Die Folgen des Bauernkriegs

Friedrich Engels

Mit dem Rückzuge Geismaiers auf venetianisches Gebiet hatte das letzte Nachspiel des Bauernkriegs sein Ende erreicht. Die Bauern waren überall wieder unter die Botmäßigkeit ihrer geistlichen, adligen oder patrizischen Herren gebracht; die Verträge, die hie und da mit ihnen abgeschlossen waren, wurden gebrochen, die bisherigen Lasten wurden vermehrt durch die enormen Brandschatzungen, die die Sieger den Besiegten auferlegten. Der großartigste Revolutionsversuch des deutschen Volks endete mit schmählicher Niederlage und momentan verdoppeltem Druck. 

Auf die Dauer jedoch verschlimmerte sich die Lage der Bauernklasse nicht durch die Unterdrückung des Aufstandes. Was Adel, Fürsten und Pfaffen aus ihnen jahraus, jahrein herausschlagen konnten, das wurde schon vor dem Krieg sicher herausgeschlagen; der deutsche Bauer von damals hatte dies mit dem modernen Proletarier gemein, daß sein Anteil an den Produkten seiner Arbeit sich auf das Minimum von Subsistenzmitteln beschränkte, das zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung der Bauernrace erforderlich war. Im Durchschnitt war also hier nichts mehr zu nehmen. Manche wohlhabenderen Mittelbauern sind freilich ruiniert, eine Menge von Hörigen in die Leibeigenschaft hineingezwungen, ganze Striche Gemeindeländereien konfisziert, eine große Anzahl Bauern durch die Zerstörung ihrer Wohnungen und die Verwüstung ihrer Felder sowie durch die allgemeine Unordnung in die Vagabondage oder unter die Plebejer der Städte geworfen worden. 

Aber Kriege und Verwüstungen gehörten zu den alltäglichen Erscheinungen jener Zeit, und im allgemeinen stand die Bauernklasse eben zu tief für eine dauernde Verschlechterung ihrer Lage durch erhöhte Steuern. Die folgenden Religionskriege und endlich der Dreißigjährige Krieg mit seinen stets wiederholten, massenhaften Verwüstungen und Entvölkerungen haben die Bauern weit schwerer getroffen als der Bauernkrieg; namentlich der Dreißigjährige Krieg vernichtete den bedeutendsten Teil der im Ackerbau angewandten Produktivkräfte und brachte dadurch und durch die gleichzeitige Zerstörung vieler Städte die Bauern, Plebejer und ruinierten Bürger auf lange Zeit bis zum irischen Elend in seiner schlimmsten Form herab.

Wer an den Folgen des Bauernkriegs am meisten litt, war die Geistlichkeit. Ihre Klöster und Stifter waren verbrannt, ihre Kostbarkeiten geplündert, ins Ausland verkauft oder eingeschmolzen, ihre Vorräte waren verzehrt worden. Sie hatte überall am wenigsten Widerstand leisten können, und zu gleicher Zeit war die ganze Wucht des Volkshasses am schwersten auf sie gefallen. Die anderen Stände, Fürsten, Adel und Bürgerschaft, hatten sogar eine geheime Freude an der Not der verhassten Prälaten. Der Bauernkrieg hatte die Säkularisation der geistlichen Güter zugunsten der Bauern populär gemacht, die weltlichen Fürsten und zum Teil die Städte gaben sich daran, diese Säkularisation zu ihrem Besten durchzuführen, und bald waren in protestantischen Ländern die Besitzungen der Prälaten in den Händen der Fürsten oder der Ehrbarkeit. Aber auch die Herrschaft der geistlichen Fürsten war angetastet worden, und die weltlichen Fürsten verstanden es, den Volkshaß nach dieser Seite hin zu exploitieren. So haben wir gesehen, wie der Abt von Fulda vom Lehnsherrn zum Dienstmann Philipps von Hessen degradiert wurde. So zwang die Stadt Kempten den Fürstabt, ihr eine Reihe wertvoller Privilegien, die er in der Stadt besaß, für einen Spottpreis zu verkaufen.

Der Adel hatte ebenfalls bedeutend gelitten. Die meisten seiner Schlösser waren vernichtet, eine Anzahl der angesehensten Geschlechter war ruiniert und konnte nur im Fürstendienst eine Existenz finden. Seine Ohnmacht gegenüber den Bauern war konstatiert; er war überall geschlagen und zur Kapitulation gezwungen worden; nur die Heere der Fürsten hatten ihn gerettet. Er musste mehr und mehr seine Bedeutung als reichsunmittelbarer Stand verlieren und unter die Botmäßigkeit der Fürsten geraten.

Die Städte hatten im ganzen auch keinen Vorteil vom Bauernkrieg. Die Herrschaft der Ehrbarkeit wurde fast überall wieder befestigt; die Opposition der Bürgerschaft blieb für lange Zeit gebrochen. Der alte patrizische Schlendrian schleppte sich so, Handel und Industrie nach allen Seiten hin fesselnd, bis in die französische Revolution fort. Von den Fürsten wurden zudem die Städte verantwortlich gemacht für die momentanen Erfolge, die die bürgerliche oder plebejische Partei in ihrem Schoß während des Kampfes errungen hatte. Städte, die schon früher den Gebieten der Fürsten angehörten, wurden schwer gebrandschatzt, ihrer Privilegien beraubt und schutzlos unter die habgierige Willkür der Fürsten geknechtet (Frankenhausen, Arnstadt, Schmalkalden, Würzburg etc. etc.), Reichsstädte wurden fürstlichen Territorien einverleibt (z.B. Mühlhausen) oder doch in die moralische Abhängigkeit von angrenzenden Fürsten gebracht, wie viele fränkische Reichsstädte.

Wer unter diesen Umständen vom Ausgang des Bauernkriegs allein Vorteil zog, waren die Fürsten. Wir sahen schon gleich im Anfang unserer Darstellung, wie die mangelhafte industrielle, kommerzielle und agrikole Entwicklung Deutschlands alle Zentralisation der Deutschen zur Nation unmöglich machte, wie sie nur eine lokale und provinzielle Zentralisation zuließ und wie daher die Repräsentanten dieser Zentralisation innerhalb der Zersplitterung, die Fürsten, den einzigen Stand bildeten, dem jede Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zugute kommen mußte. Der Entwicklungsgrad des damaligen Deutschlands war so niedrig und zu gleicher Zeit so ungleichförmig in den verschiedenen Provinzen, daß neben den weltlichen Fürstentümern noch geistliche Souveränitäten, städtische Republiken und souveräne Grafen und Barone bestehen konnten; aber sie drängte zu gleicher Zeit, wenn auch sehr langsam und matt, doch immer auf die provinzielle Zentralisation, d.h. auf die Unterordnung der übrigen Reichsstände unter die Fürsten hin. Daher konnten am Ende des Bauernkriegs nur die Fürsten gewonnen haben. So war es auch in der Tat. Sie gewannen nicht nur relativ, dadurch dass ihre Konkurrenten, die Geistlichkeit, der Adel, die Städte, geschwächt wurden; sie gewannen auch absolut, indem sie die spolia opima (Hauptbeute) von allen übrigen Ständen davontrugen. Die geistlichen Güter wurden zu ihrem Besten säkularisiert; ein Teil des Adels, halb oder ganz ruiniert, mußte sich nach und nach unter ihre Oberhoheit geben; die Brandschatzungsgelder der Städte und Bauernschaften flossen in ihren Fiskus, der obendrein durch die Beseitigung so vieler städtischen Privilegien weit freieren Spielraum für seine beliebten Finanzoperationen gewann.

Die Zersplitterung Deutschlands, deren Verschärfung und Konsolidierung das Hauptresultat des Bauernkriegs war, war auch zu gleicher Zeit die Ursache seines Misslingens.

Wir haben gesehen, wie Deutschland zersplittert war, nicht nur in zahllose unabhängige, einander fast total fremde Provinzen, sondern auch wie die Nation in jeder dieser Provinzen in eine vielfache Gliederung von Ständen und Ständefraktionen auseinanderfiel. Außer Fürsten und Pfaffen finden wir Adel und Bauern auf dem Land, Patrizier, Bürger und Plebejer in den Städten, lauter Stände, deren Interessen einander total fremd waren, wenn sie sich nicht durchkreuzten und zuwiderliefen. Über allen diesen komplizierten Interessen, obendrein, noch das des Kaisers und des Papstes. Wir haben gesehen, wie schwerfällig, unvollständig und je nach den Lokalitäten ungleichförmig diese verschiedenen Interessen sich schließlich in drei große Gruppen formierten; wie trotz dieser mühsamen Gruppierung jeder Stand gegen die der nationalen Entwicklung durch die Verhältnisse gegebene Richtung opponierte, seine Bewegung auf eigene Faust machte, dadurch nicht nur mit allen konservativen, sondern auch mit allen übrigen opponierenden Ständen in Kollision geriet und schließlich unterliegen mußte. So der Adel im Aufstand Sickingens, die Bauern im Bauernkrieg, die Bürger in ihrer gesamten zahmen Reformation. So kamen selbst Bauern und Plebejer in den meisten Gegenden Deutschlands nicht zur gemeinsamen Aktion und standen einander im Wege. Wir haben auch gesehn, aus welchen Ursachen diese Zersplitterung des Klassenkampfs und die damit gegebene vollständige Niederlage der revolutionären und halbe Niederlage der bürgerlichen Bewegung hervorging.

Wie die lokale und provinzielle Zersplitterung und die daraus notwendig hervorgehende lokale und provinzielle Borniertheit die ganze Bewegung ruinierte; wie weder die Bürger noch die Bauern, noch die Plebejer zu einem konzentrierten, nationalen Auftreten kamen; wie die Bauern z.B. in jeder Provinz auf eigne Faust agierten, den benachbarten insurgierten Bauern stets die Hülfe verweigerten und daher in einzelnen Gefechten nacheinander von Heeren aufgerieben wurden, die meist nicht dem zehnten Teil der insurgierten Gesamtmasse gleichkamen – das wird wohl aus der vorhergehenden Darstellung jedem klar sein. Die verschiedenen Waffenstillstände und Verträge der einzelnen Haufen mit ihren Gegnern konstituieren ebensoviel Akte des Verrats an der gemeinsamen Sache, und die einzig mögliche Gruppierung der verschiedenen Haufen nicht nach der größeren oder geringeren Gemeinsamkeit ihrer eigenen Aktion, sondern nach der Gemeinsamkeit des speziellen Gegners, dem sie erlagen, ist der schlagendste Beweis für den Grad der Fremdheit der Bauern verschiedener Provinzen gegeneinander.

Auch hier bietet sich die Analogie mit der Bewegung von 1848-50 wieder von selbst dar. Auch 1848 kollidierten die Interessen der oppositionellen Klassen untereinander, handelte jede für sich. Die Bourgeoisie, zu weit entwickelt, um sich den feudal-bürokratischen Absolutismus noch länger gefallen zu lassen, war doch noch nicht mächtig genug, die Ansprüche anderer Klassen den ihrigen sofort unterzuordnen. Das Proletariat, viel zu schwach, um auf ein rasches Überhüpfen der Bourgeoisperiode und auf seine eigene baldige Eroberung der Herrschaft rechnen zu können, hatte schon unter dem Absolutismus die Süßigkeiten des Bourgeoisregiments zu sehr kennengelernt und war überhaupt viel zu entwickelt, um auch nur für einen Moment in der Emanzipation der Bourgeoisie seine eigene Emanzipation zu sehen. Die Masse der Nation, Kleinbürger, Kleinbürgergenossen (Handwerker) und Bauern, wurde von ihrem zunächst noch natürlichen Alliierten, der Bourgeoisie, als schon zu revolutionär, und stellenweise vom Proletariat, als noch nicht avanciert genug, im Stich gelassen; unter sich wieder geteilt, kam auch sie zu nichts und opponierte rechts und links ihren Mitopponenten. Die Lokalborniertheit endlich kann 1525 unter den Bauern nicht größer gewesen sein, als sie unter den sämtlichen in der Bewegung beteiligten Klassen von 1848 war. Die hundert Lokalrevolutionen, die daran sich anknüpfenden hundert ebenso ungehindert durchgeführten Lokalreaktionen, die Aufrechthaltung der Kleinstaaterei etc. etc. sind Beweise, die wahrlich laut genug sprechen. Wer nach den beiden deutschen Revolutionen von 1525 und 1848 und ihren Resultaten noch von Föderativrepublik faseln kann, verdient nirgend anders hin als ins Narrenhaus.

Aber die beiden Revolutionen, die des sechzehnten Jahrhunderts und die von 1848-50, sind trotz aller Analogien doch sehr wesentlich voneinander verschieden. Die Revolution von 1848 beweist, wenn auch nichts für den Fortschritt Deutschlands, doch für den Fortschritt Europas.

Wer profitierte von der Revolution von 1525? Die Fürsten. – Wer profitierte von der Revolution von 1848? Die großen Fürsten, Österreich und Preußen. Hinter den kleinen Fürsten von 1525 standen, sie an sich kettend durch die Steuer, die kleinen Spießbürger, hinter den großen Fürsten von 1850, hinter Österreich und Preußen, sie rasch unterjochend durch die Staatsschuld, stehen die modernen großen Bourgeois. Und hinter den großen Bourgeois stehen die Proletarier.

Die Revolution von 1525 war eine deutsche Lokalangelegenheit. Engländer, Franzosen, Böhmen, Ungarn hatten ihre Bauernkriege schon durchgemacht, als die Deutschen den ihrigen machten. War schon Deutschland zersplittert, so war Europa es noch weit mehr. Die Revolution von 1848 war keine deutsche Lokalangelegenheit, sie war ein einzelnes Stück eines großen europäischen Ereignisses. Ihre treibenden Ursachen, während ihres ganzen Verlaufs, sind nicht auf den engen Raum eines einzelnen Landes, nicht einmal auf den eines Weltteils zusammengedrängt. Ja, die Länder, die der Schauplatz dieser Revolution waren, sind gerade am wenigsten bei ihrer Erzeugung beteiligt. Sie sind mehr oder weniger bewußt- und willenlose Rohstoffe, die umgemodelt werden im Verlauf einer Bewegung, an der jetzt die ganze Welt teilnimmt, einer Bewegung, die uns unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen allerdings nur als eine fremde Macht erscheinen kann, obwohl sie schließlich nur unsre eigne Bewegung ist. Die Revolution von 1848 bis 1850 kann daher nicht enden wie die von 1525.

Aus Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, geschrieben im Sommer 1850. Erstmalig veröffentlicht in: ‘Neue Rheinische Zeitung’. Online hier. 

1983. Toni Negri, ein Subversiver im Parlament

Jaroslav Novak

Heute, am Tag der Trauerfeier auf dem Père Lachaise, erinnern wir an Toni Negri mit einem Text von Jaroslav Novak, einem Militanten von Potere operaio und einem der Hauptangeklagten des Prozesses vom “7. April”. 

Der Text erzählt unveröffentlichte Details von Toni Negris Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1983, nachdem er auf der Liste der Radikalen Partei zum Abgeordneten gewählt worden war. (Vorwort Machina) 

* * *

Die Stille war unwirklich und schien fast eine physische Barriere gegen den Lärm und das Geschrei zu bilden, das zweifellos von der großen Gruppe von Faschisten ausging, die sich am Ende der Via Raffaele Majetti versammelt hatten, fast so, als wollten sie uns daran hindern, in diese Richtung zu gehen, aber sie wurden von einem ebenso großen Kordon von Carabinieri in Einsatzkleidung in Schach gehalten.

Auf der anderen Seite, wo die Via Maietti rechtwinklig in die Via Bartolo Longo einmündet, die wiederum in die Via Casal dei Pazzi mündet, die auf der einen Seite in Richtung Rom und auf der anderen Seite auf die Umgehungsstraße führt, verhinderte vom ersten Morgengrauen an ein Großaufgebot von Carabinieri die Annäherung. Ich selbst hatte Schwierigkeiten gehabt, obwohl ich schon seit Tagen eine Sondergenehmigung hatte. Aber als ich in meinem gelben Mini ankam, trauten die Carabinieri, denen ich den Passierschein zeigte, der mich zur Weiterfahrt berechtigte, ihren Augen nicht. Roberto und Sergio hatten sicherlich weniger Probleme, und zwar nicht so sehr wegen des Autos, sondern weil sie ihre Abgeordnetenausweise vorzeigen konnten.

Wir waren in Rebibbia, gleich hinter dem Haupteingang. Auch dort waren viele Carabinieri, aber kein einziges Wort. Die Spannung war sehr groß und wir alle drei waren von einem Gefühl der Nervosität durchdrungen. Sobald Negri den bürokratischen Papierkram erledigt hatte, der ihm aufgrund seiner Wahl zum Abgeordneten der Radikalen Partei die Freiheit bescherte, konnten wir Rebibbia verlassen, die Schlange der Carabinieri in der Via Majetti würde sich öffnen wie das berühmte Wasser des Roten Meeres und dann würde alles gut werden. Das kam uns wie eine Falle vor.

Also beschlossen alle, einen Anruf zu tätigen. Es gab noch keine Mobiltelefone, sondern nur ein bescheidenes Münztelefon. Ich rief die einzige Person an, die ich anrufen konnte, Rossana Rossanda, und erklärte ihr die Situation. Wahrscheinlich setzten sich Sergio Stanzani und Roberto Cicciomessere mit Pannella in Verbindung. Später erfuhr ich, dass Rossana Pertini direkt angerufen hatte. Diese beiden Anrufe müssen etwas bewirkt haben. Kurze Zeit später wurde ich von Manai, dem Kommandanten der Gefängniswärter, kontaktiert. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Manai gehabt. Er war ein kultivierter Mensch, intelligent, geschickt im Umgang mit schwierigen Situationen und als Kommandant der Wachen des wichtigsten Gefängnisses, das sich zudem in der Hauptstadt befand, sehr aufmerksam für die politische Dynamik. Er war es, der Restivo, den Gefängnisdirektor, davon überzeugt hatte, die berühmte “Delegation von Vertretern der Regenbogenpresse” zuzulassen, die ich erfunden hatte und in der ich der einzige “politische Gefangene” war.

Mit mir waren damals der berühmte Salvatore Buzzi, “prima maniera”, mit dem ich befreundet war, der Sohn von Tommaso Buscetta, der offenbar versucht hatte, seinen Vater bei einem Drogendeal zu erledigen (und den die Knastchroniken, von denen ich nicht weiß, wie zuverlässig sie sind, später zur Verstärkung des Betonpfeilers eines Viadukts heranziehen würden), einige Vertreter der berüchtigtsten römischen “Mafia” jener Zeit, die Familie Proietti und ein Mitglied der “Ndrangheta”, der mich um jeden Preis davon überzeugen wollte, dass er wegen eines Irrtums der Richter im Gefängnis saß, die nicht geglaubt hatten, dass es sich bei den von ihm telefonisch bestellten Krawatten wirklich um Krawatten und nicht um Drogenpakete handelte, wie diese boshaften Richter behaupteten. Und so weiter.

Eines Tages bat ich Manai um ein Gespräch, das er mir gewährte, und ich erklärte ihm kurz und bündig die Situation. Meine Genossen und ich stehen in einem Beziehungsnetz mit einigen kleineren Gruppen, den so genannten “combattenti” in anderen Gefängnissen, und wir wissen von einigen Situationen mit bedrohten oder militanten Personen, die von den Gruppen, denen sie angehören und für deren Aktivitäten sie im Gefängnis sind, wegkommen wollen. Ich wies sie darauf hin, und sie fanden einen Weg, sie nach Rebibbia zu verlegen, in diesen “homogenen Bereich”, der sich bereits gebildet hatte und zu dem einige gehörten, die sich noch nicht distanziert hatten, sondern ihren eigenen kritischen Weg begannen. So war es.

Nun kam Manai auf mich zu und sagte: “Ich möchte, dass Sie mit jemandem sprechen. Ich musste lachen, denn er hatte den gleichen Satz schon einmal gesagt und mich in ein Zimmer begleitet, in dem Valerio war. Aber das ist eine andere Geschichte. In diesem Fall war es nicht er, sondern Colonel Belmonte, zumindest sagte er, dass er so hieß, ein hohes Tier, zumindest von der Größe her, im Geheimdienst. Sergio und Roberto hatte man ausgespart. Mir ist klar”, sagte er, “dass Sie, und ich nehme an, auch Herr Negri (so nannte er ihn zu Recht), sich Sorgen machen, was auf dem Weg aus Rebibbia passiert. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Seit Tagen läuft eine Kampagne von rechtsextremen Gruppen, die gegen die Wahl Negris zum Abgeordneten sind, und die Situation ist ziemlich heikel. Aber wenn Sie wollen, und Herr Negri ist damit einverstanden, können wir Ihnen jeden Schritt in äußerster Sicherheit garantieren”. Ich stellte mich dumm und verstand nicht, wer vor mir stand und fragte: “Wir wer”? Vielleicht hatte er die Frage nicht erwartet und vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wenn er sie nicht gestellt bekommen hätte, aber er antwortete mir, wenn auch mit halb zugekniffenen Mund: “Geheimdienste”. Ich verstand, dass Rossanda und, ich glaube, auch Pannella sofort gehandelt und die Frage nach unserer Sicherheit gestellt hatten. Ich antwortete also, dass ich persönlich kein Problem hätte, aber natürlich musste Negri seine Zustimmung geben. Es ging darum, eine Art ständige Kontrolle zu akzeptieren. Nach einiger Zeit kam Toni. Obwohl seit meiner Entlassung aus Rebibbia einige Zeit vergangen war, hatten wir immer Kontakt gehalten, vor allem während der Wahlkampfzeit. Mit Pannella und Giovanni Negri und ihrem Überschwang umzugehen, erwies sich als schwierige Aufgabe, und die Gespräche mit ihnen, die ich immer zusammen mit Rossana führte, endeten oft in heftigen Auseinandersetzungen.

Toni war sehr angespannt, zu Recht nervös und emotional erschöpft. Er war kurz davor, entlassen zu werden, wusste aber noch nicht, wie. In der Zwischenzeit hatte ich Roberto und Sergio von dem Gespräch mit ‘Belmonte’ in Kenntnis gesetzt und mir ihre Sorgen angehört. Das waren auch die meinen, aber wir hatten keine Lösungen. Ich persönlich war in diesem Moment etwas leichtsinnig geworden, ich hatte nichts geplant, ich hatte mir dieses Szenario nicht ausgemalt, ich wusste nur, was unser Ziel war. Ich redete, wir redeten mit Toni. Wir wechselten ein paar Worte, wir waren beide ein wenig benommen. Was in diesem Augenblick ein außerordentlicher Sieg gewesen war, wurde zu einem Moment der Unruhe und der Angst. Die Stille um uns herum war weiterhin ohrenbetäubend.

Ich teilte Belmonte mit, dass wir das Angebot angenommen hatten. Er gab mir eine Telefonnummer, die ich von nun an immer anrufen sollte, wenn Herr Negri seine Wohnung verließ. Wir mussten dann auf eine Bestätigung warten, dass man den Begleitservice organisiert hatte. Das geschah in der Regel nach ein paar Minuten. Ich war erstaunt über ihre Effizienz, sowohl an diesem Abend als auch bei anderen Gelegenheiten, wenn wir längere Fahrten vor uns hatten, wie zum Beispiel nach Neapel. Auf der Autobahn fiel mir mehrmals auf, dass wir während der Fahrt an stehenden Autos vorbeifuhren, die nach unserer Durchfahrt ansprangen. Die Begleitpersonen wechselten sich ab.

Mein gelber Mini blieb bei Rebibbia und wir fuhren mit dem Auto von Sergio und Roberto durch eine von ihnen angegebene Nebenausfahrt in Richtung Via Flaminia, wo Pasquale Squitieri und Claudia Cardinale in ihrer Villa auf uns warteten. Als wir ankamen, ließen uns Roberto und Sergio dort zurück, und Toni wurde endlich locker und machte zur Beruhigung einen großen Purzelbaum auf dem Rasen der Villa. Pasquale hatte einige Zeit mit uns in Rebibbia verbracht, für eine alte, verrückte Geschichte, die viele Jahre zurücklag, und ich hatte ihn für “il manifesto” interviewt. Kurz darauf hatte mich Manai gewarnt, dass eine Operation im Gange war, um ihn heimlich für eine Boulevardzeitschrift zu fotografieren. Ich warnte Pasquale, es gelang uns, diese Aktion zu verhindern, und von da an wurden wir Freunde. Als wir bei seinem Haus ankamen, und das passierte mir jedes Mal, bekam ich einen Kloß im Hals, sobald Claudia mit ihrer verrückten, sinnlichen Stimme sagte: “Hallo Jaro, wie geht es dir?” Nach einer Weile läuteten sie am Tor. Es war der Begleitservicewagen, der uns eskortiert hatte (wir hatten nichts bemerkt) und sich vergewisserte, dass alles in Ordnung war. Die Emotionen an diesem Abend kochten hoch. Toni war endlich frei. Die Zukunft ist, wie wir alle wissen, vollkommen ungeschrieben.

Als Toni dann beschloss, nach Frankreich zu gehen, in der Gewissheit, dass das Parlament sich für seine erneute Inhaftierung entscheiden würde, tauchte das Problem der Eskorte auf. Toni bat Scalfaro, den damaligen Innenminister, um ein Gespräch, um die Aufhebung der Eskorte zu beantragen, da er kein Problem mehr für seine Sicherheit sehen würde.

Scalfaro, als alter christdemokratischer Klugscheißer, ließ sich das nicht zweimal sagen. Die Vorstellung davon, was die Rückkehr Negris ins Gefängnis aus politischer Sicht bedeutet hätte, und die Proteste, die es gegeben hätte, mit wahrscheinlichen Zwischenfällen auf der Straße, veranlassten ihn, die Aufhebung der Eskorte sofort zu bewilligen, wohlwissend, dass Toni, wie er vermutet hatte, ins Ausland fliehen würde.

Jaroslav Novak, 26. Dezember 2023

Jaroslav Novak war ein Militanter von Potere operaio. Er war einer der Hauptangeklagten im Prozess bezüglich des ‘7. April’ und saß 2 Jahre und 9 Monate im Gefängnis, bevor er freigesprochen wurde.

Dieser Text erschien am 3. Januar 2024 auf Machina und wurde von Bonustracks in Deutsche übertragen. 

Toni is A Punkrocker

Giorgio Moroni

Januar 1999. Toni wohnt nicht weit vom Ghetto entfernt, in der Nähe der Tiberinsel. Die Wohnung erstreckt sich über zwei Etagen, inmitten eines Labyrinths von Gängen, Innentreppen und blumengeschmückten Hohlräumen. Ich sitze und warte. Am Abend kehrt er ins Gefängnis zurück und verbringt die Nacht in seiner Zelle, um mit seinen Genossen zu reden. Am Nachmittag ist er oft schläfrig und schlummert. Ich schaue mir die Bücher und Akten in den Regalen an. Ich folge gedanklich Pfaden, die mir vertraut sind. Irgendwo entdecke ich eine alte, ausgefranste Ausgabe der Quaderni Rossi.

Ich denke an die elektrisierenden Vorträge in Genua, im Sitz von Potere Operaio in der Via Rayper in Sampierdarena, nicht weit von dem Haus in der Via Paolo Reti entfernt, in dem Gianfranco Faina ihn während seiner Genueser Episoden beherbergte, zur Zeit der Intervention der Arbeiter in den Fabriken. Und dann an Balbi, das letzte Mal, als Lenin durch seine Lektüre aktuell erschien: die Zeit der Fabrik der Strategie. Und noch einmal: dieser Text, Die kapitalistische Theorie des Staates im Jahr ’29: John M. Keynes, den ich bestimmt mehr als zehn Mal gelesen habe, wenn man von der überraschenden und plastischen Eröffnungspassage absieht: “Paradoxerweise wird das Kapital marxistisch oder lernt zumindest, Das Kapital zu lesen: natürlich von seinem Standpunkt aus. Was, wenn es mystifiziert wird, deshalb nicht weniger wirksam ist.”

Am Rande des ersten Seminars der Autonomia operaia, im August 1973 in Padua, besuchte ich die Feier zu seinem vierzigsten Geburtstag im Mondo de qua, einer Pizzeria zwischen den Flüssen Brenta und Bacchiglione; es war eine Erinnerung an weiße Polenta und Rippchen auf dem Grill, während hinter dem dichten Rauch die strahlenden Gesichter von Emilio Vesce, Toni Liverani, Renzo Ferrari, Gianfranco Pancino und Giorgio Ferrari erschienen.

Einige Zeit später trafen wir uns in Genua wieder, zusammen mit Gianfranco Faina und anderen Genossen, in einer Pizzeria auf der Piazza Barabino, natürlich in Sampierdarena; unter dem Vorwand der besetzten Balbi Rossa hatte ich dieses Bankett mit dem naiven und unmöglichen Ziel organisiert, die Wiederannäherung zweier glühender Intelligenzen zu versuchen; und auch, um zu verstehen, inwieweit die Seelen, die mich bei der Lektüre von Classe Operaia fasziniert hatten, sich als ganz anders erwiesen. Als Stefania und ich ihn 1975 in Mailand besuchten und bei ihm und Paola einen Teller Risi e Bisi aßen, erkannte ich mich nicht mehr in der hegemonialen Idee der Autonomia, die Toni damals vertrat. An diesem Tag war ich enttäuscht und wütend, nachdem ich bemerkt hatte, dass er meine offenen Beschwerden höflich ignorierte und durch einige seiner Fragen verblüfft war (“aber weißt du, dass Oreste und Gianfranco jetzt zusammenarbeiten?”; nein, das wusste ich nicht, und es interessierte mich auch nicht), und ich verglich sein Verhalten mit den lockeren und unangemessenen Praktiken meines Nachbarn Giuseppe Mazzini (ich wohnte gegenüber dem Geburtshaus des Philosophen und Patrioten).

Aber dann stand ich 1976 auf der Straße in Padua, wo ich für einen Soldatensender in der Pierobon-Kaserne tätig war, und hielt an, um ihm vor dem Feltrinelli zuzuhören, wo neue Exemplare von Il Dominio e il Sabotaggio auslagen. Ich habe immer noch die Bücher zu Hause, die ich in jenem Jahr in Politikwissenschaft mitgenommen habe: Rosdolsky, Rosenberg. Damals war die Fakultät eine offene Stadt.

Bald darauf traf ich ihn wieder häufiger in der Via Disciplini in Mailand. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Gespräche immer diskreter, wir sprachen nur noch in Bars, außerhalb der eigenen Räumlichkeiten.

Und schließlich 1977, das Jahr des Wendepunkts, mit Bifo in Guattaris Pariser Haus.

Und dann bin ich in Montecatini, im Bauernhaus von Gianni Giovannelli, nach dem 7. April und dem 17. Mai jenes schrecklichen Jahres, nach seiner Verhaftung und seiner Wahl ins Parlament, mit unseren kleinen Kindern, für die er sich so sehr begeisterte, dass er sie im Tagebuch eines Flüchtigen zitierte.

Und schließlich bin ich in Paris, das erste Mal, nachdem ihm der Pass zurückgegeben wurde, vielleicht 1994, mit Sandro Mezzadra und Agostino Petrillo.

Er kommt hustend und schnaufend an. Er beruhigt mich sofort: Es geht ihm gut, er hat sich in Padua untersuchen lassen, und das hat es bestätigt. Wie immer fällt seine nervöse und immerwährende Vitalität auf. Er ist neugierig, er hört gerne zu. Er hat die Gabe eines lebhaften, beweglichen Kopfes, wie der eines prächtigen imaginären Tieres, und eine durchdringende, frische Stimme. Der Rest ist eine aufsaugende, nervöse Anstrengung, die mühsame Eroberung dessen, was wesentlich und erhellend ist, um es zu lesen und darüber hinaus zu gehen; die Ermüdung des Denkens, ausgestellt und mit Anweisungen versehen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich aus meinem Untergrund, der Hölle der geistigen Warenproduktion, zu ihm spreche. Ich trage Notarkleidung, die letzte meiner Arbeitskleidung. Ich bin ein Trans-Broker. Ein Selbstausbeuter voller unkontrollierbarer Ressourcen. Er zündet seine erste Zigarette an und wir beginnen. Ich bin derjenige, der reden muss, er weiß nicht mehr, wie dieses Land ist, er braucht viele Zeugnisse, so sagt er mir. Ich rauche ein paar seiner Zigaretten, ich sage ihm, dass ich kurzfristig wenig Hoffnung habe, die regierende politische Klasse ist zu schurkisch und staatsgläubig, Konflikte werden seit Jahren bürokratisch umgangen, die Linke ist die eigentliche konservative Kraft in diesem Land, Kritik wird gesellschaftlich monetarisiert, der Staat finanziert den sozialen Stillstand bis zum Exzess. Es gibt keine mögliche Opposition, Italien ist das Land, in dem unsere Körper am besten leben können, unsere Seelen aber am schlechtesten.

Ja, Italien ist das beste Land zum Leben, sagt Toni, aber bevor wir verstehen können, warum wir unsere Seelen oder unsere Hirne korrumpieren, da wir – er sieht mich lächelnd an – da wir Materialisten sind, müssen wir wissen, woher all dieser Reichtum kommt, wie er produziert wird und wie er verteilt wird. Nun, die Antwort ist natürlich der Staat, und jetzt auch das Enalotto, fügt er hinzu, und ich lache mit ihm. Es ist sowieso Zeit für eine neue Untersuchung, fährt er fort. Es ist nutzlos und schädlich, sich damit zu begnügen, dass unsere Erfahrung – hier schlägt es einem den Boden unter den Füßen weg wie damals auf dem Bürgersteig der Via Boccaccio in Mailand -, unsere Erfahrung, das kritische Denken, zu dem wir fähig waren, es geschafft hat, ins Schwarze zu treffen und das neue Produktionsparadigma zu umreißen. Die Reihenfolge des Denkens muss umgedreht werden. Heute geht es darum, die Kämpfe der Reinigungskräfte, Kellner und der Fahrradkuriere zu organisieren. Unser Bezugspunkt müssen die Klassenkämpfe in Frankreich in den 1990er Jahren sein.

Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass die Kämpfe dieser Figuren viel mit dem zu tun haben, was wir tun können, wir müssen an den Bedingungen für die Entwicklung eines neuen kritischen Denkens arbeiten. Es ist ein neuer und provokanter Kampf der Ideen, den wir führen müssen, und es ist egal, ob die Themen weitgehend mit denen übereinstimmen, für die wir gekämpft haben, solange es keine Selbstgefälligkeit gibt. Es ist die Kritik der Arbeit und des Staates, die wir wieder aufnehmen müssen, jetzt, da alle – von den Arbeitslosen über die Arbeiter bis hin zu Rifondazione all’Ulivo und Alleanza Nazionale – die gleichen Codes, die gleichen geistigen Kategorien, die gleichen geistigen Paradigmen verwenden, ob es nun darum geht, für Arbeitsplätze zu kämpfen oder so vielen Menschen wie möglich einen Arbeitsplatz zu verschaffen.

Kämpfe sind alles, sagt er mir, mach nicht den Fehler, sie zu unterschätzen, sie sind unsere Methode. Wir trinken ein Schnäpschen. Zahlreiche Telefonanrufe gehen ein. Sie werden alle von seinem Begleiter beantwortet. Wenn es um Journalisten geht, wird jede Möglichkeit einer Stellungnahme rundweg abgelehnt. Ich frage ihn nach seiner Arbeit in der Halbfreiheit. Dann erzähle ich ihm schließlich alte Geschichten. Wir sprechen über Gianfranco Faina und auch über Giuliano Naria (“ich schätze ihn sehr, aber in Trani war er ein Arschloch, weil er sich auf ihre Seite gestellt hat”). “Bleib in Kontakt mit Sandro, er ist oft hier, er wird es dir sagen”. Wir umarmen uns innig.

Als wir 2017 in Genua als Archimovi (Associazione per un Archivio dei movimenti, d.Ü.) die Ausstellung über die Achtundsechziger Jahre organisierten, war Toni trotz seines prekären Gesundheitszustands erstaunlich und großartig. Er kam allein mit dem Zug aus Paris und besuchte die Ausstellung. Dann machte er ein paar Stunden Pause im Hotel, um an etwas zu arbeiten, das er gerade schrieb. Am späten Nachmittag nahm er an einer Gesprächsrunde mit Guido Viale und Luciana Castellina teil. Damit nicht genug, bat er darum, bei einem Treffen mit Jugendlichen und Genossen der CSO Zapata sprechen zu dürfen, was ihm mehr Spaß machte als die offizielle Veranstaltung kurz zuvor. Er blieb lange, nahm jede Frage an und schätzte sie in seinen Antworten, mit dem offensichtlichen Ziel, die Gewissen aufzurütteln und sie zum Handeln aufzufordern, versteckt hinter der Decke seiner eigenen Neugier… eingewickelt in seinen Mantel, fest umhüllt von seinem Schal.

Ein Mensch, ein unvergesslicher Genosse. Bewegend, beispielhaft, unwiderstehlich. Revolutionäres Denken kann nicht enden, weil es immer wieder neu beginnt.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023 auf Effimera, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Making Kin. Tonis Leidenschaft

Gaetano Grasso

Ich kann nicht anders, als mich unter diesen besonderen Umständen auf ganz persönliche Art und Weise zu äußern – eine Art und Weise, die ich nicht umgehen kann, denn dieses Jahr 2023 war für mich und meine Familie und für viele von uns Genossen voller schmerzlicher Verluste, von denen der erste, der meines kleinen Sohnes Jacopo, der mich am unmittelbarsten betraf, mir heute wie eine dunkle Vorahnung erscheint. Ich erlaube mir daher, hier neben vielen anderen, die von ähnlicher emotionaler Intensität sind, die Nachricht von Toni vom 18. Januar 2023 zu zitieren:

“Mich hat die Nachricht erreicht, dass dein Sohn gegangen ist. Er hat sein Leiden beendet. Ich umarme dich, ich umarme dich ganz fest. In brüderlicher Verbundenheit. Ich weiß, dass jedes Wort des Trostes nutzlos ist. Aber ich möchte dich festhalten, dich an meinen Körper drücken, dich spüren lassen, was du weißt: Wir haben ein gemeinsames Leben aufgebaut, und der Schmerz eines jeden ist der Schmerz eines jeden. Fasse Mut. Toni.”

Nun, da mich die Nachricht erreicht hat, dass nach so vielen anderen auch Toni gegangen ist, bin ich immer wieder auf unsagbare Weise von diesem “Schmerz aller, der allen gehört” überwältigt, und das drängt mich dazu, Trost (ach ja) in seinen Worten zu suchen: in dieser privaten Botschaft wie in den Seiten so vieler seiner Bücher, die mir in einem halben Jahrhundert mehr oder weniger intensiver Verbundenheit immer kostbar waren.

Zu den am wenigsten in Erinnerung gebliebenen Werken gehört vielleicht Il ritorno. Quasi un’autobiografia. Conversazione con Anne Dufourmantelle, Rizzoli 2003. Daraus möchte ich Auszüge aus einer Passage zitieren, die meiner Meinung nach die besondere Intensität der empathischen Reaktion wiedergibt, zu der Toni fähig war und die uns immer wieder auf die Möglichkeit und den Wunsch hinweist, “ein gemeinsames Leben aufzubauen”, in der unermüdlichen Anstrengung, sich das Gemeinsame wieder anzueignen. In Abgrenzung zu jeglichem Paten-Familien-Identitarismus und daher ohne Zugeständnis an die gegenwärtige “Rückkehr der faschistischen Barbarei” mit ihren “patriarchalischen Gesellschaftsregeln, der Befehlsstruktur zur Ausbeutung und der Souveränität des Eigeninteresses in der politischen Form des Staates”.

La  Conversazione  – das anlässlich seiner freiwilligen Rückkehr nach Italien und im Gefängnis stattfand – ist wie “eine biografische und biopolitische Fibel” aufgebaut, “die für jeden Buchstaben Worte wählt, die [für Toni] eine besondere Bedeutung haben”. Und hier, in aller Kürze, eines von denen, von denen ich glaube, dass sie ganz klar eine ganz besondere Bedeutung haben, indem sie einen prägenden Charakterzug von Tonis Persönlichkeit repräsentieren, die seit vielen Jahrzehnten fast ausnahmslos in diesem unterwürfigen Italien von zu vielen Hatern des Regimes in institutionellem oder professionellem Gewand diffamiert worden ist:

P wie Passion: Menschliche Leidenschaften, politische Leidenschaften. Leidenschaft ist der Ort maximaler Intensität in einer bestimmten Zeit?

(…)

…Leidenschaft bedeutet auch, ontologisch gesprochen, Bauen. Passion konstruiert das Sein. Wenn man eine Leidenschaft lebt, konstruiert man Szenen, Horizonte, Strukturen, Sehnsüchte und Freuden für sich und für andere. Leidenschaft führt immer zum Gemeinsamen.

In der Liebesleidenschaft hält man sich lieber aus der Welt heraus.

Das nennt ihr Psychoanalytiker “Wahnsinn zu zweit”. Wahre Leidenschaft ist ein gemeinschaftliches Konstrukt, das sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Paares abspielt. Diese Offenheit ist der aufregendste Aspekt im Leben der Leidenschaft: ein Gefühl der Stärke, ein Wunsch nach Schöpfung – was die Generation und die Kinder betrifft – und daher auch ein Wunsch nach Gemeinschaft, nach Teilen, nach Zusammenarbeit. Ich habe nie gedacht, dass man das Öffentliche dem Privaten opfern sollte oder umgekehrt, denn ich habe sie nie als gegensätzliche Begriffe verstanden. Wenn man jemandem begegnet, der dies teilt, beginnt eine wunderschöne Liebesgeschichte, eine wahre Geschichte voller Sehnsucht. Für mich fiel die Rückkehr nach Italien mit der Verwirklichung einer Sehnsucht nach dieser Art von Liebe zusammen.

Es versteht sich von selbst, dass Toni hier nicht (oder nicht nur) die Liebe eines Paares gemeint hat.

Und auf jeden Fall war “Möge die Ewigkeit uns umarmen” immer der Kunst der Subversion und der Befreiung gewidmet.

Erschienen am 26. Dezember 2023 auf Effimera, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Arrivederci und gute Arbeit [Toni Negri]

Kamo Modena

0. Jeder in diesem Land, der sich keinen Aufstand gewünscht hat, ist eine tote Seele, die nichts von den Leidenschaften der Geschichte erfahren hat – aus einem alten Flugblatt aus den Siebenundsiebzigern.

“Vor der Gruppe steht ein grauhaariger Mann in den Vierzigern mit einer runden goldenen Brille. Ein Gesicht auf halbem Weg zwischen einem russischen Terroristen des späten 19. Jahrhunderts und einem Geschäftsmann.” Hier ist er.

1. Als Achtundsechzig und dann Neunundsechzig ausbrachen, war er 35 Jahre alt, hatte aber bereits zehn Jahre Militanz hinter sich. Quaderni rossi, Classe operaia, die Potere operaio veneto-emiliano. Die Streiks der Elektromechaniker, der petrochemischen Fabrik von Porto Marghera, der Brenta-Fabriken. Versammlungen, Flugblätter, Streikposten mit den Arbeitern – ohne Arbeiterbewegung. Die conricerca (1) in Turin, mit Alquati. Die Diskussionen in Rom, mit Tronti. Die Intervention in der Emilia, mit Bianchini. Mit 35 Jahren hatte er einen angesehenen Posten an der Universität, eine Frau und zwei Kinder. Es gab genug, um die Ruder im Boot zu ziehen, um sich seiner Karriere zu widmen, dem Herd, respektablen Meinungen. Den Kampf hinter sich zu lassen – “meins habe ich schon gegeben”. Ein bereits festgelegtes bürgerliches Leben.

Unter diesen Bedingungen beginnt ein zweites Jahrzehnt der Militanz. Die 1970er Jahre.

2. Wie einer unserer Genossen sagt, sind (waren) sie in einer anderen Liga. Diese Art von Mann und Frau spielt in einer anderen Liga. Der Genosse, der jetzt etwas über 35 ist, mit etwas mehr als zehn Jahren Militanz, sagt, dass es nicht nur eine Frage der intellektuellen Vorbereitung ist, sondern der Fähigkeit, über die eigene Art zu leben, zu entscheiden. Um Gewissheit, Entschlossenheit, Unabhängigkeit von persönlichen Beziehungen. Es sind nicht wenige der richtigen Zutaten, die einen Revolutionär ausmachen.

“Es ist schwierig, den Leuten klarzumachen, was es nicht nur für Arbeiter und Studenten in ihren Zwanzigern, sondern auch für Männer in ihren Dreißigern bedeutet, ein militantes Leben zu führen. Es ist nicht nur ein totales zeitliches Engagement, ein riskantes und aufregendes Abenteuer: es ist eine Anstrengung der Selbstveränderung, verstandesmäßig und emotional, theoretisch und politisch”. Wird es weitere solche Männer und Frauen geben? Die Frage ist, wie man das heute möglich machen kann.

3. Wir glauben, dass er in den 1970er Jahren für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum wie Lenin war – oder besser gesagt, ein Lenin in nuce. Er war die Chiffre für diese revolutionäre Bewegung, für diese Klassenzusammensetzung. Die strategische Tiefe, die taktische Präsenz. Die Fähigkeit, den Wandel zu antizipieren, die Subversion zu leben. Die Aktualität der Revolution, nicht so sehr dort, wo der Grad der kapitalistischen Entwicklung am höchsten ist, sondern dort, wo die Subjektivität der Arbeiter am stärksten ist. Der Leninismus ist keine Tätigkeit für Heilige und schwache Mägen. Und diese Momente dauern nicht ewig. Das Fenster schließt sich. In der Tat wissen wir, wie es gelaufen ist. Kollektive und individuelle Parabeln, kollektives und individuelles Elend. Das unerbittliche Danach der besiegten Aufstände. Neue Wege, andere Wege. Die wir, da wo wir herkommen, noch nie befahren haben. Wir kamen nach diesem rot gefärbten Sonnenuntergang, wir sind auf der Suche nach dem Rot einer neuen Morgendämmerung. Darauf, auf das, was danach kam, wollen wir nicht näher eingehen. Stattdessen sollten wir zu den ungelösten Knoten der Niederlage zurückkehren. Der gesellschaftliche Arbeiter, das ungelöste Rätsel der Organisation.

4. In der Wut der Suche nach dem Jetzt vergessen wir die Zeit, die wir brauchen, um über die alten Bücher nachzudenken, die wir gelesen haben, die wir oft vergessen haben, die aber die entscheidendsten sind und immer noch Kraft haben. Die Bücher von damals, als das Fenster noch offen stand. Wir benennen zwei.

5. Crisi dello Stato-piano. (2) Die schwarze Magie der Operaisten. Ein Grimoire über die höllischen Kämpfe zwischen den Schulen der Geisterbeschwörer um die Macht über die Seelen der Kommunisten. Eine obskure Sprache, unergründlich für Sterbliche, die nicht in das arkane Wissen der Grundrisse eingeweiht sind, verbirgt Formeln und Alchemie, mit denen dämonische Geister der Tendenz, der Organisation und der Zusammensetzung beschworen werden können. Nur wenige können von sich behaupten, die mystischen Geheimnisse dieser dämonischen Schrift und die vergessenen Kräfte, die das Necronomicon enthält, vollständig verstanden zu haben. Ironischerweise sind es Texte wie diese, die historisch durch Kampfprozesse bestimmt sind, die in ihre eigene Zeit und die Aufgaben, die sie den politischen Subjektivitäten stellt, eingetaucht sind, in denen wir den Schatten und die Methode Lenins sehen. “Die Arbeiterklasse in Waffen, der Kommunismus in Aktion”.

6. La fabbrica della strategia. (3) Leninistische Methodik und Potenz, in 33 Lektionen, wiederbelebt in der realen Bewegung. Wenn man die Entwicklung verfolgt, gilt das Ausdrückliche auch heute noch. “Schreckliche Zeiten liegen vor uns. Die terroristische Ausnutzung der Krise durch das Kapital, die repressive Umwandlung des Staates, die endgültige Veränderung der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, der Fall des Wertgesetzes: All das sehen wir und wir werden sehen, wie es sich immer stärker gegen uns wendet. Wir werden Widerstand leisten müssen. Wir werden wiederentdecken, dass alle Waffen des Proletariats leninistisch eingesetzt werden müssen – vor allem jene, die uns eine Tradition der Niederlage und des Verrats am stärksten verwehrt. Nach diesen Ausführungen muss jedoch hinzugefügt werden, dass die marxsche und leninistische Definition unserer Aufgabe, den Staat für den Kommunismus zu zerstören, nur im Bewusstsein eines neu zusammengesetzten strategischen Projekts stattfinden kann – und innerhalb eines konsequenten internationalen Zyklus von Arbeiterkämpfen. Es ist eure Aufgabe, als Studenten und Arbeiter, als wir alle, die wir unter der Fahne des Kommunismus marschieren, das Problem des Aufstandes und der Befreiung in subversiver Praxis zu lösen.” Und boom.

7. Genug geredet. Erlaubt uns, diesen ausschweifenden Diskurs auf unsere eigene Art und Weise zu beenden. Die der Irregulären, der Unbeherrschbaren, der Unverbesserlichen – die Art von Männern und Frauen von Intellektuellen und Militanten, die mit 35 Jahren ein zweites Jahrzehnt der Militanz beginnen, mit all der Freude am Kampf und dem aufrichtigen Wunsch nach Revolution, eben deshalb, weil sie keine klassischen Intellektuellen sind und versuchen, Militante zu sein, innerhalb ihrer eigenen Zeit, die sich unerbittlich gegen sie richtet. Mit den Worten eines anderen Banditen, aus einer anderen Bande, aber aus der gleichen Bande. Natürlich ebenfalls aus den 1970er Jahren.

8. “In der Via Disciplini wimmelt es von Menschen – es ist die Redaktion einer Zeitung, die noch nicht erschienen ist – einer Zeitschrift ‘innerhalb der Bewegung’ – inmitten von tausend Stimmen führen sie uns in einen kleinen Raum voller Bücher und Papiere – sie platzierten uns dort – es sind sechs oder sieben von ihnen, ein großer, schlanker Mann in den Vierzigern – etwas mystisch in seiner Gestik – er hielt eine schwirrende Rede – fast fraktal – wurde mehrmals von den anwesenden Genossen unterbrochen – und gezwungen, seine mit zunehmender Entschlossenheit ausgedrückten Konzepte zu wiederholen – am Ende erlaubte er sich, zugänglichere Formulierungen zu verwenden – ‘Cuccetta [Capanna] – obwohl er nie durch Intelligenz glänzte – hatte er in einem Punkt recht – um eine politische Bewegung von einigen wenigen in eine Massenbewegung umzuwandeln, braucht man eine geschickte Miliz – von hervorragender Qualität – wir haben die Intellektuellen – wir sind unter den Studenten und Arbeitern präsent – wir müssen auch auf die Vorstellungskraft einwirken – um die stärkste Organisation in Mailand zu schaffen – und so dachten wir an euch’ – diese Anspielung auf Cuccetta und die Statisten kam gut an – ‘Noooh!’ – wir antworteten ihm gleichzeitig – ‘Wir waren nicht Cuccettas Statisten – wir werden nicht die Schauspieler eines Regisseurs sein – auch wenn wir die Hauptrolle spielen’ -antwortete ich ihm – ‘Wir sind niemandes Söldner’ – fügte Jack hinzu – dann gingen wir mit einem freundlichen ‘Arrivederci und gute Arbeit!’”

Ein letzter Punkt

9. Methodisch zu arbeiten, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es bedeutet auch, die eigene Geschichte in ihrer Gesamtheit anzunehmen – die Siege und die Niederlagen, die Begrenzungen und die Eroberungen, die Reichtümer und die Tragödien – und damit zu kalkulieren, denn nur so kann man die Arsenale von gestern plündern, um heute noch Schüsse abzufeuern. Über die Begrenzungen und Niederlagen nachdenken, die Reichtümer und Eroberungen assimilieren, sie zur Munition machen – bis zum Sieg. Also: Arrivederci und gute Maulwurfsarbeit, liebe Genossen.

Fussnoten der deutschen Übersetzung

  1. “Begleitende Untersuchung”, zum besseren Verständnis siehe “Der Operaismus als Objekt der historischen Forschung” von Sergio Bologna  https://www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/bologna.htm
  1. Deutsch: “Krise des Planstaats, Kommunismus und revolutionäre Organisation”, Merve-Verlag, Berlin 1973.
  2. In der englischen Übersetzung bei libcom https://libcom.org/article/factory-strategy-33-lessons-lenin-antonio-negri

Veröffentlicht am 20.12.2023 auf Kamo Modena, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Mailand, 13 Januar 2024: Landesweite antifaschistische Demonstration in Solidarität mit Ilaria, Tobias und Gabriele

Neben der immer deutlicher werdenden Verschärfung der sicherheitspolitischen Maßnahmen, der Segregations- und Ausgrenzungsmaßnahmen und der Mechanismen zur Bevölkerungskontrolle, die die Kontrolle des europäischen Territoriums in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, erleben wir derzeit gleichzeitig das Erstarken rechtsextremer Positionen. Organisierte neonazistische und neofaschistische Gruppen, die über einen großen Handlungsspielraum außerhalb und innerhalb von Institutionen verfügen, breiten sich immer mehr aus.

Jahrzehntelange tiefe wirtschaftliche und soziale Krisen haben nicht nur die ärmsten und schwächsten Bevölkerungsschichten in die Knie gezwungen, sondern auch einen fruchtbaren Boden für die Propagierung populistischer, identitärer und stark reaktionärer Ideen geschaffen. Verschiedene politische Kräfte, die mehr oder weniger institutionalisiert sind, haben in den letzten Jahren die Früchte dieser Propaganda geerntet: von der wachsenden Zustimmung für die großen europäischen Rechtsparteien wie Rassemblement National, Lega und Fratelli d’Italia, AfD und Vox bis hin zum Erfolg der von Faschisten angezettelten Straßendemonstrationen. Die mazedonische Unabhängigkeitsbewegung in Griechenland, die Infiltration von Faschisten auf mehreren Plätzen gegen die Covid-19-Beschränkungen, die jüngsten Unruhen in Spanien gegen die Amnestie für katalanische Separatisten oder die rassistischen Ausschreitungen in Dublin sind nur einige Beispiele, die einem einfallen.

In diesem Kontext immer deutlicherer und einschneidenderer Unterdrückung und der jähen Neuanpassung des globalen Kapitalismus sind diejenigen, die sich organisieren, um Widerstand zu leisten und die Gewalt von Staaten, Kapital und ihren rechtsextremen Wächtern zu bekämpfen, mit immer umfassenderer und aggressiverer Repression konfrontiert. In dunklen Zeiten, wie wir sie erleben, in denen die Winde des Krieges immer lauter in unseren Ohren pfeifen, werden die Unterdrückung des inneren Feindes und die soziale Befriedung zu den Prioritäten aller nationalen Regierungen.

In diesem allgemeinem Kontext, während die Europäische Union über die Möglichkeit nachdenkt, antifaschistische Gruppen in die Liste der als Terroristen bezeichneten Organisationen aufzunehmen, befinden sich in Ungarn seit Februar 2023 zwei Genossen im Gefängnis. Beide sind in Ermittlungen der ungarischen Polizei wegen Angriffen auf Neonazis verwickelt, die am Wochenende des “Tages der Ehre” aus ganz Europa nach Budapest gekommen waren. Ein Feiertag, an dem die Nazis der Vernichtung der deutschen Wehrmacht am 11. Februar ’45 durch die Rote Armee während der Belagerung von Budapest gedenken.

Die Anklageburg der ungarischen Staatsanwälte beschränkt sich jedoch weder auf die Ereignisse in Budapest noch auf die Gedenktage: Im Rahmen einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und Polizeibehörden versuchen die Ermittler, die Taten in Ungarn mit einem viel umfassenderen Verfahren in Verbindung zu bringen, das 2018 in Deutschland eröffnet wurde: dem sogenannten “AntifaOst”-Ermittlungsverfahren, in dem mehrere deutsche Genossen beschuldigt werden, Angriffe auf prominente Mitglieder der deutschen Neonaziszene verübt zu haben. Damit soll die Existenz einer kriminellen Phantomvereinigung bestätigt werden, die die Anschläge in Ungarn organisiert haben soll.

Aus diesem Grund hat die ungarische Staatsanwaltschaft neben Ilaria und Tobias, die in Budapest inhaftiert sind, 14 Europäische Haftbefehle gegen ebenso viele deutsche, italienische, albanische und syrische Genossen beantragt. Viele von ihnen sind bis heute unauffindbar.

Gabriele, ein Genosse aus Mailand, steht seit dem 22. November unter Hausarrest mit allen Einschränkungen, nachdem einer dieser Haftbefehle vollstreckt worden ist.

Das Verfahren, in dem über seine Auslieferung von Italien nach Ungarn entschieden wird, wird voraussichtlich im Januar 2024 enden, dem Monat, in dem in Budapest der Prozess gegen Ilaria, Tobias und einen dritten mit ihnen angeklagten Genossen beginnen wird. Ihnen wird vorgeworfen, an den Angriffen beteiligt gewesen zu sein und der mutmaßlichen Vereinigung, die die Angriffe organisiert hat, angehört zu haben oder sie zu kennen.

Am 13. Januar werden wir nicht nur auf die Straße gehen, um unsere Solidarität und Verbundenheit mit den Gefangenen in Budapest sowie mit Gabriele und den gesuchten Genossinnen und Genossen deutlich zum Ausdruck zu bringen, sondern auch, um klar zu machen, dass wir Partei ergriffen haben.

Wir haben uns entschieden, den Kampf gegen Faschisten und Nazis nicht an jene demokratischen institutionellen Apparate zu delegieren, die nichts anderes tun, als sie im Namen einer gepriesenen “Meinungsfreiheit” zu verteidigen und zu legitimieren. Wir sind überzeugt, dass die Faschisten direkt bekämpft werden müssen, in diesem historischen Moment mehr denn je. Wir fordern militante Praktiken und glauben, dass es notwendig ist, sie in allen Bereichen anzuwenden, um die Nazigruppen zu stoppen.

Auch in italienischen Städten, wenn auch weniger gewalttätig als in anderen europäischen Zusammenhängen, sind Faschisten präsent und versuchen, ihr Haupt zu erheben. Diese Diener des Kapitals, falsche Rebellen, die nur zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung dienen, müssen im Keim zerschlagen werden!

Jeden Tag entscheiden wir uns in unseren Kämpfen und auf unseren Wegen dafür, an der Seite derjenigen zu stehen, die sich den Bossen widersetzen, derjenigen, die ausgebeutet werden, derjenigen, die unter Unterdrückung leiden, derjenigen, die sich gegen imperialistische Kriege wehren und beschließen, zurückzuschlagen, derjenigen, die ihre Freiheit nicht aufgeben.

Wir stellen uns gegen die Grenzen, die militärisch kontrolliert und geschlossen werden und die Menschen, die aus dem Elend fliehen, daran hindern, einen sicheren Ort zu finden, jene, die in Wahrheit ihr Leben aufs Spiel setzen.

Dieselben Grenzen, an denen täglich Migranten sterben, waren schon immer das Terrain für politische Repression und kapillare Kontrolle des Territoriums. In letzter Zeit wurden die administrativen Instrumente verfeinert, beschleunigt und in gewisser Weise “entpolitisiert”. Um nur einige Beispiele zu nennen, denken wir an die italienischen Genossen, die Anfang Juni anlässlich des Gedenkens an Clement Meric in Paris festgenommen und zurückgeschickt wurden, oder an die Dutzenden von Genossen, die an der Grenze mit einem Einreiseverbot für die No-Tav-Demonstration in Val Maurienne Ende Juni blockiert wurden, oder an die scheinbar “lebenslangen” Einreiseverbote, die nach dem großen Kampftag gegen die Mega-Wasserbecken in Saint Soline am 25. März mitgeteilt wurden. Diese Beispiele zeigen, dass politische Dissidenten immer stärker kontrolliert werden und dass die europäischen Polizeikräfte sehr eng zusammenarbeiten, aber auch, dass Instrumente wie der Europäische Haftbefehl immer skrupelloser und “effektiver” eingesetzt werden.

Wir werden uns nicht von der Repression unterkriegen lassen, und wir werden nicht aufgeben, uns in Kampfzusammenhänge zu begeben, selbst weit weg von den Orten, an denen wir uns jeden Tag befinden.

Wir sind dafür, in der ersten Person zu handeln und unsere Kämpfe nicht an Institutionen und den Staat zu delegieren, die alles akzeptieren, was in ihren Kanon von Demokratie und Befriedung fällt, indem sie versuchen, ihr Gesicht mit schönen Worten zu reinigen, die nur Worte bleiben.

Eine Welt frei von Faschismus und Faschisten ist möglich, es liegt an uns, sie zu schaffen.

FREIHEIT FÜR ILARIA, TOBIAS UND GABRIELE!

SOLIDARITÄT MIT DEN GENOSSEN UND GENOSSINNEN, GEGEN DIE ERMITTELT WIRD UND DIE AUF DER FLUCHT SIND!

SOLIDARITÄT MIT DEN BETROFFENEN DER ERMITTLUNGEN WEGEN DER ANTIFASCHISTISCHEN AKTIONEN IN BUDAPEST

FREIHEIT FÜR ALLE!

Landesweite Demo am 13. Januar 2024, 15:00 Uhr – Piazza Durante

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks.

Die Werkstatt des Schnitzers

Cesare Battisti

Hätte er gewusst, dass er nie mehr zurückkehren würde, hätte er die Worte eins nach dem anderen gewählt, bevor er ging. Er hätte sie im Wörterbuch der Liebe nachgeschlagen und sie in goldenen Buchstaben drucken lassen. Er hätte einen Moment länger auf der Schwelle gewartet, um seinem Sohn zu sagen: Ich liebe dich, wie er es nie gesagt hat. Anstatt so auf die Straße zu gehen, ohne zu wissen, wohin er ging. In seinem Herzen das Gewicht der Stille, hoch am Himmel eine gleichgültige Sonne.

Es gab einen Moment, in dem er dachte, er hätte das Wesentliche vergessen. Er zögerte vor der Werkstatt des Schnitzers. Er schien zurückgehen zu wollen, er durchsuchte seine Taschen, nichts, was er zu Hause hätte lassen können. Dann setzte er seinen Weg fort, entschlossen, nicht mehr über Worte nachzudenken.

Sag mir nicht, was ich tun soll, ich will es nicht wissen. So hatte der Kleine auf eine Ermahnung geantwortet, sein Vater wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Normalerweise kommen die besten Antworten immer erst später. Aber nicht, wenn die Schritte auf dem Bürgersteig aufgehört haben, Geräusche zu machen. Oder mit einer neugeborenen Sonne, die schon bereit war zu sterben. Wenn er sich jedes Mal gefragt hätte, was er da tat, hätte er keinen guten Grund gefunden. Er wusste nur, dass er es tun musste. So verhalten sich auch Kinder, aber in ihren Augen brennt das Leben, funkelt die Entschlossenheit.

Hätte er gewusst, dass dies kein gewöhnlicher Tag war, sondern der erste in einer Welt, in der die Seelen nicht mehr an den Teufel, sondern an die Herrschaft verkauft werden. Hätte sein Sohn es ihm klar und deutlich gesagt, in Worten, die selbst ein Kind verstehen würde, hätte er sein Herz zu Hause gelassen und nur seinen dumpfen Verstand ins Gefängnis gebracht. Und jetzt würde er nicht auf eine Wand starren, als wäre es das Fenster des Schnitzers, das das Kind unermüdlich bewunderte.

Er würde nicht über die braunen Flecken streichen und keine Seufzer gegen Worte austauschen. Die er an diesem Morgen im üppigen Garten seines Sohnes nicht einfangen konnte. Als die Zeit nicht mit Täuschung tötete, als er murrende Wände fragte, warum nur Helden in den Himmel kommen. Und sich sagen lassen, dass man das gute Gewand tragen muss, um in die Herzen der Menschen vorzudringen.

Davon überzeugt sein, dass der Schrei der Stille kein Schmerz ist, sondern ein Schrei der Liebe und der Hoffnung. Die Welt der Seufzer mit dem Lächeln von Kindern zu schmücken, die im Gefängnis aufgewachsen sind. Oder den Klang der sich ständig verändernden Schritte mit Stimmen zu verwechseln, die das Meer überqueren können. Nicht mehr auf die Büßer und ihre Litaneien der Vergangenheit hören. Den Beweis verweigern, dass das Verbotene immer das Beste ist, was uns gegeben wird. Das, was jeden Erwachsenen zu einem Verdammten macht.

Sein Sohn ignoriert all dies und wartet zu Hause darauf, dass sich der Himmel wieder mit der Erde vereint. Er bittet um Licht für die eingeschlossenen Gemüter und um etwas Liebe für die sonnenlosen Schatten. Er betet zu Gott, die Kriege zu erhellen. Und wenn der Abend für den Tag das beste Ende ist, sammelt sich der Gefangene und fliegt. Er geht zu seinem Sohn, der vor der Werkstatt des Schnitzers auf ihn wartet.

Cesare Battisti sitzt seit Jahren im Knast für Taten, die über 40 Jahren her sind, der Staat rächt sich immer noch für den antagonistischen Aufbruch der 70er in Italien, von dem Cesare ein Teil war. Von ihm sind mehrere im Exil und im Knast entstandene Bücher erschienen, von denen leider kein einziges auf Deutsch vorliegt. Carmilla Online veröffentlicht regelmäßig aktuelle Kurzgeschichten von ihm, die teilweise auf Sunzi Bingfa sowie auf Bonustracks auf Deutsch erschienen sind. 

Anmerkungen bezüglich der Demonstration am 11. Februar in Mailand

Am 25. Juni wurde in Mailand ein Polizeieinsatz durchgeführt, bei dem sechs Präventivmaßnahmen (Aufenthaltsverpflichtungen-, Verbote und Meldeverpflichtungen) als Folge der Demonstration vom 11. Februar in Solidarität mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito erlassen wurden. Heute ist von diesen Maßnahmen nichts mehr übrig. Am 14. Dezember beschloss die GIP auf Antrag der Staatsanwaltschaft, alle vorsorglichen Maßnahmen aufzuheben. Im Moment sind die Ermittlungen abgeschlossen, aber die Zahl der Betroffenen ist auf 13 gestiegen, die aus verschiedenen Gründen des schweren Widerstands, der Verkleidung und der Sachbeschädigung beschuldigt werden.

Wir möchten nicht nur über den aktuellen Stand der Dinge berichten und unsere Solidarität mit den von dieser repressiven Maßnahme betroffenen Personen zum Ausdruck bringen, sondern auch ein paar Worte über diesen Tag und die Mobilisierung zur Unterstützung des Hungerstreiks von Alfredo gegen das 41bis-Regime und die lebenslange Haftstrafe verlieren. Der 11. Februar war Teil der zahlreichen Initiativen, die angesichts der Lügen des Staates, der Gewalt, die sich hinter der Kälte der Bürokratie verbirgt, und des sich verschlechternden Gesundheitszustands von Alfredo, der sich seit über 100 Tagen im Hungerstreik befand, ergriffen wurden.

In ganz Italien und im Ausland kam es zu zahlreichen Demonstrationen, Blockaden, Informations- und Störungsinitiativen, Angriffen auf Institutionen und ihre Vertreter.

In Mailand, in einer Stadt, die durch den Kampf von Alfredo geprägt ist, beschließen Hunderte von Menschen, an der Demonstration auf der Piazza XXIV Maggio teilzunehmen. Während der Demonstration folgen Reden, Sprechchöre, Graffiti und die Beschädigung von Schaufenstern aufeinander, bis die Polizei beschließt, dass die Demonstration nicht weitergehen soll. Mit massiven Beschuss mit Tränengas werden die Teilnehmer auseinandergetrieben, die gemeinsam einen anderen sicheren Weg suchen, um den Umzug zu beenden.

Abgesehen von der juristischen Aufarbeitung dieser Angelegenheit scheint es wichtig zu sein, sich noch einmal vor Augen zu führen, was die Köpfe und Herzen der vielen Menschen bewegte, die an diesem Tag und in den Wochen zuvor auf die Straße gingen. Die Entschlossenheit des Kampfes von Alfredo hat es geschafft, das Schweigen über die staatliche Folter zu brechen, die das 41-bis-Regime darstellt, das aus fast völliger Isolation und sensorischer Deprivation besteht und deren einziges Ziel die physische und psychische Vernichtung der ihr unterworfenen Person ist und die der Staat weiterhin durch das Schreckgespenst der Mafia legitimiert und aufrechterhält.

Draußen wurden viele Informationen verbreitet, um die Bedingungen und den gewalttätigen und strukturellen Charakter dieses Regimes und des gesamten Gefängnisses zu verdeutlichen. Eine Gelegenheit zum Kampf, die von vielen und in verschiedenen Formen geteilt wurde und die ihre eigene Beweglichkeit gefunden hatte. Wir wollen hier nicht in eine Analyse der Mobilisierung einsteigen, das wäre voreilig und ungenau, aber wir glauben, dass es wichtig ist, auf das zu schauen, was war und was bleibt, um weiterhin ein Terrain für den Kampf schaffen zu können. Wir haben den Eindruck, dass es uns gemeinsam gelungen ist, bei den Demonstrationen auf der Straße einen gewissen Raum einzunehmen, und auch wenn die Anzahl sicherlich bis zu einem gewissen Punkt ein Kräfteverhältnis mit den Ordnungshütern begünstigt haben, so war die Heterogenität in der Beteiligung und Zusammensetzung unserer Meinung nach ein grundlegendes Element in diesen Monaten. Die Möglichkeit, auf der Straße zu sein und sich den Platz nicht von der Polizei streitig machen zu lassen, sondern ihn sich zu nehmen, scheint uns ein gutes Omen dafür zu sein, was Demonstrationen in unserer Stadt sein könnten. Wir versuchen, selbstorganisierte Momente des Protests zu schaffen, in denen wir versuchen, einen Dialog mit der Polizei zu vermeiden, indem wir diejenigen, die teilnehmen wollen, mit ihren eigenen Methoden und Praktiken, schützen, und versuchen, in den hitzigen und aufgeladenen Momenten so weit wie möglich zusammen zu bleiben.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns, wir müssen noch viele Vergleiche und Überlegungen anstellen, um die Kritik an 41 und lebenslanger Haft und an den Diffamierungen, denen wir ausgesetzt sind, aufrechtzuerhalten, und das umso mehr, als der Hungerstreik von Alfredo zu Ende ist.

Die Justiz und die Gefängnisse sind Kristallisationspunkte einer zunehmend ungleichen und zersplitterten Gesellschaft, die darauf abzielt, all diejenigen zu unterdrücken und zu disziplinieren, die sich ihr nicht fügen, oder diejenigen, die versuchen, sie nach ihren Vorstellungen zu verändern. In der Überzeugung, dass es notwendig ist, gegen diesen Zustand zu kämpfen, werden wir weiterhin denjenigen, die noch eingesperrt sind, unsere Stimme geben und Solidarität bekunden und uns organisieren, obwohl die Repression weiterhin jeden trifft und bedroht, der angesichts der Folter und der unzähligen Todesfälle in den Gefängnissen, der Ausbeutung am Arbeitsplatz und im Bildungswesen, der Zerstörung der Umwelt, der Ausplünderung der Territorien, des Krieges und des staatlichen Rassismus nicht den Kopf senkt.

Veröffentlicht am 20.12.2023 auf La Nemesi, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Wir huldigen Toni Negri, unserem großen Lehrmeister

Effimera

Man musste kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass der Tod von Toni Negri in der Mainstream-Presse mit der ewigen Figur des “schlechten Lehrers” und des “Theoretikers der Gewalt” in Verbindung gebracht werden würde. Es ist die Banalität des Bösen, derer, die Befehle befolgen, aber nichts wissen, sich nicht wundern, nichts zu erkennen versuchen.

Toni Negri hat im Laufe seines langen Lebens unser Leben und unser Denken tiefgreifend beeinflusst. Wir sind ihm zu Dank verpflichtet und wir sind stolz darauf, sagen zu können, dass er ein großer, großer Lehrer war. Unser Lehrmeister. Deshalb ist heute eine Stunde der großen Trauer für uns alle, aber wir denken an ihn im Wind, und der Wind verschwindet nie wirklich und hört nicht auf. Er dreht sich weiter, umgibt uns und bewegt die Welt.

Toni Negri gab dem Massenarbeiter Macht und Stolz, indem er die Autonomie und die lebendige Arbeit in der tayloristischen Fabrik in den Mittelpunkt der politischen Aktion zur Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse stellte. Es ist die Macht der lebendigen Arbeit, die ohne das Kapital auskommen kann, ohne die das Kapital aber nicht auskommen kann. Die Unverzichtbarkeit der Arbeit zwingt das Kapital, sich umzustrukturieren und die Fabrik auf dem Territorium zu zerstückeln. Mit Negri wird der gesellschaftliche Arbeiter geboren, ein neues potentielles Subjekt der Transformation, das verschiedene Formen der Subjektivität annimmt, dessen Kampffeld die Metropole und ihre sozialen Widersprüche wird.

Die konkrete Utopie und Stärke der 1970er Jahre zerbrach an der Repression der Macht. Aber die Ideen, die ihr zugrunde lagen, haben sich nicht als unbegründet erwiesen. Die Umwälzungen des Kapitalismus, neue Ausbeutungsmodelle, das Aufkommen neuer Technologien, das relationale Werden der Arbeit und des general intellect, die Kraft der sozialen Kooperation und der Kommune als mögliche neue Form der Gegenmacht prägten die Kämpfe und Bewegungen an der Jahrtausendwende.

Bewegungen und Kämpfe, die sich auf dem schmalen Pfad zwischen Erpressung und Gewalt der Finanzmärkte und der neoliberalen Globalisierung bewegen. Imperium und Multitude: ein weiterer außergewöhnlicher Versuch, die neue Form der kapitalistischen Herrschaft und die neue prekäre Zusammensetzung der Arbeit zu lesen. Eine Wette, die noch im Gange ist.

Toni Negri lebte ein wunderschönes Leben, erfüllt von Liebe, Zuneigung, Freunden und Studenten, die ihm zuhörten und ihn lasen, mit der größtmöglichen Leidenschaft, die die Hauptantriebskraft seiner Existenz war, und vielleicht ist die wichtigste Botschaft, die er uns vermittelt hat, genau dies: Lebe mit Leidenschaft! Ein spinozianisches Leben. Auch ein schwieriges Leben, das immer mit Mut und Konsequenz geführt wird. Ein großzügiges Leben, immer zusammen mit anderen und Gefährten. Toni hörte zu, stellte Fragen, wollte von den anderen und über die anderen wissen, immer überzeugt von der Möglichkeit der gegenseitigen Bereicherung, von der unauslöschlichen Kraft des Zusammenseins, des gemeinsamen Handelns. Das rüpelhafte und individualistische Italien, das heute an der Macht ist, wird diese Regungen des Herzens und der Vernunft nie verstehen.

Sein kritisches Denken, sein unbezwingbarer Optimismus, seine Bereitschaft und Einfachheit trotz der Tiefe seiner Analysen und Überlegungen, zu denen er fähig war, werden uns für immer erhalten bleiben.

Effimera nimmt mit großer Anteilnahme an der Trauer von Judith, Anna, Francesco und Nina teil.

Veröffentlicht auf Effimera, in Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Toni Negri – Nous ne regretons rien. Mit Liebe von deinen Gefährten*

Wir veröffentlichen eine Erinnerung an Toni Negri, geschrieben von einigen Genossen aus Paris und aus anderen Orten der Welt, die die gleichen Ereignisse wie er erlebt haben oder jedenfalls die meisten seiner politischen Erfahrungen geteilt haben – inmitten von Leidenschaft, Repression, Exil. Am Ende des Textes die Liste der Unterzeichner (Effimera)

Toni Negri hat uns verlassen. Für einige von uns war er ein lieber Freund, für uns alle war er der Genosse, der sich im großen Zyklus der politischen Kämpfe der 1960er und der revolutionären Bewegungen der 1970er Jahre in Italien engagierte. Er war einer der Begründer des Operaismus und der Denker, der den Kämpfen der Arbeiter und des Proletariats im kapitalistischen Westen und den daraus resultierenden Umgestaltungen des Kapitals einen theoretischen Zusammenhang gab. Toni beschrieb die Multitude als eine Form politischer Subjektivität, die die Komplexität und Vielfalt der neuen Formen der Arbeit und des Widerstands widerspiegelt, die in der postindustriellen Gesellschaft entstanden sind. Ohne den theoretischen Beitrag von Toni und einigen anderen marxistischen Theoretikern hätte es keine Praxis gegeben, die dem Klassenkampf gerecht geworden wäre.

Ein Maestro, weder gut noch schlecht: Es war unsere Aufgabe und unser Privileg, seine Analysen zu interpretieren oder zu widerlegen. Es war vor allem unsere Aufgabe, und wir haben sie übernommen, den Kampf in unserem sozialen Umfeld, unser Handeln im politischen Kontext jener Jahre in die Praxis umzusetzen. Wir waren weder seine Jünger noch seine Gefolgsleute, und Toni hätte das auch nie gewollt. Wir waren freie politische Subjekte, die sich für ihr politisches Engagement entschieden, die ihren kämpferischen Weg wählten und die auch die kritischen und theoretischen Werkzeuge nutzten, die Toni ihnen mit auf den Weg gab.

Wir erinnern uns an Toni als unermüdlichen Militanten der sozialen und politischen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, als unerschütterlichen Förderer der Autonomia Operaia-Bewegung, als Hauptsündenbock der staatlichen Repression, die in der Razzia vom 7. April 1979 und dem anschließenden politischen Prozess gipfelte. Elfeinhalb Jahre Gefängnis, Einsatz von Spezialwaffen, Drohungen und Schläge waren der Preis, den der Staat ihn zahlen ließ. Wir erinnern uns auch an seine schmerzhafte und kontroverse Abreise aus Italien und sein Exil in Frankreich, in dem er nicht einen Moment lang sein Engagement für eine politische Lösung des Problems der Tausenden von politischen Militanten, die in Italien in Sondergefängnissen eingesperrt waren, aufgab. Ein Beweis dafür war die freiwillige Unterbrechung seines Exils und seine Rückkehr nach Italien im Jahr 1997 in der Hoffnung, zur Abschaffung der Sondergesetze beizutragen, was ihn aber stattdessen bis 2003 im Gefängnis bleiben ließ. Wir erinnern uns an ihn mit den Worten: “Der Kommunismus ist eine fröhliche, ethische und politische kollektive Leidenschaft, die gegen die Dreifaltigkeit von Eigentum, Grenzen und Kapital kämpft”. Wir erinnern uns an ihn als einen Mann, der immer ein offenes Ohr hatte, vor allem für die Jugend, einen Mann, der offen war für den Dialog und die Konfrontation, aber ein entschiedener Gegner jeder Ideologie und Praxis des Kapitals und der politischen Kräfte, die ihm institutionelle Formen geben.

Für die kulturelle, philosophische und politische Welt war Toni ein profunder Exeget der Gedanken Spinozas und einer der größten marxistischen Theoretiker an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Für uns war er auch und vor allem Genosse Toni. Mit Liebe nehmen wir Abschied, mit Liebe umarmen wir Judith, Anna, Nina und Checco.

Gianfranco Pancino, Loredana Zamuner, Giustiniano Zuccato,Isabella Annesi Maesano,Anna Soldati, Emanuela Bertoli, Sergio Bianchi, Donato Tagliapietra, Lia Lanzi, Leandro Barozzi, Giuliano Righi Riva, Sandra Doveri, Patrizio Galmarini, Maurizio Lazzarato, Gianni Mainardi, Agostino Mainardi, Jason Francis Mc Gimsey, Elicio Pantaleo, Ornello Turco, Barbara Bucco, Maurizio Gibertini, Teresa Passamonti, Italo Migliori, Angelo Gagliardi, Luciano Mioni, Mirco Dalle Carbonare, Gianni Sbrogiò, Patrizia Corrà, Roberto Segalla, Puccio Landi, Chicco Funaro, Lauso Zagato, Carlo Levi Minzi, Sandro Scarso, Marzio Sturaro, Paolo Benvegnù, Stefano Micheletti, Gigi Roggero, Paolo de Marchi, Paola Vellucci, Gaetano Grasso, Pino Cosenza, Emilio Mentasti, Giorgio, Ivan, Diego, Mara, Yuri Boscarolo, Piero Mancini, Paolo Carpignano, Icio Molinari, Fabrizio Sormonta, Piero Despali, Susanna Scotti, Gianfranco Ferri, Ulisse Marcato, Valerio Guizzardi, Ignazio Brivio, Flavio Restelli, Giorgio Moroni, Marco Scarfò, Giuli Peyronel, Giorgio Bonazzi, Saro Romeo, Tiziana Saccani, Giorgio Griziotti, Nadia Colella, Manuela Facinelli, Emilio Comencini, Angiola Zampieri, Annaflavia Bianchi, Fiorenzo Sperotto, Giovanni Giovannelli, Libero Maesano, Sandro Stella

Veröffentlicht am 19. Dezember 2023 auf EFFIMERA, übersetzt von Bonustracks.