen die Verhaftung von zwei Anwälten des Soccorso Rosso in der Via De Amicis den Polizeibrigadier Antonino Custrà. Bei dieser Gelegenheit schoss ein Amateur das Foto, das zum Symbol der anni di piombo geworden ist: ein junger Autonomer mit vermummtem Gesicht, der mit einer Pistole in beiden Händen schießt. Die autonomia war damals auch für die Gruppen links von der PCI ein ernsthaftes Problem: „Es ist notwendig, die Autonomia operaia loszuwerden und nicht nur ihre jüngste Gewalt“, schrieb Rossana Rossanda in „Il Manifesto“ vom 17. Mai. Und Luca Cafiero, nationaler Sekretär des Movimento Studentesco: „Wir werden den Autonomen die Pistolen wegnehmen und sie dazu bringen, sie zu schlucken“.

AN DER BAR STIRBT MAN

Dass 1977 ein Jahr des Krieges war, zeigt sich nicht nur an der Zahl der Zusammenstöße auf der Straße, sondern auch an den Aktionen der Roten Brigaden und anderer klandestiner Formationen, die in diesem Jahr noch effizienter und rücksichtsloser geworden waren. Am 28. April töteten die Roten Brigaden in Turin den Präsidenten der Anwaltskammer, Fulvio Croce: eine Mordwarnung im klassischsten Mafia-Stil, denn Croce sollte den Pflichtverteidiger im Prozess gegen Curcio und andere Terroristen ernennen; auf diese Weise wollten sie Anwälte und Volksrichter einschüchtern, und tatsächlich lehnte letzterer am 31. Mai die Ernennung ab, was zur Vertagung des Prozesses führte. Auch Journalisten gerieten in das Visier der BR. Im Juni wurden zwölf von ihnen an den Beinen verletzt, darunter Indro Montanelli, der Direktor von Tg 1 Emilio Rossi und der stellvertretende Direktor von Genuas „Secolo XIX“ Vittorio Bruno. Und am 16. November tötete die BR in Turin den stellvertretenden Direktor der „Stampa“ Carlo Casalegno, der als „Diener des Staates“ bezeichnet wurde. Was die Fabriken betrifft, so wurden in diesem Jahr Dutzende von Managern und Vorarbeitern in die Knie gezwungen. Aber um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sehr dieser Krieg eine ständige Bedrohung für alle darstellte, muss man bedenken, dass die Gefahr jeden und überall treffen konnte. Das zeigt der Tod von Roberto Crescenzio und die sieben Verwundeten in der Bar in Largo Porto di Classe.

Der Überfall auf die Bar im Largo Porto di Classe in Mailand, Stadtteil Città Studi, war das Werk von Kommandos der Avanguardia operaia und vom Caf, i comitati antifascisti. Er fand am 31. März 1976 um sechs Uhr abends statt. Die Bar galt als eine „Schwarze Ecke“. An diesem Abend befand sich jedoch kein einziger Faschist in der Bar. Die Extremisten – größtenteils dieselben, die ein Jahr zuvor Ramelli ermordet hatten – setzten die Bar mit Molotowcocktails in Brand und versperrten den fliehenden Gästen den Weg. Sieben Personen wurden schwer verletzt, und drei von ihnen tragen noch heute die Spuren des Angriffs. Eine Tat, die so feige war, dass sie in den folgenden Tagen eine interne Diskussion auslöste, die eines der ersten Anzeichen der Krise der Avanguardia operaia war. Massimo Bogni, einer der Verantwortlichen für den Überfall, der später zum Katholizismus konvertierte und aufrichtige Reue zeigte (er stellte sich spontan dem Untersuchungsrichter), sagte vor dem Prozess, der ’87 stattfand: „Wir eiferten den Helden Garibaldi und Guevara nach, und dann waren wir Feiglinge“.

Auch Roberto Crescenzio war kein Faschist. Er ist zweiundzwanzig Jahre alt und ein arbeitsloser Chemieexperte. Er hatte das tragische Pech, sich am 1. Oktober 1977 in der Bar „Blauer Engel“ in Turin zu befinden. An diesem Tag wurde Turin, wie auch Rom und andere italienische Städte, von neuen, wütenden Zusammenstößen zwischen der Polizei und linksextremen Jugendlichen erschüttert, die durch die Ermordung des Lotta Continua-Militanten Walter Rossi durch Neofaschisten am Vortag in Rom wütend geworden waren. An einem bestimmten Punkt kam der Umzug am „Angelo azzurro“ (Blauer Engel) vorbei, und jemand berichtete, er habe am Gioberti-Gymnasium eine Aufschrift gesehen, die besagte, dass diese Bar ein Treffpunkt für Faschisten sei. Dies reichte aus, um den Angriff auszulösen.

Die Bar wurde in Brand gesteckt und die Gäste mussten ins Freie fliehen. Ein dreijähriger Junge und sein 16-jähriger Babysitter wurden halb verbrannt und ins Krankenhaus gebracht. Roberto Crescenzio war auf der Toilette gefangen. Als es ihm mit letzter Kraft gelang, die Tür aufzustoßen, den Barraum zu durchqueren, ein Glasfenster zu durchbrechen und sich auf den Asphalt ins Freie zu stürzen, war sein Körper bereits vom Feuer gezeichnet. Und es war zu spät.

Auch hier löste der Tod eines Unschuldigen (in der Annahme, dass andere als schuldig angesehen werden könnten) eine Krise innerhalb der Bewegung aus. Nur wenige Tage nach der Verbrennung des „Blauen Engels“ auf dem Corso Valdocco malte jemand eine große Inschrift an eine Wand: „Es ist eine üble Zeit“. Ein kleiner, aber nicht unbedeutender Hinweis auf einen Leidensweg, den auch die sensibelsten Menschen zu spüren begannen und der bald zu einem Umdenken bei allen führen würde. Denn nicht nur das gemeine Volk, sondern auch die Mehrheit der jungen Leute, die an den Demonstrationen teilnahmen, hatten allmählich genug von so viel Blutvergießen und Trauer.

DIE INTELLEKTUELLEN UND DIE REPRESSION

Doch im Gegensatz zu den einfachen Leuten waren die Intellektuellen – oder zumindest bestimmte Intellektuelle – nach wie vor davon überzeugt, dass all diese Gewalt das Ergebnis der Unterdrückung durch ein System war, das immer mehr die Züge einer neuen Diktatur annahm. Diese Meinung vertraten beispielsweise Nanni Balestrini und Elvio Facchinelli, die polemisch forderten, dass ein Pavillon auf der Biennale von Venedig dem Dissens in Italien vorbehalten sein sollte. Und andere Kulturschaffende, darunter Leonardo Sciascia, vertraten eine Position, die der Kommunist Giorgio Amendola in einem scharfen Artikel in der „Unità“ als zweideutig bezeichnete. Die schärfsten Angriffe gegen das neue DC-PCI-„Regime“ kamen jedoch aus Paris, wo die italienische Intelligenz gewöhnlich ihre eigenen Weihen sucht.

Am 8. Juli wurde in Paris Bifo verhaftet, der Animator von Radio Alice und der Zeitschriften „A/traverso“ und „Zut“, der, wie wir gesehen haben, beschuldigt wurde, über das Radio zu den Vorfällen vom 11. März in Bologna aufgestachelt und sie gefördert zu haben („Ammazzate, ammazzate, abbiamo bisogno di cadaveri“, einer der Sätze, die ihm vorgeworfen wurden). In Paris, wohin er sich geflüchtet hatte, um dem vom Gericht in Bologna unterzeichneten Haftbefehl zu entgehen, war Bifo bei keinem Geringeren als Professor Felix Guattari untergekommen, dem Psychoanalytiker, der die Zeitschrift „Recherches“ leitete und zusammen mit dem Philosophen Gilles Deleuze den „Anti-Ödipus“ schrieb.

Am 8. Juli wurde er, wie bereits erwähnt, verhaftet. Es spielt keine Rolle, dass die französischen Behörden ihn nur drei Tage später freilassen, seine Auslieferung an die italienische Justiz verweigern und dem Angeklagten lediglich auferlegen, sich alle fünfzehn Tage in ein Register im Gebäude der Pariser Polizeipräfektur einzutragen. Der Haftbefehl gegen Bifo veranlasste eine Gruppe französischer Intellektueller, einen „Appell gegen die Repression in Italien“ nach Belgrad zu schicken, wo gerade eine Ost-West-Konferenz stattfand. „Wir möchten die Aufmerksamkeit auf die schwerwiegenden Ereignisse lenken“, heißt es in dem Appell, „die sich derzeit in Italien abspielen, und insbesondere auf die Repressionen, die gegen militante Arbeiter und intellektuelle Dissidenten, die gegen den historischen Kompromiss kämpfen, gerichtet sind. „Unter diesen Bedingungen“, so der Aufruf weiter, „was bedeutet der ‚historische Kompromiss‘ heute in Italien? Der ‘Sozialismus mit menschlichem Antlitz’ hat in den letzten Monaten sein wahres Gesicht gezeigt: einerseits die Entwicklung eines Systems der repressiven Kontrolle über eine Arbeiterklasse und ein junges Proletariat, die sich weigern, den Preis für die Krise zu zahlen; andererseits ein Projekt zur Aufteilung des Staates mit der DC (Banken und Armee für die DC; Polizei, soziale und territoriale Kontrolle für die PCI) mittels einer echten ‘einzigen’ Partei; gegen diesen Zustand haben junge Proletarier und intellektuelle Dissidenten in den letzten Monaten rebelliert. (…)

„Die Unterzeichner“, so endete der Appell, „fordern die sofortige Freilassung aller verhafteten Militanten, ein Ende der Verfolgung und der Diffamierungskampagne gegen die Bewegung und ihre kulturellen Aktivitäten und erklären ihre Solidarität mit allen Dissidenten, gegen die derzeit ermittelt wird.“ Es folgten die Unterschriften von Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Felix Guattari, Gilles Deleuze, Roland Barthes, Philippe Sollers, François Chatelet, Claude Mauriac, Pierre Clementi, Maria Antonietta Macciocchi und später auch Dario Fo und anderen Persönlichkeiten aus Kultur und Unterhaltung. In Italien wurde der Aufruf sehr scharf kommentiert. Der „Corriere della Sera“ bemerkte: „Die Vorstellung, [auf der Biennale von Venedig, Anm. d. Red.] einen Pavillon des italienischen Dissenses zu haben, vielleicht nur einen Steinwurf vom sowjetischen entfernt, ist absurd. Petitionen an die Belgrader Konferenz zu schicken, wo das Hauptproblem darin besteht, die Zahl der Insassen psychiatrischer Anstalten zu verringern und die UdSSR daran zu hindern, Sacharows Stimme ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen, zeugt von einer buchhalterischen Kurzsichtigkeit, die denen, die sie fördern, nicht zugute kommt”. Aber auch die kommunistischen Zeitungen „l’Unità“ und „Paese Sera“ waren hart, und auch „il Manifesto“ fand harte Worte.

Tatsache ist, dass die PCI, als sie in die Verwaltung des Staates eintrat, die Stimme des Protestes senken, ihren Ton mäßigen und zwischen dem, was sofort erobert werden konnte, und dem, was aufgeschoben und geduldig abgewartet werden musste, unterscheiden musste. Und zu ihrer Linken war Raum für libertäre und utopische Ansprüche geschaffen worden.

DIE BOLOGNA-KONFERENZ

Guattari und den anderen Intellektuellen gelang es jedoch, den Ton für das letzte große Ereignis der Protestsaison anzugeben: die Bologna-Konferenz über Repression. Am 23., 24. und 25. September strömten fünfundzwanzigtausend junge Menschen aus ganz Italien und ein paar aus dem Ausland nach Bologna. Da waren natürlich die Autonomen und die Großstadtindianer, aber auch die Reste der organisierten Gruppen. Und es fehlte auch nicht an – wie verschiedene gerichtliche Untersuchungen später ergaben – „Beobachtern“ aus der BR und anderen Formationen, die auf der Suche nach neuen Rekruten kamen. Die PCI nahm die Herausforderung an: „Bologna ist die freieste Stadt der Welt“, sagte der kommunistische Bürgermeister Renato Zangheri. Aber es ist offensichtlich, dass die Angst vor einer Wiederholung des Guerillakriegs im März enorm war. In jenen Tagen goss Berlinguer unter anderem Benzin ins Feuer, indem er die Autonomen als „arme Gesalbte“ bezeichnete.

Polizei und Carabinieri drangen auch in Bologna ein. Doch entgegen den Befürchtungen kam es zu keinem Zwischenfall. Die drei Tage vergingen zwischen Biwaks und Aufführungen auf den Plätzen und den Versammlungen im Palazzetto dello Sport. Die einzige Gewalt fand genau dort statt, im Palazzetto dello Sport, wo Dutzende von verschiedenen, manchmal radikal unterschiedlichen Positionen koexistierten: von der noch vom Marxismus-Leninismus durchdrungenen Ideologie der alten Gruppen bis zur „Arbeitsverweigerung“ der autonomen und großstädtischen Indios. Meinungsverschiedenheiten, die sich oft in Schlägen auf den Kopf, Stuhlschlägen und dem Abreißen des Mikrofons äußerten. Am Ende gelang es der Organisation Autonomia operaia, die Kontrolle über die Versammlung zu übernehmen, aus der nacheinander erst Movimento Studentesco, dann Avanguardia operaia und schließlich Lotta continua ausgeschlossen wurden.

Sie alle versammelten sich in dem großen Umzug (nach Schätzungen des Polizeipräsidiums fünfunddreißigtausend Menschen), der die Konferenz am 25. abschloss. Alle waren dabei, und die Gruppen versuchten, allerdings ohne großen Erfolg, die Autonomen in der Mitte des Zuges zu halten, um sie besser kontrollieren zu können. Es kam jedoch zu keinen Zwischenfällen. Und gerade die Parolen, die bei dieser Gelegenheit gerufen wurden, zeigten die Heterogenität des Zuges. Die einen fuchtelten mit ihren Pistolenfingern herum und riefen: „Mit der P38 / kriegst du ein Loch in den Mund“, „Bewaffneter Kampf / für die Revolution“, „Für den Kommunismus / für die Revolution“, „Carabiniere, schwarzes Barett / dein Platz ist auf dem Friedhof“. Diejenigen, die Satire suchten: „Carabiniere, nimm deinen Hut ab / und rauch einen Joint mit uns“. Die Feministinnen, die vor allem an ihre eigenen Forderungen dachten: „In Häusern und Gefängnissen / sind wir immer Gefangene“. Die Homosexuellen, die die Formel für den Sieg der Revolution gefunden hatten: „Analbeischlaf / bricht das Kapital“.

Die Konferenz von Bologna war trotz der außerordentlichen Masse an Teilnehmern kein Sieg für die Bewegung, sondern eine Niederlage. Die endgültige Niederlage, die entscheidende. Die Bewegung hatte Hunderte von Stimmen der Ablehnung, des Dissenses, der Revolte gesammelt, aber es war ihr nicht gelungen, sie zu bündeln.

Die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens war noch deutlicher als zuvor zutage getreten. Die neuen französischen Philosophen, die gekommen waren, um den Aufstand zu begleiten, machten die klägliche Figur von Opportunisten und fanden keine Anhänger unter den jungen Leuten, denen sie zu schmeicheln versucht hatten. Selbst die Rede, die Bifo aus seinem Pariser Versteck geschickt hatte und die während der Versammlung im Palasport verlesen wurde, wurde lautstark ausgebuht. Ohne Führer, ohne Einheit, aber noch mehr ohne eine wirklich solide Grundlage, löst sich die Bewegung auf. Und damit endete Achtundsechzig wirklich, an jenem 25. September 1977.

EPILOG

Es wurde gesagt, dass die Aufstände von 1977 im Gegensatz zu denen von 1968 in den Gedenkfeiern und in den Geschichtsbüchern selbst kaum Erwähnung finden. Vielleicht liegt der Unterschied in der Aufmerksamkeit darin begründet, dass der erste Aufstand ein weltweites Phänomen war, während der zweite fast ausschließlich in Italien stattfand und daher weniger wichtig war. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass viele versuchen, das Thema zu verdrängen. Die Bewegung von 1977 genoss – abgesehen von der versnobten Haltung einiger Intellektueller – nicht das Wohlwollen und das Augenzwinkern, das den Achtundsechzigern neun Jahre zuvor zuteil geworden war; ihre Protagonisten waren „echte“ Proletarier und keine Kinder der Bourgeoisie, wie es die Universitätsstudenten von 1968 größtenteils waren; In gewisser Hinsicht war der Protest von ’77, wie wir noch sehen werden, berechtigter; und um ihn zu steuern, gab es nicht mehr und konnte es nicht mehr jene PCI geben, die inzwischen in den Palast eingezogen war und viel entschlossener als die verschiedenen christdemokratischen Ministerpräsidenten und Ministerpräsidenten zuvor zu einem harten Vorgehen gegen die „Aufrührer“ aufrief.

Die Autonomen und die Großstadtindianer von 1977 werden auch deshalb entsorgt, weil ihre verheerende Gewalttätigkeit, die in vielen Fällen unverhohlen mit dem schlimmsten ‘Brigatismus’ einherging, für eine Linke, die zuerst Klassenkampf und Revolution predigte (einige in der Partei, einige in den Salons) und dann sagte, dass die Revolution nicht mehr gemacht werden sollte (einige, weil sie im System angekommen waren, einige, weil sie noch immer gut in den Salons vertreten waren), ein unhandliches Gespenst sind. Für einen großen Teil der Linken sind die Autonomen und Großstadtindianer also Kinder oder Enkel, mit denen sie nichts zu tun haben wollen und die man besser verleugnet. Nicht umsonst wird immer wieder versucht, die beiden Phänomene zu trennen und zu sagen: Achtundsechzig ist das eine, Siebenundsiebzig das andere. Trotz ihrer Unterschiede sind die beiden Proteste vielmehr eng miteinander verbunden, ja sie sind der Anfang und das Ende desselben Ereignisses.

Wie Toni Negri schrieb: „In Italien ist 77 die zweite Phase von 68. (…). 1977 ist das letzte Datum, an dem dieser Prozess [der 68er, Anm. d. Red.] vollendet wird, ein Prozess des Bruchs, aber vor allem der Kontinuität, ein Prozess, der im Gange ist”.

Die „Siebenundsiebziger“ von 1968 haben für die offensichtlichsten Fehler bezahlt: Wenn Capanna und seine Mitstreiter eine alte und einbalsamierte Schule vorgefunden hatten, fanden sie eine nicht mehr existierende Schule vor, die dank der Logik der „politischen Sechs“ und der Gruppenprüfungen in eine Fabrik für Arbeitslose verwandelt wurde. Die jungen Proletarier von 1977, die sich mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert sahen, die noch schlimmer war als die neun Jahre zuvor, hatten Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, und erkannten, dass sie sich nicht einmal durch harte Arbeit an einer Universität emanzipieren konnten, die nun in Trümmern lag. Aber es gibt noch einen anderen Grund – tiefgreifender, wenn auch vielleicht weniger offensichtlich – warum die jungen Leute von 1977, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, diejenigen waren, die von 1968 wirklich „verarscht“ wurden. In der Tat haben sie von 1968 die schwerste Niederlage geerbt, nämlich das Nichts, mit dem sie eine existenzielle Leere zu füllen versuchten. Einer Generation, die mit den von der bürgerlichen Welt angebotenen Idolen – eine „Position“, ein schönes Auto, eine Geliebte – nicht zufrieden war, bot 1968 andere Idole, die nicht weniger trügerisch waren.

Die Bewegung von 1977 versuchte auf pathetische Weise, sich als fröhlich, ironisch, kreativ und überschwänglich zu präsentieren, und erfand die Rhetorik der „Party“ als Waffe gegen die Entfremdung. In Wirklichkeit schrien die jungen Leute von ’77 – trotz der Anweisung der üblichen marxistisch-leninistischen Eierköpfe – nicht gegen den Staat oder den Kapitalismus oder sogar gegen den historischen Kompromiss, sondern, was noch tragischer ist, gegen ihre Langeweile und Verzweiflung, an. Lesen Sie die vielen Briefe, die in jenem Jahr in der Art eines öffentlichen Beichtstuhls eingingen, der zu der täglichen „Lotta continua“ geworden war. In einem dieser Briefe, der am 29. Oktober 1977 veröffentlicht wurde und mit „Antonella, einer lebensmüden 14-Jährigen“ unterzeichnet ist, heißt es: „Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich aus diesem schrecklichen Gefühl der Einsamkeit nicht mehr herauskomme. Das hat mich an Selbstmord denken lassen, aber vielleicht habe ich auch Angst vor dem Sterben. Ich persönlich werde kämpfen, bis mein langes Leben ein Ende hat. Revolutionäre Grüße”.

Mino Monicelli schrieb damals (L’ultrasinistra in Italia): „Die neue Ethik ist leider nicht geboren worden; und da die alte Ethik des Studiums, der Arbeit, der Familie, der Militanz immer mehr abgelehnt wird, bleibt nur die Ethik des Todes übrig. Da ‘das Leben keinen Wert hat und mir egal ist’, ist man auch bereit, es zu riskieren. Dies ist die theoretische Ausarbeitung, die wichtige Teile der Bewegung heute zum Ausdruck bringen: eine Art Ethik des Negativen, die mehr oder weniger ernsthaft viele junge Menschen von der Basis der FGCI bis zur Autonomia einbezieht“. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der jungen Heroinsüchtigen in Italien von zehntausend im Jahr 1976 auf siebzigtausend im Jahr 1978 gestiegen ist. Es ist kein Zufall, dass genau in diesem Jahr 1977 die „Punk“-, „Dark“- und „Skin“-Bewegungen geboren wurden, zuerst in England und dann mehr oder weniger überall sonst.

Nach der Repressionskonferenz von Bologna wird sich die 77er-Bewegung auflösen. Danach wird nur noch der bewaffnete Kampf einer Handvoll Menschen übrig bleiben, die weiterhin an die Revolution glauben. Aber in den Straßen und auf den Plätzen, nichts mehr. Und die 20-Jährigen von 1968 werden die 40-Jährigen sein, die in den 80er Jahren die rücksichtsloseste egoistische und hedonistische Gesellschaft, die des „Reaganismus“ und des zügellosen „Yuppismus“, führen werden. Ein Widerspruch? Das Erbe von Achtundsechzig scheint den Erwartungen derjenigen zu widersprechen, die an diesem Protest teilgenommen haben. Achtundsechzig – sprechen wir über den Kern, die Essenz der Ideologie von Achtundsechzig – wollte den Kapitalismus hinwegfegen und einen neuen Menschen und eine gerechte und egalitäre Gesellschaft aufbauen. Es wollte mit der sexuellen Revolution die Beziehung zwischen Mann und Frau endlich auf eine gleichberechtigte Basis stellen. Dadurch, dass es jedem das Recht zugesteht, zu tun, was er oder sie will, solange es anderen nicht schadet, will es eine Jugend glücklich machen, die sich von der Aussicht auf ein bürgerliches Leben abgeschreckt fühlt. Doch um all dies zu erreichen, warf es die verbliebenen traditionellen Werte über Bord, die vielleicht die allerletzte Bremse für die Entfesselung des schlimmsten Teils des Kapitalismus waren.

Das Verschwinden einer gewissen Religiosität, eines Vorrangs des Transzendenten vor dem Materiellen und nicht zuletzt eines gewissen Sinns für Sparsamkeit und Verzicht ermöglichte die Explosion eines ungezügelten Konsumverhaltens. Der Zusammenbruch dessen, was man früher „sexuelle Tabus“ nannte, hat zu einer beispiellosen Ausbreitung des Pornomarktes und zu einem Anstieg der Vergewaltigungsdelikte geführt, d. h. zu einer Missachtung der Würde der Frau. Der Verlust jenes klugen Selbstschutzes, der als Barriere gegen das eigene Vergnügen galt, hat eine Generation, die verzweifelt nach Glück strebt, in die Drogensklaverei getrieben.

Kurzum, es scheint, dass sich jede Hoffnung der Achtundsechziger in ihr Gegenteil verkehrt hat. Aber das ist wohl das Schicksal aller Versuche des Menschen, das Gute und das Böse zu bestimmen und sein Paradies auf Erden zu errichten. Versuche, von denen die Geschichte voll ist, und die immer auf geheimnisvolle, aber unerbittliche Weise gescheitert sind.

Fussnoten der deutschen Übersetzung 

  1. zu Walter Alasia siehe das Kapitel aus ‘Renato Curcio: Mit offenem Blick – Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja” https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/node16.html
  2. wofür ihn u.a. die BR 1977 in die Beine schossen, zu seiner Biografie siehe Wiki https://de.wikipedia.org/wiki/Indro_Montanelli
  3. ergo die “neuen Schwarzhemden”, die Milizen der Faschisten in den 20er, 30er 

Jina – The Moment of No Return

Aram

Punkt 17 Uhr machten wir uns auf den Weg zu der vereinbarten Stelle. Seit dem Vortag, als der Aufruf zum Protest an feministische Gruppen und Kollektive verschickt wurde, waren wir gespannt. Werden die Leute kommen? Werden die repressiven Kräfte des Staates uns erlauben, uns zu versammeln und zu protestieren?

Als wir die Hijab-Kreuzung erreichten, traten plötzlich Hoffnung und Aufregung an die Stelle all unserer Ängste und Befürchtungen. Gruppen junger Menschen hatten sich versammelt und schlossen sich einander an. Plötzlich befanden wir uns in einem Strom von Menschen, der unser Schicksal und wahrscheinlich auch das Schicksal des Irans für immer veränderte. Jinas Name wurde zu unserem Symbol und ein weiblicher Aufstand begann.

In diesem Aufsatz werde ich zunächst einen alternativen Ansatz für politische Handlungen diskutieren. Im Gegensatz zu konventionellen Ansätzen, die auf „revolutionärem Bewusstsein“ basieren, betont dieser Ansatz Emotionen, Politik und die Begegnung. Anschließend werde ich die Genealogie der Aufstände im Iran nach 1979 untersuchen und den Umfang und die Grenzen des Jina-Aufstandes erläutern. Dabei werde ich die Jina-Bewegung mit früheren Bewegungen vergleichen, was die Handlungsfähigkeit und die Geografie dieser Aufstände angeht. Abschließend werde ich die organisatorische Dimension des Jina-Aufstandes untersuchen, um zu zeigen, dass er ein Beispiel für eine neue Form der Mobilisierung war – spontan, sich selbst erzeugend und dezentriert.

Die Emotionen und die Politik der Annäherung

Emotionen werden gemeinhin als dem Bewusstsein unterlegen angesehen. Feministinnen haben jedoch gezeigt, dass Emotionen dem Bewusstsein vorausgehen und es leiten können. Emotionen entstehen aus einem Problem oder einer Frage – wenn etwas für uns problematisch wird, wenn wir verletzt sind, wenn wir Angst haben, wenn wir verärgert sind oder wenn etwas unsere Seele wie ein Krebsgeschwür zerfrisst. Wir fühlen Schmerz und Leid. Bevor wir uns dessen „bewusst“ werden, spüren wir es mit unserem Fleisch und Blut. Dieses Gefühl ist die Quelle des Handelns. Jeder Moment des Leidens hinterlässt eine Spur in unserem Körper. Spuren des Leidens, Spuren des Schmerzes, veranlassen uns zum Handeln. Entgegen der landläufigen Meinung, dass das Bewusstsein einen höheren Status als die Emotionen hat, ist das Bewusstsein in Wirklichkeit eine abgeleitete Form des Wissens – ein Wissen, das sich erst nach den Emotionen bildet, um den neu entstandenen Schmerz zu lindern.

Man könnte durchaus sagen, dass die europäische Aufklärung die Vorherrschaft des Geistes und des Denkens hervorgebracht hat. Da der Mensch sich selbst als Mittelpunkt des Universums sah, gingen wir davon aus, dass wir die „Unwissenheit“ des Mittelalters besiegt, die zerstörerische Kraft der Natur gezähmt und sie durch die Macht des Verstandes und der Vernunft nutzbar gemacht hatten. Von Descartes’ „cogito“ bis zu Hegels „Geist“ haben die Philosophen den Geist über die Materie und das Denken über den Körper gestellt. Dieselbe Vision beherrschte auch die Tradition des kritischen Denkens und insbesondere die Theorien des sozialen Wandels. Die Betonung der „Bewusstseinsbildung“ wurde zu einem der grundlegenden Elemente des revolutionären Wandels. Nach Marx erforderte die Revolution das „Bewusstsein“ des Proletariats, und Lenin bezeichnete die politische Elite als die treibende Kraft der Arbeiterklasse. Dieser verstandesorientierte Ansatz ist zum vorherrschenden Diskurs geworden, so dass die meisten Menschen davon ausgehen, dass Veränderungen eine „bewusste“ Gesellschaft erfordern. Es ist, als gäbe es eine unwissende Masse, deren Bewusstsein mit Hilfe von Kultur- und Bildungsprogrammen geweckt werden muss, damit sich die Gesellschaft „langfristig“ verändert.

Diese Tradition muss in Frage gestellt werden. Am Beispiel der Jina-Bewegung behaupte ich, dass es nicht das Bewusstsein, sondern die Emotionen waren, die die iranische Bevölkerung in Bewegung gesetzt haben. Wie in Sara Ahmeds Werken angedeutet, ist der Ursprung jeder Bewegung das Gefühl; die Begeisterung des Aufbegehrens keimt in uns auf, wenn uns etwas frustriert und wir dafür empfänglich werden. Im Gegensatz zum Bewusstsein ist Emotion nicht etwas, das von den hohen Rängen der Elite auf die unteren Ränge der Massen übertragen werden kann. Stattdessen dringt es horizontal von Herz zu Herz, von einer Vision zur anderen und von einem Körper zum nächsten. In den letzten Jahren hat die institutionelle Politik und die Parteipolitik an Popularität verloren. Dementsprechend haben die formal zugelassenen Parteien, die keine Massenunterstützung haben, ihre Fähigkeit verloren, die Bevölkerung in kritischen Momenten des Wandels zu mobilisieren.

Man sollte die jüngsten Aufstände durch die Brille der Politik der Begegnung betrachten. Um diese Politik zu verdeutlichen, verwendet Andy Merrifield, inspiriert von Althusser, die Allegorie der parallelen Regentropfen: Regentropfen fallen parallel zueinander, bis ein Tropfen einmal, und nur einmal, ausweicht und mit dem Tropfen neben ihm zusammenstößt. Durch das Ausweichen des ersten Tropfens stoßen weitere Tropfen zusammen, was zu einer Kette von Begegnungen führt. Diese Begegnungen schaffen etwas Neues – eine neue Ordnung, die die Grundlage für kollektives und gemeinsames Handeln ist (2). Was in der Jina-Bewegung geschah, gehört zur Politik der Begegnung. Im Gegensatz zu Bewegungen, deren Entstehung auf einem vorgefertigten Plan und einer vertikalen Organisation beruht, bildete sich die Jina-Bewegung, wie viele andere Bewegungen des letzten Jahrzehnts, aus der Agglomeration zuvor getrennter und losgelöster Körper, die plötzlich für ein paar Stunden in einer spontanen Anordnung die Straße eroberten. Es war das Zusammentreffen dieser getrennten Körper an der Hijab-Kreuzung, das wie ein Knoten neuer Kompositionen und Arrangements noch nie dagewesene Handlungen und neue Formen des Zusammenkommens hervorbrachte. Diese Form der direkten und informellen Aktion stellte die gewöhnliche Politik der politischen Elite in Frage.

Das Entstehen einer neuen Subjektivität

Parallel zu diesem Übergang von der institutionellen Politik zur Politik der Begegnung hat sich auch die politische Subjektivität gewandelt. Diese neue Subjektivität steht für eine Auflösung und Loslösung von den dominanten sozioökonomischen Systemen und stellt eine Form von unabhängiger und individueller Subjektivität dar. Wie Sari Hanafi in seinen Studien zur politischen Subjektivität nach dem Arabischen Frühling gezeigt hat, handelt es sich bei diesem Subjekt nicht um ein konkurrierendes, antisoziales, neoliberales Individuum, sondern um eines, „das die ständige Verhandlung eines Akteurs mit der bestehenden sozialen Struktur einschließt, um eine (teilweise) Emanzipation von ihr zu verwirklichen.“ (3) Diese neue Subjektivität ermöglicht es politischen Akteuren, selbstreferentielle Handlungen zu vollziehen – Akteure, die trotz der Anerkennung sozialer Kräfte und Zwänge der disziplinierenden Macht widerstehen.

Soziale Netzwerke und Online-Aktivismus erleichtern die Herausbildung dieser neuen Subjektivität. Der allgegenwärtige Charakter sozialer Online-Netzwerke hat sie zum wichtigsten Ort für politische Organisation und Analyse gemacht. Verstärkt durch soziale Netzwerke (aber nicht nur durch diese) gelang es der Jina-Bewegung vorübergehend, im ganzen Land öffentliche Räume zu schaffen – Räume, die von Gruppen von Menschen eingenommen wurden und die sie mit der Geschichte und den Erinnerungen an vergangene Revolutionen und Aufstände verbanden. In ihren Köpfen blühte ein neues politisches Imaginäres auf, das ihnen suggerierte, dass eine andere Art zu leben möglich ist.

Die Besonderheit des Jina-Moments

Die postrevolutionären Aufstände im Iran lassen sich bis in die 1990er Jahre zurückverfolgen. Nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges 1988 bestand das Hauptziel der Regierung (bekannt als „Wiederaufbau-Regierung“) darin, das Strukturanpassungspaket der Weltbank umzusetzen. Dies führte zur Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten und zur Verschärfung der Ungleichheit. Ein Anstieg der Verbraucherpreise und eine schwindelerregende Inflation ebneten den Weg für die ersten postrevolutionären Aufstände. Anfang der neunziger Jahre kam es in den Slums von Städten wie Teheran, Mashhad, Arak und Qazvin häufig zu isolierten Aufständen. In Mashhad, im Gebiet Koo-ye Tollab, führte die Zerstörung von Wohnungen, die ohne Genehmigung gebaut worden waren, zu Protesten der Bewohner der verarmten Slums. Ähnliche Unruhen brachen in Islamshahr aus, als die Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr erhöht wurden. In beiden Fällen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei und den Sicherheitskräften. Diese Aufstände wurden schnell niedergeschlagen und lösten keine Unruhen in den Stadtzentren und großen Metropolen aus. Die Medien und die Öffentlichkeit schenkten diesen Protesten trotz ihres gewalttätigen und breiten Charakters keine Beachtung. Es schien, als wären diese Randschichten nach ihrer geografischen Auslöschung auch aus dem kollektiven Gedächtnis der Oberschicht und der Stadtbewohner gelöscht worden. Diese Momente der Unruhen der Unterschicht wurden als „Brotaufstände“ bezeichnet.

Der zweite bedeutende Großstadtaufstand, der als „Grüne Bewegung“ bekannt wurde, fand anderthalb Jahrzehnte später als Reaktion auf die Präsidentschaftswahlen statt. (4) Im Jahr 2009 protestierten die Iraner, vor allem in größeren Städten wie Teheran, Isfahan, Täbris und Shiraz, gegen die Wahlergebnisse und besetzten einige Monate lang die Straßen. Die Proteste waren so massiv, dass die Berichterstattung über sie monatelang die lokalen und internationalen Medien beherrschte. Die Bewegung der ‘Grünen’ unterschied sich jedoch von allen früheren Protesten in den frühen 1990er Jahren. Sie wurde hauptsächlich über offizielle Plattformen organisiert, die von früheren „rekonstruktivistischen“ und „reformistischen“ Regierungen eingerichtet worden waren. Die Kommunikation wurde von den offiziellen reformistischen Parteien und Gruppen angeführt, die ihre Anhänger bereits im Vorfeld der Wahlen mobilisiert hatten. Die Vorwahlkampagne hatte ein Netz von aktiven Teilnehmern geschaffen. Die starke Straßenpräsenz der reformistischen Anhänger vor der Wahl (z. B. in der „grünen [Menschen-]Kette“ vom Rah-Ahan-Platz zum Tajrish-Platz in Teheran) (5) führte zu der neuartigen Erfahrung von Menschenmassen auf der Straße. Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse organisierte dieses neue Netzwerk über seine offiziellen Kanäle und die sozialen Online-Netzwerke Proteste. Die ‘grüne Bewegung’, die durch das Wahlklima geprägt war, war also konventionell organisiert, wobei die Spitze (die politische Elite) die Basis (die Massen) organisierte. Während bestimmte Gruppen sich horizontal und spontan organisierten, war der dominierende Organisationscharakter der grünen Bewegung von oben nach unten, parteizentriert und bürgerlich.

Das Jahr 2019 steht im Zeichen einer anderen Form der politischen Organisation. Die Spontaneität der Proteste im Jahr 2019 unterschied sich von der Mobilisierung und Organisation im Zusammenhang mit der Wahl 2009. Diesmal war die Wut über die steigenden Gaspreise die treibende Kraft der Proteste. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen gingen Menschen aus zahlreichen Städten auf die Straße. Der klassenmäßige und geografische Charakter dieser Proteste unterschied sich vom „Brotaufstand“, als die marginalisierten Armen in den Slums der Städte aufbegehrten, und von der grünen Bewegung, als die städtische Mittelschicht gegen Wahlmanipulationen protestierte. Im Jahr 2019 entstand eine neue Klasse, die von Asef Bayat als „urbane Mittelschicht“ bezeichnet wird. (6) Die Sparmaßnahmen des letzten Jahrzehnts hatten diese Gruppe in die Armut und aus den Stadtzentren in die Satellitenstädte getrieben. Neben den älteren Gebieten Teherans (wie Satarkhan und Haft Hoz) konzentrierte sich die Bewegung auf Kleinstädte, städtische Slums, Stadtrandgebiete und Satellitenstädte.

Zu Beginn der Proteste 2019 schaltete die iranische Regierung das Internet im ganzen Land für eine Woche ab. Es gab also keine Möglichkeit, über soziale Netzwerke oder Messaging-Apps zu kommunizieren oder sich zu organisieren. Stattdessen wurden lokale Offline-Netzwerke aktiviert. In kleineren Gebieten, in denen die meisten Beziehungen von Angesicht zu Angesicht bestehen und sich Informationen durch Mundpropaganda verbreiten, konnten Straßenproteste spontaner und aufgrund von Straßenkenntnissen organisiert werden.

Drei Jahre später ging die Jina-Bewegung nach einer langen, durch die Covid-19-Pandemie verursachten Schweigeperiode im Iran auf die Straße. Die Ermordung einer jungen Kurdin durch die „Sittenpolizei“ während ihres Besuchs in Teheran empörte die Iraner. In weniger als einer Woche erlebte der Iran den größten städtischen Aufstand der postrevolutionären Zeit. Die Jina-Bewegung war die Geburtsstunde einer neuen Form der politischen Organisierung im Iran.

Eine Bewegung, die sich zunächst auf das Thema Hidschab zu beschränken schien, wurde zu einem Ausdruck jahrzehntelanger Unzufriedenheit und Unterdrückung. Im Gegensatz zu anderen Formen der Unterdrückung und Ungleichheit kann ein Mord über seine eigentlichen Umstände hinaus wirken. Er kann vergangene Momente der Unterdrückung und Ungerechtigkeit destillieren. Diese Eigenschaft der Jina-Bewegung ermöglichte es jedem, der jemals Ziel von Unterdrückung oder Ungerechtigkeit war, sich der Bewegung zugehörig zu fühlen.

Während der „Brotaufstand“ dem Proletariat, die Bewegung der Grünen der Mittelschicht und die Proteste von 2017 und 2019 der verarmten Mittelschicht zuzurechnen sind, unterscheidet sich die Jina-Bewegung von all diesen Bewegungen in Bezug auf ihre Handlungsfähigkeit, Geografie und Organisation. Der feministische Charakter der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ führte dazu, dass dieser historische Moment mit vielen früheren historischen Momenten verknüpft war: Die Mittelschicht, die städtischen Mittelschichten und das Proletariat nahmen alle an der Jina-Bewegung teil. Und während sich diese früheren Aufstände jeweils auf eine bestimmte Art von Ort konzentrierten, hob die Jina-Bewegung alle geografischen Grenzen auf. Von größeren bis zu kleineren Städten, von wohlhabenderen bis zu ärmeren Vierteln, von Satellitenstädten bis zu Hauptstädten, von Städten mit kurdischer und belutschischer Ethnie bis zu farsi- und türkischsprachiger Bevölkerung schlossen sich alle Arten von Menschen der Bewegung an. Daher sind weder die Klassenzugehörigkeit noch die lokale Geografie ein ausreichender Rahmen für das Verständnis der Bewegung.

Der historische Moment von Jina war neu und beispiellos. Wir können ihn als einen „Aleph“-Moment bezeichnen, um den Titel einer berühmten Erzählung von Jorge Luis Borges aufzugreifen. Für Borges ist Aleph ein Ort, der jeden anderen Ort auf der Erde enthält, ein Ort, an dem „alle Orte aus jedem Blickwinkel zu sehen sind, jeder von ihnen steht klar da, ohne Verwirrung oder Vermischung“. (7) Ein Aleph-Moment ist transformativ; er macht uns zu anderen Menschen. In gleicher Weise können wir die Jina-Bewegung als eine Raumzeit sehen, die andere Raumzeiten destilliert hat. Die Jina-Bewegung enthält die Essenz aller früheren Proteste. In Jina kann jeder ein Spiegelbild der Ungerechtigkeiten sehen, die er erlitten hat. Der Name Jina steht an der Schnittstelle aller Klassen-, Geschlechter-, ethnischen und religiösen Unzufriedenheiten im heutigen Iran.

Die Jina-Bewegung war auch aus einer anderen Perspektive neuartig. Während auf den Straßen brutale und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften stattfanden, kam es in den Häusern und im privaten Bereich unter vertrauten Personen zu schleichenden und anhaltenden Kämpfen. Revolutionen können nicht nur auf den Plätzen und Straßen stattfinden. Straßenproteste, auch wenn sie Monate andauern, werden enden. Sie werden unweigerlich abflauen, da die Menschen zu ihrem normalen Leben zurückkehren müssen. Die politische Mobilisierung der Jina-Bewegung breitete sich jedoch auf andere Räume aus, auf Nachbarschaften, Schulen und Universitäten, auf Arbeitsplätze und Wohnungen. Die Tiefe und Ausdehnung der Jina-Bewegung unterscheidet sie von früheren Bewegungen und verdient den Namen „Revolution“. Die Jina-Revolution veränderte nicht nur die Struktur der Stadt, sondern auch die Körper der Menschen und ihre Beziehung zu ihrer Umwelt. Die Jina-Bewegung löste eine revolutionäre Umgestaltung des Alltagslebens aus – eine Revolution nicht des politischen Charakters des Staates, sondern des sinnstiftenden Handelns der einfachen Menschen.

In der Jina-Bewegung begegneten wir einer neuen Frau, die sich selbst überdachte und ihre Stimme in ihrem Haus und auf der Straße verstärkte. Dieser Subjektivitätswandel vollzog sich in dem Maße, in dem die Frauen sich als Teil der tiefgreifenden und öffentlichen Erfahrung des Kampfes für Veränderungen verstanden. Einige der radikalsten Formen des Widerstands während der Jina-Revolution wurden von einfachen Frauen ausgeübt, die sich disziplinarischen Methoden widersetzten und sich selbst und ihre Umgebung neu definierten. Während der Jina-Bewegung schufen die Frauen das, was Michelle Rosaldo „verkörperte Gedanken“ nennt – das Bewusstsein, das durch den Körper und seine Gefühle entsteht. (8) Dies ist die emotionale Kraft, die den Körper zum Denken und zur Schaffung von Bedeutung anregt. Emotionen, die durch die Infragestellung sozialer Normen entstehen, sind eine Art von verkörperten Gedanken. Ein Beispiel dafür sind Mütter, die zu politischen Akteuren wurden, weil sie um die Kinder trauerten, die sie während der Jina-Bewegung verloren hatten. Sie politisierten private und öffentliche Räume und das Alltagsleben selbst. Diese Politisierung des privaten und alltäglichen Lebens während der Bewegung hat sich in das öffentliche Leben eingeschlichen und ist dabei, es zu verändern, wodurch das tyrannische Regime des Iran in eine Krise gerät.

Die Organisation der Bewegung

Die Jina-Bewegung setzte zwei parallele Prozesse in Gang. Einerseits haben die Repression und die Kontrolle des öffentlichen Raums in den letzten Jahren die Möglichkeit der Herausbildung eines neuen Anführers eingeschränkt. Jede Form der oppositionellen politischen Organisierung wurde schnell unterbunden. Trotz dieser Repression – oder vielleicht gerade deswegen – haben wir das Aufkommen von städtischen „Bewegungen“ von Lehrern, Studenten und Frauen erlebt. Wenn diese Gruppen nicht über genügend Ressourcen verfügen, um zu mobilisieren, werden bescheidenere Aktionen von kleineren und diffuseren Gruppen wie Umweltschützern, Gewerkschaften, Rentnerverbänden und Gerechtigkeitsgruppen durchgeführt.

Andererseits haben die sozialen Netze den Protesten ein weiteres Merkmal verliehen: Performance. Soziale Netzwerke kanalisieren den Protest sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt. Die Demonstranten wissen jetzt, dass sie nicht nur auf die Straße gehen, sondern auch die Bildproduktion in den sozialen Medien kontrollieren sollten. In der Jina-Bewegung verwandelten sie Momente des Widerstands gegen die Sicherheitskräfte in Bilder, die sich über das Internet verbreiteten. (9) Die wechselseitige Koexistenz von virtuellen und realen Räumen erleichterte die Organisation der Proteste. Die reale Welt wurde durch virtuelle Begegnungen und der virtuelle Raum durch Straßenproteste gestärkt. Wir sollten die Revolution „Frau, Leben, Freiheit“ also als einen performativen Aufstand verstehen, bei dem Straßenaktionen zur Verbreitung von Protestbildern führten. In diesem Sinne konnte die Jina-Bewegung nicht zentral und von oben nach unten organisiert werden. Im Gegenteil, wir wurden Zeugen einer neuen Form spontaner, dezentraler und sich selbst generierender Organisation, die durch den „Straßenraum“ gekennzeichnet war. Nach und nach und durch ihre Erfahrungen auf der Straße lernten die Menschen, sich in diesem „Feld“ zurechtzufinden. Wie Asef Bayat im Fall des Arabischen Frühlings dargelegt hat, ist es trotz der Vorteile einer horizontalen und spontanen Organisation schwierig, solche Bewegungen aufrechtzuerhalten und zu festigen. (10) Viele Menschen glaubten von Anfang an, dass der Sieg der Jina-Bewegung den Sturz des Regimes bedeuten würde, doch das war ein Irrtum. Die Bewegung war in ihrer Organisationsform sehr jung, obwohl sie bereits viele Lehren für künftige Proteste gezogen hat. Eine neue Generation hat den vorherrschenden entpolitisierten Diskurs überwunden und den städtischen Raum und das Alltagsleben politisiert – eine Generation politischer Subjekte, die eine Führung von oben nicht akzeptiert und sich selbst als Akteure des Wandels begreift. Das Lied „Baraye …“ von Shervin Hajipour bringt die Struktur dieses Aufstands perfekt zum Ausdruck: ein Lied, das von niemandem und allen geschrieben wurde, das von den Teilnehmern der Bewegung geformt wurde, wird schließlich von einem wenig bekannten Sänger gesungen und erobert den öffentlichen und virtuellen Raum. Die Jina-Revolution war in ihrem Entstehungsmoment und in ihrem Ausbreitungsmoment ein vielstimmiges „Lied“ ohne einen individuellen Songwriter, dessen Nachhall Stadträume und Häuser veränderte.

Anmerkungen

  1. Anm. d. (eng) Übers.: Dies bezieht sich auf eine tatsächliche Kreuzung in Teheran namens „Hijab“.
  2. Merrifield, The Politics of the Encounter: Urban Theory and Protest under Planetary Urbanization (University of Georgia Press, 2013), S. 55-56.
  3. Hanafi, „The Arab Revolutions: The Emergence of a New Political Subjectivity”, Contemporary Arab Affairs 5, Nr. 2 (2012): S. 203.
  4. Anm. d. (eng) Ü.: Grün war die Wahlkampffarbe des wichtigsten reformistischen Kandidaten Mir-Hossein Mousavi. Er verlor die fragwürdigen Wahlen 2008 gegen Mahmoud Ahmadinejad, den wichtigsten konservativen Kandidaten.
  5. Anm. d.(eng)  Ü.: Dies ist eine Strecke von mehr als siebzehn Kilometern, die zwei große Plätze der Stadt durch eine Hauptallee namens Vali Asr verbindet.
  6. Bayat, Life as Politics: How Ordinary People Change the Middle East (Amsterdam University Press, 2010). S. 44.
  7. Borges, The Aleph and Other Stories, 1933–1969 (E. P. Dutton, 1970), S. 10–11.
  8. Rosaldo, “Toward an Anthropology of Self and Feeling,” in Culture Theory: Essays on Mind, Self, and Emotion, ed. R. A. Shweder and R. A. LeVine (Cambridge University Press, 1984).
  9. Trans. note: for more on this, see L, “Women Reflected in their Own History,” e-flux Notes, October 14, 2022 .
  10. Bayat, Revolution without Revolutionaries: Making Sense of the Arab Spring (Stanford University Press, 2017).

Aus dem Farsi ins Englische übersetzt von Roozbeh Seyedi. (Eng.) Übersetzung redigiert von Soori Parsa.

Aram ist eine feministische Aktivistin und Wissenschaftlerin.

Erschienen im Mai 2024 auf e-flux Journal, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks